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ADB:Hartmann, Gustav

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Artikel „Hartmann, Gustav“ von Ivo Pfaff in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 50 (1905), S. 28–31, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Hartmann,_Gustav&oldid=- (Version vom 23. Dezember 2024, 06:35 Uhr UTC)
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Hartmann: Gustav H., Rechtsgelehrter, war geboren am 31. März 1835 in dem braunschweigischen Vechelde. Im J. 1853 bezog er die Universität Göttingen, wo Francke und Thöl den größten Einfluß auf seine Studien ausübten. 1857 promovirt, habilitirte er sich 1860 auf Grund seiner Schrift „Zur Lehre von den Erbverträgen und den gemeinschaftlichen Testamenten“. Im J. 1864 ordentlicher Professor zu Basel, 1872 zu Freiburg, 1878 zu Göttingen, wurde er 1885 nach Tübingen berufen, wo er bis zu seinem Tode wirkte. Er starb am 16. November 1894. Seit 1886 war H. Mitherausgeber des Archivs für die civilistische Praxis.

Mit Recht wurde schon öfters hervorgehoben (neuestens von Strohal: Das deutsche Erbrecht), daß wichtige Fragen des modernen Erbrechts von der civilistischen Wissenschaft lange nicht genug durchgearbeitet worden sind. Einer der relativ wenigen Gelehrten, die sich im Anfange ihrer litterarischen Thätigkeit erbrechtlichen Fragen zugewendet hatten, war H. Seine bereits erwähnte Habilitationsschrift mit ihrer geistvollen Construction des Erbvertrages, der Arndts (Haimerl’s Vjschrift VII, 10), Unger (Erbrecht § 26) und Kirchstetter (Commentar § 1254) beigetreten sind, legte Zeugniß ab von dem großen Scharfsinn ihres Autors. Und wenn diese Construction, wonach der Erbvertrag als ein Testament anzusehen sei, mit dem ein vertragsmäßiger Verzicht auf den Widerruf verbunden ist, später so ziemlich allgemein abgelehnt wurde, so hat Hartmann’s Erstlingsschrift doch in mannichfacher Beziehung anregend, klärend und befruchtend gewirkt. Auch seine nächsten Arbeiten bewegen sich auf erbrechtlichem Gebiete. So das akademische Programm über die querela inofficiosi testamenti nach classischem Rechte (1864) und der Aufsatz über die Voraussetzungen und Grenzen der Incapacität nach der lex Julia et Papia (1866, Bd. V d. Zeitschr. f. Rechtsgeschichte). In ersterem Werke trat H. der herrschenden Lehre, die in der genannten querela eine Unterart der hereditatis petitio ab intestato erblicken will, mit guten Gründen entgegen. 1867 veröffentlichte er im Archiv f. d. civilist. Praxis Bd. 50 einen kleinen Aufsatz „Zur Lehre von der Klagenkonkurrenz und der Rechtskraft“, der sich mit schwierigen, äußerst umstrittenen Fragen befaßt. Nachdem H. im J. 1868 seine gehaltvolle Arbeit über den rechtlichen Begriff des Geldes und den Inhalt der Geldschulden edirt hatte, in welchem er eine Sonderung des Geldbegriffes im juristischen vom wirthschaftlichen Sinne vertrat, folgte 1872 beim Antritte des Lehramts in Freiburg seine