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ADB:Rupp, Julius

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Artikel „Rupp, Julius“ von Paul Konschel in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 53 (1907), S. 635–646, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Rupp,_Julius&oldid=- (Version vom 21. November 2024, 17:59 Uhr UTC)
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Rupp: Julius R. ist am 13. August 1809 in Königsberg geboren. Von seinem Vater, der Calculator am Licent war, wurde er zu strengem Gehorsam, Pflichtgefühl, Fleiß und Pünktlichkeit angehalten, von der feinfühligen [636] Mutter frühe in die religiöse Gedankenwelt eingeführt, von dem streng- und altgläubigen Wald confirmirt. Die Erinnerung an seine Confirmation ist ihm, ebenso wie die an sein Elternhaus, zeitlebens theuer und werth gewesen. Er schreibt in späteren Jahren lange nach seinem Ausscheiden aus der Landeskirche darüber: „Es ist vieles um mich und an mir anders geworden, aber die Ueberzeugung, daß es auch für die Gegenwart keinen andern Erlöser als Jesum von Nazareth giebt, ist dieselbe geblieben, das bekenne ich mit der gleichen Festigkeit noch heute.“

Nach Absolvirung des altstädtischen Gymnasiums, wo er den Grund zu einer tüchtigen humanistischen Bildung legte, bezog er, noch nicht achtzehn Jahre alt, die Universität seiner Heimathstadt, um Theologie zu studiren. Unter den theologischen Docenten war Niemand, der ihn besonders fesselte, dagegen wurde er begeisterter Schüler Herbart’s, der ihn auch zur Pädagogik führte. Seine philosophischen Studien führten ihn zu Kant, dessen Tradition in Königsberg lebendig war. Die Kantische Philosophie, besonders auch Kant’s Werk: „Die Religion innerhalb der Grenzen der Vernunft“, hat auf ihn einen entscheidenden bleibenden Einfluß ausgeübt. Auch studirte er fleißig die Schriften Schleiermacher’s, daneben hörte er geschichtliche und kunstwissenschaftliche Vorlesungen. Nach Beendigung des Trienniums und glänzendem Examen wurde er Mitglied des Wittenberger Predigerseminars. Während die anderen Docenten ihn abstießen, trat er in innigste Beziehung zu Richard Rothe. Nach Königsberg zurückgekehrt, wendete er sich von der Theologie ab und der Philosophie und Pädagogik zu. Er war an verschiedenen Lehranstalten, zeitweise auch in Marienwerder thätig, bis er an dem altstädtischen Gymnasium eine Oberlehrerstelle erhielt. Sein Unterricht steckte sich hohe Ziele, er suchte die Schüler zu selbstständig denkenden und urtheilenden Menschen zu erziehen. Seine Lehrfächer waren Deutsch, Religion und Geschichte. Auch promovirte er und habilitirte sich als Privatdocent in der philosophischen Facultät. Seine Docententhätigkeit erstreckte sich auf die Gebiete der Philosophie (Religionsphilosophie, Naturrecht, Geschichte der Philosophie), Pädagogik, Litteraturgeschichte (Goethe’s „Faust“, Litteraturgeschichte von 1770–1830) und Geschichte. Durch die Wahl actueller Themata suchte er auf die studentische Jugend zu wirken und sie in Contact mit der Gegenwart zu bringen. Seine Vorlesungen über deutsche Litteratur waren besonders zahlreich besucht. Die rege Antheilnahme am kirchlichen Leben bezeugt seine erste Streitschrift, die gegen den einflußreichen Professor Olshausen, den Führer der pietistischen Richtung in Ostpreußen, gerichtet war. In einer von ihm geleiteten Predigerconferenz war bei zwei Geistlichen Wahnsinn ausgebrochen. Den dadurch hervorgerufenen Gerüchten und Anklagen war Olshausen mit einer entschuldigenden Schrift entgegengetreten. Dieser Schrift setzte R. seine „Gegenbemerkungen“ entgegen. Er bekämpfte keineswegs den Mysticismus und Pietismus, die unter Umständen heilsam und fördernd sein können, sondern den Mangel an Mäßigung, Besonnenheit und Klarheit, den die ostpreußische Bewegung gezeigt hatte. Die Streitschrift, die erste in einer langen Reihe, zeigt die „Klaue des Löwen“, eine glänzende Dialektik. Bezeichnend für R. war es, daß er in Olshausen kurz vor seinem zweiten Examen seinen Hauptexaminator angriff, der übrigens zu vornehm war, um es ihn irgendwie fühlen zu lassen; vielmehr bestand R. auch dies Examen mit Auszeichnung. Bald darauf folgte eine größere wissenschaftliche Arbeit: „Gregor’s des Bischofs von Nyssa Leben und Meinungen“, 1834. In dieser Schrift wird bereits mit voller Klarheit der Gedanke ausgesprochen, dem er sein Leben lang unter den wechselndsten Verhältnissen treu geblieben ist, daß die heiligende Kraft der Gottesverehrung [637] von dem Inhalt, den wir dem Gottesgedanken geben, durchaus unabhängig sei.

Nach seiner Anstellung als Oberlehrer gründete R. 1835 seinen Hausstand; seine Gattin ist ihm unter allen Wechselfällen des Lebens eine wahrhaft treue, verständnißvolle Gefährtin gewesen, sein Familienleben, das durch 6 Kinder gesegnet wurde, war von schlichter Einfachheit und herzerquickender Innigkeit.

