ADB:Kiel, Friedrich

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Artikel „Kiel, Friedrich“ von Erich Prieger in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 51 (1906), S. 126–133, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Kiel,_Friedrich&oldid=- (Version vom 28. März 2024, 07:29 Uhr UTC)
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Kiel: Friedrich K., geboren am 7. October 1821 zu Puderbach in der Rheinprovinz, † am 13. September 1885 zu Berlin. Sein Vater war Schullehrer des kleinen Dorfes im Kreise Neuwied. Die berufsmäßige Ausübung der Musik im elterlichen Hause, die Theilnahme am Gottesdienst mit [127] dem kirchlichen Gesang wie dem Orgelspiel haben das musikalische Talent frühzeitig zum Erwachen gebracht. Die ersten Compositionsversuche begannen sehr früh, im 6. Lebensjahre war der Kleine nicht nur im Stande, gehörte Melodien wiederzugeben und in andere Tonarten zu transponiren, sondern auch sich am Clavier in freien Phantasien zu ergehen. In der Uebung das, was ihm vorgespielt und gesungen wurde, sofort notengetreu zu wiederholen, hatte der junge Mann eine solche Sicherheit erlangt, daß er des Glaubens war, nun könne er Alles spielen. Charakteristischer Weise scheiterte an diesem Selbstbewußtsein vorerst jeder Versuch, die Notenkenntniß beizubringen. Erst im 11. Jahre konnte ein etwas methodischeres Lernen durchgesetzt werden, – nach den gegebenen Verhältnissen war aber kein gründliches Studium zu denken. Dazwischen wurden die autodidactischen Compositions-Uebungen fortgesetzt, die Beschäftigung mit dem Volkslied bot die Grundlage, Variationen über einfache Melodien waren meistens die Resultate, ebenso eine große Anzahl von Tänzen. Die Liebe zum Volkslied hat auch den späteren Meister durch das ganze Leben begleitet, ganz sicher war diese Neigung zu dem Einfachen, Natürlichen mit eine Ursache, die ihn auch fernerhin abhielt, einem sich immer weiter verbreitenden, oft verschwommenen Romanticismus irgend eine Concession zu machen.

Die Lehrerfamilie war inzwischen 1827 nach Schwarzenau übergesiedelt, ein Paar Stunden entfernt von Berleburg, dem Wohnort der Fürsten von Sayn-Wittgenstein-Berleburg. Das offenkundige Talent des Knaben muß doch in jener Gegend Aufsehen erregt haben. Eines Tages erhielt der Vater die Aufforderung, seinen Sohn zu dem Fürsten zu bringen. Der Mittler war ein ehrwürdiger Geistlicher von 90 Jahren, Superintendent Kneip, dem Friedrich K. zeitlebens ein dankbares Andenken bewahrte. In einer Orchesterprobe trug er u. A. Variationen über ein Volkslied vor, „welche auf das beste aufgenommen wurden“. Der Bruder des Fürsten Albrecht, Prinz Karl, faßte ein so großes Interesse für den Knaben, daß er, selbst ein vortrefflicher Violinspieler, sich zum Unterricht erbot. Zweimal in der Woche wandelte der Kunstjünger zu seinem hochgestellten Lehrer, – dies war überhaupt die erste ordentliche Unterweisung, die der nunmehr Vierzehnjährige erhielt. In dreiviertel Jahr war er soweit, daß er ein Violinsolo mit Orchesterbegleitung vortragen konnte; Lehrer wie Schüler ernteten reichliches Lob, und letzterer erhielt sofort eine Anstellung als Kammermusiker.

Von dem musikalischen Leben an diesem Hofe hat K. später eine freundliche Skizze veröffentlicht. Es war einer jener kleinen Fürstenhöfe, an dem man die Kunst um ihrer selbst willen trieb. Die Prinzen standen mit ihren Dienern an denselben Pulten. Die Zeit, in der Haydn und Mozart ihre Werke gerade mit Rücksicht auf solche häusliche Veranstaltungen geschrieben hatten, war noch nicht so lange vorüber, und die Kluft zwischen dem Dilettanten und Fachmann war noch nicht so erweitert wie heutzutage infolge der gesteigerten Anforderungen an den Ausübenden.

