ADB:Stiehl, Ferdinand
[181] von heiterem Humor und tiefem Ernst in seinem ganzen Wesen. Oft sprach er davon, wie sich in jedem Menschen mehr oder weniger klar seine Abstammung spiegele, und wie oft die ganz verschiedenen Eigenschaften der zweierlei Großväter sich im Enkel ausbilden. So war es mit ihm selbst der Fall. Der väterliche Großvater hatte ausgeprägten Sinn für alles Komische, während der Vater der Mutter ein ernst gerichteter und tief religiös angelegter Mann war. Von letzterem hatte der Enkel das lebendige Interesse für alles Kirchliche und Religiöse, sowie die Gewohnheit des täglichen Verkehrs mit der heiligen Schrift und einen sittlichen Ernst geerbt, wie man ihn selten findet, von ersterem kam ihm die humoristische Ader und der scharfe Blick für die Schwächen seiner Nebenmenschen.
Stiehl: Anton Wilhelm Ferdinand St. wurde geboren am 12. April 1812 in Arnoldshain am Feldberg im Taunus, wo sein Vater damals Pfarrer war. Seine Mutter stammte aus Lothringen und zwar aus einer Pfarrerfamilie Förtsch. Pfarrer Stiehl war ein weit und breit angesehener Mann, gebildeter als manche seiner Amtsbrüder, und ein fester, ehrenwerther Charakter. Seine Frau, eine kluge, vortreffliche Ehefrau und Mutter, hatte einen großen Einfluß auf ihre Kinder, speciell auf ihren Sohn Ferdinand. Schon im Jahre 1814 wurde der Vater in die kleine Stadt Hamm versetzt, die in einer Thalschlucht des Westerwaldes im Kreise Altenkirchen liegt. An den Aufenthalt dort knüpften sich alle Kindheitserinnerungen Stiehl’s. Durch den Unterricht des Vaters wurde er hier für das Gymnasium vorbereitet. Es fand sich in Hamm auch ein Umgangskreis mit gebildeten Familien. Dem Knaben gewährte bei seinen Streifzügen durch Feld und Wald die Gegend ein besonderes Interesse dadurch, daß der berüchtigte Schinderhannes, der damals noch in frischem Andenken stand, hier überall noch Spuren seines Treibens hinterlassen hatte. Sieben Jahre lang blieb St. das einzige Kind seiner Eltern; dies lange Alleinsein machte ihn selbständig und abgeschlossen in seinen Beschäftigungen und er gewöhnte sich früh daran, seine Gedanken allein durchzuarbeiten – ein Zug, der ihm im späteren Leben geblieben ist. Es lag eine eigenthümliche Mischung1824 kam St. auf das Gymnasium nach Wetzlar, wo er bei einem Bruder seiner Mutter wohnte und gleich ein fleißiger Schüler der Untersecunda wurde. Schon damals fing er an, die Zeit auszukaufen und Unterricht zu geben, was ihm zwar nur geringen Verdienst, aber doch immerhin ein kleines Taschengeld brachte, welches er meistens für Bücher verwendete.
Alljährlich wurden Ferienreisen ins Vaterhaus unternommen. Im J. 1829 wurde der Pfarrer St. nach Freusburg bei Kirchen an der Sieg versetzt; diese neue Stelle war etwas einträglicher als die in Hamm, doch blieben die Einnahmen so gering, daß St. nur sehr bescheidene Ansprüche an seinen Vater machen konnte, als er nach wohlbestandenem Abiturientenexamen die Universität Bonn bezog. Er verstand es, sich einzurichten, gab wieder Unterricht und erwarb sich durch seinen Fleiß die Möglichkeit Preisaufgaben zu lösen, wodurch es ihm gelang, nicht nur keinen Heller Schulden zu machen, sondern sogar als Corpsstudent bei den Rhenanen noch andern jungen Leuten zu helfen. Sein strenger Vater war förmlich bestürzt, als sein Sohn mit 50 ersparten Thalern nach Haus kam, weil er glaubte, diese Summe sei ein Spielgewinn.
