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ADB:Marx, Adolph Bernhard

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Artikel „Marx, Adolf Bernhard“ von Robert Eitner in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 20 (1884), S. 533–539, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Marx,_Adolph_Bernhard&oldid=- (Version vom 24. November 2024, 15:07 Uhr UTC)
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Band 20 (1884), S. 533–539 (Quelle).
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Marx: Adolf Bernhard M., nominell der Begründer der modernen Harmonie- und Compositionslehre, war nach dem Register der israelitischen Gemeinde in Halle am 15. Mai 1799 geboren, sein Vater dagegen behauptete, daß er am 28. November 1795 geboren sei. Der Vater war Arzt und ein Freigeist, trotzdem blieb er der jüdischen Gemeinde getreu, denn, sagte er, man müsse sich den bürgerlichen und religiösen Gesetzen äußerlich unterwerfen, und da die eine Religion so viel Mängel habe wie die andere, so sei es deshalb ganz gleich, welcher Religionsgemeinde man angehöre (Marx, Erinnerungen aus meinem Leben). Ebenso eigenartiger Natur waren auch seine Erziehungsprincipien; obgleich er seinen Sohn zum Juristen bestimmt hatte, trieb er ihn dennoch an, sich in allen anderen Fächern umzusehen, und so mußte er medicinische Bücher aus des Vaters Bibliothek lesen, mußte Zeichnen, Malen, Musik betreiben u. a. m. Bei seinem guten Kopfe pfropfte er sich dadurch eine Unmasse Wissen und Fertigkeiten ein, die ihm aber das Lebensziel eher ferner als näher rückten; dazu kam noch die Verarmung der Familie und M. sah sich genöthigt das Studium der Rechte ernsthafter zu betreiben und daneben noch für seinen Lebensunterhalt zu sorgen. Wahrscheinlich gab er Musikunterricht, obgleich er sich in seiner Selbstbiographie darüber nicht ausspricht. Musik übte eine mächtige Anziehungskraft auf ihn aus und schon als Gymnasiast beschäftigte er sich mit Componiren, obwol er bis dahin noch keinen regelrechten Musikunterricht erhalten hatte. Nach einem glänzenden juristischen Examen kam er als Auscultator nach Naumburg; doch sowol das gesellige Leben als die Juristerei überhaupt, auch die Unbeliebtheit, die er sich durch sein Wesen bei seinen Vorgesetzten zugezogen hatte, verleideten ihm Naumburg in dem Maße, daß er eine Versetzung nach Halle wünschte. Obgleich er sich zu jeder vacanten Richterstelle meldete, wurde er doch stets übergangen. Er reichte nun dem Minister eine juristische Arbeit ein: „Ueber den Beruf unserer Zeit zur Gesetzgebung“, die sich gegen Savigny’s berühmte Abhandlung richtete und erhielt vom Minister das Versprechen, daß seinen Wünschen willfahrt werden solle. Man bot ihm eine Richterstelle in Wittenberg an, da aber zu gleicher Zeit auch eine in Halle frei ward, schlug er die erstere aus und wünschte die zweite. Dies wurde ihm aber übel vermerkt. Er reicht seine Entlassung ein und geht an das Kammergericht zu Berlin. Weit mehr als seine juristische Stellung beschäftigt ihn aber die Musik und die eingetretene Mußezeit benutzt er um eine Oper zu schreiben, zu der er sich selbst den Text abfaßt. Arm wie Hiob muß er der Billigkeit halber in der Ladenstube eines Schusters in Berlin wohnen und neben dem Feilschen des Schuh und Stiefel kaufenden Publikums schreitet seine Oper rüstig vorwärts. Auch am Kammergericht gewährt man ihm nicht diejenige Stellung, die er wünscht und verweist ihn auf die Provinzen. Trotz aller Noth nimmt er den Abschied, kehrt der Juristerei den Rücken und widmet sich ganz der Musik. Ein Cursus bei [534] Türk in Halle und der Umgang mit Naue waren eigentlich die einzigen Vorbereitungen zum neuen Lebensberufe. Hier, in Berlin, machte er nun eine Bekanntschaft, die für seine fernere Wirksamkeit von großer Bedeutung werden sollte. Logier war soeben von London auf Wunsch des preußischen Ministeriums nach Berlin gekommen, um seine Wundermethode praktisch daselbst einzuführen. Logier und M. waren verwandte Naturen, nur gebrauchte der eine seine Geisteskräfte vorzüglich als Praktiker, während sie der andere als Theoretiker verwendete. Logier (vgl. Bd. XIX S. 110) brachte ein in englischer Sprache abgefaßtes und gedrucktes Buch „System der Musikwissenschaft und der musikalischen Komposition“ mit und ersuchte M., dasselbe ins Deutsche zu übersetzen. Marx’ eigene Darstellung ist für ihn so bezeichnend, daß ich die Stelle aus seinen „Erinnerungen“ citire: „Ich befand mich unter den Hausfreunden Logier’s, als mich derselbe eines Tages aufforderte, sein im Englischen erschienenes Lehrbuch ins Deutsche zu übersetzen und obgleich ich erklärte, daß ich Englisch gar nicht verstände, so erwiederte er mir, das thut gar nichts, Sie werden das schon machen, nöthigenfalls wird Lichtenstein (der Zoologe) Ihnen Rath geben. Ich übersetzte das Lehrbuch ohne Raths zu bedürfen und liegt es in der deutschen Ausgabe des Systems (1827) dem Publikum vor.“ Obgleich M. es nicht eingesteht, daß Logier ihm die Augen geöffnet und den Weg gezeigt hat, den er zu gehen hatte, so zeigt ein Vergleich zwischen Logier und M., daß letzterer auf den Lehren des ersteren fußt, sie aber in freier und weiterer Weise ausgearbeitet und verwerthet hat. Logier’s Buch ist ein Werk von wenig Bogen, das von Marx dagegen besteht aus vier dickleibigen Büchern. Die Harmonielehre auf die Naturtöne begründet zu haben ist Logier’s Verdienst, ebenso daß die Tonleiter als Grundmelodie aufgestellt und daran die Weiterbildung geknüpft ward. Beide Grundideen, die maßgebend für die moderne Compositionslehre geworden sind und als deren Begründer M. angesehen wird, gehören Logier und nicht M. an. M. selbst schreibt freilich das Verdienst sich allein zu und sagt in seinen Erinnerungen in seiner ihm eigenen blumenreichen Ausdrucksweise: „Ich unterrichtete ein junges schönes Mädchen, Fräulein Romberg, die ich mit der alten schalen Speise vom Accord- und Umkehrungswesen und den Ziffermysterien bekannt machte. Etwas anderes kannte man damals nicht. Als sie mir aber am Schlusse des ersten Monats ein Röllchen harter Thaler in die Hand drückte, meinte ich in die Erde sinken zu müssen; mich überkam das volle Gefühl eines ertappten Diebes.“ Nachdem er sich in schwärmerischer Weise über das „liebliche Wesen“ ergangen hat, fährt er fort: „Was wollte sie denn? sie begehrte Aufschluß über das inwendige Leben in unserer Kunst. Sie wollte schauen, wenn nicht vielleicht Hand dabei anlegen, wie das flüchtige Tonelement im Menschengeiste feste Gestalt erhielte.“ Weiter spricht er von seinen Kämpfen, wie er das wol erreiche und sagt dann: „Endlich schaute ich klar die Wege des Lebens, die Melodien der einen oder mehreren Stimmen, wie sie seligen Friedens voll sich zu einander gesellen, oder im Hader alles irdischen Daseins gegeneinander sträuben und kämpfen. So entstand meine Compositionslehre.“ Logier mußte aus noch unbekannten Gründen Berlin verlassen und lebte, fast verschollen, in Dublin in Irland. M. hatte daher freies Feld, doch erst 1837 veröffentlichte er den ersten Band seiner Compositionslehre, der bald alle übrigen Lehrbücher verdrängte und wol an 20 Jahre und mehr die Alleinherrschaft ausübte.