1842 wurde er zum Divisionspfarrer gewählt und ordinirt. Zu den von ihm in der Schloßkirche gehaltenen Predigten strömten große Scharen auch aus der Civilbevölkerung. Seine Predigten, die auch im Druck erschienen („Christliche Predigten“, 1843, II. 1845), zeugen von einer hinreißenden Beredsamkeit und einem tiefen Gedankeninhalt; es sind häufig Kantische Gedanken, die in Predigtform der Gemeinde zugänglich gemacht werden. Dagegen fehlte jede Beziehung zu der Soldatengemeinde. R. entschuldigt dies damit, daß die Hälfte der Kirchenbesucher dem Civilstande angehören, seine besondere Gemeinde nur anwesend war, wenn gerade ihr Kirchgang mit seiner Predigt zusammentraf,außerdem die Soldaten bei strengerer Kälte nach der Liturgie die Kirche verließen. Daneben behielt R. die vier Religionsstunden auf den oberen Classen des Gymnasiums.

Einen Wendepunkt in seinem Leben bildete eine Rede, die er in der Deutschen Gesellschaft zum Geburtstag des Königs am 15. October 1842 hielt über das Thema „Der christliche Staat“ (Königsberg 1842, neu aufgelegt 1892). Die Rede zeichnet zunächst das Wesen des christlichen Staates im Mittelalter, dessen Grundlage er im Gegensatz des Priester- und Laienstandes findet. „Diejenigen Staaten, welche der Kirche Gehorsam und Hingebung bewiesen, werden als wahrhaft christliche Staaten anerkannt.“ Luther habe erfolgreich gegen diesen Staat gekämpft, aber auf ihn folge ein jäher Abfall. Es bildete sich die Staatskirche. „Der christliche Staat der Protestanten unterscheidet sich nicht wesentlich von dem der Katholiken, da beide das Christenthum als die in unwandelbaren Formen gegebene äußere Kirche gegen jeden Eingriff aufrecht zu erhalten versprechen und demselben die dazu erforderliche Macht zu Gebote stellen. Diesem christlichen Staat steht der Staat Friedrichs II. von Preußen und der Staat des tiers-état in Frankreich gegenüber. Der Staat des 18. Jahrhunderts sieht in der Verwirklichung der Gerechtigkeit, d. h. in sich selbst die höchste Aufgabe der menschlichen Bildung gelöst … Darum ist dem Staat des 18. Jahrhunderts die Kirche zunächst durchaus gleichgültig, er ist aber in Wahrheit ein christlicher Staat gewesen. Der christliche Staat des 19. Jahrhunderts wird keine Glaubensvorschriften und keinen Symbolzwang kennen, er wird bei seinen Bürgern nicht nach der Taufe fragen, er wird mit der christlichen Kirche in keiner unmittelbaren Beziehung stehen, und doch wird er ein christlicher Staat sein. Das Christenthum steht zur Religion ganz in demselben Verhältniß als zu Staat, Kunst und Wissenschaft; es ist ebensowenig Religion als es Staat, Kunst und Wissenschaft ist, aber es ist das Princip und die Seele unseres politischen, künstlerischen, wissenschaftlichen und religiösen Lebens. Das Christenthum ist ein Lebensprincip, es ist ein System lebendiger Gedanken.“ Nachdem nun die Aufgaben des christlichen Staates im einzelnen gezeichnet worden, schließt die Rede mit den Worten: „Der christliche Staat befestigt den Völkerfrieden, er lehrt die Nationen sich selbst Gesetze geben, er will nicht Herren und Knechte, sondern brüderliche Gleichheit, er stößt die Bösen nicht aus, sondern führt sie zurück zum Guten und beugt dem Bösen vor; vor allem er setzt Vertrauen in den Geist.“ Der Eindruck der Rede war ein gewaltiger. Es regneten die Zustimmungen (u. a. [638] auch eine Besprechung von Karl Rosenkranz in der Königl. Preuß. Staats-, Kriegs- und Friedenszeitung Nr. 258) und Entgegnungen. Die Unzufriedenheit mit dem herrschenden System auf kirchlichem Gebiet war eine allgemeine. Es gehört zu dem tragischen Geschick des Königs Friedrich Wilhelm IV., daß er auch auf diesem Gebiet das Beste wollte und doch die verhängnißvollste Wirkung ausübte. Er kannte nur eine Reform der Kirche von oben in der Gestalt der Bevormundung. Jede selbständige Regung der Gemeinden galt ihm als Demokratie auf kirchlichem Gebiet, die ihm noch verhaßter war, wie die politische. Die Kreise, die in Stahl und Hengstenberg ihre Führer gefunden, erlangten maßgebenden Einfluß. Christlich erschien ihnen der Staat, der mit allen Mitteln, wenn es noth thue auch mit Zwangsmitteln dafür sorge, daß seine Glieder rechte Christen, d. h. Christen nach ihrer eigenen Form des Christenthums seien. So war es gemeint, wenn der König beim Regierungsantritt erklärte, daß er verspreche, seinem Staate den Ruhm eines christlichen zu geben. Gegen diese Anschauungen war die Rede allerdings eine Kriegeserklärung. Friedrich Wilhelm hat das Auftreten Rupp’s wie eine persönliche Beleidigung aufgefaßt.

Infolge der Rede kam R. in Conflict mit dem Consistorium. An der Spitze desselben stand der Generalsuperintendent Sartorius, der gerade zur möglichst schnellen Tödtung des Rationalismus nach Ostpreußen berufen war. Die große Erweckung der Freiheitskriege war erstarrt. Ueber Schleiermacher ging man zur Tagesordnung über, die einfache Wiederherstellung des Alten hielt man für die Aufgabe der Theologie und Kirche. Mit besonderem Haß wurde die Hegel’sche Philosophie verfolgt. Einer der Consistorialräthe, einst als Rupp’s Universitätslehrer Hegelianer, bekämpfte jetzt heftig, was er damals gelehrt hatte.

