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ADB:Schönlein, Johann Lukas

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Artikel „Schoenlein, Johann Lukas“ von Julius Pagel in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 32 (1891), S. 315–319, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Sch%C3%B6nlein,_Johann_Lukas&oldid=- (Version vom 21. November 2024, 14:16 Uhr UTC)
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Schoenlein: Johann Lukas S., Arzt und Kliniker, ist als einziger Sohn eines wohlhabenden Seilermeisters katholischer Religion in Bamberg am 30. November 1793 geboren. Nachdem er von 1804–11 in seiner Vaterstadt [316] die Gymnasialbildung erlangt hatte, bezog er im Herbst des letztgenannten Jahres die Universität Landshut zunächst zum Studium der Naturwissenschaften, das er mit großem Eifer unter Bertele betrieb, ging dann aber zur Medicin über, widmete sich neben den eigentlich medicinischen Disciplinen unter v. Walther und Roeschlaub mit großer Vorliebe der vergleichenden Anatomie unter Tiedemann und siedelte nach anderthalbjährigem Aufenthalt in Landshut Ostern 1813 nach Würzburg über. Hier war außer Textor und d’Outrepont u. a. besonders Ignaz Döllinger sein Lehrer, dessen Vorlesungen über „genetische Hirndemonstrationen“ er beiwohnte. Ein Product dieser Studien war die ungewöhnlich umfangreiche (140 Seiten lange), mit zwei Kupfertafeln ausgestattete, allerdings zum Theil noch stark naturphilosophisch gehaltene, übrigens deutsch geschriebene Inauguralabhandlung „Von der Hirnmetamorphose“, mit der S. am 24. Febr. 1816 die Doctorwürde erwarb. Hierauf machte S. eine längere wissenschaftliche Reise nach Göttingen und Jena, prakticirte ganz kurze Zeit in seiner Vaterstadt, wo er durch Christian Pfeufer, den Nachfolger von Marcus in der Leitung des Bamberger großen allgemeinen Krankenhauses, in die Praxis eingeführt wurde und meldete sich schon ein Jahr nach seiner Promotion zur Habilitation als Privatdocent in Würzburg. Nachdem er hier vom 24.–26. August 1817 die üblichen Probevorlesungen gehalten hatte, wurde er am 28. September zum Privatdocenten ernannt. Er wählte als Gegenstand seiner Vorlesungen die Disciplin der pathologischen Anatomie. Doch schon 1819 trat er in das klinische Fach über und wurde an Stelle des an einem Augenleiden erkrankten Directors der medicinischen Klinik am Juliusspitale, Nicolaus Friedreich, provisorisch mit der Leitung der Klinik betraut, 1820 zum Extraordinarius, nachdem er einen Ruf an die Freiburger Universität abgelehnt hatte, und am 15. Januar 1824 zum Ordinarius der speciellen Pathologie und Therapie und definitiv zum Director der Klinik ernannt. Infolge seiner, übrigens nur ganz geringen Betheiligung an der politischen Bewegung von 1830 jedoch seiner akademischen Aemter enthoben und als Kreis-Medicinalrath nach Passau versetzt, nahm er seine gänzliche Entlassung. Anfang 1833 erhielt er einen Ruf als Professor der Medicin an die neugegründete Hochschule zu Zürich, mußte sich aber zunächst einer inzwischen ihm infolge des bekannten Frankfurter Attentats drohenden Verhaftung durch die Flucht nach Zell zu seinem Freunde König, dem bekannten Erfinder der Schnellpressen, entziehen. Von hier begab er sich nach Frankfurt a. M., wo er kurze Zeit als gesuchter Praktiker thätig war, um dann erst dem an ihn ergangenen Rufe nach Zürich Folge zu leisten. In dieser Stellung wirkte er bis 1839, lehnte 1834 eine Berufung als Professor nach Bern ab, ebenso eine solche als königl. Leibarzt nach Brüssel, wo er 1835 der Königin von Belgien in ihrem ersten Wochenbette Beistand geleistet hatte. Durch Vermittlung von Dieffenbach, der in Würzburg Schönlein’s Schüler gewesen war, wurde diesem 1839 die Stellung als Professor der medicinischen Klinik in Berlin und Leibarzt des Königs angetragen. Er trat dieselbe, nachdem er noch zwecks Studiums des exanthematischen Typhus zu einer Reise nach Oberitalien Urlaub genommen hatte, Ostern 1840 an und entfaltete dabei eine ganz außerordentliche und segensreiche Lehrthätigkeit, indem er unter ganz ungewöhnlichem und dauerndem Andrange von Studierenden und Aerzten seine Klinik, verbunden mit Vorlesungen über specielle Pathologie und Therapie, abhielt, und