Gleich in die erste Zeit seines Berliner Aufenthaltes, als er die Juristerei aufgab, muß die Herausgabe der „Berliner Allgemeinen Musikalischen Zeitung“ fallen und ihm wol die nöthigen Existenzmittel gewährt haben, denn außer der Leipziger Allgemeinen musikalischen Zeitung gab es zu dieser Zeit kein anderes Organ, und da letztere in sehr einseitiger und oft langweiliger Weise redigirt [535] wurde, so mag das Erscheinen einer neuen Musikzeitung, die so trefflich geschrieben und geleitet wurde, wol allgemeines Aufsehen gemacht haben. M. selbst spricht sich darüber nicht aus, doch füllte sie damals sein ganzes Wesen aus, wie aus den Erinnerungen zu ersehen ist. Desto eher trat aber auch die Ermattung ein, denn da er der Sache scharf zu Leibe ging und weder Groß noch Klein schonte, so wuchsen ihm die Unannehmlichkeiten über den Kopf und schon nach sieben Jahren ließ er sie eingehen. Zum Theil lag es auch in seinem Wesen. Wenig geneigt zur Polemik, lag ihm das höhere Ziel als Componist und Theoretiker seine Kräfte zu verwerthen mehr am Herzen, als mit aller Welt in Streit und Hader zu liegen und schließlich die Welt doch nicht zu bessern.

Schon im J. 1827 bereitete er sich für die akademische Laufbahn vor, promovirte behufs dessen zum Dr. phil. an der Universität Marburg und hielt sodann Vorlesungen über Musik an der Berliner Universität. Seine ersten Zuhörer waren die heute bekannten Männer Franz Commer, Flodoard Geyer und August Haupt. M. war ein guter Redner, aber schlechter Lehrer, so leicht wie ihm das Wort in gewählter Form von der Zunge floß, so schwer wurde ihm, dem Schüler praktisch seine Lehren in Noten zu übersetzen, und gerade so wie er von Zelter sagt, bei dem er einst einige theoretische Lectionen genommen hatte: er hilft sich oft beim Unterricht mit Redensarten, wo er selbst den Grund nicht anzugeben weiß; so versteckte M. seine Unbehilflichkeit im schnellen Selbstschaffen durch viel Worte, die dem Schüler wenig Nutzen brachten. Charakteristisch für Marx’ Wesen ist folgender Vorfall. Ein Schüler brachte ihm eine Arbeit und M. findet bei der Durchsicht nur die vorkommenden falschen Fortschreitungen in Quinten und Octaven. Der Schüler, gereizt durch die kleinlichen Tadeleien, fährt endlich heraus: Herr Professor! in Ihrem Choralbuch sind auch Quinten- und Octavenfortschreitungen. Ohne seine Ruhe zu verlieren ob der ungehörigen Einrede erwiedert M.: „Mein Lieber, wenn Sie einst Professor sind, können Sie sich auch Quinten- und Octavenfortschreitungen erlauben.“

Im J. 1830 wurde er zum Professor ernannt und 1833 zum Musikdirector an der Berliner Universität. Seine Wirksamkeit als Theoretiker ist aber weniger in seiner Lehrthätigkeit als in seinen schriftstellerischen Werken zu suchen; obgleich er eine Zeitlang – durch seine gedruckten Werke – der gesuchteste Lehrer in Europa war und die Schüler aus allen Gegenden ihm zuströmten, so wußte er keinen Schüler so an sich zu fesseln, daß er bei ihm aushielt. Seine Weitschweifigkeit ermüdete den Schüler in einem Maße, daß er es vorzog einen weniger berühmten Lehrer aufzusuchen, als seine Zeit mit dem Anhören schöner Reden zu vergeuden. Obgleich fast jeder Lehrer die Marx’sche Compositionslehre seinem Unterricht zu Grunde legte, denn es gab damals nichts anderes, so ließ sich doch eben im gedruckten Buch der Kern leichter von der Schale trennen und die Weitschweifigkeiten bei Seite lassen.