Von Bonn ging der strebsame Jüngling nach Halle; er hatte sich, um schnell ins Amt zu kommen, für das theologische Studium entschlossen und nahm als Candidat noch eine Hauslehrerstelle in Coblenz an, wo er aushülfsweise zuweilen predigte und schon für verschiedene Stellen als Pfarrer in Vorschlag gebracht wurde. Statt dessen nahm er aber die erste Lehrerstelle im Seminar zu Neuwied an, die ihm unerwartet geboten wurde; hierdurch kam er in seine eigentliche Lebensaufgabe, in das Fach der praktischen Pädagogik. Im Jahre 1835 trat St. seinen neuen Beruf an; sein lebensvoller Unterricht, sein Einfluß auf die Schüler bekundete so viel Tüchtigkeit und Begabung, daß ihm schon im folgenden Jahre das verantwortungsvolle Amt des Seminardirectors anvertraut wurde. Es war dies keine leichte Aufgabe, da der junge Mann einen ergrauten Director ersetzen sollte, und die Autorität über junge Männer, zum Theil Altersgenossen erwerben mußte. Es gelang dem Ernst und der Frische des jungen Directors die Seminaristen an sich zu fesseln; die Revisionen des Seminars seitens des Schulcollegiums fielen stets günstig aus. Besondere Achtung bezeigte ihm der Regierungsrath Eilers, dieser übertrug ihm sogar bald die Revision von Schulen, was sonst nicht zu den Amtsaufgaben eines Seminardirectors gehört. Die fürstliche Familie in Neuwied zog St. in ihren hochgebildeten Kreis; die rhetorische Gesellschaft zu Coblenz gab Gelegenheit zu Vorträgen, welche St. große Anerkennung seitens des Vorstandes der Gesellschaft, der Generale v. Bardeleben und v. Thile einbrachten. Im J. 1840 nahm St. warmen patriotischen Antheil am Tode Friedrich Wilhelm’s III. und der Thronbesteigung Friedrich Wilhelm’s IV. Er hatte in diesem Jahre einen schweren Typhus zu bestehen und viel Familiensorgen zu übernehmen, denn er mußte seine Mutter, die Wittwe geworden war, und zwei noch unerzogene Geschwister in den Hausstand aufnehmen, [182] den er 1837 durch die Verheirathung mit seiner Cousine Lina Walther gegründet hatte. Im J. 1844 wurde der Geheimrath Eilers besonders aufmerksam auf St. durch eine kleine Schrift über den vaterländischen Geschichtsunterricht, in welcher des Verfassers selbständige Auffassung und neue Anschauungen zum Ausdruck kamen. Eilers wünschte nunmehr, daß der Minister Eichhorn St. persönlich kennen lernen sollte. Bei einer Anwesenheit des Ministers am Rhein ließ er St. zu sich kommen, und die Folge einer längeren Unterredung war seine baldige Berufung ins Cultusministerium, zunächst als Hülfsarbeiter. Bald nach der Uebersiedlung nach Berlin wurden St. größere Aufgaben gestellt, wie die Revision der Schulverhältnisse in Pommern. Seine gründlichen Berichte, seine Vorschläge für Verbesserungen wurden vollständig gebilligt, der erste war die Abschaffung der Bibel als Schullesebuch, die Einführung einer biblischen Geschichte und eines volksthümlichen Lesebuchs. Bald folgten neue wichtige Aufgaben. Keinen seiner Vorgesetzten hat St. so dankbar verehrt als den Minister Eichhorn, dem er stets nachrühmte, wie er ihn mit Sorgfalt und Wohlwollen zum Beamten herangebildet habe. Trotz vieler Beweise des Vertrauens und der Zufriedenheit konnte der Minister seinen Schützling nicht schnell befördern, so daß er ihn 1848, als er selbst den Abschied nahm, in der schlecht besoldeten Stellung eines Hülfsarbeiters zurücklassen mußte; für einen unbemittelten Familienvater, der damals schon eine große Anzahl Kinder hatte, keine leichte Lage. St. verlor trotz aller Umwälzungen im Staat und Regiment, die das Jahr 48 brachte, keinen Augenblick den Muth. Als Eichhorn’s Nachfolger, der Graf Schwerin mit bedenklichen Maaßregeln vorgehen wollte, hielt St. ihn davon zurück. Auch als Schwerin nach kurzer Frist von Rodbertus abgelöst wurde, konnte St. seine einflußreiche Stellung behalten. Er hatte aber bei diesem Minister nur einen einzigen Vortrag, da die Herren sehr schnell wechselten. St. wurde im Laufe seiner Dienstzeit Geheimer Ober-Regierungsrath und hatte zuletzt den Rang eines Rathes I. Classe. Das Jahr 1848 brachte für St. eine ganz neue Art der Thätigkeit, nämlich eine politische, und daneben, was er nie angestrebt hatte, ein großes Maaß von Popularität, weil seine Reden in den vielen Volksversammlungen stets großen Eindruck machten. Dies führte dazu, daß er in die Kammer gewählt wurde, wo er eine sehr einflußreiche Stellung gewann. Die Fraction der Rechten nannte ihn ihren Vater und zollte ihm die vollste Anerkennung. Diese ihn selbst sehr interessirende politische Thätigkeit schloß St. ab mit einer Rede gegen den Vertrag von Olmütz. Danach legte er sein Mandat nieder und hat seitdem das Parlament nur noch als Regierungsbevollmächtigter betreten. Er fand erst 1866 das verwirklicht, was ihm immer als Ziel für Preußen vorgeschwebt hatte. Dies denkwürdige Jahr brachte ihm persönlich viel Schweres, da er in wenigen Tagen seine vortreffliche Frau und sein jüngstes Kind verlor.
Der Wechsel der Minister im Cultusministerium hatte keinen Einfluß auf seine Arbeit in dem ihm übertragenen Fach des Volksschul- und Seminarwesens. Schon in den fünfziger Jahren hatte St. unter dem Minister Raumer die so viel besprochenen und viel kritisirten Regulative geschrieben, die von der kirchlichen Partei ebenso sehr geschätzt, wie von der liberalen scharf verurtheilt wurden. Selbst aber in Büchern, welche auf ganz entgegengesetztem Standpunkt stehen, wird ihm nachgerühmt, wie unabhängig er sich stets gehalten und wie er für sein Fach selbst Minister gewesen sei.
