ADB:Lübben, Heinrich August
*): Dr. phil. Heinrich August L., geb. am 21. Januar 1818 zu Hooksiel, einem kleinen Hafenorte am Jadebusen. Der Vater war Volksschullehrer noch von dem alten Schlage, der das Hochdeutsche wie eine fremde Sprache behandelte. L. wuchs in den einfachsten Verhältnissen auf, aus denen er sich bis an seinen Tod die größte Anspruchslosigkeit hinsichtlich der äußeren Lebensgenüsse bewahrte. Sein Vater starb früh; seine Mutter folgte dem Sohne als treue und innig geehrte Hausgenossin in allen späteren Lebensstellungen und lebte auch noch fast 20 Jahre nach seiner Verheirathung mit der Schwiegertochter zusammen. Den ersten höheren Unterricht erhielt er in einer Candidatenschule, in der er durch glückliche Beziehungen trotz der Abgeschiedenheit des Oertchens mit seiner eigenartig zusammengesetzten Einwohnerschaft doch schon mancherlei Anregungen bekam. Dann kam er auf die Provinzialschule zu Jever (seit dem 300jährigen Jubiläum Mariengymnasium genannt), eine Anstalt, aus der trotz früher mangelhafter Einrichtungen doch unter dem Einflusse einzelner befähigter Lehrer recht tüchtige und auch namhafte Männer hervorgegangen sind. Für L. bildete der gediegene Unterricht des ebenso liebenswürdigen wie gründlich gebildeten Rectors Dr. Seebicht, eines Schulpförtners, für seine wissenschaftliche Richtung eine feste Grundlage. Ostern 1838 ging er zur Universität, um zugleich Theologie und Philologie zu studiren, hörte in Jena Reinhold, Hase, Frommann, Stickel, Eichstädt, Göttling, dann in Leipzig Hermann, Winer, Hartenstein, Haupt, zuletzt in Berlin Neander, Twesten, Böckh, Lachmann, Trendelenburg, Werder, Michelet, Gabler, W. Grimm, Ranke, und kehrte im Herbst 1841 in die Heimath zurück. Von allen diesen Männern hat er viel gelernt, die für seine spätere wissenschaftliche Thätigkeit nachhaltigsten Anregungen wol von Böckh, Lachmann und Ranke empfangen. In Jena gehörte L. der damals ungetheilten Burschenschaft (Burgkeller) an, sehr wenig thätig theilnehmend, aber beobachtend und empfangend, in Berlin erlebte er die Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV., beides fruchtbar für seine Auffassung der Entwicklung Deutschlands. Nachdem L. in Oldenburg das erste theologische, in Berlin ein philologisches Examen rühmlich bestanden hatte, ward er Ostern 1843 „Präceptor“ (alt überlieferte Bezeichnung für den Ordinarius der vierten Klasse des damals nur vierklassigen Gymnasiums) und schon Ostern 1844 „Cantor“ (Ordinarius der Tertia). Schon nach einem halben Jahre ward er an das Gymnasium zu Oldenburg berufen, zunächst um in Jever einem anderen Platz zu machen, doch hauptsächlich zugleich in Rücksicht auf seine Tüchtigkeit in der germanistischen Wissenschaft, deren erster Vertreter im Großherzogthum er der Zeit nach gewesen und dem Range nach bis zu seinem Tode geblieben ist. In der ersten Zeit seiner Wirksamkeit in Oldenburg war er auch außerhalb seines nächsten Berufes und seiner wissenschaftlichen Thätigkeit, die sich von seinen Lieblingsfächern (zu denen besonders auch die Geschichte und die griechische Litteratur gehörte) immer mehr auf das Germanistische concentrirte, rührig und rege theilnehmend an den Arbeiten eines litterarischen Vereins, an verschiedenen [814] lokalen in Broschüren und Tagesblättern hervortretenden Kämpfen etc. Das Jahr 1848 erregte auch ihn in hohem Maße, fand ihn aber nicht so unvorbereitet, wie so viele, die über Nacht große Politiker geworden waren und in Versammlungen und Tagesblättern das Wort an sich rissen. Gemeinschaftlich mit einem Freunde und Collegen, dem späteren Prediger Arens, bot er