Vor diesen Richtern mußte sich R. vertheidigen. Weil R. gerade bei den Hegelianern und den freisinnigen Politikern Zustimmung fand, war er doppelt verdächtig, obwohl ihm bei allen wohl durch Rothe vermittelten Anklängen an die Hegel’sche Auffassung vom Staat die Hegel’sche Philosophie zeitlebens fremd geblieben und sein Interesse für Verfassungsfragen ein geringes war. Das Consistorium machte R. eine „Vorhaltung“, der Cultusminister Eichhorn ließ ihn an die Pflichten seines Amtes erinnern und ihm zugleich eröffnen, „daß er von Rupp’s Gewissenhaftigkeit erwarte, daß er, wenn er einsehe, daß die in jener Rede ausgesprochenen Ueberzeugungen mit dem Amte eines christlichen Predigers unverträglich seien, das Amt niederlegen würde.“ R. erwiderte, daß es in seiner Rede keine Stelle gäbe, welche mit den Offenbarungen des Neuen Testamentes in Widerspruch stände, er habe sich, da er die Rede sprach, im Dienst seines Erlösers gewußt.

In dieser Zeit wurde R. vom Magistrat der Stadt Königsberg zum Director des Kneiphöfischen Gymnasiums gewählt, aber von dem Ministerium nicht bestätigt.

Durch Ullmann’s Thesen über die theologische Lehrfreiheit in der evangelisch-protestantischen Kirche, welche die Theologie unter die Aufsicht der Kirche stellten, herausgefordert, schrieb R. zuerst Gegenthesen in dem „Königsberger Litteraturblatt“ und erörterte sodann diese Frage ausführlicher in der Schrift: „Der Symbolzwang und die protestantische Lehr- und Gewissensfreiheit“ (Königsberg 1843). Die von ihm aufgestellten Grundsätze sind: 1. „Alle Symbole sowohl der alten Kirche als die des Mittelalters (das Apostolikum eingeschlossen) können in der protestantischen nie Gesetze werden, sie sollen Zeugnisse sein. Der Buchstabe der Bekenntnisse und die Verpflichtung auf [639] denselben in der heutigen protestantischen Kirche gilt nicht, und diese Geltung erzwingen, heißt eine Revolution bewirken.“

An allen Fragen und Gebieten des kirchlichen Lebens nahm R. den lebendigsten Antheil. So war er in hervorragender Weise an der Gründung des Ostpreußischen Hauptvereins der Gustav Adolf-Stiftung betheiligt. Bei der Berathung der Frage, ob auch Juden Mitglieder des Gustav Adolf-Vereins werden können, vertrat er energisch den kirchlichen Charakter des Vereins. Es ist bezeichnend für die Unklarheit der damaligen Zeit auf kirchlichem Gebtet, daß eine recht erhebliche Minderheit für die Aufnahme von Juden stimmte und R. ein Widerspruch mit seiner Rede über den christlichen Staat vorgeworfen wurde, während es sich doch in dieser um den Staat, hier aber um einen kirchlichen Verein handelte. Bei diesem Blick aufs Große verlor R. auch das Kleine nicht aus den Augen. Neben seiner Thätigkeit als Divisionspfarrer, Docent und Religionslehrer fand der unermüdliche Mann noch Zeit, sich um die Gründung Kleinkinder-Bewahranstalt zu kümmern. Am 18. Januar 1844 hielt R. wieder die Festrede in der Deutschen Gesellschaft, und zwar diesmal über das Thema: „Theodor von Hippel und seine Lehre über den christlichen Staat.“ Die Rede giebt die Gedanken des bedeutsamen Königsberger Schriftstellers Theodor v. Hippel wieder, die mit dem, was R. in seiner ersten Rede vertreten hatte, im wesentlichen übereinstimmen. Hippel habe zwar Scheu gehabt, die Bezeichnung „christlicher Staat“ zu gebrauchen wegen des vielfachen Mißbrauches, der damit getrieben sei; doch sei der Staat, dessen Grundzüge Hippel zeichne, in Wahrheit ein christlicher. Erster Grundsatz der Regierungsform sei, daß die Gesetzgebung väterlich sei. „Nach der Lehre des Stifters der christlichen Religion waren die Gebote Gottes Rathschläge, seine Verbote väterliche Warnungen und die Pflichten kindliche Liebe. So darf der Ton der Gesetze in den väterlichen Regierungsformen nicht einen bloßen Gebieter verrathen … es liegt in der Natur des Menschen, daß er sich nicht befehlen, sondern nur rathen lassen wolle, und die väterliche Regierung spreche ihm diesen Adel, zu dem ihn Gott erhob, nicht ab.“ Ferner geht die Rede auf Hippel’s Anschauungen über die Frauenfrage ein. Er sprach es unumwunden aus, daß Mann und Weib zwar wie die Rassen durch Hautfarbe, Haarwuchs, Schädelformation, so durch den Geschlechtsunterschied getrennt sind, aber in dem, was den Menschen zum Menschen macht, in der Vernunft, sich einander gleichstehen und jede Unterordnung des Weibes unter den Mann daher unvernünftig sei. Zum Schluß weist R. darauf hin, wie Hippel alle Gedanken der Herrschaft eines Gedankens untergeordnet habe, und diesen einen Gedanken knüpft Hippel an das unsterbliche, allgemein bekannte Wort des großen Friedrich an: „bei mir kann Jeder glauben, was er will, wenn er nur ehrlich ist.“ „Dieses Wort nennt Hippel deshalb unsterblich, weil er erkannt hat, daß es ein christlicher Ausspruch ist; … unchristlich ist es ihm, den Menschen nach seiner Orthodoxie zu beurtheilen. Obwohl hier R. nur Hippel’s Gedankengänge wiedergibt, läßt er doch seine Zuhörer nicht im Zweifel, daß er die Anschauungen Hippel’s theilt.“