Einschneidend in Marx’ Leben ist der Umgang mit Felix Mendelssohn, dem sogar noch ein bis über das Leben beider hinausreichendes Nachspiel folgte. Mendelssohn, der mit Glücksgütern gesegnete, dem jede Muse an seiner Wiege ein Geschenk dargebracht hatte, umgeben von dem glücklichsten Familienleben, bildete zu M. in jeder Hinsicht einen scharfen Gegensatz. M., arm, ohne Familienleben, von Figur klein und unansehnlich, mußte sich mit dem Leben in jeder Form herumschlagen und alles sauer erwerben. Jura hatte er studirt und Musik, was früher nur Nebensache war, sollte nun der Broterwerb werden und strebsam, wie er war, wollte er nicht unter den Letzten stehen. Die Natur, die ihn mit scharfem Verstande ausstattete, hatte ihm die Fantasie verwehrt; daher glaubte er mit dem Verstande alles beherrschen und erreichen zu können. In Mendelssohn’s Hause verkehrte Alles, was Anspruch auf Geist und Bildung [536] machte. Eine Empfehlung genügte, um das stets offene Haus zum Empfange bereit zu finden. So war auch M. ein ständiger Gast geworden und Felix, der in der Entwickelung begriffene, schloß sich dem schön und gewandt redenden feurigen M. innig an. Jede Arbeit wurde mit ihm besprochen, alles geprüft, gut geheißen, verworfen und so kam es, daß Mendelssohn’s epochemachendes Werk, die Sommernachtstraum-Ouverture, unter Marx’ Einfluß entstand und letzterer schreibt sich das Verdienst zu, den ersten Entwurf dazu umgestoßen und Mendelssohn auf den richtigen Weg geleitet zu haben. Es wird Niemanden einfallen dieses Verdienst M. abzusprechen, obgleich es von anderer Seite völlig geleugnet wird, es gibt aber auch zugleich den Schlüssel zu der späteren Verstimmung und völligen Trennung beider. M., sich seines Sieges bewußt, überschätzte seinen Einfluß in einem Maße, der über die Grenzen eines Rathgebers ging. Er drängte sich überall ein, wollte stets gehört sein und verlor dadurch das Vertrauen und die Zuneigung des Vaters Mendelssohn’s und dann auch die des Sohnes. Gekränktes Ehrgefühl gab dann die äußere Veranlassung, das einst geliebte Haus zu meiden. So scharf und treffend M. die Arbeiten anderer zu beurtheilen verstand, so urtheilslos war er seinen eigenen Compositionen gegenüber. Um der unsäglichen Mühe willen, die sie ihm gemacht hatten, betrachtete er sie mit einer wahren Affenliebe, und während er Einwendungen gegen seine schriftstellerischen Arbeiten, die ihm von der Hand flossen, mit Bedacht aufnahm und prüfte, konnte er einen Tadel gegen seine Compositionen nicht vertragen. So zeigte auch einst M. ein solches Schmerzenskind, die Composition des 137. Psalms, Mendelssohn; dieser sagte dem Freunde arglos die reine Wahrheit, zwar etwas derb, doch Wahrheit ist selten süß. M. selbst wiederholt das Urtheil, wahrscheinlich um Mendelssohn’s Urtheilslosigkeit zu beweisen, denn er veröffentlicht in seinen Erinnerungen auch ein Stück eines Oratorientextes, den einst Mendelssohn für ihn gemacht hat, nur um zu zeigen, wie schlechte Verse Mendelssohn schrieb. Dennoch, nach vielen Jahren, als Mendelssohn auf der Höhe seines Ruhmes stand und M. der anerkannte Theoretiker und Schriftsteller war, unternahm M. die Reise nach Leipzig, um Mendelssohn seinen Moses vorzuspielen und ihn zur Aufführung zu bewegen. Mendelssohn gab ihm merkwürdiger Weise dieselbe Antwort, die er ihm