Für sich wie das Orchester schrieb K. nun eine Anzahl Werke, meistens Violinsoli mit Begleitung. Gleichzeitig suchte er sich im Clavierspiel zu vervollkommnen, sodaß er Concerte von Mozart und Hummel vortragen konnte. Seine Compositionen, die dort sehr gefielen, brachten die kunstverständigen Fürsten zur Ueberzeugung, daß ihrem Schützling eine gründlichere musikalische Ausbildung zu theil werden müsse. Nach beinahe dreijährigem Aufenthalte wurde K. gelegentlich einer Reise 1838 nach Coburg mitgenommen, um dort bei dem Kammermusiker Kaspar Kummer weiter zu studiren. Letzterer – geboren 1795, † 1870 – hatte sich namentlich auf dem Gebiete der Flöten-Litteratur [128] einen gewissen Namen gemacht und zahlreiche Werke in jeder Art von Kammermusik veröffentlicht. Er muß einer jener achtbaren und tüchtigen Musiker vom alten Schrot und Korn gewesen sein; bei der Composition wird er wol nach einer gewissen Schablone gewaltet haben; die Form war da, man goß die Noten hinein. Unter dieser Leitung hat der Schüler jedenfalls so viel gelernt, daß er mit einer gewissen Routine an die Gestaltung von Sonaten und Ouverturen herangehen konnte. Nach anderthalb Jahren war der Unterricht zu Ende, worauf K. nach Berleburg zurückberufen wurde und eine Anstellung als Concertmeister der Capelle erhielt. In dieser Zeit (1839 bis 1842) entstanden zwei Ouverturen (H-moll, C-dur), Soli für Violine, Oboe, Clavier und Orchesterbegleitung, vier Sonaten und eine größere Anzahl kleinere Stücke für Clavier, ein- und vierstimmige Gesänge, ferner eine Geburtstags-Cantate für Solostimmen, Chor und Orchester. In jener erwähnten Skizze berichtet K. selbst über diese Lebensperiode: „Jetzt begann für den Achtzehnjährigen durch die besondere Gunst des Fürsten eine harmlos-glückliche Zeit. Alles, was ich schrieb, wurde sofort aufgeführt. Ich konnte Versuche und Beobachtungen anstellen und lernte die Werke unserer classischen Meister der Instrumentalmusik kennen. Doch mehr und mehr machte sich der Mangel gründlicher, besonders contrapunctischer Studien fühlbar. Bei Versuchen in größeren und verwickelteren Formen zu schreiben, zeigte sich die bisher erlangte Compositionstechnik unzulänglich. In noch höherem Maße machte sich dieser Mangel geltend, als mir ein Werk von Joh. Sebastian Bach in die Hände kam. Wie Schuppen fiel es mir auf einmal von den Augen, als ich zuerst die (zweite) Es-dur-Fuge aus dem „Wohltemperirten Clavier“ kennen lernte. Das war eine Musik, die mir bisher fremd geblieben war. Gerade aber die vergeblichen Anstrengungen, in diesen Formen etwa zu Stande zu bringen, wiesen auf noch ganz andere Vorstudien und andere Bahnen. – Nicht leicht wurde es, aus sicheren und angenehmen Verhältnissen zu scheiden und meine Wohlthäter zu verlassen. Der Fürst willigte in meine Uebersiedlung nach Berlin, wo ich meine weitere Ausbildung zu finden hoffte. Briefe, welche ich auch später von meinen Fürsten erhielt, überzeugten mich, daß ihr Wohlwollen nicht erkaltet war; in rührender Weise unterließen sie niemals, ganz väterlich ihren Schützling zur Vorsicht in der großen Stadt zu ermahnen.

Sie sind längst heimgegangen, diese edlen Fürsten, unvergeßlich mir, der ich ihnen soviel verdanke.“