Es läßt sich verstehen, daß gerade in militärischen Kreisen, die alles unter dem Gesichtspunkt der Subordination anzusehen gewohnt sind, diese Rede einen gefährlichen Eindruck machte. So ließ der bei der Festrede anwesende commandirende General Graf zu Dohna, der Schüler Schleiermacher’s aus dessen Hauslehrerzeit, übrigens sonst als ein milder, vornehm denkender Mann bekannt, das Manuscript der Rede durch den Militär-Oberprediger einfordern. R. weigerte sich anfangs, weil der Divisions-Commandeur und nicht der commandirende General sein militärischer Vorgesetzter sei und weil [640] eine in einer gelehrten Gesellschaft gehaltene Rede einer amtlichen Beurtheilung seiner vorgesetzten Militärbehörde in keinem Fall unterliegen könne; gab aber schließlich nach und reichte das Manuscript ein, „damit man seiner Weigerung nicht falsche Motive unterlege“. Das Kriegsministerium, dem eine Abschrift des Manuscripts unter Einspruch Rupp’s gegen die Zuständigkeit und das Verfahren des commandirenden Generals übermittelt wurde, reagirte darauf nicht, scheint also vom militärischen Standpunkt nichts Tadelnswerthes gefunden zu haben. Dagegen ertheilte das Consistorium auf Veranlassung des commandirenden Generals „wegen Nichtbeachtung der früheren Mahnung, wegen der anstößigen Gedanken und Worte in der Rede vom 18. Januar“ einen sachlich und formell ungemein scharfen Verweis und erklärte, „daß ein Beharren bei solchen Ansichten mit dem Ihnen von der Kirche übertragenen Amte unvereinbar ist.“

Durch solche Vorgänge wurde das Bedürfniß engerer Fühlung zwischen den Freunden einer freieren Richtung in der Kirche und der Schaffung eines Organs geweckt und gestärkt. Bei der Säcularfeier der Königsberger Universität im August 1844 wurde die Gründung einer Zeitschrift „Christliches Volksblatt“ beschlossen, deren Mitherausgeber R. wurde. In diesem „Volksblatt“ verlangte R., als die erste Provinzial-Synode 1844 berufen wurde, energisch eine Synode aus Geistlichen und Laien, von der allein eine freiheitliche Ausgestaltung des kirchlichen Lebens zu erwarten sei, und vertheidigte diese Gedanken in einer Preßfehde. Die deutsch-katholische Bewegung begrüßte er als Erster in der evangelischen Kirche mit großer Freude. Er ließ nach Schneidemühl, wo von Czerski eine romfreie Gemeinde gegründet worden war, als ersten Gruß von evangelischer Seite ein von vielen Evangelischen unterschriebenes Sendschreiben. Auch zu der in Königsberg gegründeten, von Czerski und Ronge besuchten deutsch-katholischen Gemeinde nahm er eine freundliche Stellung ein. Die weitere Entwicklung dieser Bewegung war allerdings nicht nach seinem Sinn. Er tadelte, daß sie so bald ihren katholischen Charakter abstreifte und zu einer protestantischen wurde. Er sah darin den Hauptgrund des geringen dauernden Erfolges dieser so großartig begonnenen Bewegung.

