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ADB:Marlitt, Eugenie

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Artikel „Marlitt, Eugenie John“ von Franz Brümmer in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 52 (1906), S. 213–216, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Marlitt,_Eugenie&oldid=- (Version vom 13. Dezember 2024, 22:51 Uhr UTC)
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Band 52 (1906), S. 213–216 (Quelle).
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Marlitt: E. M., Pseudonym für Eugenie John, wurde am 5. December 1825 zu Arnstadt in Thüringen geboren. Ihr Vater, von Natur ein geistig reich ausgestatteter Mann mit redlichem Streben nach Weiterbildung, hatte ein hervorragendes Talent zum Zeichnen, das aber leider nicht zur vollen Entwicklung gekommen war, da er von seinem strengen Vater in den kaufmännischen Beruf hineingezwungen wurde. Die Mutter, einer angesehenen Kaufmannsfamilie entstammend, war eine Freundin schöngeistiger Lectüre und der Musik, in erster Linie aber die sorgende Hand im Familienleben. Unter den Augen dieser Eltern, deren materielle Verhältnisse gerade nicht glänzend waren, wuchs M. heiter und lustig auf, und schon in den ersten Lebensjahren ließ ihre Stimme auf eine ungewöhnliche Begabung für den Gesang schließen. In der Schule entwickelte sich diese je länger je mehr, und auf Drängen des Gesanglehrers Stade wandte sich der Vater Marlitt’s, dessen Augen auf dem Talent seiner Tochter wie auf einer erlösenden Macht vom mühseligen Kampfe ums Dasein ruhten, an die hochherzige, regierende Fürstin Mathilde von Schwarzburg-Sondershausen, die eifrige Beschützerin von Kunst und Wissenschaft, und bat die hohe Dame unter Darlegung der Verhältnisse, der mit reichen Stimmmitteln begabten, damals sechzehnjährigen Tochter die künstlerische Ausbildung zu vermitteln. Die Fürstin berücksichtigte das Bittgesuch, ließ nach erfolgter Prüfung durch den Bassisten Krieg vom Hoftheater M. nach Sondershausen kommen und sorgte für die Erziehung ihres Pfleglings in wahrhaft mütterlicher Art. Neben dem wohlgeordneten Schulunterricht ward der eifrig Lernenden Unterweisung im Clavierspiel durch den Kammervirtuosen Fetzer und im Gesange durch den Kammersänger Koch zu Theil. Ihre Fortschritte in den Musikfächern fanden die lebhafteste Anerkennung; aber gleichzeitig trat auch in ihren deutschen Arbeiten eine eminente Begabung für die Kunst der schriftlichen Darstellung hervor. So vergingen drei Jahre, und nun hielt die Fürstin es an der Zeit, daß das eigentliche Berufsstudium beginnen müsse. Sie nahm dazu Wien in Aussicht (1844), übergab hier M. als Pensionärin einer liebenswürdigen Familie und sorgte für ihre weitere Ausbildung im Gesange, in der italienischen Sprache, in Deklamation und Rhetorik. So konnte denn die junge Kunstnovize, die bereits 1846 unter den Augen ihrer hohen Beschützerin in Leipzig debütirt hatte, ihre Laufbahn als Bühnensängerin beginnen. Zuerst trat sie mit dem ihr verliehenen Prädicat einer fürstlichen Kammersängerin in Sondershausen auf, wirkte