Mit glänzenden Empfehlungen ausgerüstet, trat K. die Reise über Kassel an, wo er Louis Spohr aufsuchte, dessen Theilnahme durch Vorlage einiger Compositionen gewonnen wurde. In Berlin wurde ihm von Friedrich Wilhelm IV. auf eine Probearbeit ein dreijähriges Stipendium gewährt und dadurch die Möglichkeit, ohne äußere Sorgen sich dem Studium unter Leitung von Siegfried Wilhelm Dehn hinzugeben. Dehn hatte sich durch seine 1840 erschienene „Harmonielehre“ einen Namen als Theoretiker erworben. Ohne irgendwie selbst schöpferischer Componist zu sein, hatte er emsige Studien unter Bernhard Klein gemacht. Seine dabei erlangte Technik, ein feingebildeter Geschmack, seine große und genaue Bekanntschaft mit den Classikern haben ihn besonders zum Lehrer befähigt. Zweiundeinhalb Jahre, 1842–44, genoß K. diesen Unterricht, der ihn ganz bedeutend förderte. Ein scheinbar nebensächlicher Umstand kam hinzu: Dehn war Custos der musikalischen Abtheilung der königlichen Bibliothek; da hat der Schüler gern die Gelegenheit ergriffen, sich auch in den Werken der älteren Meisterschulen umzuthun. So entstanden eine Anzahl Motetten im Palestrina-Styl. Ganz besonders vertiefte er sich [129] in die Werke Joh. Seb. Bach’s, die damals beinahe nur im Manuscript vorhanden waren. Nach dem äußeren Abschluß des Unterrichts trat zunächst eine achtjährige stille Zeit ein, von einem Hinaustreten in die Oeffentlichkeit ist wenigstens nichts bekannt geworden. Ein eigenhändiges Verzeichniß beweist aber, daß K. in der Stille die Arbeit an sich selbst eifrig weiter fortsetzte.

In dieser Zeit mag auch der Ernst des Lebens, die Sorge um das tägliche Brot gar oft herangetreten sein; Clavier- und Harmoniestunden mußten die äußere Stellung ermöglichen. Ein Zusammentreffen mit Franz Liszt wurde auch für K. bedeutungsvoll. Liszt hatte damals seine bekannte Uebertragung der Bach’schen Orgel-Präludien und Fugen für das Clavier vorbereitet, K. sah auf der königlichen Bibliothek bei seinem alten Lehrer Dehn die Handschrift und bemerkte an einer Stelle eine Stimmführung, die er sofort als unbachisch bezeichnen konnte. Liszt nahm dankbar die Verbesserung an, sah die gerade fertig gewordenen „15 Canons im Kammerstil für Clavier“ und sandte dieses Werk mit warmer Empfehlung zum Verlag an Breitkopf und Härtel. Im einunddreißigsten Lebensjahre ließ der Componist 1852 dieses Werk, Liszt gewidmet, als opus 1 herausgehen, damit andeutend, daß zwei für die Jugend früher veröffentlichte Hefte nicht mehr gerechnet werden sollten. Als op. 2 erschienen in demselben Jahre „Sechs Fugen“. Beide Titel sind für seine Stellung jedenfalls charakteristisch.

Oeffentlich ist Friedrich K., seit er in Berlin seinen Wohnsitz genommen hatte, nur einmal aufgetreten, im Tonkünstler-Verein; es ist wiederum charakteristisch, daß er dem Hervorruf keine Folge leistete. Später pflegte er nur vor eingeladenen Zuhörern die neugeschaffenen Werke vorzutragen. Seinem stillen bescheidenen Wesen widerstrebte die größere Oeffentlichkeit, so ist es auch gekommen, daß sein Name Jahrelang nur einem kleinen Kreise von Fachgenossen und Musikfreunden bekannt war. Erst der 8. Februar 1862 brachte einen Umschwung herbei, an diesem Tage führte der Stern’sche Verein das Requiem in F-moll zum ersten Male auf. Der Erfolg war ein großartiger, der Name des Componisten wurde damit in die erste Reihe der zeitgenössischen gerückt. Besonderes Staunen erregte, daß ein ganzer, fertiger Künstler plötzlich vor das größere Publicum trat, nicht einer von denen, die vor den Augen der Oeffentlichkeit ihre schwankenden Versuche anstellen. Im 41. Lebensjahre hatte K. seinen ersten, aber auch entscheidenden großen Sieg davon getragen. Von jenem Tage an gestalteten sich auch die äußeren Verhältnisse besser. Vor allem konnte K. die Clavierstunden aufgeben, um sich ganz der Composition zu widmen; nur in letzterer ertheilte er ferner noch Unterricht. Das Jahr 1865 brachte die Ernennung zum Mitglied der Akademie der Künste, 1870 die Aufnahme in deren Senat, 1866 wurde er Lehrer am Stern’schen Conservatorium. Als 1871 parallel mit der „Hochschule für Musik“, aber unabhängig von dieser, Compositionsclassen an der Akademie gegründet wurden, wurden K., Eduard Grell und Wilhelm Taubert zu Vorstehern derselben berufen. Damit gab er die Stelle bei jenem Privatinstitut auf. Bei Neuorganisation der Hochschule übernahm K. an dieser 1882 die Vorsteherschaft für den Compositions-Unterricht. Kiel’s Leben verfloß so einfach wie nur möglich. Schaffen und Lehren bildeten seine Thätigkeit, nur in den Herbstferien suchte er Stärkung und Erholung auf den Wanderungen im Hochgebirge. Um sich freizuhalten von allem, was das reine Schaffen beeinträchtigen konnte, hatte er auf die Gründung einer Familie verzichtet. Bei lieben Freunden fand er Anschluß, so hat er die meiste Zeit im Hause des ausgezeichneten Architekturmalers Carl Graeb verlebt, in dessen Familie er wie ein Glied derselben aufgenommen war.