Auch die von Uhlich und Wislicenus getragene Bewegung der Lichtfreunde hielt ihren Einzug in Königsberg. Am 9. April 1844 wurde ein Zweigverein der protestantischen Freunde gegründet. R. ist auch unter den zehn Vorstandsmitgliedern dieses Vereins, der nur eine Lebensdauer von fünf Monaten haben sollte, hielt sich aber einigermaßen von der ihm doch im tiefsten Grund fremdartigen Bewegung fern. Es waren die vulgär-rationalistischen Kreise, die sich in ihr zusammenfanden. R. hat für die gedankenarme Oberflächlichkeit dieser Kreise, die von der Zeit überholt und von der Gedankenarbeit der großen Denker Kant und Schleiermacher unberührt geblieben waren, stets ein scharfes Auge gehabt, seine positive Natur fühlte sich durch die bloße Negation jener Kreise zurückgestoßen, wenn er auch mit ihnen in vielen die Reform des kirchlichen Wesens betreffenden Fragen übereinstimmte. Rationalist ist R. nie gewesen, so oft er auch so genannt worden ist; der Schüler Schleiermacher’s konnte es nie werden. Für den Rationalismus ist das Christenthum Lehre, für R. Lebensprincip. Eher werden wir ihn als seinen Vorläufer des modernen theologischen Liberalismus verstehen. Kenner der neuesten Bewegungen auf religiösem Gebiet werden eine unverkennbare Aehnlichkeit seines Standpunktes mit dem Johannes Müller’s finden. Die Schließung dieses Vereins, die am 26. August 1844 erfolgte, wurde auch von [641] R. als ein Gewaltact empfunden und machte die ganze Situation in Königsberg nur immer gespannter. Die Gegner Generalsuperintendent Sartorius und der Consistorialrath und Professor der Theologie Lehnerdt fingen damit an, die Angelegenheit auf die Kanzel zu bringen. R. fühlte sich in seinem Gewissen gedrungen, das Gleiche zu thun, zumal da er die Laienwelt als allein maßgebend in dieser Frage ansah. So hielt er am 29. December die Predigt über Gal. 4, 1–7 mit dem Thema: „Der christliche Glaube ist der Glaube der Mündigen“. In dieser Predigt verfolgt er die herrschende Richtung bis auf ihre Quelle und findet diese im Eingang des sogenannten Athanasianischen Glaubensbekenntnisses: „Quicunque vult salvus esse, ante omnia opus est, ut teneat fidem catholicam. Quam nisi quisquam integram inviolatamque servaverit, absque dubio in aeternum peribit.“ Ausdrücklich wird erklärt, daß sowohl im apostolischen wie auch im nicaenischen Symbol nicht ein Grundsatz zu finden sei, der dem Geist des Christenthums widerspreche, aber in Bezug auf das Athanasianische sei er zu der Ueberzeugung gekommen, daß mit ihm die christliche Kirche gegen das Wort Gottes und damit gegen sich selbst Zeugniß ablege und daß unsere Kirche nur dann des Namens einer christlichen Kirche würdig bleibe, wenn sie dies erkenne. Das Unchristliche dieses Bekenntnisses wird in den angeführten Eingangsworten gefunden; damit werde die Seligkeit an eine Satzung gebunden. „Christ sein und die Seligkeit von einer Glaubenssatzung abhängig machen, ist unvereinbar.“ Einige Tage vorher hatte R. diesen seinen Standpunkt in einem Schreiben an das Consistorium klar gelegt. Er hat diesen Schritt mit vollem Bewußtsein seiner Tragweite gethan, er hielt ihn für ein Gebot christlicher Wahrhaftigkeit und wollte lieber auf eine gesicherte pecuniäre Stellung und eine ihm lieb gewordene Thätigkeit verzichten, als gegen sein Gewissen handeln. Auch der zu erwartende Beifall hat ihn nicht gelockt, sondern er hat vielmehr zu aller Zeit viel gethan, um seine Freunde zurückzuschrecken. Das Consistorium nahm den hingeworfenen Fehdehandschuh sofort auf. Nach einem mehrfachen Schriftenwechsel und einer mündlichen Verhandlung wurde R. am 17. September 1845 „wegen wiederholter Verletzung seiner Amtspflichten aus grober Fahrlässigkeit und wegen beharrlicher Weigerung, die ihm vorgehaltenen Vergehungen als solche anzuerkennen und zu geloben, daß er fortan ähnliche Fehltritte zu vermeiden bestrebt sein werde, aus seinem Amt als Divisionsprediger entlassen.“ Zu Grunde gelegt werden diesem Urtheil, das mit drei gegen zwei Stimmen beschlossen wurde, die beiden Reden über den christlichen Staat, sowie die Athanasius-Predigt. Am 18. December wurde das Strafresolut, das inzwischen dem Minister vorgelegt worden war, dem Angeklagten publicirt; zugleich wurde ihm eröffnet, daß das Consistorium beschlossen habe, weil nach seiner Ansicht Rupp’s strafbarer Fehler mehr in einer unwillkürlichen Verirrung als in einem vorsätzlichen Widerstreben wurzele, ein Wartegeld von 500 Thalern pro Jahr für zwei Jahre von der Gnade Sr. Majestät zu erbitten. Dies Wartegeld wies R., obwohl er vermögenslos und Vater von 5 Kindern war, entschieden ab und legte Recurs gegen das Urtheil ein. Während der Verhandlung wurde R. von dem Burgkirchencollegium aufgefordert, sich um die Hofprediger-Adjunctenstelle mit Aussicht auf Nachfolge zu bewerben. Er kam dieser Aufforderung nach und wurde mit großer Mehrheit von den stimmberechtigten Mitgliedern der Gemeinde gewählt, aber vom Consistorium nicht bestätigt. Den Recurs gegen seine Absetzung zog R., nachdem seine Bitte an den König um Bestellung eines anderen Richters als des Cultusministers Eichhorn abschlägig beschieden war, als aussichtslos zurück.

