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ADB:Seidel, Bruno

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Artikel „Seidel, Bruno“ von Hermann Michel. in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 54 (1908), S. 302–304, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Seidel,_Bruno&oldid=- (Version vom 8. Oktober 2024, 10:15 Uhr UTC)
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Seidel: Bruno S., Arzt, Dichter und Sprichwörtersammler in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, † in Erfurt 1591. Er wurde um 1530 in Querfurt geboren und scheint in behaglichen Verhältnissen aufgewachsen zu sein. Seit 1546 studirte er in Wittenberg, wo er sich besonders an Melanchthon und den vielseitigen Johannes Marcellus anschloß. Er ist zeitlebens ein überzeugter Protestant geblieben. Im J. 1550 trat er eine große Reise durch Deutschland an, die er nach der Sitte der Zeit in lateinischen Versen beschrieben hat. Man findet dies Hodoeporikon nebst anderen typischen Gebilden der neulateinischen Lyrik in Seidel’s „Poematum libri septem“ (Basel 1555), einem schmalen Bändchen mit Elegien, Oden, Idyllen, [303] Epigrammen. Leidlich gebaute Verse ohne tieferen Gehalt und ohne jede persönliche Note. Am meisten Schwung zeigen noch die Oden, während die Epigramme so unoriginell oder so salzlos sind, daß man nicht begreift, weshalb gerade sie der Ehre für werth erachtet wurden, in die große Anthologie der neulateinischen Lyrik (Deliciae poetarum Germanorum, Frankfurt 1612, Bd. 6, S. 112 ff.) aufgenommen zu werden. Zur weiteren Ausbildung in der Medicin wandte sich S. – es steht nicht fest, wann – nach Padua und genoß hier noch Gabriele Falloppio’s Unterricht: er muß die Collegien dieses hochbedeutenden Arztes fleißig besucht haben, denn er konnte später, Anno 1577, eine flüchtig hergestellte Ausgabe der Vorträge Falloppio’s „De ulceribus“ nach eigenen Aufzeichnungen beträchtlich verbessern und ergänzen. Wahrscheinlich hat er auch in Padua den Doctorhut erworben. In die Heimath zurückgekehrt, ließ er sich als Arzt in Arnstadt nieder, einem thüringischen Städtchen, das damals von regem geistigen Leben erfüllt war. In der Bibliothek Gerlach’s von der Marthen stieß er auf ein Corpus von Briefen des Mutianus Rufus, Eobanus Hessus und anderer Humanisten; er machte seinen Freund Camerarius darauf aufmerksam, und dieser gab den werthvollen Fund 1568 heraus („Libellus novus epistolas et alia quaedam monumenta doctorum superioris et huius aetatis complectens“). Dieselbe Bibliothek lieferte ihm auch das Material zu seiner lateinisch-deutschen Sprichwörtersammlung, deren erste Auflage unter dem Titel „Sententiae proverbiales“ 1568, deren zweite, vielfach bereichert und umgestaltet, unter dem Titel „Loci communes proverbiales“ 1572 ans Licht trat. Beide sind nur mit den Anfangsbuchstaben seines Namens bezeichnet. Zu dieser Zeit lebte S. bereits einige Jahre in Erfurt, und hier endlich faßte der unruhige Geist festen Fuß. Er übernahm 1566 eine Professur für Physik an der Universität und entfaltete eine ersprießliche Lehrthätigkeit: sein berühmtester Schüler ist R. Goclenius (s. A.D.B. IX, 308 ff.), der späterhin die meisten medicinisch-naturwissenschaftlichen Schriften Seidel’s herausgegeben hat. Er erweist sich darin, echt humanistisch, als begeisterter Verehrer der griechisch-römischen Medicin und als