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ADB:Stancarus, Franciscus

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Artikel „Stancarus, Franciscus“ von Paul Tschackert in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 35 (1893), S. 436–439, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Stancarus,_Franciscus&oldid=- (Version vom 24. November 2024, 03:18 Uhr UTC)
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Stancarus: Franciscus St., eigentlich Francesco Stancaro, † 1574. St. war von Geburt ein Italiener, und zwar stammte er aus Mantua, wo er etwa 1501 geboren wurde. Ueber seine Jugend, seine Vorbildung und seine Thätigkeit in der Heimath ist nichts Sicheres bekannt; wir erfahren nur, daß von ihm 1530 zu Venedig eine „Institutio de modo legendi hebraice“ und 1546 eine „Expositio in epistolam Jacobi apostoli“ ebendaselbst erschien, daß er aber als Anhänger und Vertheidiger der kirchlichen Reformation aus seinem Vaterlande fliehen mußte, nach kurzem Aufenthalte in der Schweiz (1543 in Chiavenna, 1546 in Basel, vgl. De Porta, historia reformationis Raeticae p. 89) und in Deutschland nach Polen übersiedelte und zu Krakau an der Universität eine Anstellung als Professor der hebräischen Sprache erhielt. Es scheint demnach, daß er von Fach ursprünglich scholastischer Theologe und orientalistischer Sprachgelehrter war, allmählich indeß, je länger je mehr, in die reformatorische Bewegung hineingetrieben wurde. Aber in Krakau sollte seines Bleibens nicht lange sein. Denn als er in seinen Vorlesungen über die Psalmen vieles wider die Anrufung der Heiligen einfließen ließ, „machte“ ihn der Bischof von Krakau „zum Ketzer“ und ließ ihn in seinem Castell Lipovicz gefangen setzen; St. aber, welcher die Gefahr erkannte, in welcher er schwebte, ließ sich durch Seile aus dem Gefängniß herab und entkam. Bei einem Magnaten Olesnicki zu Pinczov fand er Schutz. Hier wurden die Bilder aus den Kirchen abgethan und das Abendmahl nach schweizerischem Ritus gefeiert; doch schonte man des Klosters und der Mönche. Olesnicki wurde aber darüber zur Verantwortung gezogen und mußte St. entlassen. (Bzovius, Annales ad ann. 1550, f. 220.) Aus Pinczov begab sich St. darauf nach Preußen (vgl. Spondanus, Annales ad ann. 1551, nr. X u. XXI). In der Hauptstadt des Landes, zu Königsberg, wurde er hier am 8. Mai 1551 unter dem Rectorat des Magisters Bartholomäus Wagner als Professor der Theologie und der hebräischen Sprache angenommen. Er gab bei seinem Amtsantritte eine Disputation „de trinitate“ heraus und vertheidigte sie am 20. Juni 1551. Damals tobte eben in Preußen der osiandristische Streit, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß der Herzog mit Rücksicht darauf gerade dem Fremdling gern eine Anstellung gewährte, weil er hoffen mochte, daß dieser als Unbetheiligter den Streit der Parteien nicht verschärfen werde. Darin aber täuschte er sich sehr. Denn unerwartet drängte sich St. allen Gegnern Osiander’s so ungestüm vor, daß er als ihr Haupt gelten wollte. Zu diesem Zwecke, recht eigentlich um Partei zu machen, formulirte er seinen Gegensatz gegen Osiander in eine recht auffällige, aber leicht zu behaltende Formel: während Osiander lehrte, daß Christus allein nach seiner göttlichen Natur (durch deren Einwohnung in uns) unsere Gerechtigkeit sei, behauptete St. umgekehrt, daß Christus nur nach seiner menschlichen Natur unsere Gerechtigkeit genannt werden könne, weil er allein nach seiner menschlichen Natur unser Erlöser und Mittler geworden sei. „Christus Deus et homo, secundum alteram naturam tantum, nempe humanam, non autem secundum divinam, Mediator est. – Christus secundum divinam naturam non potest esse Mediator, sed tantum secundum humanam. – Christum secundum divinam naturam esse Mediatorem, haereticum est.“ (Adv. Tigur. B 6. C 4. K 4., siehe unten. Excerpirt in J. Planck, Geschichte der Entstehung etc. unsers prot. Lehrbegriffs. IV. Bd. 1796. S. 455.) Je wichtiger ihm dieser Gedanke erschien, und je mehr er Widerspruch fand, desto energischer vertheidigte er ihn. So wurde er der Urheber einer neuen, nach ihm benannten Streitigkeit, wodurch sein Name alsbald neben dem Osiander’s weithin genannt wurde und noch heute – aber nur im geschichtlichen Interesse – genannt werden muß. Verbleiben wir zunächst bei seiner Stellung im osiandristischen Streite.