Schrift über Begriff und Natur der Vermächtnisse im römischen Rechte. Hier stellte sich H. auf den Standpunkt, daß dem Vermächtniß nicht nothwendig eine Liberalität innewohnen müsse. Obwol die Schrift ihr Beweisthema mit beachtenswerthen Gründen versieht und viele feine Gedankengänge enthält, vermochte sie doch nicht die herrschenden Ansichten zu modificiren. Ebensowenig fand seine Definition des Vermächtnisses als „Form letztwilliger Zuwendung vom Vermögensstoff auf rechtlicher Grundlage der Beerbung“ Anklang. In einer weiteren Reihe von Arbeiten verwendete H. das Zweckmoment [29] für die Erkenntniß des Wesens mannichfacher juristischer Erscheinungen. Gegenüber vielen Schriftstellern, die bemüht sind, möglichst aus dem subjectiven Willen, aus der Innerlichkeit der Parteiabsicht die Rechtssätze abzuleiten, operirt H. mit der objectiven Natur und anerkannten Zweckbestimmung der einzelnen Rechtsinstitute. So in seiner tiefgründigen Schrift über die Obligation, Untersuchungen über ihren Zweck und Bau, 1875. Hier betont H., daß die Obligation ein juristisches Mittel zu einem bestimmten Zwecke gewähre und bekämpft insbesondere mit Bezug auf den Untergang der Obligationen die Auffassung, daß die Obligation als „Recht auf Handlung“ anzusehen sei; in den meisten Fällen der Obligationen sei das wesentliche nicht eine Handlung des Schuldners oder seines Vertreters, sondern vielmehr das, daß der Gläubiger eine Sache oder Summe zum Gebrauchen oder Behalten bekomme. In kurzer Formulirung faßt H. seine Grundgedanken über den Obligationsbegriff folgendermaßen zusammen: „Das Wesen der Obligation besteht in dem aus besonderem privatrechtlichen Rechtsgrunde erwachsenen, den Gläubiger berechtigenden Soll oder oportet, welches als das, durch bestimmte äußere Sanktion aufrecht erhaltene bloße Mittel zur Sicherung und Befriedigung des gesetzten Obligationszweckes erscheint. Dieses Soll kehrt sich zunächst als ethisches, als Pflicht gegen den Willen des Schuldners. Es vermag sodann zum absoluten Müssen sich steigernd, mit selbständiger Kraft nach außen hin zu wirken, indem es namentlich eventuell im alten Recht direct die Person des Schuldners, im neueren Recht sein gesammtes Activvermögen oder auch nur einzelne Stücke desselben unmittelbar ergreift, indem es selbst kraft Realexecution Satisfaction und Verwirklichung sucht unter völliger Umgehung des schuldnerischen Willens und der schuldnerischen Handlung“. Im Laufe dieser Untersuchungen, die vom Untergang der Obligation bei concursus causarum ausgehen und dabei fast alle für den Begriff der Obligation wesentlichen Fragen umfassen, bespricht H. auch die Lehre vom Einfluß der Unmöglichkeit der Leistung und nimmt hiebei entschieden Stellung gegen die Lehre von der subjectiven und objectiven Unmöglichkeit, die schon von Donellus und neuestens von Brinz verworfen worden war. Dagegen verficht H. die praktisch wichtige Unterscheidung von factischen und rechtlichen Hindernissen.

