ADB:Mantels, Wilhelm
Emanuel Geibel, Georg Curtius, Marcus v. Niebuhr, Ferdinand Röse, in anregendem freundschaftlichem Verkehr, besonders in gleichem Interesse für die neuere, nicht nur deutsche, sondern auch ausländische Litteratur, verbunden war. Im J. 1834 verließ er als Primaner das unter Director Jacob in hoher Blüthe stehende Gymnasium und kehrte mit seinen Eltern nach seiner Vaterstadt zurück, wo er noch zwei Jahre das akademische Gymnasium besuchte, dessen er gleichfalls dankbar eingedenk geblieben ist. Im Herbste 1836 bezog er, um Theologie und Philologie zu studiren, die [254] Universität Berlin, wo er sich alsbald, durch „die großartige Anschauung des Alterthums, welche ihm in Böckh’s Vorlesungen entgegentrat“, mächtig angezogen, dem ausschließlichen Studium der Philologie hingab. „Auf Philologie, Geschichte und neuere Sprachen“ – so schreibt er in einem gelegentlich von ihm selbst abgefaßten Lebensabrisse –, sind von da ab meine Studien gerichtet geblieben. Außer den Vorlesungen förderte auch „der belebende Umgang mit den Professoren Droysen und Schöll“ (sowie auch mit Trendelenburg und Zeune, dem Director der Blindenanstalt). „Von Michaelis 1838 bis Ostern 1839 studirte ich in Leipzig, wo ich, außer dem Nestor der Philologie, G. Hermann, besonders die Vorlesungen von Klotz, Westermann und Wachsmuth hörte“. Endlich ging M. nach München, wo sich zwar die gehoffte Gelegenheit zu einer Reise und mehrjährigem Aufenthalt in Griechenland, ihm nicht darbot, dafür aber reicher geistiger Genuß und Gewinn durch die Kunstschätze der Isarstadt und den Verkehr mit ausgezeichneten Gelehrten und Künstlern. Im Mai 1841 kehrte er heim. Nachdem er in diesem und dem nächstfolgenden Jahre in verschiedenen Stellungen als Lehrer eine ihm vorzugsweise zusagende Thätigkeit geübt hatte, wurde er wieder nach Lübeck geführt, welches ihm „stets beinahe mehr, denn seine Vaterstadt, als Heimath gegolten hat“. Anfänglich Vertreter eines erkrankten Professors, wurde er Ostern 1846 an der Schule, welcher er seine erste Bildung verdankte, als zweiter Collaborator angestellt. Er übernahm den lateinischen, deutschen, besonders aber den Geschichtsunterricht, zunächst in der Secunda, deren Ordinarius er auch, nachdem ihm 1853 eine Professur verliehen war, bis zum Jahre 1874 geblieben ist. „Er hat sich“ – wie einer seiner Schüler bezeugt – „die Verehrung und Liebe seiner Schüler erworben, denen er nicht nur durch die Vielseitigkeit seiner Kenntnisse, sein reiches historisches Wissen und sein feines Gefühl für den lateinischen und deutschen Stil, sondern auch durch seine Gerechtigkeit und Milde, seine überlegene Ruhe und einen gewissen trockenen Humor zu imponiren verstand. Sie erkannten bald, daß sie einen durchaus genial angelegten Lehrer vor sich hatten, der mehr anregend als peinlich controllirend auf sie wirken wollte, der auf die Individualität der Einzelnen liebevoll einging und in Jedem die guten Seiten zu finden und zu wecken suchte. Vor allem war es die Geschichte, für die er die Jugend zu begeistern verstand. Durch den Geschichtsunterricht, den er in Prima bis kurz vor seinem Ende ertheilte, und durch die (eingreifende) Protection des, aus strebsamen Schülern der oberen Klassen gebildeten historischen Vereins, hat er auf Viele nachhaltig anregend eingewirkt und sie zu eigenen freien Studien und Arbeiten ermuthigt“. Neben