[130] Von Natur gesellig und gern über die Kunst sich ausredend, war er im Urtheil ungemein milde, niemals verletzend; gern suchte er anzuerkennen und machte am liebsten auf Gelungenes in Werken anderer Meister aufmerksam. Nur selten ließ er seine Ueberlegenheit hervortreten. Als ihm auf irgend eine Bemerkung hin einmal vorgehalten wurde, das neue angebliche „Meisterwerk“ sei doch „zu tief“, um gleich verstanden zu werden, erwiderte er nur: ich kann den Satz in den Hauptlinien gleich nach dem Gedächtniß niederschreiben.

Im September 1883 widerfuhr K. das Unglück, von einem Wagen erfaßt und umgestoßen zu werden. Ein sofort genommener größerer Urlaub brachte wol äußerliche Erholung, schwere Folgeerscheinungen machten sich aber im Verlaufe des nächsten Jahres immer stärker geltend, und gegen den Winter 1884 konnte kein Zweifel bestehen, daß seine Tage gezählt waren. Der Unterricht mußte immer mehr ausgesetzt werden. Der ungemein feinfühlende Mann war innerlich tief bedrückt, daß er seine Amtspflichten nicht mehr erfüllen konnte. Statt um längeren Urlaub einzukommen, reichte er seinen Abschied ein, trotzdem er wußte, daß die Zinsen aus dem ersparten kleinen Capital auch nicht nothdürftig für den Lebensunterhalt hinreichen würden. „Ich werde wol alle meine Stellen aufgeben müssen; und wie werde ich dann existiren können, das weiß Gott! –“ schrieb er Ende 1884. Diese schwere Sorge hatte er schon lange mit sich herumgetragen, ehe es das Zureden eines Freundes vermochte, sie zögernd zu offenbaren. Es ist dann gelungen, die Wege zu finden, um in dieser Beziehung wenigstens dem sterbenden Künstler die letzten Monate sorgenfrei zu gestalten, indem der Form nach der Staat den früheren Gehalt weiter bewilligte.

Langsam versiechten alle Kräfte, der Tod kam ihm als ein wahrer Erlöser am 13. September 1885. Auf dem alten Kirchhof der Zwölf-Apostel-Gemeinde in Schöneberg liegt er begraben. Ein Grabdenkmal – die Büste von Fritz Schaper, der architektonische Entwurf von Ende und Böckmann – hat außer Namen und Daten noch die Inschrift: „Errichtet von seinen Schülern und Freunden.“

Groß ist die Zahl seiner Schüler gewesen, von denen viele im Musikleben eine hohe Stellung einnehmen, von denen wol alle ihm tiefe Verehrung und Liebe bewiesen. Das, was von Kiel’s Lehrer Dehn galt, traf noch in weit höherem Maße bei ihm selbst zu. Vor allem war es die Uebersicht über die Formen, die ihn befähigte, sofort zu sagen, wo etwas fehlte oder wo eine Ergänzung einzusetzen hatte. Immer verwies er dabei die Jüngern auf Mozart, dessen wunderbare Linien an Schönheit nicht zu übertreffen seien. In Bezug auf den Inhalt waren es die Werke Seb. Bach’s und Beethoven’s, die immer wieder herangezogen wurden. Ein erstaunlich sicheres Gedächtniß ermöglichte es ihm, bei auftauchenden Fragen sofort aus der classischen Litteratur die Beispiele am Clavier oder in Noten wiederzugeben. Dadurch gewann sein Unterricht ungemein an Lebendigkeit, auf Theorien und lange Vorlesungen hat er sich nie eingelassen. Um so merkwürdiger erscheint es, wenn ihm in wenig sachverständiger Weise der Ehrentitel eines „großen Theoretikers“ verliehen wurde. Eine Theorie hat er nie aufgestellt, aber tiefe Kenntniß und ein wahrhaft großes Können, das dem Wollen sofort gehorchte, – das waren seine Mittel.

