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ADB:Richey, Michael

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Artikel „Richey, Michael“ von Max von Waldberg in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 28 (1889), S. 436–439, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Richey,_Michael&oldid=- (Version vom 21. November 2024, 13:28 Uhr UTC)
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Richey: Michael R., Dichter und Gelehrter, wurde am 1. October 1678 in Hamburg geboren. Seine Eltern Joh. R., Kaufmann daselbst, und Esther geb. Engels, Tochter eines aus Holland stammenden Künstlers sorgten – unterstützt durch geradezu glänzende Vermögensverhältnisse – daß der Sohn schon in frühester Jugend eine systematische sorgfältige Erziehung genoß. Ein bekannter Schulmann, Melchior Heinrich Francke, leitete seinen ersten Unterricht, worauf R. das schon damals berühmte Johanneum und 1696 das daran sich anschließende Hamburger Gymnasium besuchte. Neben den Vorlesungen der als Gelehrten weithin anerkannten Lehrer dieser Anstalten wurde ihm noch Unterweisung durch Privatlehrer wie Fabricius, Meisner u. a. zu teil, und in einem Alter, in dem andere Jünglinge kaum die notdürftigsten Elemente der Bildung besitzen, verfügte der frühreife R. über ein umfangreiches Wissen und ungewöhnliche Sprachkenntniß, die nicht nur die hervorragendsten europäischen Cultur-, sondern auch orientalische Sprachen umfaßte. Der in der Geschichte des Hamburger kirchlichen Lebens so oft genannte Hauptpastor Johann Friedrich Mayer (s. A. D. B. XXI, 99), der auch als prof. extraordinarius am Hamburger Gymnasium wirkte, nahm sich Richey’s besonders freundschaftlich an, und ließ ihn wiederholt unter seinem Vorsitz über theologisch-litterarische Themen disputiren. 1699 kam R. nach Wittenberg, wo er verschiedenartigen Studien sich widmete, hauptsächlich jedoch von Schurtzfleisch angezogen wurde, der im jungen R., den er seinen primicerius nannte, die Absicht, der akademischen Laufbahn sich zu widmen, weckte. R. wurde von Schurtzfleisch, mit dem er zeitlebens einen lebhaften Briefwechsel unterhielt, zum Magister promovirt, verfiel jedoch, mit den Vorbereitungen für den akademischen Beruf beschäftigt, 1701 in eine schwere Krankheit, von der er zwar unter der sorgfältigen Pflege zu Hause wieder genas, aber sein ganzes Leben hindurch konnte er sich von den Folgen des Leidens nicht vollständig erholen. Die Rücksicht auf seinen Gesundheitszustand zwang ihn auch, die ihm von seinem Gönner Hauptpastor Mayer verschaffte Berufung als außerordentl. Professor nach Greifswald, nach schweren Kämpfen abzulehnen. [437] In Hamburg seiner Erholung lebend, widmete er sich bald wieder wissenschaftlicher und poetischer Beschäftigung, wurde Mitarbeiter an den „novis litterariis Germaniae“ und unterhielt regen Verkehr mit den geistigen Leuchten des damaligen Hamburg, Edzardi, Fabricius u. a. Kleinere Erholungsreisen festigten einigermaßen seine schwankende Gesundheit, und auf einer größeren ärztlich angerathenen Reise nach Frankreich bekam er, bevor er noch seine Ziel erreichte, eine Berufung als Rector nach Stade, als Nachfolger des nach Quedlinburg übersiedelten bekannten Schulmannes Tobias Eccard. Hier eröffnete er die seinen Neigungen so entsprechende Lehrthätigkeit, mit der er später in Hamburg seinen Ruf als Pädagoge begründete, mit einer feierlichen Rede „de veterum christianorum disciplina scholastica“. Acht Jahre hindurch wirkte er segensreich in Stade. Hier begründete er auch einen Hausstand. Da er jedoch fortwährend kränkelte und die Verhältnisse in Stade durch Kriegsunruhen und Krankheiten wenig erfreulich wurden, legte er 1713 sein Amt nieder, zog sich wieder nach Hamburg zurück, wo er nach mehrjähriger Muße, auf Empfehlung von Fabricius und Hübner, 1717 an den Anstalten, die er einst als Schüler besucht, als Lehrer des Griechischen und der Geschichte berufen wurde. Volle 44 Jahre hatte er mit treuer Hingabe an seinen Beruf gewirkt, siebenmal das Rectorat verwaltet, zahlreiche ihm dankbar ergebene Schüler großgezogen, so daß, als 1754 sein fünfzigjähriges Lehramtsjubelfest gefeiert wurde, das ganze gebildete Hamburg sich daran betheiligte und die Feier einen die conventionelle Form derartiger Veranstaltungen weit übertreffenden Charakter annahm. Von da ab kränkelte er immer mehr und am 10. Mai 1761 beschloß er, aufrichtig betrauert von der Vaterstadt und der ganzen gelehrten Welt sein, treuer Pflichterfüllung gewidmetes Leben.