bald in feiner Ironie, bald in derbem Witz vorübergehend in einem von ihnen redigirten Blatte den „Demokraten“ die Spitze, denen er nach dem Sprachgebrauche jener Zeit ein „Reactionär“ war. Ohne je einer scharf abgegrenzten Partei anzugehören hat er im Großen und Ganzen stets die Richtung verfolgt, die man zur Zeit des Rückschlages als „gothaisch“ verspottete und die später als „national-liberale“ größere Erfolge aufzuweisen gehabt hat. Mit den zunehmenden Jahren zog sich L. immer mehr in die engeren Kreise seines häuslichen Lebens, seiner nächsten Berufsthätigkeit, der er mit der größten Treue und Strenge gegen sich oblag, und seiner eigentlichen wissenschaftlichen Arbeiten zurück. Stets aber hat er seine wissenschaftlichen Neigungen und geselligen Bedürfnisse zugleich zu befriedigen gesucht, war lange Zeit hindurch in einem griechischen Kränzchen und nach dessen Eingehen in einem von ihm angeregten germanistischen Kränzchen, in beiden stets der regelmäßigste, und nicht blos wegen seiner umfassenden Interessen und Kenntnisse geschätzte, sondern auch wegen seines behaglichen trockenen Humors sehr beliebte Theilnehmer. Außerdem ließ er nicht leicht ein Concert unbesucht, in welchem er sich an einer Beethoven’schen Symphonie erquicken oder an einem Oratorium erbauen konnte. Im J. 1847 heirathete er eine Tochter des Hofraths Dr. med. Basse, die ihn nach einer sehr glücklichen Ehe überlebt hat als Mutter von sechs Kindern, von denen der älteste Sohn Kreisphysikus in Waltershausen (Thüringen) ist, auch schriftstellerisch in seinem Fache thätig. In seiner amtlichen Stellung am Gymnasium rückte L. allmählich auf, aber ohne nach Außen sichtbare Folgen, nachdem er im J. 1866 den Professortitel zunächst im Verdruß über dienstliche Verhältnisse etwas schroff abgelehnt hatte, aber doch zugleich seinem schlichten Sinne entsprechend, der über die Sache der Form wenig achtete, so herzlich er sich jedoch freuen konnte, wenn auf Grund seiner Arbeiten namhafte Gelehrte brieflich mit ihm Verbindungen anknüpften. Am 1. April 1875 wurde L. von seinem Dienste für drei Jahre entbunden, um das mittelniederdeutsche Wörterbuch sicher zu Ende führen zu können, wofür ihm auf Reichskosten das Gehalt weiter gezahlt wurde. Ehe der Urlaub abgelaufen war, starb der Vorsteher der öffentlichen Bibliothek zu Oldenburg, Dr. Merzdorf, worauf ihm am 1. Juli 1877 diese Stelle verliehen wurde, was er als ein hohes Glück ansah. Hier konnte er seinen Lieblingsstudien sich ganz hingeben, während der Rücktritt ans Gymnasium ihm nicht in jeder Beziehung angenehm gewesen wäre, nachdem er einmal das otium studiosum gekostet und sich auch am Gymnasium bei dem häufigeren Wechsel im Lehrercollegium zuletzt etwas vereinsamt gefühlt hatte. Leider sollte er sich dieser neuen Stellung nicht so lange erfreuen, als nach seinem Lebensalter seine Freunde zu hoffen berechtigt waren. Das Leben eines Gelehrten, wie er es geführt hatte, hatte nicht die genügende Widerstandskraft gegen ein vorzeitiges Alter bewahrt, dessen Verfall durch eine Lungenkrankheit beschleunigt wurde. Mit zäher Energie suchte er lange den Obliegenheiten seines Amtes nachzukommen, bis ein Rückfall mit rascherem Verlaufe am 15. März 1884 ihn durch einen sanften Tod den Seinen, den Freunden und der Wissenschaft entriß. – Von seinen Werken wird das „Mittelniederdeutsche Wörterbuch“ in 6 Bänden, 1875–1881, wol als das Hauptdenkmal seines Gelehrtenfleißes und seiner wissenschaftlichen Tüchtigkeit gelten. In der Vorrede zum 1. Bande hebt er die Verdienste des Mitbegründers und Mitarbeiters Karl Schiller um das Werk in einer Weise