dieser seiner Berufsthätigkeit ging eine, von Jahr zu Jahr sich mehr ausdehnende, auf nähere und weitere Kreise gerichtete Thätigkeit. Theils in den geselligen Zusammenkünften des Lehrercollegs, theils und besonders in der „Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Thätigkeit“, wie gelegentlich auch vor einem größeren Publicum, theilte er aus dem Schatze seines Wissen in freien Vorträgen mit, namentlich aus dem Gebiete der hanseatischen Geschichte. Wenn er auch mitunter Proben seines Interesses für die neueren Sprachen und Litteraturen ablegte, so lag es ihm doch hauptsächlich am Herzen, bei seinen Mitbürgern das Interesse für die Größe und Eigenthümlichkeit der alten Hansa und Lübecks, als des Hauptes derselben, zu beleben; sowie er fortwährend mit dem besten Erfolge sie dazu aufgefordert hat, die großartigen Denkmäler der Vergangenheit daselbst zu conserviren und würdig zu restauriren. Hiermit ist denn zugleich der Mittel- und Brennpunkt seiner fortgehenden litterarischen Thätigkeit bezeichnet, durch welche er sich einen weit über die Mauern Lübecks hinausreichenden Namen erworben hat. Den Uebergang bildete seine, in Form eines Schulprogramms veröffentlichte Erstlingsschrift [255] (die einzige dem Fache der Philologie angehörige) über die unlängst wieder entdeckten Fabeln des Babrios, wobei er auf das deutsche Thierepos, namentlich den Reineke Vos, namentlich die in Lübeck gedruckte niedersächsische Bearbeitung desselben, überhaupt auf die ältere Litteratur Lübecks geführt wurde. Als gründlicher Kenner der genannten Mundart durchforschte er die Lübecker Archive, die alten Handschriften und Drucke, und war aufs eifrigste mit thätig bei der Herausgabe des großen Lübeckischen Urkundenbuches. Zugleich veröffentlichte er in der Zeitschrift des „Vereins für Lübeck. Geschichte und Alterthumskunde“ eine große Anzahl litterarischer Funde, welche er durch seine, auf eingehendster Sach- und Sprachkunde beruhenden Bemerkungen illustrirte. Ferner gab er eine Reihe historischer Monographien heraus über bedeutende Persönlichkeiten und Episoden aus der Lübeckischen und Hanseatischen Geschichte, unter welchen die von „dem hanseatischen Pfundzoll“ handelnde (1862) durch Gehalt und Form sich besonders auszeichnet. Hier verdienen auch die zahlreichen Beiträge Erwähnung, die M. zu der Allg. Deutschen Biographie geliefert hat, über namhafte Lübecker der älteren und neueren Zeit. Durch die Beschäftigung mit den archivalischen Urkunden wurde er auch zum Studium der alten Siegel veranlaßt. Er war es, welcher seinem Freunde, dem Maler Julius Milde, nicht nur den Anstoß gab zur Bearbeitung und Herausgabe seines umfänglichen Siegelwerkes (Heft 1–9), sondern ihm dabei beständig auch mit Rath und Belehrung zur Seite stand. Gemeinschaftlich veröffentlichten beide eine, in künstlerischer und wissenschaftlicher Hinsicht werthvolle Schrift: „Der Todtentanz in der Marienkirche zu Lübeck“, 1866. Nachdem 1870 in Stralsund der große hansische Geschichtsverein („um die vereinzelten Quellen hansischer Localforschung in ein gemeinsames Bett zu leiten“) gegründet, und M., als der in jeder Hinsicht hierzu geeignetste, zum Vorsitzenden desselben ernannt war, hat er dem Organ des Vereins, „den hansischen Geschichtsblättern“ fort und fort die Ergebnisse seiner ebenso besonnenen als fleißigen Forschung, in längeren oder kürzeren Aufsätzen