[437] Da bei seiner Ankunft in Königsberg schon eine ganze Anzahl von Theologen (Mörlin, Hegemon, Venetus, Staphylus und andere) mit Osiander im Streite lagen und vor ihm in eigenen Confessionen und Judicien das Wort führten, so konnte es St. nicht erreichen, gegen Osiander eine Führerrolle zu erhalten. Im Gegentheil finden wir ihn nur am 15. August bei einer antiosiandristischen Kundgebung betheiligt, indem er eine Antwort der genannten Theologen an den Herzog von diesem Datum unterschrieb und sie in eigener Person dem Fürsten übergab. Er trug sich nämlich schon damals mit Abschiedsgedanken; denn da er sich vor Osiander und dessen Anhängern nicht mehr sicher fühlte, wollte er anderwärts Unterkommen suchen. Seine Gründe legte er um diese Zeit dem Fürsten brieflich in lateinischer Sprache auseinander. Dieser Brief ist uns (im Original bei Hartknoch [s. u.] S. 344. 345, in deutscher Uebersetzung bei Salig II, 964. 965) erhalten; aber Inhalt und Form desselben stellen dem Charakter des Schreibers kein gutes Zeugniß aus. In diesem respectswidrigen, groben Schreiben an den edlen Fürsten, der allerdings Osiander und seine Richtung einseitig begünstigt hatte, erklärt St. seinen Feind Osiander für den Antichristen selbst, nennt die „neue Religion“ des Herzogs Manichäismus, schilt Osiander und dessen Schwiegersohn, den Mediciner Aurifaber, Bluthunde (sanguinarii), um deren willen er nie mehr in den akademischen Senat kommen werde. Er sei auf der Straße nicht mehr sicher. Unter solchen Umständen lege er sein Amt nieder. Daß er auf ein Schreiben des Herzogs nicht geantwortet, habe seinen Grund darin, daß er kein Deutsch verstehe; er sei Italiener, nicht Deutscher. („Sum enim Italus, non Germanus“.) Er wollte sich mit dem Herzoge nicht zanken („rixari“) oder Streit führen; aber er wundere sich, daß der Fürst auf die Fürbitten so vieler hohen Persönlichkeiten in seiner, des Stancarus’, Sache keine Rücksicht genommen habe. „Ihre hiesigen schlecht berathenen Rathgeber werden über diesen und andere ihre Frevel von Gott ihre Strafe empfangen; denn ihnen schreibe ich alle gegenwärtigen Uebel zu.“ Die Unterschrift lautet ohne jede Höflichkeitsbezeugung einfach „Franciscus Stancarus, Mantuanus“. Nachdem St. ähnliche Ursachen auch dem Rector der Universität gemeldet hatte, zog er am 23. August 1551 von dannen. Sein nächstes Ziel wurde Frankfurt a. O. Auch hier erhielt er eine Professur und vertheidigte wieder seine Lehre von Christus, wie wir sie bereits kennen, daß nämlich Christus nur nach seiner menschlichen Natur unser Mittler sei. Gegen ihn trat Musculus auf, und durch Stancarus’ Schrift „Apologia contra Osiandrum“ wurde der Streit dort so heftig, daß der Kurfürst Joachim II. von Brandenburg im Herbste 1552 Melanchthon und Bugenhagen von Wittenberg nach Frankfurt entbot, um den Streit zu untersuchen. (Corp. Ref. t. VII, p. 1104: Mel. an Johann Mathesius, am 11. Oct. 1552.) Die Reise dahin kam zwar nicht zu Stande; aber Melanchthon gab sein Gutachten gegen St. dahin ab, daß Christus, wie Priester, so Mittler nach seinen beiden Naturen sei (a. a. O.). Auf Grund dieser „Responsio“ Melanchthon’s „de controversiis Stancari scripta“ Lipsiae 1553, 8° im Monat Juni, Corp. Ref. t. XXIII, 87 sqq. mußte St. Frankfurt verlassen. (Die Betheiligung Melanchthon’s an diesem Streit und speciell den Gedankengang seiner Responsio s. bei Karl Schmidt, Philipp Melanchthon 1861, S. 566 ff.) Er begab sich nach Polen zurück und suchte dort eine neue