ADB:Hankel, Hermann
Wilhelm Gottlieb H. war Lehrer an der Realschule in Halle, als Hermann geboren wurde. Im 11. Lebensjahre des Knaben, 1849, wurde der Vater als ordentlicher Professor der Physik an die Universität Leipzig berufen, wo er gegenwärtig noch immer seine der Wissenschaft ersprießliche Thätigkeit ausübt. Hermann besuchte nun in der neuen Heimath das Nicolaigymnasium und bezog Ostern 1857 die Universität daselbst. Ostern 1860 ging er zu weiteren Studien nach Göttingen, im Herbst 1861 nach Berlin, nachdem er vorher in Leipzig doctorirt hatte. Die Habilitation in Leipzig als Privatdocent der Mathematik erfolgte am Anfange des J. 1863; zu Ostern 1867 wurde er ebenda zum außerordentlichen Professor ernannt; im Herbste desselben Jahres folgte er einem Rufe als ordentlicher Professor nach Erlangen, wo er durch Vermählung mit Maria Dippe aus Schwerin, der Tochter einer mit der Hankel’schen längst freundschaftlich verbundenen Familie, einen Hausstand sich gründete. Eine weitere Berufung führte ihn Ostern 1869 nach Tübingen. Auf einer Ferienreise im Schwarzwalde ereilte ihn der Tod in Folge eines Schlaganfalles. Dieses kurze Leben von wenig mehr als 34½ Jahren war, wie unsere Skizze aufweist, reich an äußeren Erfolgen in einem Grade und mit einer Schnelligkeit, wie dem Mathematiker solche nicht eben häufig beschieden sind. Es waren wohlverdiente Erfolge, wie ein Ueberblick über den inneren Bildungsgang und die Leistungen Hankel’s nun zeigen soll. Bereits auf der Schule hatte H. bei durchaus genügenden philologischen Fortschritten eine ungewöhnliche mathematische Befähigung an den Tag gelegt, welche die Aufmerksamkeit seiner Lehrer auf sich zog. So kam es, daß er für die Privatlectüre in griechischer Sprache, welche den Schulvorschriften nach stattfinden mußte, griechische Mathematiker wählen durfte, und von dieser Zeit her schreibt sich schon seine Kenntniß, z. B. des Diophant, schreibt sich auch seine Neigung zu historisch-mathematischen Studien. Auf den drei verschiedenen Universitäten, an welchen er immatrikulirt war, nannte er die bedeutendsten Forscher seine besonderen Lehrer: in Leipzig Drobisch, Möbius, Scheibner; in Göttingen Riemann; in Berlin Weierstraß und Kronecker. Will man H. den Schüler eines dieser Männer in hervorragender Weise nennen, so mag Riemann’s Einfluß als maßgebender zu bezeichnen sein, wiewol auch die Einwirkung von Anderen und nicht am wenigsten die der Schriften von Herrmann Graßmann in Hankel’s Arbeiten unverkennbar ist. H. verfolgte eine doppelte Richtung, eine historisch-mathematische, wie schon oben bemerkt wurde, und eine philosophisch-mathematische. Beide kamen allerdings erst allmählich zum Durchbruche und seine ersten Veröffentlichungen, eine von der philosophischen Facultät in Göttingen am 4. Juni 1861 gekrönte Preisschrift „Zur allgemeinen Theorie der Bewegung der Flüssigkeiten“, die Doctordissertation „Ueber eine besondere Classe der symmetrischen Determinanten“ berechtigten zwar, wie ein wohlbefugter Kritiker (Schloemilch) sich ausdrückte, zu der Hoffnung, daß [517] H. sich als Mathematiker einen eben so gut begründeten Ruf erwerben werde, wie ihn sein Vater als Physiker längst besitze, aber eine besondere Eigenartigkeit ist doch wol nicht darin aufzufinden. Höchstens möchte man hier schon einen gewissen Tact in Auffindung geeigneter Namensbezeichnungen rühmen, der sich geltend macht. Im Februar 1863 folgte die Habilitationsschrift „Die eulerschen Integrale bei unbeschränkter Variabilität des Argumentes“, welche auch im Auszuge in der Zeitschr. Math. Phys. Bd. IX erschien. In ebenderselben Zeitschrift hatte im unmittelbar vorhergehenden Bande Hankel’s Studiengenosse Gustav Roch die dem großen mathematischen Publicum fast noch unbekannten Lehren Riemann’s in gewissem Sinne zu popularisiren begonnen. H. fand daher bereits verständnißvollere, aufmerksamere Leser für seinen selbst angefertigten Auszug, dem freilich eine Glanzseite der ursprünglichen Abhandlung fehlt: die Fülle litterarischer Nachweise, in welchen er eine Kenntniß insbesondere von Euler’s Werken an den Tag legte, welche von einem 24jährigen Gelehrten