Eine Uebersicht über Friedrich Kiel’s Werke zeigt an größeren Werken für Soli, Chor und Orchester als erstes das Requiem, op. 20, in F-moll, componirt im Winter 1859–60; es erschien 1862 und in einer zweiten Ausgabe 1878, an einzelnen Stellen vielfach umgearbeitet. Die im Jahre 1865 geschriebene „Missa Solemnis“, op. 40, erfuhr die erste Aufführung zugleich [131] mit dem „Te Deum“, op. 46, am 21. März 1869, am 4. April 1874 folgte das Oratorium „Christus“, op. 60, im Winter 1871–72 geschrieben, am 20. November 1881 das zweite Requiem, As-dur, op. 80, componirt 1880, am 25. April 1884 der „Stern von Bethlehem“, op. 83, im Jahre vorher geschrieben. Dem Jahre 1882 entstammte op. 81, die „Idylle“ von Goethe, deren erste Aufführung am 8. Januar 1884 erfolgte. Den Aufführungen dieser beiden letzten Werke konnte der schwerkranke Meister nicht mehr beiwohnen. Unter den Chorwerken seien noch zu erwähnen op. 25, ein „Stabat mater“ für Frauenchor und Soli mit Orchester (1862), sechs geistliche Gesänge für Frauen- und Knabenchor, op. 59 (1872), zwei Gesänge von Novalis für gemischten Chor und Orchester, op. 63 (1875). Zwischen diesen Werken liegt eine ausgebreitete Thätigkeit auf dem Gebiete der Kammermusik. Von größeren Werken sind es für Clavier und Streichinstrumente: 2 Quintette, A-dur, C-moll, op. 75, 76 (1878, 79); 3 Quartette, A-moll, E-dur, G-dur, op. 43, 44, 50 (1866, 6, 68); 7 Trios, op. 3 (1850), op. 22, 24 (1853), op. 33 (1864), 34 (1851, der Mittelsatz vom Jahre 1870), op. 65 (1874); vier Sonaten und ein Variationswerk für Violine und Clavier: op. 16 (1860), op. 351, 2 (1867), op. 51 (1868), op. 37 (1865); eine Violoncell- und eine Bratschen-Sonate, op. 52, 67 (1868, 1876), ferner zwei Streichquartette, op. 53, A-moll, Es-dur (1869) und zwei Hefte Walzer für Streichquartett, op. 73, 78 (1879, 1880), zwei Hefte „Deutsche Reigen“ für Clavier und Violine, op. 54 (1870). Hierher gehören noch eine ganze Anzahl größerer und kleinerer Werke für Clavier allein, in erster Reihe die Variationen und Fuge über ein Originalthema, op. 17 (1860), die vier zweistimmigen Fugen, op. 10 (1856), die Giguen, op. 36 (1866), das Hans v. Bülow gewidmete Clavier-Concert in B-dur, op. 30 (1864).

Eine besondere Stellung nehmen die Compositionen für Clavier zu vier Händen ein, in denen K. gewissermaßen zu seiner Jugendliebe zurückkehrte. Hierher gehören außer anderen die Walzer op. 47, 48 (1868), die Ländler op. 66 (1875). Von reinen Orchesterwerken wurden nur die Märsche op. 61 (1871) veröffentlicht, das bedeutendste – eine 1873 componirte Ouverture (D-moll) zum unvollendeten Oratorium „Saul“ ist noch ungedruckt, das großartige Thema fand aber Verwendung im „Dies irae“ des zweiten Requiems. Eigenthümlich berührt, daß K. das heute gangbarste Gebiet, das Lied, kaum betreten hat. Hat er auch in seiner Jugend zahlreiche Gesänge componirt, veröffentlicht hat er 1874 nur zwölf, op. 31, und von diesen entstammen die meisten den Jahren 1842 und 1860, 61; das war eben nicht sein Feld, und in der That hebt sich nur eines davon hervor, das nach Eichendorff’s Worten „Ich wandre durch die stille Nacht“, ein tiefempfundenes, stimmungsvolles und trotz einer vorübergehenden Reminiscenz an Schubert hervorragend schönes Lied.