Richey’s Leistungen erstrecken sich auf mehrere Gebiete. Als Dichter, Gelehrter und Schulmann hat er stets, wenn auch nicht überall, mit gleicher Werthschätzung erfolgreich gewirkt. Seinen Nachruhm dankt er der poetischen Thätigkeit, obwohl diese sich hauptsächlich nur auf Gelegenheitsdichtungen im Sinne des 17. Jahrhunderts beschränkte. Aber gerade hier hat er beachtenswerthes geschaffen. Seine Gelegenheitsgedichte, besonders die Hochzeitscarmina unterscheiden sich wesentlich von den bis dahin geschaffenen gleicher Gattung. Während die Epithalamien der zweiten schlesischen Schule bis ins 18. Jahrhundert hinein, eine Ablagerungsstätte roher Erotik, ja priapischer Dichtung, zum mindesten aber eine geschmacklose breite Umrahmung für eingestreute „Lyrica“ waren, erhob R. diese Gattung zu litterarischer Bedeutung. Er vermied auch die „künstlich hohen Worte Schmeichellob und Dichterwind“ und führte ein neues Element, das der vornehmen Heiterkeit, gefälligen Witzes und munterer Schalkhaftigkeit ein. Auch er machte – den Anforderungen der poetischen Technik folgend – Namensscherze und Wortspiele, sie werden aber nicht wie früher zu Tode gehetzt, sondern so leichthin verwendet, daß man kaum die persönlichen Anspielungen und Beziehungen bemerkt. Nur das alte Motiv der „schwachen Dichterey“ wird zwar abwechslungsreich, aber bis zur Ermüdung oft gebracht. Ueberall dringt der Ton der guten Gesellschaft, der leichten Conversation in seiner poetischen Sprache durch.