temperamentvoller Gegner des Paracelsus. Selbständigere Ansichten vertritt er in einem mehrfach, zuerst 1562, gedruckten Büchlein „De usitato urinarum apud medicos iudicio“, worin er den diagnostischen Werth der Harnuntersuchung, mit der damals sträflicher Unfug getrieben wurde, zwar nicht leugnet, aber in verständiger Weise einschränkt. Kurz vor seinem Tode erschien eine neue, völlig umgearbeitete und um das Doppelte vermehrte Ausgabe seiner „Loci communes proverbiales“ unter dem Titel „Paroemiae ethicae sive sententiae proverbiales morales“ (Frankfurt a. M. 1589). Das Buch enthält 3500 lateinische Sprüche in leoninischen Hexametern, denen die deutsche Uebersetzung in zwei oder mehr Reimversen beigefügt ist; außerdem bietet es allerlei Bauern- und Wetterregeln, auch etliche Priameln. Eine Art Vorspruch, ebenfalls in leoninischen Hexametern, bereits ein Bestandtheil der „Sententiae proverbiales“, ist für die Litteraturgeschichte des 16. Jahrhunderts wichtig, da er eine Aufzählung der beliebtesten Schwank- und Volksbücher gewährt. S. kann dabei nicht umhin, den Geschmack des Publicums philisterhaft zu bekritteln. Dem Volke auf Gassen und Märkten seine Weisheit abzulauschen, war offenbar nicht seine Sache; er benutzt vorwiegend litterarische Quellen, darunter auch einige, die jetzt verschüttet sind; mit Stolz weist er auf nahezu neunzig Werke hin, denen er das Material zu seiner Arbeit entnommen hat. Werthvolle Zusätze dankt er der hülfsbereiten Güte Michael Neander’s (s. A.D.B. XXIII, 341 ff.). Im Vorwort ereifert er sich gewaltig über die bösen Leute, die seine älteren Sammlungen ohne nähere [304] Angaben scrupellos ausgeschrieben haben; er nennt besonders Andreas Gartner (s. A.D.B. VIII, 373 ff.) und Hermann Germberg (ebd. IX, 31 ff.); doch lassen sich nur bei Germberg stärkere Anleihen nachweisen. Beachtung verdient, daß der Mitteldeutsche einige alemannische Sprachformen der bei Oporinus in Basel gedruckten „Sententiae“ und „Loci“ als störend empfunden und in den „Paroemiae“ verbessert hat. – Mißvergnügt und übellaunig, wie ihn diese Vorrede zeigt, erscheint S. auch sonst. Er besaß ein besonderes Talent, sich über die Verkehrtheiten der Welt und der Menschen ausgiebig zu ärgern. Er war ein gelehrter Mann und vertrat aus Ueberzeugung humanistische Interessen. Aber die jubelnde Lebensfreude der Erfurter Humanisten zu Beginn des 16. Jahrhunderts fehlt ihm ganz. Freilich, die Zeiten hatten sich geändert: in der dumpfen Atmosphäre der Concordienformel und der Gegenreformation zu leben, war keine Lust.

Die meisten Schriften Seidel’s befinden sich in der Kgl. Bibliothek zu Berlin und in der Stadtbibliothek zu Erfurt; die „Sententiae“ besitzt die Universitätsbibliothek zu Freiburg i. B., die „Poemata“ und „Paroemiae“ die Stadtbibliothek zu Hamburg. - Melchior Adam, Vitae Germanorum medicorum. Heidelberg 1620, S. 235 ff. - J. Franck, Zur Quellenkunde des deutschen Sprichworts: Herrig’s Archiv Bd. 40 (1867), S. 45 ff., ebd. Bd. 41, S. 125 ff. – Hermann Michel, Heinrich Knaust. Berlin 1903, 65, 138 ff., 298 (dort weitere Litteraturangaben). – Richard Loth, Das Medizinalwesen, der ärztliche Stand und die medicinische Facultät bis zum Anfang des 17. Jahrhunderts in Erfurt. Sonderabdruck aus den Jahrbüchern der Kgl. Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt. Neue Folge. Heft 30. Erfurt 1904, S. 44, 62 ff.
Hermann Michel.