[642] Inzwischen war es zur Gründung einer „freien evangelischen Gemeinde“, der ersten in Deutschland, gekommen. Ein Kreis von Männern und Frauen aller Stände traten zu dieser zusammen und wählten R. zu ihrem Prediger. R. stellte vor Uebernahme dieses Postens die Bedingung, daß alle Gemeindeglieder sich als Brüder betrachten und dies auch äußerlich durch Gebrauch des brüderlichen „du“ kennzeichnen sollten. Von einem Theil derer, die im Begriff waren, sich der Gemeinde anzuschließen, wurde dies mit Entrüstung abgelehnt, und doch hatte dieses Verlangen Rupp’s, so unpraktisch es war, seinen besonderen Grund. Er hatte gesehen, wie ein großer Theil derer, die ihn auf den Schild gehoben hatten, lediglich in der Negation mit ihm einig waren, aber keine religiösen Interessen hatten und mit diesem Mangel sich noch brüsteten. R. erklärte eine solche Gesinnung für eine gemeine Denkart und forderte von Jedem, der der neuen Gemeinde beitreten wollte, da es ihm nicht geglückt war, sich sonst verständlich zu machen, eine Handlung, die ohne Zweifel bekundete, daß es ein religiöses Bedürfniß sei, das ihn zu ihr führe. Auch hierin zeigt sich das durchaus Positive in Rupp’s Anschauungen. Was er erstrebte, war eine evangelische Gemeinde nach evangelischen Grundsätzen organisirt, von allem staatlichen Zwang und aller Aufsicht der Kirchenbehörden befreit. Nachdem sein Verlangen in dem von ihm gewünschten Sinne gewirkt hatte, gelang es seinen Freunden, ihn zur Zurückziehung dieser Bedingung zu bewegen. Am 19. Januar 1846 erfolgte die Begründung der Gemeinde in den vorgeschriebenen Rechtsformen. Von nun an ist Rupp’s Leben aufs innigste mit der von ihm gegründeten Gemeinde verwachsen. Der leitende Grundsatz der Gemeinde war die unbedingte Gewissensfreiheit, die freie Selbstbestimmung des Einzelnen. R. wäre aus der Gemeinde ausgetreten und hätte eine neue gegründet, wenn durch Mehrheitsbeschluß irgendwie der Bekenntnißgehalt der Gemeinde festgestellt worden wäre. Auch in dem später gegründeten Verband der „freien Gemeinden“ in Deutschland hatte er mit Entschiedenheit diesen Standpunkt vertreten. Darin liegt die Stärke, aber auch die Schwäche der Gründung, da die freie Selbstbestimmung, auf die Spitze getrieben, jede lebendige und fruchtbare Gemeinschaft ausschließt. Nur durch Rupp’s Persönlichkeit war ein festes Einheitsband geschaffen; doch sind schon in der Anfangszeit sehr verschiedene Standpunkte in der Gemeinde vorhanden gewesen. Rupp’s eigene religiös-sittliche Anschauungen bezeichnet er als „christlichen Humanismus“. Das, was sein großer Lehrer das radicale Böse und die christliche Dogmatik Sünde nennt, ist von ihm in seiner Tiefe und Bedeutung nicht erfaßt. Sein ebenmäßiger Entwicklungsgang, der keinen Bruch mit der Vergangenheit kennt, bietet dafür die Erklärung; auch die weitgehende Spiritualisirung der christlichen Ewigkeitshoffnung wird schwerlich den biblischen Anschauungen gerecht. Andererseits hat er zeitlebens in Jesu von Nazareth seinen Meister gesehen, und ist mit Entschiedenheit dafür eingetreten, daß die religiöse Reformbewegung im engsten Zusammenhang mit dem Evangelium bleibe, auch als die Mehrzahl der anderen freien Gemeinden andere Wege ging. Noch kurz vor seinem Tode bezeichnet er als die Aufgabe der religiösen Form der Gegenwart, einzustehen für das Princip des Evangeliums gegen die in der öffentlichen Meinung herrschenden Grundirrthümer. Wenn er das Christliche oder das Christenthum bekämpft, so ist nach seinem Sprachgebrauch das geschichtliche Christenthum gemeint, wie es sich in den Formen der Landeskirchen darstellt. Dies bekämpft er gerade im Namen des Evangeliums, d. h. dessen, was er als das wahre Christenthum erkannt hat.

R. und die Königsberger Richtung hat in der freigemeindlichen Bewegung stets die äußerste Rechte gebildet. Er ließ es sich mit Humor gefallen, in [643] diesen Kreisen für einen Reactionär gehalten zu werden. Er war seiner Meinung nach nur aus der Consistorialkirche, aber nicht aus der evangelischen Kirche ausgetreten. Dieses sein Recht als Glied der evangelischen Kirche suchte er mit aller Macht zu vertheidigen; darum trat er auch, zum Deputirten des Königsberger Hauptvereins für die Hauptversammlung des Gustav Adolf-Vereins gewählt, nicht freiwillig zurück, als man ihn dazu zu bestimmen suchte. Es traf ihn sehr hart, als die Deputirtenversammlung am 7. Sept. 1846 seine Zulassung wegen mangelnder Zugehörigkeit zur evangelischen Kirche ablehnte. Aus dem gleichen Grunde sträubte sich R. mit seiner Gemeinde, so lange es anging, sich unter das Patent vom 30. März 1847 über die Bildung neuer Religionsgesellschaften zu stellen, weil das Patent für diejenigen gegeben war, „welche in ihrem Gewissen mit dem Glauben und Bekenntniß ihrer Kirche nicht in Uebereinstimmung zu bleiben vermögen und sich demzufolge zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft vereinigen“. Dies hielt R. für sich und seine Gemeinde für nicht zutreffend; dadurch aber, daß die Gemeinde sich nicht unter das Patent stellte, wurde ihr Prediger straffällig, wenn er Amtshandlungen vornahm; die von ihm getrauten Ehen wurden als Concubinate angesehen. Auch im Ausbau des Gemeindelebens verfolgte R. persönlich conservativere Grundsätze; er wollte bei der Taufe die trinitarische Form ohne trinitarischen Inhalt beibehalten. Doch legte er auf die Formen geringen Werth und ließ sich, wenn auch ungern, von seinen radicaleren Freunden überstimmen, daß die Form der Taufe in das Belieben der Eltern gestellt wurde. Das Abendmahl hat R. bis an sein Lebensende gefeiert. Um allen Vorrechten des geistlichen Standes ein Ende zu machen, ließ er sich in Predigt und Amtshandlungen durch andere Gemeindemitglieder vertreten, später geschah dies regelmäßig einmal im Monat. Auch hatte der Prediger im Gemeindevorstand nur berathende, nicht beschließende Stimme.