Reformation anzufangen, wie aus den von ihm veröffentlichten „Canones reformationis ecclesiarum Polonicarum“ (1552, 8°) ersehen werden konnte. Besonders sah er es darauf ab, als dogmatischer Reformator in Geltung zu kommen, und verbreitete zu diesem Zwecke seine Lieblingsmeinung, daß Christus nur nach seiner menschlichen Natur unser Mittler sei. Denn, so argumentirte er, wenn man ihn nach seiner göttlichen Natur als Mittler denke, so fasse man sein Wesen [438] niedriger auf als das des Vaters, lasse ihn nicht mehr im Wesen eins sein mit dem Vater u. s. w. Da inzwischen in Polen von reformfreundlicher Seite Beziehungen zu den schweizerischen Theologen angeknüpft waren, so wurden auch Züricher Theologen und Calvin selbst veranlaßt, sich über St. zu äußern. Im J. 1560 und in den folgenden Jahren schrieben sie gegen ihn. (Im Druck erschienen: „Epistolae duae ad ecclesias Polonicas, evangelium Jesu Christi amplexas, scriptae a Tigurinae ecclesiae ministris de negotio Stancariano etc.“ Tiguri 1561, 8°, und von Calvin „Responsum ad Fratres Polonos, quomodo Christus sit mediator, ad refutandum Stancari errorem.“ Genev. 1561, 8°.) Er aber verantwortete sich in seinen Schriften „Liber de Trinitate et Mediatore etc.“ und „Apologia contra Tigurinos“. Der Titel der ersteren, die seine eigentliche Hauptschrift ist, lautet genauer: „Franc. Stancari, Mantuani, De Trinitate et Mediatore Domini Nostri Jesu Christi adversus Henricum Bullingerum, Petr. Martyrem et Joh. Calvinum et reliquos Tigurinae et Genevensis ecclesiae ministros, ecclesiae Dei Perturbatores — ad Magnificos et generosos Dominos Polonos Nobiles ac eorum ministros a variis Pseudo-Evangelicis seductos“ (Cracoviae 1562). Der Ton, in welchem er dabei seine Gegner behandelt, ist grob; die Schrift wimmelt von persönlichen Beleidigungen; hochmüthig schilt er sie Eutychiani, Apollinaristae, Acephali u. s. w.; Philipp Melanchthon sei nichts als ein Grammaticus et theologiae ignarus, ja der Antichrist selbst. Die Gelehrsamkeit Luther’s und aller Reformatoren Deutschlands und der Schweiz achtete er sehr gering. „Der eine Petrus Lombardus ist mehr werth als hundert Luther, als zweihundert Melanchthon, dreihundert Bullinger, vierhundert Peter Martyr und fünfhundert Calvin; wenn man sie alle in einem Mörser zerquetschte, so gäben sie nicht eine mica wahrer Theologie.“ („Plus valet unus Petrus Lombardus quam centum Lutheri, ducenti Melanchthones, trecenti Bullingeri, quadringenti Petri Martyres et quingenti Calvini; qui omnes si in mortario contunderentur, non exprimeretur una mica verae theologiae.“ Excerpt bei Hartknoch S. 341.) Von den Zürchern erschien dagegen noch eine Gegenschrift unter dem Titel: Responsio ad maledicum Fr. Stancari libellum adversus Tigurinae ecclesiae ministros de Trinitate et Mediatore, auctore Josia Simlero, Tigurino, Tiguri 1563, 8°. Da er überall, wohin er kam, Unruhe stiftete, so wurden seinetwegen verschiedene Synoden gehalten und Colloquia angestellt, so zu Nedzwiedz, Stobnica, Pinczov, Zochow, Krakau und an anderen Orten. Inzwischen finden wir ihn aber auch zeitweilig in Ungarn und in Siebenbürgen. In Ungarn, wohin er aus Polen gekommen war, hielt er sich zu den Reformirten; Leonhard Stöckel, Rector zu Bartfeld, disputirte und schrieb gegen ihn. In Siebenbürgen, wohin er sich darauf begab, lebte er zu Klausenburg erst in der Stille; da er aber doch viele Gemüther verwirrte, kam es auch hier zu theologischen Verhandlungen gegen ihn. Die Prediger