Die von H. in der Vorrede zur „Obligation“ ausgesprochenen programmatischen Worte charakterisiren ihn als Schriftsteller treffend: „Gerade vom Standpunkt einer einzelnen praktischen Frage aus läßt sich oft ein allgemeineres Problem sicherer ein Stück weiter fördern, als wenn man in abstracter Betrachtung eine absolute Lösung desselben in Angriff nehme“. Diese Art der Forschung hat nicht nur in der ebenerwähnten Schrift, sondern auch in anderen Arbeiten Hartmann’s treffliche Früchte getragen. So in „Internationale Geldschulden“, „Wort und Wille“, „Werk und Wille“, „Juristischer Casus“, „Grundprinzipien des englisch-amerikanischen Vertrages“; denn auch H. besaß, gleich dem von ihm hochverehrten Leibniz „die Kunst aus einem bloßen Gelegenheitsanlaß ein ganzes System auszuspinnen“ (Worte H.’s in Leibniz als Jurist, S. 51).

Das Jahr 1877 brachte zwei Aufsätze: die Freiburger Prorectoratsrede „Der Gedanke des Zweckes“ und das Prorectoratsprogramm „Rechte an eigener Sache“ (auch abgedruckt in Ihering’s Jahrbüchern Bd. 17, S. 69–144). In letzterer Studie wird das Problem erörtert „ob nicht die beschränkteren Rechte, welche man als iura in re aliena begrifflich zu charakterisiren gewöhnt ist, in Wahrheit so aufgefaßt und construirt werden müssen, daß sie auch in re propria möglich erscheinen. In überzeugender Weise wird im einzelnen ausgeführt, daß neben dem Eigenthumsrecht für den Eigenthümer an der [30] nämlichen Sache noch mannichfache jura in re denkbar sind, wofern sie nach der Lage der Dinge Zweck und Sinn haben und daß sie mithin nicht begriffswesentlich iura in re aliena sein müssen. 1882 erschienen zwei weitere Arbeiten aus der Feder Hartmann’s. Einmal „Wort und Wille im Rechtsverkehr“ (Ihering’s Jahrb. 20. Bd;, S. 1–79), und zum anderen: „Internationale Geldschulden“ (Archiv f. d. civilist. Praxis Bd. 65, S. 147 bis 229). In ersterer bespricht H. die interessante und oft ventilirte Frage „wie sich da, wo aus Worten und Handlungen der Parteien in erlaubtem civilrechtlichem Rechtsverkehr Rechtsfolgen insbesondere Obligationen entstehen sollen, das Verhältniß und Schwergewicht der innern subjectiven Parteiabsicht und der äußeren objectiven Momente des Falles zu einander gestalten“. H. operirt dabei mit dem von ihm auch anderweitig verwendeten Gesichtspunkt der guten Treue, die ihm vom objectiven Zweckgedanken geleitete und disciplinirte Billigkeit ist, also weit über die römische bona fides hinausgeht. „Dem Aeußeren der Erklärung ist ein bestimmtes durch die Richtschnur der guten Treue begrenztes Maß von Selbständigkeit und rechtsverbindlicher Kraft, dem Innern gegenüber beigelegt“, ein Gedanke, der als außerst fruchtbar bezeichnet werden muß.

Es folgte sodann 1884 der Aufsatz „Juristischer Casus und seine Präsentation bei Obligationen auf Sachleistung, insbesondere beim Kauf“ (Ihering’s Jahrb. f. Dogmatik Bd. 22, S. 417–496), eine nähere Ausführung der in der „obligatio“ ausgesprochenen Hauptgedanken; 1886 in der Zeitschrift f. schweizerisches Recht Neue Folge VI eine Arbeit über Correal- und Solidarobligationen nach schweizerischem Obligationenrecht, und noch im selben Jahre eine Erörterung über das Schuldverhältmß nach römischem und modernem Recht (Archiv f. d. civilist. Praxis Bd. 70, S. 169–211). Hatte H. diese Frage sowol in seinem „Begriff und Natur der Vermächtnisse“, wie auch in seiner „obligatio“ vom theoretischen Standpunkte aus besprochen, so erfolgte hier eine eingehende Prüfung mit Rücksicht auf die Praktikabilität dieser von Ihering als „Zwickmühle“ charakterisirten Erscheinung. H. vertheidigt hier seinen Standpunkt gegenüber neueren Publicationen und nimmt bezüglich des legatum debiti an, daß es, wenn darin keine Verbesserung der alten Schuld enthalten ist, von Haus aus deshalb als nichtig angesehen werden mußte, weil es dem Zweckgedanken des Legates zu diametral widersprechend war; aber auch dann, wenn es sich selbst um eine Beurkundung einer schon bestehenden Schuld handelt, ja selbst wenn sich das legatum in die Gewandung einer Anerkennung kleide, sei es ganz und voll ein Vermächtniß.

In seiner im J. 1888 im 72. Bd. des Archivs f. d. civilist. Praxis S. 161–256 erschienenen Abhandlung „Werk und Wille bei dem sogenannten stillschweigenden Consens“ hat H. zu seiner früher genannten Studie „Wort und Wille“ ein werthvolles Seitenstück geliefert; auch hier bietet er wie immer eine lehrreiche Casuistik, entwickelt seine Ideen vom Zweckgedanken, dem Princip der guten Treue, der rechtlichen Ethik und verwirft den ganzen Schematismus von stillschweigenden, präsumirten, fingirten Willenserklärungen als etwas, das jedes fruchttragenden Gedankens bar sei.

Im gleichen Jahre besprach H. in emem schönen Aufsatze („Der Civilgesetzentwurf, das Aequitätsprinzip und die Richterstellung“) den Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich (Archiv f. die civilist. Praxis Bd. 73, S. 309–407). Die Frage, welche er aufwirft, geht vorzüglich dahin, ob derselbe nicht „hie und da dem wahren, inneren Recht zu Gunsten der abstracten Formel ohne Noth Abbruch thut, ob nicht die Stellung des Richters sowie mit ihr auch die Stellung der den Richter leitenden und [31] führenden Rechtswissenschaft hie und da eine zu weitgehende Beschränkung erfahren hat“. Eine Fülle von feinen Bemerkungen über Billigkeit und Richterstellung ist die Frucht dieser den damaligen Entwurf charakteristrenden und gerecht kritisirenden Studie.