hervor, die dem eigenen Verdienst nicht ganz gerecht wird; die folgenden Bände und das fertige Werk sind jedenfalls Lübben’s hauptsächliches, [815] um nicht zu sagen alleiniges Werk. Ein Auszug aus dem großen Werke in Einem Bande, den er unter Händen hatte, ist meines Wissens nur bis K gediehen. – Von einzelnen erschienenen Arbeiten Lübben’s sind an Programmabhandlungen zu nennen: „Behandlung der deutschen Sprache und Literaturgeschichte auf Gymnasien“, 1845; „Die Thiernamen im Reineke Vos“, 1863; „Versus memoriales“, 1866; „Mittheilungen aus niederdeutschen Handschriften“, 1868, 1874. An sonst erschienenen Schriften: „Das Plattdeutsche in seiner jetzigen Stellung zum Hochdeutschen“, 1846; Schulausgabe von der Nibelungen Noth (nach Lachmann); „Wörterbuch zu der Nibelungen Noth“ in drei Auflagen 1854, 1865, 1877; „Reineke de Vos mit Einleitung etc.“, 1867; „Zeno oder die Legende von den heiligen drei Königen; Ancelmus vom Leiden Christi“, 1869; „Mittelniederdeutsche Grammatik nebst Chrestomathie und Glossar“, 1882. Mit Franz Kern gab L. heraus: „Kern u. Lübben, Deutsches Lesebuch für höhere Schulen“, 2 Thle. 1868 (I. 1873, II. 1876 in 2. Aufl.). – „Der Sachsenspiegel nach dem Oldenburger Codex picturatus von 1336“, hrsg. v. L., m. Vorwort von v. Alten, 1879. In dem Verein für die niederdeutsche Sprache, der seit etwa zehn Jahren thätig ist, hatte er eine hervorragende Stellung, betheiligte sich viel an dem Correspondenzblatt desselben und redigirte das Jahrbuch seit 1875; seine letzte Postkarte vom Sterbelager aus galt noch der Redaction des im Druck befindlichen Jahrgangs. Es ist von besonderem Interesse, wie L. seine wissenschaftlichen Arbeiten immer mehr vorzugsweise der Erforschung des Niederdeutschen zugewandt hat, nachdem er in seiner Broschüre von 1846 gegenüber einer damals beginnenden Ueberschätzung des Plattdeutschen demselben mit wissenschaftlichen Gründen, aber zugleich mit rührender Resignation eine dauernde Lebensfähigkeit und Berechtigung abgesprochen hatte. Was er mit schmerzlicher Entsagung als ein Stück seines Jugendlebens opfern zu müssen sich gedrungen fühlte im Interesse der Gesammtbildung und Entwickelung des deutschen Volkes, dafür bethätigte er seine Jugendliebe in gewissenhafter wissenschaftlicher Forschung. Im mündlichen Verkehr klang in seiner Sprache noch immer im Tonfall das Jeversch-friesische Plattdeutsch nach; schriftlich handhabte er, wo er nicht nach lexikographischer Kürze und Präcision des Ausdrucks strebte, die Schriftsprache mit nicht gewöhnlicher Gewandtheit und Eleganz, je nach dem Gegenstande mit Würde und edlem Pathos oder mit geistreicher Anmuth oder spielender ironischer Feinheit. – Viele Aufsätze sind von ihm zerstreut in den verschiedensten Zeitschriften, die von seinem wissenschaftlichen Scharfsinn und vielfach von seiner Begabung für die Darstellung Zeugniß ablegen. Es ist für die gegenwärtige Mittheilung nicht möglich und auch sonst nicht thunlich eine vollständige Zusammenstellung derselben zu beschaffen, doch mag beispielshalber auf eine hingewiesen werden: „Einiges über friesische Namen“ in M. Haupt’s Zeitschrift für deutsches Alterthum, 1856. Die deutsche Onomastik war damals kaum über eine dilettantische Behandlung ihres Stoffes hinausgekommen; aber der Scharfblick Lübben’s kam auch bei einem so spröden Stoffe, wie die friesischen Namen ihn bislang gebildet hatten, im Wesentlichen zu denselben Ergebnissen, wie später die auf festeren Grundlagen gewonnene Methodik dieser neuen Wissenschaft.
Lübben[813] *) Zu S. 323. Als Lübben starb, war Bogen 21 der Allg. D. Biographie bereits gedruckt.