geradezu erstaunlich war. Dagegen bot der Auszug gleichmäßig mit dem Originale das jetzt bald allgemeine Geltung gewinnende, wenn man so sagen soll, Riemann’sche Bestreben, die Function complexer Größen auf Grundlage geometrischer Auffassung und Darstellung in den Vordergrund der gesammten Analysis zu schieben. H. beabsichtigte dem entsprechend eine vollständige Theorie der Functionen complexer Größen zu schreiben, deren erste Abtheilung unter dem besonderen Titel „Theorie der complexen Zahlensysteme, insbesondere der gemeinen imaginären Zahlen und der Hamilton’schen Quaternionen nebst ihrer geometrischen Darstellung“ 1867 erschien und dem Verfasser zunächst die Beförderung in Leipzig, dann die Berufung nach Erlangen verschaffte. Der Gegenstand an sich war nicht neu. Eine Theorie der Functionen complexer Größen hatte schon Durège 1864, Vorlesungen über Riemann’s Theorie der Abel’schen Integrale hatte C. Neumann 1865 herausgegeben. Das Hankel’sche Buch brachte zudem noch nicht die höheren Lehren der Functionentheorie, sondern der Hauptsache nach historische Mittheilungen über das allmähliche Werden der elementaren modernen Auffassung complexer Größen seit der Mitte des XVIII. Jahrhunderts bis in die neueste Zeit. Allein H. wußte das Fremde, das Zusammenhangslose in sich zur Einheit zu verarbeiten, als welches es dem Leser gegenübertritt, und Künftiges anzudeuten, und so ist Vieles thatsächlich alt und einfach, dagegen in der Form und, was für die wissenschaftliche Tragweite hochwichtig ist, in der Wirkung auf die Zeitgenossen durchaus neu und folgenreich. So hat z. B. kein Verfasser eines irgendwie auf Strenge Ansprüche erhebenden Elementarwerkes seit der Mitte der zwanziger Jahre übersehen, daß die Rechnungsoperationen Anlaß zur Einführung eines stets erweiterten Zahlenbegriffes geben, und daß an diesen Zahlen alsdann geprüft werden muß, ob die bisherige Begriffsbestimmung der Rechnungsverfahren noch ausreicht oder wie sie abgeändert werden soll; und doch hat sich H. ein unzweifelhaftes Verdienst erworben, indem er den gleichen Gedanken als Princip der Permanenz formaler Gesetze zu neuer Geltung brachte. Er hat eben im Gegensatze zu den früheren Schriftstellern, welchen die strenge Herleitung von mathematischen Wahrheiten Zweck war, die Begründung einer mathematischen Methode ins Auge gefaßt. Das war der philosophisch-mathematischen Geistesrichtung Hankel’s entsprechend, welche wir als für ihn mit kennzeichnend erwähnt haben. Solchen Principien forschte H. ganz besonders in zwei als zusammmengehörig zu betrachtenden Abhandlungen von 1870 nach, deren eine als Artikel „Grenze“ in Ersch und Gruber’s Encyklopädie (I. Section, Bd. 90, S. 185–211), die andere als Tübinger Einladungsprogramm zum Geburtsfeste des Königs mit der Ueberschrift: „Untersuchungen über die unendlich oft oscillirenden und unstetigen [518] Functionen“ erschien. Sie bilden einen etwaigen Ersatz für die nie ausgeführte Fortsetzung der Theorie der Functionen complexer Größen. Von den in ihnen erörterten Gegenständen kann hier nur das Princip der Condensation der Singularitäten genannt werden, welches die Möglichkeit gewährt, von gewissen Functionen, welche über ihren ganzen Verlauf hin unendlich viele Unstetigkeiten aufweisen, zu anderen überzugehen, deren Unstetigkeiten nur auf einem endlich beschränkten Zwischenraume stattfinden. Es kann nicht die Absicht dieser Biographie sein, sämmtliche größere und kleinere Arbeiten Hankel’s, deren Gesammtheit im Bulletino Boncampagni für 1876 (Bd. IX. S. 297–308) verglichen werden kann, ihrem Inhalte und Werthe nach zu besprechen. Wir übergehen eine Gratulationsschrift zur Feier von Moebius’ 50jährigem Doctorjubiläum (1864), eine Tübinger Antrittsrede (1869), Aufsätze in Ersch und Gruber’s Encyklopädie, in den Mathematischen Annalen, in der Zeitschrift für Mathematik und Physik etc. Wir sprechen nur noch von zwei umfassenderen Veröffentlichungen, welche nach dem Tode des vor der Zeit Entschlafenen herausgegeben worden sind. 1874 erschien „Zur Geschichte der Mathematik im Alterthum und Mittelalter“. H. wollte eine Geschichte der Mathematik schreiben. Er