entwarfen daselbst eine Confession von Christo dem Gottmenschen als Mittler zwischen Gott und dem Menschen, welche gegen St. gerichtet war und 1555 in Wittenberg gedruckt wurde. (Vgl. Salig II, 834.) Am letzten December 1557 hielten die lutherischen Prediger Siebenbürgens mit ihm ein Colloquium zu Klausenburg ab, wobei es sich wieder um Stancarus’ Lieblingsmeinung in Sachen der Mittlerschaft des Gottmenschen nach dessen menschlicher Natur handelte: St. bestand auf seiner Ansicht, die Gegner aber hielten sich an Melanchthon’s Lehre, aus dessen Buche gegen St. man dort selbst gegen diesen so erfolgreich argumentirte, daß er von Hermannstadt, wo ihm sammt Weib und Kind sich aufzuhalten gestattet worden war, wegzog und sich nach Bistritz und von da nach Szehely Vasarhelyin zu einem vornehmen Herrn, Antonius Kendi, begab. Von hier aus schmiedete er Ränke gegen seine siebenbürgischen Gegner und verstieg [439] sich sogar so weit, daß er von der damaligen Königin Isabella verlangte, seine Feinde Franz Davidis, Caspar Helt und andere „falsche Propheten“ mit dem Schwerte hinrichten zu lassen. Es kam auf Seiten der Prediger zu Klausenburg zu neuen Vertheidigungsmaßnahmen, und am 1. Mai 1558 hielten sie noch eine Synode gegen ihn zu Thorda. Allmählich war er in Siebenbürgen so verhaßt, daß er sich genöthigt sah, das Land zu verlassen und nach Polen zurückzugeben. (Vgl. Salig II, 838.) Hier starb er zu Stobnica am 12. November 1574 im 73. Jahre seines Alters. (Regenvolscius, lib. I, p. 84.)

Die Geschichte des von ihm veranlaßten dogmatischen Streites läßt sich kurz dahin zusammenfassen, daß er überall gleichmäßig verurtheilt wurde und ein nachhaltiges wissenschaftliches Interesse nicht erregt hat, weil seine singuläre Ansicht über das Mittlergeschäft Christi schon in seinem eigenen Denken bloß eine vereinzelte Meinung war, also nicht Grundlage eines eigenen Systems wurde.

Die von St. selbst verfaßten Schriften sind oben angeführt; ebenso die hauptsächlichsten der während seines Lebens gegen ihn gerichteten Schriften Melanchthon’s, der Zürcher Theologen, Calvin’s und anderer. Nachrichten über seinen Lebensgang finden sich sodann in einer anderen heftigen Gegenschrift gegen ihn, verfaßt von Stanislaus Orichovius Roxolanus unter dem Titel „Chimaera sive de Stancari funesta regni Poloniae secta“ (Colon. 1563). Nach seinem Tode schrieben noch im 16. Jahrhundert von lutherischer Seite ausführlich über und gegen St.: Wigand (der gelehrte Gesinnungsgenosse des Flacius), de Stancarismo, Lips. 1585; Schlüsselburg, Catalogus haereticorum tom. IX; Lubienicius, historia reformationis Poloniae II; Regenvolscius, historia ecclesiae Slavonicae lib. I; Hartknoch, Preußische Kirchenhistoria 1686, 340 ff. u. an anderen St.; Salig, Vollständige Historie der Augsburgischen Confession II, 833 ff.; Bock, Historia Antitrinitariorum tom. II (1784), p. 548 ff.; Walch, Einleitung in die Religionsstreitigkeiten IV, 171 ff.; J. Planck, Geschichte der Entstehung etc. unsers protest. Lehrbegriffs, Bd. IV (1796), S. 449–468 (eine ausführliche Würdigung seiner Denkweise vom Standpunkte aufgeklärt-pragmatistischer Kirchen-Geschichtsschreibung); Dorner, Entwicklungsgeschichte der Lehre von der Person Christi II, 589 ff.; Karl Schmidt, Melanchthon (1861), 566 ff.; Derselbe, P. Martyr, S. 231; Gust. Frank, Geschichte der prot. Theologie I. Theil (1862), S. 156 ff.; Hermann Schmidt, Art. „Stancarus“ in Herzog’s Realencyklopädie, 2. Aufl., 14. Bd. (1884), S. 590 ff.