später unter dem Schutze ihrer sie begleitenden Mutter an den Bühnen von Linz, Graz, Lemberg u. s. w., um dann plötzlich auf ihrer kaum betretenen theatralischen Laufbahn Halt zu machen. Ein sich entwickelndes Gehörleiden, das zwar niemals bis zum Grade der Taubheit sich steigerte, wie wol hier und dort berichtet wird, das aber doch allen Heilwässern und jeglicher ärztlichen Kunst spottete, verschloß ihr die Rückkehr zur Bühne; nun nahm die Fürstin sie als Vorleserin und Reisebegleiterin an ihren Hof, in welchem Verhältniß M. hinreichend Gelegenheit hatte, die Welt kennen zu lernen und mancherlei Erfahrungen zu sammeln. Von 1853–1863 lebte sie theils in Friedrichsruh bei Oehringen, [214] theils in München, von wo aus alljährlich die Sommerfrischen in dem bairischen Oberlande besucht wurden, bis dann die finanziellen Verhältnisse der Fürstin diese endlich zwangen, ihre Hofhaltung einzuschränken und sich auch von M. zu trennen, die sie im Frühsommer 1863 unter Belassung ihres Gehalts entließ. Letztere fand nun Aufnahme in der Familie ihres Bruders Alfred, der als Lehrer an der Realschule in Arnstadt wirkte. Ihr war dieser Wechsel in ihrem Leben nicht gerade schmerzlich, da sie sich bereis einen neuen Lebensplan vorgezeichnet hatte. Infolge der Correspondenzen, die sie zu führen gehabt hatte, war sie von verschiedenen Seiten auf ihr Darstellungstalent aufmerksam gemacht und ihr der Rath ertheilt worden, sich ganz der Schriftstellerei zu widmen. So hatte sie denn in ihren freien Stunden mehrere Scenen ausgearbeitet, aus denen sich nun in ihrer Arnstädter Muße die Erzählungen „Schulmeisters Marie“ und „Die zwölf Apostel“ entwickelten. Sie sandte dieselben an Ernst Keil in Leipzig zum Abdruck in der von ihm redigirten „Gartenlaube“ und hatte die Freude, die zweite Novelle angenommen zu sehen (1865), während Keil von der ersteren, trotz ihrer großen Schönheiten, keinen Gebrauch machen wollte, da gerade in jener Zeit von Nachahmern Berthold Auerbach’s das Gebiet der Dorfgeschichte über Gebühr gepflegt wurde („Schulmeisters Marie“ erschien zum ersten Male im Druck im 10. Bande von E. Marlitt’s Gesammelte Romane und Novellen. Illustrirte Ausgabe; X, 1888–90). Gleichzeitig erbat Keil weitere Arbeiten der Verfasserin, und diese sandte darauf den inzwischen fertig gewordenen Roman „Goldelse“ ein. Keil glaubte dem Geschmack der Leser seines Blattes entsprechen und die Verfasserin bestimmen zu müssen, verschiedene Kürzungen an dem Romane vorzunehmen. Wenn dies auch geschah, so präsentirte sich doch die Buchausgabe von „Goldelse“ (1867) in der ursprünglichen, unverkürzten Fassung. Mit diesen beiden Veröffentlichungen hatte sich M. bereits die Theilnahme und den Beifall des lesenden Publicums in hohem Grade erworben, und es steht außer allem Zweifel, daß die „Gartenlaube“, in welcher sie ihre gesammten Arbeiten zuerst zum Abdruck brachte, ihre große Verbreitung – die Zahl der gedruckten Exemplare stieg von 1866–76 von 175 000 bis über das Doppelte – lediglich der Mitarbeiterschaft dieser Schriftstellerin zu verdanken hatte. Zunächst erschienen