Nicht in directer Verbindung stand die journalistische Thätigkeit Rupp’s, wenn auch sein Leserkreis wesentlich im Kreise der freien Gemeinde zu suchen ist. Er gab nacheinander die Wochenschriften der „Ostpreußische Volksbote“, die „Königsberger Sonntagspost“, „Religiöse Reform“ heraus oder war doch ihr bervorragendster Mitarbeiter. Er setzte sich in gedankenreichen, eine tüchtige geschichtliche Bildung bekundenden Artikeln mit allen Zeitfragen auf kirchlichem, politischem und litterarischem Gebiet auseinander. Zeitweise trat das politische Interesse in den Vordergrund. Vier Monate gehörte er dem preußischen Abgeordnetenhause im J. 1849 an; er hielt eine Rede gegen den Gesetzentwurf, der das Anheften von politischen Plakaten verbot, und Verkauf und Vertheilung von Druckschriften auf den Straßen von polizeilicher Erlaubniß abhängig machte. Einer Fraction trat er nicht bei, hielt sich aber zur gemäßigten Linken. Das Jahr 1848 brachte der Gemeinde zwar manche Erleichterung. R. hielt in der großen Neuroßgärtner Kirche den Märzgefallenen die Gedächtnißfeier und durfte mit seiner Gemeinde zwei Jahre die Burgkirche mit benutzen. Im Allgemeinen war diese Zeit der Gemeinde nicht günstig. Die politischen Interessen verdrängten die religiösen. Manche, die zur kirchlichen Opposition nur dadurch geführt wurden, weil es vor 1848 keine Möglichkeit gab, politische Opposition zu machen, zogen sich zurück. Das allgemeine Interesse erlahmte. R. hätte wohl unter dem ihm durch die Gustav-Adolf-Versammlungen bekannten und freundlich gesinnten liberalen Minister Graf v. Schwerin eine Wiederanstellung im geistlichen Amte erlangen können; aber er wollte seine Sache nicht von der der freien Gemeinde trennen, und alle Versuche, diese nach Anerkennung der Selbständigkeit und Lehrfreiheit an die Kirche anzuschließen, scheiterten. Ebenso fand die Hoffnung auf eine außerordentliche Professur für [644] deutsche Litteraturgeschichte trotz des überaus anerkennenden Gutachtens des Historikers Schubert keine Erfüllung. Obwohl R. seine politische Thätigkeit von der Arbeit der Gemeinde stets reinlich zu scheiden suchte, machte die hereinbrechende Reaction diesen Unterschied nicht. R. wurde im August 1851 durch das Ministerium aus Gründen allgemeinen Staatswohls von der Universität ausgeschlossen und verlor damit, da er den Religionsunterricht am Gymnasium nach seiner Absetzung niedergelegt hatte, die letzte Thätigkeit außerhalb der Gemeinde. Diese wurde unter das Vereinsgesetz gestellt, als politischer Verein behandelt, die Versammlungen polizeilich überwacht, jede Amtshandlung gerichtlich bestraft. Auch die Annahme des Patents brachte keine Ruhe für die Gemeinde. R. wurde wiederholt wegen Preßvergehens mit Gefängniß bestraft, u. a. wegen „Verletzung der Ehrfurcht gegen Se. Majestät den König“ oder wegen eines „zu Haß und Verachtung gegen die evangelische Landeskirche aufreizenden“ Artikels. Auch die Freimaurerloge schloß ihn wegen seines Verhaltens gegen die Staatsregierung aus. Schließlich wurde die Gemeinde polizeilich geschlossen, weil sie kein Bekenntniß habe, mithin keine religiöse Gemeinde sei, sondern im Gegentheil politischen Charakter habe, was außer den Reden und Schriften Rupp’s auch daraus hervorgehe, daß sie eine Lebensgemeinschaft sein wolle. R. suchte die Gemeinde durch Sonntagszusammenkünfte in engeren Kreisen, bei denen Predigten von ihm vorgelesen und besprochen wurden, auch durch Wochenversammlungen und gesellige Vereinigungen, die oft genug von der Polizei gestört und gehindert wurden, zusammenzuhalten. Das Abendmahl wurde heimlich u. a. in frühester Morgenstunde des Neujahrstags 1852 gefeiert, weil in der Neujahrsnacht die Polizei nächtlichen Wanderern weniger Mißtrauen entgegenbrachte. Auch die Erziehungsanstalten der Gemeinde verfielen der Auflösung. Es dauerte über zwei Jahre, bis es R. gelang, nach vergeblicher Anfechtung der Auflösung eine Neubegründung der Gemeinde herbeizuführen. Dies geschah, da die Bezeichnung „Gemeinde“ verboten wurde, unter dem Namen „Unsere Religionsgesellschaft“. Von 1200 stimmberechtigten Mitgliedern waren nur ca. 100 übrig geblieben. Mit neuem Muth ging R. an die Arbeit. Es fehlte auch jetzt nicht an allerlei Schwierigkeiten; so wurde R. in 10 Thlr. Strafe genommen, weil er – der frühere Oberlehrer – ohne Concession an Kinder der Gemeinde Religionsunterricht ertheilt habe und ihm in Zukunft jedes Unterrichten untersagt. Erst als der Prinz von Preußen mit seiner offenen Verurtheilung des herrschenden Systems auf kirchlichem Gebiete die Regentschaft übernahm und die Verfolger der Gemeinde vom Schauplatze abtraten, kamen für die Gemeinde ruhigere Zeiten. Die Gemeinde, die nach der Vereinigung mit den Resten der deutsch-katholischen den Namen „freie evangelisch-katholische Gemeinde“ annahm, konnte unter Rupp’s thätiger Antheilnahme mit den anderen freien Gemeinden zu einem Bunde zusammentreten. Die Conflictszeit führte R. wieder mehr auf den politischen Kampfplatz; er gab eine politische, zwei Mal wöchentlich erscheinende Zeitschrift, den „Verfassungsfreund“, heraus und nahm die Wahl zum preußischen Abgeordnetenhaus 1862 an. Diesmal schloß er sich der Fortschrittspartei an, und trat in einer längeren Rede für die Bestätigung der Anstellung eines jüdischen Lehrers an der Realschule zu Posen ein. 1863 lehnte er eine Candidatur ab; er spricht in einem Briefe (Nachlaß III, S. 225) die Ueberzeugung aus, „daß ein Volk im politischen Leben wenig zu leisten im Stande ist, wenn es nicht vorher die Grundlage des Evangeliums gefunden hat“, und widmete sich fortan ausschließlich der religiösen Bewegung. Die Auseinandersetzung mit Strauß, Renan, auch mit dem Socialismus und dem unter der Flagge der Naturwissenschaft segelnden Materialismus waren für ihn und die Gemeinde Gegenstand [645] ernster Gedankenarbeit. Allmählich stellten sich bei ihm die Anfänge eines Augenleidens ein, die ihm Lesen und Schreiben fast unmöglich machten. Ein Halsleiden erschwerte ihm derart das Sprechen, daß er 1881 sein Amt als Prediger der freien Gemeinde niederlegte. Doch blieb er bis zum Tode durch Predigten, die in der Gemeinde verlesen wurden, in Verbindung.