Den Kiel’schen Werken ist oft der Vorwurf gemacht worden, sie seien „nicht melodiös“, „von einer gewissen Trockenheit“, „sie seien mehr mit dem Verstande gemacht“. Solchen Bemerkungen ist man vom Anfang seiner Künstlerlaufbahn an begegnet, sie sind jedenfalls mit veranlaßt durch allerhand sonderbare Vorstellungen von „Canons“, „Fugen“ und sonstigen Künsten des „Contrapunkts“. Mit dem Verstande kann man wol ganz äußerliche Dinge in eine Composition hineintüfteln, man kann auch Notenhaufen neben einander setzen, daß aber ein fließendes Musikstück daraus entstehe, ist völlig ausgeschlossen. Dies gewährt nur die Phantasie des schaffenden Künstlers. Schwerer würde der Vorwurf einer gewissen „Trockenheit“ und „Nüchternheit“ wiegen, ein Vorwurf, der formell wenigstens die Logik für sich hat. Friedrich Kiel’s ganzes Wesen war aufgegangen in der Verehrung für Sebastian Bach, seine Art, zu denken und zu empfinden, hat soviel von jenem Großen aufgenommen, [132] daß es sich auch in der Melodiebildung verräth, und dies gilt ganz besonders bei den Chorwerken. Themen, die bei einem Liede allgemeinstes Entzücken hervorrufen wurden, versagen gänzlich, wenn es sich um Ausarbeitung eines so ganz anders zu gestaltenden Satzes handelt. Die hier geforderte Herrschaft über den Contrapunkt, die Unmöglichkeit, homophon zu verfahren, setzen auch bei dem Hörer Dinge voraus, die nicht immer entgegengebracht werden.

Es bleibt charakteristisch, daß Kiel’s Gemeinde vornehmlich in Norddeutschland und ganz besonders in Berlin heimisch war, in keiner anderen Stadt wurden die Werke der strengen Kunst, insbesondere die Sebastian Bach’s so hochgehalten und gepflegt. Dort hat auch Kiel’s „Christus“ seinen stärksten Widerhall gefunden, in den Jahren 1874–77 konnte er sechs Mal wiederholt werden, von Chorwerken des 19. Jahrhunderts hat nur Beethoven’s „Missa Solemnis“ diese Zahl überschritten. Die Eigenthümlichkeit Kiel’s erfordert gewisse Voraussetzungen und Vorbereitungen. Wo diese fehlen, wird das Urtheil oft verständnißlos und dann ablehnend ausfallen. Kein Geringerer als Hans v. Bülow hat in diesem Sinne schon im J. 1863 für Friedrich K. eine Lanze gebrochen, als er in wärmster Weise für die F-moll-Variationen op. 17 eintrat. Es heißt da: „Alles, was dieser Componist bisher der Oeffentlichkeit übergeben hat, ist nur geeignet gewesen, ihm die Hochachtung und Sympathie der Gebildeten zu erwerben. Er hat vollen Anspruch darauf, von vornherein mit dem einem Meister geziemenden Respect behandelt zu werden. Wo ihm dieser versagt wird, ist eine Lücke in der Kenntniß der Musiklitteratur anzunehmen und der Rath, selbige baldigst auszufüllen am Platze.“ Dreißig Jahre später, bei der Einweihung des Bechstein-Saales in Berlin, griff Hans v. Bülow wieder auf dieses von ihm so hochgeschätzte Werk zurück. In Bezug auf jenen Vorwurf wäre übrigens ganz besonders auf die „Reigen“ und „Walzer“ für Clavier zu vier Händen und Streichquartett zu verweisen, sie enthalten eine wahre Fundgrube reizender und edler Melodien.