namentlich durch seinen freien Vortrag in deutscher Sprache, die er zuerst statt der bisher üblich gewesenen lateinischen einführte, die Zuhörer ungemein zu fesseln wußte. In der Klinik bediente er sich zum ersten Male der Hülfsmittel der physikalischen und chemischen Diagnostik (Stethoscop, Mikroscop, chemisches Reagens), besetzte einige bis dahin nur den Militärärzten zugänglich gewesene Assistentenstellen mit [317] Civilärzten und wußte „durch seinen Einfluß eine große Zahl talentvoller Schüler durch Bezeichnung der Aufgaben und der einer Lösung bedürftigen Fragen zu bahnbrechenden Arbeiten anzuregen“, an deren Fortgang er den lebhaftesten Antheil nahm. Neben der akademischen Thätigkeit entfaltete er eine ganz hervorragende Wirksamkeit als Arzt, namentlich als consultirender, in welcher Eigenschaft er sich großer Beliebtheit erfreute. 1856 traf ihn das Unglück, daß er seinen einzigen hochbegabten Sohn Philipp S. auf einer botanischen Excursion im westlichen Afrika verlor. Dieser, sowie noch einige andere mehr äußerliche Umstände veranlaßten S. trotz des Widerstandes der Facultät und trotz der Bitten der Collegen, 1859 seinen Abschied zu nehmen. Er zog sich nach seiner Vaterstadt zurück, lebte hier noch einige Jahre in beschaulicher Ruhe, beschäftigte sich, abgesehen von der Bestellung seines Hauses und Gartens, mit Studien über die Geschichte seiner Heimath, die Münzen der alten Fürsten, die Länder- und Völkerkunde, die Geschichte der Entdeckungen, die Litteratur der Epidemien etc. und starb am 23. Januar 1864 an den Folgen eines langjährigen, in der letzten Zeit stark zunehmenden Kropfübels. – S. gehört unbestritten zu den hervorragendsten Aerzten und Klinikern der Neuzeit. In der Geschichte der Medicin bezeichnet seine Wirksamkeit einen entscheidenden Wendepunkt, insofern er der Vater und das Haupt einer Schule geworden ist, deren Vertreter und Anhänger allmählich den Uebergang zur modernen exacten Medicin eingeleitet haben. Anfangs noch stark naturphilosophisch geschult und der speculativen Richtung huldigend, wußte er sich später allmählich, wenn auch nur zum Theil, von diesen fehlerhaften Anschauungen zu emancipiren und wurde der Begründer der sogen. „naturhistorischen“ Schule, indem er zuerst der naturwissenschaftlichen Methode in der deutschen Klinik Bahn brechen half und lehrte, „daß die Naturwissenschaften uns Führer sein und zeigen sollen, wie man beobachten müsse, um daraus Erfahrungen zu bilden und diese wieder zur That ausbilden zu können“. Auf Grund seiner reichen Erfahrungen, die er in der pathologischen Anatomie gesammelt hatte, zum scharfen Diagnostiker herangereift, betonte er schon während seiner Würzburger klinischen Thätigkeit die Nothwendigkeit strenger exacter Einzeluntersuchung und Feststellung der Thatsachen mit Hülfe der naturwissenschaftlichen Beobachtung d. h. unter Anwendung der sogen. physikalischen bezw. chemischen Hülfsmittel der Diagnose: Auscultation, Percussion, Mikroscop, chemisches Reagens zur Kenntniß der Natur der verschiedenen gesunden und kranken Absonderungsstoffe und unter Berücksichtigung der materiell nachweisbaren Veränderungen, wie sie sich aus pathologisch-anatomischen Studien ergeben. Erst nach Feststellung der einzelnen Symptome, Krankheitszeichen „ergebe sich aus der Aneinanderreihung der Erscheinungen, welche nicht bloß zeitlich auf einander folgten, sondern auch ursächlich auseinander hervorgingen“ (Virchow) schließlich die Kenntniß von dem Krankheitsproceß. – Die Methode der exacten Diagnose mit Hülfe der genannten physikalischen Hülfsmittel zuerst am Krankenbette in Deutschland angewandt und gelehrt zu haben, ist wesentlich sein Verdienst. Dazu tritt das fast noch größere Verdienst seiner unermüdlichen und außerordentlich geschickten Lehrthätigkeit, die schon in Würzburg zur Geltung kam, wo er das reiche Material des großen Krankenhauses den Studirenden so zugänglich machte, daß jeder einzelne Klinicist durch eigene Beobachtung den Verlauf der Krankheiten verfolgen und wirkliche selbständige Erfahrungen sammeln konnte. Noch mehr ließ er sich wenigstens zu Beginn seiner Berliner Thätigkeit die eigentlich praktische Leitung und Ausbildung des künftigen Arztes angelegen sein. Sein Vortrag