war auch neben Prof. Nesselmann in Königsberg und neben dem Verfasser dieses Artikels der einzige deutsche Universitätslehrer, welcher Vorlesungen über diesen Gegenstand zu halten pflegte. Als H. starb, waren nur einzelne Capitel des beabsichtigten Werkes einigermaßen druckreif, und diese bilden den erwähnten Band. Es wäre unbillig zu verhehlen, daß nicht gerade wenige Einzelheiten unrichtig sind und deshalb zu einer gewissen Vorsicht bei der Benutzung des Werkes zu rathen ist; unbilliger aber wäre es, dem verstorbenen Schriftsteller anrechnen zu wollen, was er, wenn er selbst die Veröffentlichung hätte durchführen können, mit höchster Wahrscheinlichkeit noch vielfach abgeändert und von Irrthümern gereinigt hätte. Nur die großen leitenden Gedanken, den umfangreichen allgemeinen historischen Hintergrund, von welchem H. die Entwicklung der Mathematik sich abheben läßt, können wir in vollem Maße als bleibendes Eigenthum des Verfassers anerkennen, an welchem eine wesentliche Abänderung jedenfalls nicht zu erwarten stand, und welche, wie wir gleich nach dem Erscheinen des Werkes in einer eingehenden Kritik desselben (Zeitschr. Math. Phys. Bd. XX) uns ausgesprochen haben, einen weiten, umfassenden historischen Blick neben dem in das Einzelne, Feinste sich vertiefenden mathematischen Geiste erkennen lassen. Ein Jahr später (1875) gab Axel Harnack „Die Elemente der projectivischen Geometrie“ aus Hankel’s Nachlasse heraus. H. wollte in diesen Vorlesungen seinen Schülern die umfassenden Gedanken der großen Geometer nahe bringen und einen klaren Ueberblick über die verschiedenen von ihnen benutzten Methoden gewähren. Mit bewußter Absichtlichkeit ist deshalb nicht etwa ein System der neueren Geometrie auf einheitlicher Grundlage hergestellt, sondern es werden die Lehren eines Steiner, eines Poncelet, eines Chasles, eines v. Staudt nach einander zum Vortrage gebracht, nur so weit einheitlich verschlungen, als die Durcharbeitung in dem Kopfe eines so philosophischen Berichterstatters, wie H. es nöthig machte. Wir können in dieser Beziehung die Elemente der projectivischen Geometrie ein Seitenstück zur Theorie der complexen Zahlensysteme von 1867 nennen. Hankel’s Geist trug sich mit noch weitergehenden schriftstellerischen Plänen, aber der Körper war nicht im Stande, die Arbeit dieses Geistes auszuhalten. Eine erste Erkrankung traf ihn schon 1857 beim Beginne seiner Studien. Eine heftige Hirnhautentzündung, die Folge zu großer Anstrengung, brachte ihn im Sommer 1872 an den Rand des Grabes, und wenn er auch einigermaßen sich wieder erholte, ganz gesund wurde er nicht wieder. Geistige und körperliche Erholung und Kräftigung suchte er auch auf [519] jenem Ausfluge in die nahe Gebirgswelt des Schwarzwaldes, während dessen der Tod ihn ereilte. Hankel’s Persönlichkeit wurde von Allen, die ihm näher traten, von Freunden und Schülern, stets als höchst liebenswürdig geschildert. Entfernter Stehende mochte eine gewisse Herbe und Schroffheit des schriftlichen Ausdruckes, welche wol theils dem Gesundheitszustande, theils der Jugend Hankel’s entsprachen, weniger angenehm berühren. Wäre es H. beschieden gewesen, in neu gewonnener Kraft höhere Lebensjahre zu erreichen, so hätte sich diese Schärfe um so wahrscheinlicher abgestumpft, als er durch und durch religiös gesinnt war. Für diese Charakterseite bietet es Interesse, daß die zweite der Thesen, welche Hankel’s Habilitationsschrift von 1863 beigefügt sind, folgendermaßen lautet: „Die philosophische Ethik bedarf zu ihrer Vollendung der theologischen Ethik“. Unter Theologie verstand aber H. ein durchaus strenggläubiges positives Christenthum, wie er auch während seines Aufenthaltes in Erlangen vorwiegend mit geistlichen Vertretern dieser Richtung, vor allem mit Prof. v. Zezschwitz, zu verkehren liebte.
Hankel: Hermann H., Mathematiker, geboren am 14. Februar 1839 in Halle, † am 29. August 1873 in Schramberg im Schwarzwalde. Der Vater- Vgl. Einige Worte zum Andenken an Hermann Hankel von W. v. Zahn in den Mathematischen Annalen, Bd. VII. S. 583–590, Leipzig 1874, wovon auch eine Uebersetzung in dem Bulletino Boncompagni für 1876.