Der Schwerpunkt von Kiel’s Schaffen liegt in seinen großen chorischen Werken. Zu einer Parallele mit Bach fordert unwillkürlich das Oratorium „Christus“, dessen Text der Componist sich selbst nach Bibelworten zusammengestellt hat. Während aber in den „Passionen“ sich Episches, Lyrisches und Dramatisches zusammenfinden, ist ersteres ganz weggefallen. Es heißt nicht mehr: „Da Jesus diese Rede vollendet hatte, sprach er zu den Jüngern“, sondern wir werden sofort im Geiste vor eine dramatisch belebte Scene gestellt. Dem Chor fällt eine doppelte Rolle zu, theils greift er, als die Stimme des mitwirkenden Volkes gedacht, in die Handlung ein, theils bildet er, nach Art der griechischen Tragödie, den reflectirenden Hintergrund. Jedenfalls ist im Gegensatz zu den früheren Passionen alles gedrungener und straffer gestaltet.

Auf die Frage, weßhalb sich K. einer Aufgabe zuwandte, die zu Vergleichen zwingt, könnte Bach selbst eine Antwort geben, Bach hat sich fünf Mal das Passionsthema gewählt. Es war immer eine andere Form der Lösung. In ähnlichem Sinne hat sich K. zwei Mal den Text des Requiems ausgesucht. In dem älteren Werke waltet mehr der Schrecken des Todes und des Gerichtes, es ist alles starrer und herber. Milder und versöhnender ist die Stimmung in dem späteren, inniger spricht hier noch die Bitte um den ewigen Frieden. Auch im Werke selbst ist ein Unterschied zu bemerken; gewaltiger und weiter sind die Bögen gespannt, welche die einzelnen Sätze umfassen. Aus der neueren Zeit wäre kein Werk zu nennen, in dem die großen polyphonen Sätze auf gleicher Höhe ständen. Musikstücke wie das „Recordare“ für vier Solostimmen, von solcher Innigkeit und Wärme der Empfindung und in diesem breiten Zuge dahinfließend, wird man überhaupt wenige in der [133] ganzen Musiklitteratur eintreffen. In zwei Dingen steht Friedrich K. sicherlich einzig in der neueren Musikgeschichte da: in Bezug auf Technik und Stilreinheit. In letzterer hat es selbst ein so großer Künstler wie Mendelssohn, von neueren ganz abgesehen, manchmal mangeln lassen. In Bezug auf Technik wird man auf Cherubini zurückgreifen müssen, um ähnlicher Meisterschaft und Beherrschung der Formen zu begegnen. Sie ist seitdem nicht mehr erreicht worden.

Vorstehende Skizze ist unter Zugrundelegung einer früheren Arbeit desselben Verfassers – Neue Musik-Zeitung, Nr. 22, 23 – 25. November, 1. December 1884 – geschrieben. Kiel’s erwähnte Schilderung „Aus dem Leben kleiner Fürstenhöfe“ findet sich: Vor den Coulissen. Originalblätter von Celebritäten des Theaters und der Musik. Herausg. von Jos. Lewinsky. Berlin 1882. S. 101–4. Außer zahlreichen Besprechungen in Zeitungen und Zeitschriften, die meist an die Erstaufführungen der Werke anknüpfen, wäre zu erwähnen: Gedächtnißrede von Emil Frommel (Zeitschr. „Halleluja“, 1. Nov. 1885, Sonderabdruck Berlin 1886); Otto Gumprecht, Westermann’s Illustrirte Deutsche Monatshefte, 1886 (Abdruck: Neue Berliner Musikzeitung 1887 Nr. 1–4); August Bungert: Neue Zeitschr. für Musik, 1875 Nr. 13–15, 22, 24, 32, 33–34, 36–38. Hans v. Bülow, N. Zeitschr. f. Musik, 18. Sept. 1863 = Ausgewählte Schriften, Leipzig 1896, S. 261–270. Eine eingehende fachmännische Besprechung des Oratoriums „Christus“ veröffentlichte Reinhold Succo: Allgemeine Musikalische Zeitung 1874 Nr. 17–19, 21, 22, 25, 27–28. – Porträts erschienen im „Album deutscher Componisten, 5. Lieferung, Berlin 1872 (hierin wie bei Bungert steht auch ein Verzeichniß der bis dahin herausgegebenen Werke nach den Opus-Zahlen geordnet), weitere Porträts erschienen im Verlage der Photographischen Gesellschaft in Berlin, bei Heinrich Graf, Schaarwächter u. A. in Berlin.