zeichnete sich, trotzdem S. das Sprechen zuweilen infolge seines Kropfübels schwer wurde, nicht bloß äußerlich durch regelmäßigen, abgerundeten [318] Satz- und Periodenbau, sondern noch mehr durch großen inneren Gehalt der Rede, Ordnung der Darstellung, planvolle Eintheilung, Vollständigkeit der einzelnen Abschnitte, Gleichmäßigkeit der Behandlung des Themas etc. aus. Zu seinen hervorragendsten Schülern in Berlin gehörten Gueterbock, Franz Simon, Remak, Heintz, Traube, Joseph Meyer u. A., für deren Arbeiten er reges Interesse hatte. Er selbst hat, jedenfalls durch seine eigentlichen Berufs- und anderweitigen Geschäfte erheblich in Anspruch genommen, nicht zu belangreichen Publicationen die nöthige Muße finden können. Man kennt von ihm außer einigen akademischen Programmen, Reden, der oben citirten Inauguraldissertation u. s. w. nur noch zwei kleinere, an sich nicht unbedeutende Aufsätze, nämlich: „Ueber Krystalle im Darmkanal bei Typhus abdominalis“ (Johannes Müller’s Archiv f. Anat. 1836, briefliche Mittheilungen an den Herausgeber) und „Zur Pathogenie der Impetigines“ (ib. 1839, S. 82). Letztgenannte Abhandlung ist darum so bemerkenswerth, weil sich in ihr die berühmte Entdeckung des Fadenpilzes (auf Remak’s Veranlassung Achorion Schoenleinii benannt) beim Kopfgrind findet. Diese Entdeckung ist der Ausgangspunkt späterer, für die Krankheitslehre so wichtiger parasitologischer Untersuchungen und zugleich S. damit gewissermaßen mittelbar der eigentliche Begründer der Lehre von den Dermatomycosen d. h. Pilz-Hautkrankheiten geworden. Bezüglich der Darstellung und Beurtheilung des von ihm in seinen Vorlesungen gelehrten nosologischen Systems ist man auf die etwas zweifelhaften und nicht recht authentischen, z. Th. sogar gegen seinen Willen erfolgten Veröffentlichungen einiger seiner Zuhörer angewiesen, die seine Vorlesungen im ganzen oder in Stücken drucken ließen. Sehr ungenau sind namentlich die anonym publicirten Collegienhefte: „Dr. J. L. Schoenlein’s Allgemeine und specielle Pathologie und Therapie, nach dessen Vorlesungen niedergeschrieben etc.“ (Würzburg 1832, 2 Bde; fünfte, mit dem Bildniß des Verfassers ausgestattete Aufl. St. Gallen 1841, in 4 Theilen, ein etwa 1100 Seiten starker, Großoctavband); „Krankheitsfamilie der Typhen“ (Zürich 1840). Am zuverlässigsten in dieser Beziehung sind noch die mit Schoenlein’s Genehmigung von Gueterbock herausgegebenen „Klinischen Vorträge in der Charité“ (Berlin 1842). Nach seinem eigenen Ausspruche hat S. dem darin niedergelegten Systeme niemals einen wirklichen wissenschaftlichen Werth vindiciren wollen; vielmehr sollte es ausschließlich mehr äußerliche Zwecke verfolgen, namentlich zur Erleichterung der Uebersicht und zur besseren Gruppirung verwandter Processe dienen. Wir sind also nicht berechtigt, in diesem System den Schwerpunkt der unzweifelhaften, großen historischen Bedeutsamkeit Schoenlein’s zu sehen; vielmehr liegt dieser mehr in seiner Thätigkeit als Praktiker und akademischer Lehrer. – Eine genaue Darstellung des Lehrsystems an dieser Stelle zu geben ist einerseits deshalb unthunlich, weil dieselbe viel zu weit führen würde, andererseits mit Rücksicht auf das vorhin gesagte auch insofern unnöthig, als sie zur Charakteristik und Beleuchtung der eigentlichen Thätigkeit und Bedeutung Schoenlein’s als Arzt und Lehrer wenig beitragen, ja vielleicht diesen in ein schiefes Licht bei der Nachwelt zu bringen geeignet sein würde. Wie gesagt, war es ihm bei der Aufstellung des Systems mehr um das äußere Moment der Uebersichtlichkeit und Gruppirung des Stoffs zu thun, während er sich am Krankenbette in seinem therapeutischen Handeln nicht nach diesen Grundsätzen richtete; die ganze Lehre dürfte somit nur einen theoretischen Werth beanspruchen. Einer seiner heftigsten und erfolgreichsten litterarischen Gegner war u. a. Wunderlich, der Begründer und Hauptapostel der sogen. „physiologischen Heilkunde“. In des Letztgenannten lesenswerther „Geschichte der Medicin“ (Stuttgart 1859) findet sich eine sehr ausführliche Darstellung und Würdigung Schoenlein’s bezüglich [319] seiner nosologischen Lehren und seiner Wirksamkeit als Theoretiker (l. c. S. 333–343).

Vgl. noch Biogr. Lexicon von A. Hirsch etc. V, 269.