in rascher Folge die Novelle „Blaubart“ (später, 1869, mit der Novelle „Die zwölf Apostel“ u. d. T. „Thüringer Erzählungen“ herausgegeben), dann der Roman „Das Geheimniß der alten Mamsell“ (II, 1888), der die große Gartenlaubengemeinde im Sturme eroberte und ihren Beifall zum Enthusiasmus steigerte, und der Roman „Reichsgräfin Gisela“ (II, 1869). Von einer Zumuthung des Redacteurs der „Gartenlaube“, diese Arbeiten zu kürzen, war längst keine Rede mehr: das Publicum würde jetzt eine solche entschieden gemißbilligt haben. Recht bedauerlich war es, daß die Schriftstellerin in dieser Zeit öfter leidend war. Das Uebel, von dem sie heimgesucht ward, und das sich schon ein Jahrzehnt vorher angekündigt hatte, bestand in einer Auflagerung von Kalken in den Gelenken, die zwar jetzt schmerzlos waren, aber an der freien Bewegung der betroffenen Glieder hinderten. Das Stehen und Gehen wurde allmählich unmöglich und schließlich blieb die Kranke für immer an den Fahrstuhl gebannt. Dieser Umstand bewog sie denn auch, einen schon längst gehegten Plan zur Ausführung zu bringen, sich nämlich ein eigenes Heim zu schaffen, das ganz und gar ihren Bedürfnissen, namentlich auch in Bezug auf ihr körperliches Leiden, entspräche. So erhob sich denn bald in der Nähe von Arnstadt ihre Villa „Marlittsheim“, die sie im Juli 1871 beziehen, und in der sie mit reinster Herzensfreude ihren alternden Vater bis zu seinem Tode 1873 – die Mutter war schon 1853 gestorben – mit allem Comfort [215] umgeben und hegen und pflegen konnte. Inzwischen war ihr Roman „Das Heideprinzeßchen“ (II, 1872) erschienen, von dem der Freiherr v. Tauchnitz bald eine englische Uebersetzung in seine „Collection of British Authors“ aufnahm. Ihm folgten nach einer freiwillig auferlegten längeren Muße die Romane „Die zweite Frau“ (II, 1874), wohl das Meisterwerk der Schriftstellerin, „Im Hause des Commerzienrathes“ (II, 1877), „Im Schillingshof“ (II, 1879), „Amtmanns Magd“ (1881) und „Die Frau mit den Karfunkelsteinen“ (II, 1885). Alle diese Romane wurden in die verschiedensten europäischen Sprachen übersetzt, erlangten aber auch außerhalb Europas durch deutschen Nachdruck eine außerordentliche Verbreitung. Daß in mancher Uebersetzung die Tendenz des Romans geradezu vernichtet und in das Gegentheil verkehrt wurde, daß in erzkatholischen Ländern die Dichtung nach ultramontaner Anschauung förmlich umgemodelt und dadurch verballhornisirt wurde: diese Unverschämtheit mußte mit derselben Geduld ertragen werden, wie der mißglückte Versuch einiger deutscher Schriftsteller (Wollheim da Fonseca, Paul Blumenreich u. A.), die Romane der M. in dramatisirter Form auf die Bühne zu bringen. Seit dem Herbst 1886 kränkelte M. sehr viel, und am 22. Juni 1887 trat nach schwerem Dulden die Erlösung durch einen sanften Tod ein. Ihren letzten Roman „Das Eulenhaus“ (II, 1888) hat sie nicht mehr vollenden können; doch wurde er von einer andern Gartenlaube-Autorin, Bertha Behrens (W. Heimburg), mit großem Geschick nach eigener Erfindung vollendet, da ein Plan der verstorbenen Verfasserin nicht aufgezeichnet war.

