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ADB:Sayn-Wittgenstein-Berleburg, Casimir Graf zu

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Artikel „Wittgenstein-Berleburg, Casimir Graf von“ von Paul Tschackert in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 43 (1898), S. 629–631, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Sayn-Wittgenstein-Berleburg,_Casimir_Graf_zu&oldid=- (Version vom 21. November 2024, 18:06 Uhr UTC)
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Wittgenstein: Casimir Graf von W.-Berleburg, † 1741, mystischer Pietist. Um das Jahr 1700 bildete sich in Berleburg, dem südöstlichsten Winkel Westfalens, eine „philadelphische Genossenschaft“ von Pietisten und Schwärmern unter dem Schutze der verwittweten Gräfin Hedwig Sophia von Wittgenstein (1694 bis 1712), welche als Vormünderin ihres Sohnes regierte. Als aufrichtig fromme Frau verwandte sie die größte Sorgfalt auf die Erziehung ihrer Kinder und namentlich des Erbgrafen Casimir, mit welchem wir uns hier zu beschäftigen haben. Graf Casimir erblickte das Licht der Welt am 31. Januar 1687. Kaum [630] achtzehnjährig wurde der Jüngling, nachdem er schon auf den nahen Universitäten Marburg und Gießen gewesen war, im Jahre 1705 nach Halle geschickt, um dort den Einfluß des frommen Juristen Stryk und August Hermann Francke’s zu erfahren. Auf seinen Reisen durch Holland und England noch vollends „bekehrt“, lebte er nach seiner Rückkehr in der Heimath in Herzensgemeinschaft mit seiner Mutter und hing mit innigster Verehrung an ihr, auch nachdem sie sich auf ihren Wittwensitz Christianseck, eine Stunde von Berleburg, zurückgezogen hatte, wo sie 1738 starb. Graf Casimir vermählte sich im J. 1711 mit der gleichfall pietistisch frommen Gräfin von Isenburg-Wächtersbach, trat im Jahre darauf, 1712, die Regierung der Grafschaft Berleburg an und führte sie bis an seinen Tod (1741). Er regierte sein Land ganz im „philadelphischen“ Sinne seiner Mutter, ein ganzer Christ nach pietistischer Art, wie ihn Göbel (s. u.) beschreibt. Neben dem göttlichen Worte dienten ihm die Schriften der Mystiker von Tauler bis herauf zur Frau von Guyon[WS 1] und die der Pietisten seiner Zeit zur Erbauung. Die Anmerkungen zur heiligen Schrift von Frau v. Guyon hat er selbst in zwölf handschriftlichen Bänden übersetzt, damit sie in der „Berleburger Bibel“ verwendet würden. Seit dem Jahre 1724 führte er bis an seinen Tod ein Tagebuch über sein inneres Leben, in welchem er über jede seiner Sünden mit sich ins Gericht ging. Es war natürlich, daß sich der Graf mit gleichgesinnten Beamten umgab. Außer ihnen fanden aber noch zahlreiche andere Gesinnungsgenossen in Berleburg Unterkommen, besonders seit 1724, wo sich dort eine recht eigentlich philadelphische Verbrüderung unter den Erweckten bildete, eine Vorläuferin der Zinzendorf’schen „Brüdergemeinde“, von der sie sich aber durch ihre gänzliche Formlosigkeit, ja Ordnungslosigkeit unterschied – ein Umstand, der wieder ihren Verfall nothwendig nach sich zog; weil ohne Ordnung keine Gemeinschaft auf die Dauer bestehen kann. Aus dieser philadelphischen Vereinigung ging damals, 1726–1742, das große Unternehmen der mystischen Berleburger Bibelübersetzung und -erklärung hervor, acht Bände, herausgegeben von dem aus Straßburg nach Berleburg geflohenen gelehrten Magister Johann Heinrich Haug († 1753), den Graf Casimir zu sich auf das Schloß genommen hatte und zeitlebens bei sich behielt. A. Ritschl bezeichnet sie als „das abschließende Document des mystischen Radicalismus und Indifferentismus“ (Gesch. d. Pietismus II, 1, 351). Ihr Titel lautet „Die h. Schrift Alten und Neuen Testaments, nach dem Grundtext aufs neue übersehen und übersetzt“ usw. (Berleburg 1726). Folio. – Achter Theil (1742). Aber außer den braven, stillen und in sich gekehrten Separatisten sammelten sich auch die Ultras des Pietismus, jene Männer von verwildertem Subjectivismus, die vom Pietismus nur die Kirchenfeindschaft übernommen hatten und nunmehr in gemeine Freigeisterei verfielen, wie Dippel und Edelmann. Aber ihnen allen gewährte der edle Graf in ehrlicher Toleranz Aufenthalt in seinem Lande; er selbst das Muster christlicher Duldsamkeit. Aus seinem Familienleben ist noch zu berichten, daß er in zweiter Ehe mit einer Tochter des Präsidenten des Reichshofrathes v. Wurmbrandt verheirathet war, und daß er in den letzten 16 Jahren seines Lebens körperlich viel gelitten hat; aber solange als möglich, ließ er seinen separatistischen Prediger Tuchfeld in seinem Zimmer vor sich predigen. Am 5. Juni 1741 starb er. Es liegt nahe, diesen Grafen mit seinem Gesinnungs- und Standesgenossen Zinzendorf zu vergleichen: Gleich innerlich gerichtet wie Zinzendorf war Graf Casimir weniger begabt, aber auch weniger mit Fehlern belastet als er; auch wollte Graf Casimir als Landesherr seine Regentenpflichten nicht vernachlässigen, während Zinzendorf nur Grundherr war und sich von den damit gegebenen Geschäften möglichst zurückzog. Endlich war Graf Casimir wol ein Begünstiger der Separatisten, aber eine von der Kirche äußerlich losgelöste Gemeinde hat er weder hergestellt, noch hätte er überhaupt dazu die [631] Hand gereicht. Er blieb ganz auf dem Standpunkte des alten Pietismus, dem es genug war, „ecclesiolae in ecclesia“[WS 2] zu bilden. In dieser Gesinnung hat der Graf mächtig für die Vertiefung des religiösen Sinnes gewirkt, aber unbewußt auch demjenigen Subjectivismus vorgearbeitet, welcher mit dem Kirchenthum überhaupt brach. Nach seinem Tode trat Berleburg wieder in das alte Gleis kirchlicher Religiosität zurück, da die Begünstigung der Fremden unter seinem Nachfolger aufhörte.

Vgl. Fr. W. Winckel, Aus dem Leben Casimirs, Grafen zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg. Frankf. 1842. (Daselbst auch das Bild des Grafen.) – Derselbe, Casimir etc. und das religiös-kirchliche Leben seiner Zeit. Bielefeld 1850. – Max Göbel, Gesch. des christl. Lebens in der rheinisch-westfälischen evangelischen Kirche II (1852), S. 736 ff. (wo die Quellen zur Gesch. Berleburgs aufgeführt sind), III, 85 ff. – Wilh. Bender, Dippel (1882) S. 123 ff. – A. Ritschl, Gesch. des Pietismus II, 1, 351 ff.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Jeanne Marie Guyon du Chesnoy (1648-1717), französische Vertreterin des mystischen Quietismus; siehe Wikipedia.
  2. lat.: „Kirchlein (plur.) in der Kirche“