Nachdem H. 1890 dem 21. deutschen Juristentag über die Frage „Ist die vom Entwurf des B.G.B. angenommene Stellung des Testamentsvollstreckers zu billigen und wie ist sie nöthigenfalls anders zu regeln“ ein Gutachten (Verhdl. des 21. deutschen Juristentages I, 1–42) erstattet hatte, in welchem er aus guten Gründen und in scharfer Polemik die Fassung des Entwurfes ablehnt und den Testamentsvollstrecker als Träger eines erbrechtlichen Eigenrechtes anerkannt wissen will, veröffentlichte er 1891 „Die Grundprinzipien des englisch-amerikanischen Vertragsrechtes gegenüber der gemeinrechtlichen Vertragsdoktrin“ (Archiv für die civilist. Praxis Bd. 77, S. 161 bis S. 242). Hier stellt H. die lehrreiche Untersuchung an „wie die nämlichen germanischen und romanischen Elemente, welche den wesentlichen Grundstamm des englisch-amerikanischen Rechtes bilden, jenseits des Oceans zu einem erheblich anderen … System ausgebildet worden sind, als bei uns“. Für die Praxis, wie auch für das Verständniß unseres Rechtssystems ist eine derartige Betrachtung äußerst nützlich und kann auch in legislativer Richtung überaus fruchtbar werden, indem, wie H. nachweist, gar manche Sätze und Auffassungsweisen des englisch-amerikanischen Rechtes zur Fortbildung unseres eigenen Rechtes vortrefflich verwerthbar wären, so die bei Auslegung der Verträge dort befolgte, gesunde Vertrauenstheorie, die geschickte Verwerthung des reasonable man, die glückliche Behandlung der gegenseitigen Verträge, im Falle als eine auffallende Ungleichmäßigkeit zwischen Leistung und Gegenleistung vorliegt u. a. m. 1892 widmete H. seine Studie über „Leibniz als Jurist und Rechtsphilosoph“ Ihering (Festgabe der Juristenfacultät zu Tübingen), eine sinnige Widmung, da ja Leibniz – wenn auch in anderem Sinne als Ihering – das Zweckprincip im Gegensatz zu Spinoza kräftig betonte. H. entwirft in dieser Arbeit ein anschauliches Bild der Bedeutung Leibnizens nicht nur für die Rechtswissenschaft der Gegenwart, sondern auch für die der Zukunft. Dabei finden sich viele tiefe Gedanken über die Rechtswissenschaft und ihre Lehre, insbesondere über die Methode der positiven Jurisprudenz und der Rechtsphilosophie. Nebst diesen Schriften wären noch größere Recensionen in der Kritischen Vierteljahrsschrift Bd. XIII, XVIII, XXII, XXVI, in der Jenaer Litteraturzeitung von 1874, 1875 u. a. m. anzuführen.

Nach seinem Tode brachte das Archiv f. d. civilist. Praxis (Bd. 85, S. 1 bis 57) einen leider unvollendet gebliebenen Aufsatz aus seinem Nachlaß: „Die liberatorischen Verträge und ihr Rechtsgrund insbesondere“. Ueberblickt man die reiche litterarische Thätigkeit dieses viel zu früh dahingeschiedenen Gelehrten, so ist es wol gerechtfertigt die Hoffnung auszusprechen, daß die Worte, die H. selbst gebraucht hat (Vorrede zu seiner „Obligation“): „Unvergänglich ist die Kraft des innerlich begründeten Gedankens; früher oder später wird er stets, allen Hindernissen zu Trotz, seine siegreiche Macht bewähren“, auch für sein gesammtes litterarisches Wirken fürderhin Geltung besitzen und sich bewahrheiten werden.

Degenkolb, Archiv f. d. civilist. Praxis Bd. 84, S. 1–17, wo sich auch eine schöne Charakteristik Hartmann’s als Universitätslehrer und College vorfindet.