Maßvoll sind auch die anderen Casualdichtungen und in den Leichengedichten unterscheidet er sich vortheilhaft durch Kürze, und durch Verachtung des übertriebenen unwahren Trauerpomps von seinen Vorgängern. Seine Lobgedichte, namentlich die vielbewunderten und gerühmten auf Karl XII. von Schweden lassen zwar nicht viel von der unabhängigen Gesinnung des Hamburger Republikaners merken, aber auch hier wird nie die Würde durch Selbsterniedrigung verletzt. Ein starker spießbürgerlicher Zug macht sich aber in allen seinen Gedichten [438] so stark geltend, daß selbst die erkünstelten Naturlaute eines Brockes nach ihnen wohlthuend wirken. Seine Epigramme und Scherzgedichte verrathen zwar nicht viel ursprünglichen Witz, schöpfen aber auch nicht aus den bekannten Quellen der deutschen epigrammatischen Dichtung des vorangegangenen Jahrhunderts und vermitteln glücklich den Uebergang des Sinngedichts von Wernigke zu Kästner. In den Räthseln, von denen sich manche noch heute etwas verändert erhalten haben, erinnert er an Grefflinger. Seine Singgedichte sind, nach kurz vorher geschaffenen Vorbildern gebaute Cantaten, von denen einige von Mattheson componiert wurden. Auch hier dringt die einfache, natürliche, manchmal fast banale Redeweise durch. Richey’s Dichtungen fanden nicht nur bei den zeitgenössischen Dichtern wie Brockes u. a. unbeschränkte Anerkennung, sondern gefielen auch weiteren Kreisen, so daß z. B. seine Theilnahme der bekannten Weichmannschen Sammlung „Poesie der Nieder-Sachsen“ zu großem buchhändlerischem Erfolge verhalf. Seine lateinischen Dichtungen erreichen kaum das bescheidene Durchschnittsmaß der damaligen neulateinischen Poesie und setzen sich aus geborgten Wendungen zusammen. Dagegen zeichnen sich seine Uebersetzungen aus dem lateinischen, holländischen, englischen und französischen durch die sprachliche Gewandtheit aus, die ihn neben Brockes und Hagedorn stellt. 1715 hatte er die „deutschübende Gesellschaft“ gegründet, aus der sich die „patriotische Gesellschaft“ entwickelte. Die aus diesen Kreisen hervorgegangene Zeitschrift „Der Patriot“, war eine der bedeutendsten der um jene Zeit wie Pilze emporschießenden „moralischen“ Wochenschriften. Ihre Tendenz, die verfahrenen gesellschaftlichen Verhältnisse zu reformiren, die Kindererziehung zu regeln, den guten Geschmack zu fördern, sowie das gesellige und Familienleben sittlich zu heben, fand allgemeinen Beifall und die geschickte Art, diese Absichten zu propagiren, verschaffte der Zeitschrift eine für jene Zeit ungewöhnlich hohe Zahl von Abnehmern. R. hat – neben Weichmann, Fabricius u. a. – eine Reihe der wirksamsten Beiträge geliefert und dem „Patrioten“ den Stempel seines milden Wesens eingeprägt, das sich auch in dem – Erasmus entlehnten – Motto: Admonere volumus, non mordere; prodesse non laedere, consulere moribus hominum non officere, widerspiegelt. Fest in seinen Gesinnungen, duldsam gegen andere, zeigte er sich auch in religiösen Fragen, was um so bemerkenswerther ist, als er selbst der streng orthodoxen Hamburger Richtung angehörte und z. B. ein sehr entschiedener Gegner der Unionsbestrebungen war. Von seinen gelehrten Bestrebungen gibt neben einem sehr ausgedehnten wissenschaftlichen Briefwechsel mit den hervorragendsten Männern der Zeit, auch schon das Verzeichniß seiner Schriften vor dem dritten Bande seiner Gedichte eine beredte Kunde. Er hat zahlreiche Programme, wissenschaftliche Streitschriften und Reden über die heterogensten Gebiete verfaßt. Am werthvollsten ist sein in zwei Auflagen erschienenes „Idioticon Hamburgense“, das ihm auch in der Geschichte der deutschen Philologie ein Plätzchen sichert. In der Vorrede entwickelt er vernünftige Gedanken über die Nothwendigkeit der „Dialectognosie“. Auch bei anderen Gelegenheiten zeigt er das lebendigste Interesse für die Muttersprache und deutsche Dichtung, z. B. durch einen Aufsatz im Patrioten und durch kleinere Abhandlungen in Weichmann’s Anthologie.

R. plante verschiedene größere wissenschaftliche Unternehmungen, von denen die Herausgabe einer „Geschichte der gelehrten Gesellschaften Europas“, für die er werthvolle Vorarbeiten fertig hatte, genannt werden möge. Ebenso hat er uneigennützig die Bestrebungen anderer unterstützt und u. a. für Hübner’s historische Bibliothek die meisten Artikel beigesteuert. Der vierte Band von Brockes’ „Irdischem Vergnügen“ hat ebenfalls R. zum Herausgeber. Unter den vielen poetischen Huldigungen, die R. von den hervorragendsten Zeitgenossen, z. B. [439] Gottsched, Brockes, Aurora von Königsmark und zahllosen Anderen dargebracht wurden, geben die Verse, die Georg Luis unter Richey’s Bild gesetzt, am zutreffendsten seine Bedeutung wieder:

„Durch aufgeklärten Witz, durch scharfe Urtheilskraft,
Durch viel Belesenheit, durch tiefe Wissenschaft,
Durch weisen Unterricht, hat Richey längst verdienet,
Daß ihm zum ewigen Ruhm, ein steter Lorbeer grünet.“

Das Jetzt-lebende Europa … von G. W. Götten. Braunschweig 1735, S. 135–142. – Michael Richeys Deutsche Gedichte, 3 Theile, herausgegeben von G. Schütze, Hamburg 1764–66. – Weichmanns Poesie der Niedersachsen, Hamburg 1725 ff.