einst als Jüngling gegeben: „Das geht nicht, das ist nicht recht, das ist gar keine Musik“ und M. reiste enttäuscht, ergrimmt, wie er selbst sagt, nach Hause. Alle Hoffnungen ließ er hinter sich. Er hielt seinen Moses für das bedeutendste Werk, was je geschaffen, und die Welt, seine alten Freunde wollten das nicht anerkennen! Nach Hause gekehrt, nimmt er die einst von Mendelssohn empfangenen Briefe und vernichtet sie: dann erst ist ihm wieder wohl, nun ist jedes Band zwischen ihm und Mendelssohn zerrissen. So sehr sich M. auch bemüht, sich in seinen Erinnerungen über jede Kränkung erhaben zu stellen, so leuchtet doch überall der Unmuth hervor und damit eine Verkennung der Leistungen Mendelsohn’s. So sagt er z. B. über den Paulus: „das Kunstwerk hat einen so vielfältigen Inhalt, und der Erfolg hat so vielerlei Ursprung, daß der letztere keine Aufklärung gewährt über das erstere, sondern diese immer nur aus durchdringender Erwägung zu schöpfen ist.“ Kann man sich wol diplomatischer ausdrücken? Wer den Hintergrund dieses Urtheils nicht kennt, wenn man es überhaupt ein Urtheil nennen darf, findet kaum etwas Verfängliches darin, wer aber weiß, daß der Componist des Paulus den Moses des Kritikers nicht aufführen wollte, der liest zwischen den Zeilen. Das oben angedeutete Nachspiel setzte nach dem Tode beider (1869) Marx’ Frau in Scene, als E. Devrient’s Erinnerungen an Mendelssohn erschienen waren. Devrient läßt nur Weniges über Marx’ Verkehr im Mendelssohn’schen Hause fallen, doch das Wenige ist so treffend, daß es allerdings die noch lebende Frau Marx’, die nur [537] aus dem Munde ihres Mannes das Verhältniß zwischen ihm und Felix Mendelssohn kannte, kränken konnte. Die kleine Entgegnung der Frau umfaßt nur 24 Seiten; sie stellt M. als den edelsten und neidlosesten Menschen dar und bestreitet alles, was Devrient über ihn sagt. Dorther erfahren wir auch die Antwort, die sich M. in Leipzig geholt hat und es wäre manches unklar geblieben, hätte die Frau geschwiegen.

Im J. 1837 verheirathete sich M., wie er selbst sagt, mit einem sehr schönen Mädchen. Wie er dieselbe in seine Geistesthätigkeit einweihte, theilt er uns S. 186 seiner Erinnerungen in Worten mit, welche seine Eitelkeit offen genug zeigen. Ich zeigte, so schreibt er, meiner Frau die Bilder Correggio’s, Tizian’s u. a. und „sie hörte meinen tiefsinnigen Auseinandersetzungen andächtig zu.“ In gleich unverholener Selbstbewunderung schreibt er S. 161 über seine ersten Compositionsversuche: „die Zeit für vollendete Werke war noch nicht gekommen.“ Bei einer so ausgeprägten Eigenliebe mußte er sich freilich schmerzhaft durch jedes tadelnde Urtheil getroffen fühlen, und wie sehr ihm sein Leben dadurch verbittert wurde, zeigen folgende Zeilen (II, 217): „Mein Oratorium Moses erlangte nicht die Ausbreitung, welche nöthig gewesen wäre, damit es im Volke feste Wurzel bleibend fasse. Dieser Schlag traf mich tiefer als je einer. Ich hatte mein Werk als den Grundstein betrachtet, auf dem ich weiter bauen könne und alle meine Hoffnungen und Bestrebungen wurden dadurch vernichtet.