M. hat als Schriftstellerin eine verschiedene, sich geradezu widersprechende Beurtheilung erfahren, doch sind die Stimmen, welche in wegwerfender Weise ihre Arbeiten besprechen, nur in verschwindend kleiner Zahl laut geworden; sie ertönten theils aus dem Lager orthodoxer Kreise, denen die liberale Haltung der „Gartenlaube“ und ihrer Mitarbeiter ein Stein des Anstoßes war, theils aus den Kreisen der Rivalen und Neider, die es nicht ertragen konnten, daß die durch sie repräsentirte realistische Schule von der seltenen Begabung einer deutschen Frau in den Schatten gestellt wurde. Aber während eine von einseitigem Glaubenseifer dictirte Kritik dieses oder jenes Geistlichen gegen die Romane der M. zeterte, geschah es wol, daß deren Frauen und Töchter daheim diese Romane mit der größten Andacht lasen, und der neidvolle, realisirende Schriftsteller verstummte sehr bald, als Männer wie Levin Schücking, Rudolf v. Gottschall, Friedrich Hofmann, O. Beta, J. V. Widmann u. A., vor allem aber der urwüchsige Gottfried Keller für die Schriftstellerin in die Schranken traten. M. hat entschieden – das geben selbst ihre Gegner zu – ein Erzählertalent, wie es bis dahin nur selten eine Frau in Deutschland entwickelt hat. Groß ist dieses Talent in der Schilderung der Localitäten, der Persönlichkeiten, des menschlichen Lebens und Treibens, groß auch in der Psychologie des menschlichen Herzens, besonders des Frauenherzens; und alles weiß uns die Dichterin in größter Lebendigkeit darzustellen. Auch der Stil ihrer Romane verdient alles Lob; „er ist frei von jeder Künstelei und Uebertreibung, fließend und frisch, von anmuthiger, dichterischer Belebung, ohne lyrische Extratouren, anschaulich und bezeichnend, edel und tadellos im Ausdruck wie in der syntaktischen Fügung“. Das geistige Gepräge ihrer Schöpfungen hat M. selber treffend charakterisirt in dem Vorwort zur „Reichsgräfin Gisela“; denn was sie dort über diesen Roman sagt, gilt mehr oder weniger auch für alle. Danach „bauen sich dieselben auf über den Grundideen der Humanität; sie versuchen die Menschenliebe zu wecken in den Gemüthern, die infolge angeborenen Hochmuths oder falscher Erziehung völlig vergessen, daß sie einen himmlischen Schöpfer, ein Vaterland, ein Jenseits mit ihren Brüdern gemein [216] haben, mit nichten aber Störer und willkürlich Hemmende einer Kette sein sollen, deren Anfang und Ende in Gottes Hand liegt“. Daher vertritt die Verfasserin eine von verknöcherten Dogmen und Formen sich losringende, sittlich reine und ethische und damit eine wahrhaft religiöse Weltanschauung und bekämpft mit Nachdruck jene Charaktere, „die um persönlichen Vortheils willen nach der Wiederkehr alter verrotteter, menschenfeindlicher Institutionen ringen“. Wenn sich aber der Reichthum der Erfindung eines Schriftstellers besonders in der Mannichfaltigkeit der Grundideen zeigen soll, so dürfte R. v. Gottschall wohl Recht haben, wenn er bei M. einen Mangel darin erblickt, daß ihren meisten Romanen das Schema der volksthümlichsten deutschen Sage, des „Aschenbrödel“, zu Grunde liegt. Und doch hat gerade dieser Mangel zur freundlichen Aufnahme der Werke Marlitt’s in bürgerlichen, ja selbst in dienenden und Arbeiterkreisen ganz außerordentlich beigetragen. „Denn die Vorliebe für diesen Sagenstoff ist nun einmal in der deutschen Gemüthsart begründet, und dieser ist ein unbestechliches Rechtsgefühl eigen, welches die Entrüstung über die unverdiente Zurücksetzung nie verleugnen kann und den endlichen Triumph verkannter oder gekränkter Unschuld mit Jubel begrüßt. Und wenn diese Unschuld überdies mit dem Reiz echter Innigkeit und Lieblichkeit ausgestattet ist, so bleibt ihre Anziehungskraft eine nachhaltige.“ An der Thatsache, daß Marlitt’s Romane das Lob verdienen, zu den unterhaltendsten Werken der neueren erzählenden Litteratur gezählt zu werden, kann wohl nicht gerüttelt werden.

Eugenie John-Marlitt. Ihr Leben und ihre Werke (Gesammelte Romane und Novellen X, 399 ff.). – Die Gartenlaube, Jahrg. 1869, S. 825; Jahrg. 1887, S. 472; Jahrg. 1899, S. 136. – Rud. v. Gottschall, Die deutsche Nationallitteratur des 19. Jahrh., 1892, 4 Bde., S. 594 ff.