In dieser Zeit feierte er das 50jährige Doctorjubiläum. Die philosophische Facultät ehrte ihn bei Erneuerung des Doctordiploms mit den Worten: „viro justo ac propositi tenaci, qui strenue ac constanter ea quae sibi vera visa sunt, prosecutus et libris scriptis et magna vi orationis innumeros homines docuit, errexit, consolatus est.“

Am Charfreitag des Jahres 1884 (11. April) theilte er zum letzten Male das Abendmahl aus; am 11. Juli 1884 entschlief er.

Als Theologe und Politiker wird R. je nach der eigenen Anschauung des Beurtheilers verschieden beurtheilt werden, in der Bewunderung des Menschen sind seine Gegner mit seinen Anhängern einig. Er war eine spröde, verschlossene, aber aufrichtige, selbstlose, muthige Persönlichkeit. Wenn man den Ertrag seines Lebenswerks nach dem äußeren Erfolge abmißt, so ist er ein recht geringer. Seine Hauptwirksamkeit blieb auf einen recht kleinen Kreis beschränkt; es gehörte sein fröhlicher Optimismus dazu, um gegenüber der wachsenden Theilnahmslosigkeit derer, die ihn einst auf den Schild gehoben hatten, nicht verbittert zu werden. Seine Predigten, denen man die Schulung an Schleiermacher anmerkt, haben etwas Abstractes; sie tragen dem gewöhnlichen Erbauungsbedürfniß nicht Rechnung, sind oft mehr philosophisch als theologisch gehalten und setzen ein außerordentliches hohes Bildungsniveau bei ihren Zuhörern voraus, sind aber in dieser Eigenart außerordentlich bedeutsam. Seine Schriften und Artikel sind auch noch heute lesenswerth, nur leider in schwer zugänglichen Zeitschriften vergraben. Sicher gebührt R. ein ehrenvoller Platz in der Kirchengeschichte. Er gehört zu jener Opposition, die so alt ist wie die Kirche, die gegen ihre Erstarrung gearbeitet und gekämpft hat. Sein ganzes Lebenswerk ist eine Kritik gegen die preußische Staatskirche seiner Zeit. Diese Kritik ist nicht erfolglos geblieben; die Kirche, die R. bekämpfte, die ihn ausstieß, gehört der Vergangenheit an. Idealisten, wie er einer vom reinsten Wasser war, sind trotz scheinbaren Mißerfolgs doch Träger des Fortschritts. Irrthum und Ueberspannung corrigirt die Geschichte.

Ein ausführliches Verzeichniß der Schriften Rupp’s, erfreulicherweise auch von den von ihm verfaßten Artikeln in den Zeitschriften, findet sich in Rupp’s Litterarischem Nachlaß III am Schluß. Die wichtigsten von ihnen sind außer den im Text genannten:

„Das Verfahren gegen den Divisionsprediger Dr. Rupp“, Wolfenbüttel 1846; „Erbauungsbuch für freie evangelische Gemeinden“, 3 Bde., Königsberg 1847; „Christliche Predigten“, Königsberg 1849; „Von der Freiheit. Vorträge, gehalten vor der Dissidentengemeinde“, 2 Bde., Leipzig 1846; „Immanuel Kant. Ueber den Charakter seiner Philosophie und seine Bedeutung für die Gegenwart“, Königsberg 1857; „Predigten aus den letzten Jahren herausgegeben nach stenographischen Aufzeichnungen von L. Ulrich, Leipzig 1890. Eine Sammlung der Briefe erscheint demnächst: † Rupp. Briefe. Heidelberg.

Vgl. Schieler, Dr. Julius Rupp und die freie religiöse Bewegung in der katholischen und evangelischen Kirche Deutschlands im 19. Jahrhundert. (Dresden und Leipzig 1903.) Nur Bd. 1 ist erschienen, der das Leben Rupp’s bis zur Absetzung schildert. Rupp’s litterarischer Nachlaß nebst Nachrichten über sein Leben, Königsberg 1890–92. – Geschichte der freien evangelisch-katholischen Gemeinde zu Königsberg, Königsberg 1895. – Ueber [646] Rupp’s Stellung zum Gustav-Adolf-Verein: Benrath, Geschichte des Gustav-Adolf-Vereins in Ostpreußen, Königsberg 1900. Im wesentlichen beruht die Darstellung des zweiten Theiles auf zerstreuten, z. Th. ungedruckten Quellen und mündlichen Mittheilungen.