“ Bei seinen weitverzweigten Verbindungen und dem Einflusse, den er damals ausübte, erreichte er dennoch drei öffentliche Aufführungen desselben. Die erste in Breslau; obgleich sich Mosewius, der damalige Dirigent der Singakademie, anfänglich ablehnend gegen das Werk verhielt, wußte ihn doch M. in solchem Maße dafür zu interessiren, daß er sein Urtheil vollständig änderte, das Werk einstudirte, aufführte und dann noch im dortigen wissenschaftlichen Verein einen Vortrag darüber hielt. Breitkopf & Härtel druckten dasselbe und M. hatte die Genugthuung, daß es eine Zeitlang angezeigt, besprochen, aber auch leider hart getadelt wurde. Unterwirft man heute den Klavierauszug einer kritischen Prüfung, so ist man erstaunt, wie ein so kluger und scharfer Beurtheiler anderer Kunstwerke über sich selbst ein so wenig freies und richtiges Urtheil haben konnte. Weder Erfindung noch die technische Behandlung ist irgendwie hervortretend und die Singstimmen werden in einer Weise mißhandelt, daß es allerdings der vollen Beredtsamkeit Marx’ bedurft haben muß, um den Chor zum Weitersingen zu bewegen. Von seinen übrigen Compositionen liegt mir noch eine große Sonate für Pianoforte, opus 16, vor. Lang ist sie und die Themata treten mit komischer Prätension auf, aber ihre Taschen sind leer und die Kunst ihres Erzeugers reicht nicht so weit, ihnen durch eine contrapunktische Ausstattung nur einige Lebensfähigkeit zu geben. Die Nachbildung Beethoven’s fällt in die Augen, desto abschreckender wirkt aber der nie fehlende Passagenkram, der vielmehr an Kalkbrenner und Consorten erinnert.

Ins J. 1850 fällt die Errichtung der „Berliner Musikschule“, später umgetauft in „Berliner Conservatorium“. Es hatten sich zu diesem Behufe Th. Kullack, Jul. Stern und M. verbunden, indem ersterer den Klavierunterricht, der andere den Gesang- und M. den theoretischen Unterricht leitete. 1856 schied M. aus dem Verbande und vermied von da an jegliches öffentliche Auftreten. Seine schriftstellerischen Arbeiten, die sich immer mehrenden Auflagen früherer Werke und Privatunterricht sicherten ihm eine sorgenfreie Existenz und so schied er arbeitsam bis zum Schlusse seines Lebens am 17. Mai 1866 aus dieser Welt.

Marx’ Verdienste bestehen nicht nur darin, als Theoretiker in neue Bahnen gelenkt zu haben, sondern er war auch ein eifriger und feuriger Kämpfer [538] für die Classiker, die damals wenig bekannt waren und noch weniger in Achtung standen. Schon in seiner Musikzeitung bahnt er das Verständniß für Beethoven an, später ist er ebenso eifrig bemüht, Sebastian Bach und besonders Gluck durch Schrift und neue Ausgaben ihrer Werke bekannt zu machen. M. ist der Erste der es wagt, Beethoven’s letzte Werke, die allgemein für unverständlich und überspannt gehalten wurden, zu erklären und ihre Schönheiten hervorzuheben. Vor ihm waren Fétis und Oulibichef mit ihren absprechenden Urtheilen die einzigen, die über Beethoven’s letzte Werke geschrieben hatten. Es gehörte Marx’ volles Selbstbewußtsein dazu, um gegen alle Welt sein Urtheil abzugeben. Er schreibt z. B. im 1. Bande Seite 29 seiner Beethoven-Biographie gegen diejenigen, die Beethoven Formlosigkeit vorwerfen oder sagen, Beethoven habe die Form zerbrochen: „Beiden Aussprüchen liegt derselbe Irrthum zu Grunde: die Form vom Inhalt zu trennen, sie als etwas ein für allemal Festgestelltes, dem Inhalt fremdes oder gar zwängend und feindlich gegenüberstellendes anzusehen, während sie nichts Anderes als Gestaltung dieses Inhalts, und ohne sie nichts als nebelhaft unbestimmtes Schwanken und