einverleibt. Daneben stand er, sowie in Folge der erwähnten Vorsteherschaft, so auch als Stadtbibliothekar, mit vielen Gelehrten und Geschichtsforschern des In- und Auslandes fortwährend in wissenschaftlicher Correspondenz. Eine größere und schwierigere Aufgabe war ihm in ehrendster Weise gestellt worden, als Lappenberg im Auftrage „der historischen Commission bei der königlichen Akademie der Wissenschaften zu München“, ihm die Herausgabe sämmtlicher lübischen Chroniken anbot. Er unterzog sich der neuen großen Arbeit, „welche für die Jahre 1863–70 in den Vordergrund seiner Thätigkeit tritt und recht eigentlich seine leider unvollendet gebliebene Lebensaufgabe geworden ist“ (Koppmann). Damit er diesem Unternehmen mehr Zeit und Kraft widmen könne, wurde er seitens der Schulbehörde der halben Zahl seiner Lehrstunden am Gymnasium enthoben. Er hatte die Arbeit schon weit gefördert, als sich dem gewissenhaften Forscher ungeahnte, in der Sache liegende, Schwierigkeiten entgegenstellten, deren er leider nicht Herr werden konnte. Unter diesem Gefühle hat er schwer gelitten. Jedoch hat er zur bevorstehenden Ausführung der Aufgabe werthvolle Vorarbeiten geliefert, welche dankbare Anerkennung und Benutzung finden. Zu erwähnen ist auch, daß M. dem 1875 in Hamburg gestifteten „Vereine für niederdeutsche Sprachforschung“ bis an seinen Tod mit lebhafter Theilnahme angehört und gedient. So lange seine, im späteren Lebensalter erschütterte Gesundheit es ihm gestattete, waltete er der mannichfachen, ihm obliegenden Pflichten mit hingebender Treue. Er genoß hierbei von allen Seiten der größten Achtung und Liebe. Im Juli 1878 wurde er von einem Blutsturze befallen, welcher der Vorbote des nahenden Endes war. Seine gebrochene Kraft verwandte er noch solange wie möglich für seinen Beruf, [256] auch für litterarische Arbeiten. Am 8. Juni 1879 machte ein sanfter Tod seinem in echt christlicher Ergebung und Geduld ertragenen Leiden ein Ende. Er hinterließ eine Wittwe, mit welcher er dreißig Jahre in glücklichster Ehe gelebt hatte, und acht Kinder. Nicht nur von den Seinigen, sondern von einem großen Kreise heimischer und auswärtiger Freunde wird ihm ein liebevolles Andenken bewahrt. Denn mit seiner wissenschaftlichen Tüchtigkeit verband er eine, im ungeheuchelten Christenglauben wurzelnde, seltene Lauterkeit und Zuverlässigkeit des Charakters, mit seiner harmonischen Geistesbildung und ernsten Berufstreue eine die Herzen gewinnende Freundlichkeit, Milde und Liebenswürdigkeit.
Mantels: Wilhelm M., verdienter Gymnasiallehrer und Geschichtsforscher. Aus einer hannoverschen Handwerkerfamilie, welche gegen Ende des 18. Jahrhunderts theils nach Lübeck, theils nach Hamburg übergesiedelt war, abstammend, wurde M. den 17. Juni 1816 in Hamburg, wo der Vater, anfangs Makler, nachher ein Handelsgeschäft trieb, als der älteste von acht Geschwistern geboren. Im J. 1826, als der Vater nach Lübeck verzog, wurde der zehnjährige Knabe dem dortigen Katharineum übergeben, in dessen höheren Klassen er später mit begabten und strebsamen Mitschülern, wie- Nekrolog in Bursian’s Jahresbericht über die Fortschritte der klassischen Alterthumswissenschaft, Jahrg. VI, Heft 6. 7 (C. Curtius); Hans. Geschichtsblätter, 1879. S. 3–10 (R. Pauli); Lübeck. Blätter, 1879, Nr. 72: (C. Curtius), K. Koppmann, Biographische Skizze (in W. Mantels’ Beiträgen, Jena 1881).