Schweben der Seele vorhanden ist, ohne faßbaren Inhalt und ohne andere Wirkung, als gleiche traumhafte und folgenlose Regungen und Wallungen. Beethoven hat bestimmten Inhalt zu offenbar gehabt und darum bestimmte Formen; aber diese Formen sind ihm nicht äußerliche Spaliere und Schranken geworden, wie dem unerweckten handwerklichen Tonsetzer, oder wie die Formeln eines Philosophen für nachsprechende Schüler, sondern sein Geist hat sich in ihnen lebendig befunden, sich in ihnen erkannt, da sie nur der Vernunft der Sache, die in ihm selber gewaltet entspringen und mit der eignen Entwicklung sie selber weiter entfaltet“. Ebenso verständnißvoll und mit seinem scharfen Verstande alle Schönheiten erkennend, hat er die letzten Quartette Beethoven’s bis ins Einzelne beurtheilt und man staunt über seinen Fleiß und seine Erkenntniß umso mehr, als zu seiner Zeit keine Quartettisten sich an die Werke heranwagten. Die Virtuosen waren damals zu einseitig auf das Glänzende bedacht und für andere Spieler waren diese Quartette allerdings zu schwer, selbst wenn sie den guten Willen gehabt hätten. M. war daher nur auf das Lesen der Partitur angewiesen und man staunt über seine Belesenheit und richtige Urtheilskraft. Auch die letzten Sonaten Beethoven’s beurtheilt er mit demselben feinen Verständniß. Neben Beethoven war es besonders Gluck, dem er seine ganze Liebe zugewandt hat und den er manchmal sogar über Beethoven stellt. Ob mit Recht, möge folgende Stelle beweisen; er schreibt in seiner Biographie Beethoven’s (I, 328): „Beethoven konnte sich Gluck, an dem jede Faser ihm fremd war – bis auf die schlagfertige Thatkraft des Rhythmus vielleicht (sic?) – nicht anschließen“. Gluck und Beethoven gingen so verschiedene Wege, daß ein Vergleich geradezu unmöglich ist und nur zu solchen irrigen Urtheilen führen kann. Sein „Gluck und die Oper“, in 2 Bänden, ist mit derselben Sorgfalt und treffenden Charakteristik geschrieben und sind beide Biographien als die Vorläufer einer Kunstgattung zu betrachten, worin die Deutschen bis heute noch unübertroffen dastehen. Sowie M. Sebastian Bach durch Schrift und Herausgabe wenig bekannter Werke zu verbreiten strebte, so verehrte er auch Händel, und er giebt in seinen Erinnerungen selbst an, daß der Messias von Händel einen so großen und hinreißenden Eindruck schon in jungen Jahren auf ihn ausgeübt habe, daß er aus Schwärmerei für Händel’s Messias vom Judenthum zum Christenthum übergetreten sei, worüber freilich sein Vater, trotz seiner freigeistigen Grundsätze, sehr erzürnt war.

M. kann man mit Recht den Begründer der modernen Musikschriftstellerei nennen. Seiner eleganten und flüssigen Schreibweise ist es meist zu danken, daß wir der trockenen und langweiligen Manier der früheren Zeit entrückt sind [539] und die Musikschriftstellerei einen so lebensfähigen Aufschwung nahm, daß selbst das gebildete Publikum Theil daran nahm und vorgebildet wurde, die großen deutschen Meister schätzen und verstehen zu lernen.

Seine zahlreichen schriftstellerischen Arbeiten und Compositionen sind bis zum Jahre 1860 sehr sorgsam in von Ledebur’s Tonkünstlerlexikon Berlins verzeichnet. Sein Leben und Schaffen Beethoven’s ward von Behncke 1884 in 4. Auflage, die „Anleitung zum Vortrage Beethoven’scher Clavierwerke“ von demselben 1875 in 2. Auflage herausgegeben.