Die drei preußischen Regulative vom 1., 2. und 3. October 1854, aus der Praxis der Seminararbeit selbst herausgewachsen, stellten dem Volksunterricht die religiös nationale Aufgabe, die Jugend zu erziehen in christlicher, vaterländischer Gesinnung wie häuslicher Tugend, während ihre pädagogisch didaktischen [183] Grundsätze, um größere Klarheit und Schärfung des Urtheils, Sicherheit der Kenntnisse, Vertiefung der Bildung zu erzielen, die Beschränkung des Lern- und Wissensstoffes auf das Wesentliche, Concentration des Unterrichts, Heranziehung der Jünglinge zur Selbstarbeit in den Stunden, Uebung im Verstehen, Denken und Sprechen anstrebten, Grundsätze, die auch heute in den neuen Lehrplänen für die höheren Schulen wieder in den Vordergrund gerückt sind. Wenn die Regulative trotzdem sehr bald leidenschaftliche Widersprüche erfuhren, so findet dies darin seine Erklärung, daß man irrthümlicher Weise in ihnen eine von der Reaction geschmiedete Waffe witterte, da man in der Beschränkung des Lernstoffes die zur Verdummung und Verfinsterung führenden Ziele offen dargelegt zu finden glaubte. Der abstracte Liberalismus verbreitete die unwahre Behauptung, den Volksschullehrern sei die Lectüre unserer classischen Litteratur überhaupt verboten, während sie nur aus der zur Verarbeitung mit den Zöglingen dienenden Privatlectüre ausscheiden sollte, mit gutem Grunde, da man schwer begreifen kann, wie Stücke wie die Götter Griechenlands oder der Tasso u. a. im Volksunterrichte zum Verständniß gebracht werden sollen, Hermann und Dorothea war andererseits nicht ausgeschlossen. Ferner mußte in einer Zeit der Abwendung vom Christenthum die starke Betonung der Pflege des religiösen Sinnes und der religiösen Gesinnung von vornherein bedenklich erscheinen, und hier konnte allerdings ein Uebermaß von Sprüchen und Liedern, die die Regulative forderten, das Mißtrauen unterstützen. Dazu kam, daß auf ihrem Boden die Giftpflanzen, das Streber- und Muckerthum, emporwuchsen, die Gesinnungstüchtigkeit zu züchten begannen als Stützen der Reaction und so die Regulative selbst in den weitesten Kreisen in Mißcredit brachten. Daß sie infolge der gewaltigen Entwicklung, die das materielle und geistige Leben in Preußen mit der Gründung des deutschen Reichs fanden, eine Revision im Einzelnen erforderten, war verständlich und natürlich, doch als das bestgehaßte aus der dunkeln Reactionszeit stammende Bollwerk, wie der übereifrige Liberalismus und Rationalismus die Regulative auszeichnete, mußten sie bei der ersten günstigen Gelegenheit unter dem Ministerium Falk im J. 1872 zu Falle kommen und mit ihnen auch ihr Urheber, der mit echter religiöser Gesinnung und hoher Bildung wahre Liebe zum Vaterlande verband. Mit welcher Ruhe und Sicherheit er mitten in dem gegen sein Werk wüthenden Sturme auf dies zurücksehen konnte, zeigt seine Flugschrift aus jener Zeit, da das Schicksal der Regulative bereits besiegelt war. Ob von der größeren Freiheit, die der Volksunterricht in seiner Ausgestaltung, Vertiefung und Leitung erhielt, der Volksschullehrer auch größeren Segen gezogen und sich geschickter für die Erziehung der Jugend erwiesen hat? Jedenfalls werden die allgemeinen erzieherischen Grundsätze, aus denen die Regulative aufgebaut waren, immer ihre Geltung behalten.
Erst nachdem die Regulative etwa 12 Jahre zu Recht bestanden und ohne Frage viel Gutes gewirkt hatten, kamen sie zu Fall unter dem Minister Falk. Dieser neue Chef hätte gern die bewährte Kraft seines vortragenden Rathes behalten und schlug demselben vor, die Regulative selbst zu ändern – dagegen erklärte St. sich aber ganz entschieden und verlangte im Herbst 1872 seinen Abschied. Er hatte sich 1868 wieder verheirathet und zwar mit der Wittwe des königl. Hausministers v. Massow geb. Freiin v. Canitz und zog mit seiner Familie im Spätherbst des Jahres 1872 nach Freiburg i. Baden, wo er seine letzten Lebensjahre zubrachte. Er starb nach schweren mit großer Geduld getragenen Leiden am 16. September 1878.
Ein Nekrolog, der in einer Zeitung erschien, welche ihn nie zu ihrer Partei hatte zählen können, rühmt ihm noch die Unerschütterlichkeit des Charakters [184] nach mit dem Zusatz: „Solche Männer brauchen wir; wenn wir gleich nicht wünschen können, daß ein Mann wie Stiehl jemals wieder die Schule in die Hände bekäme, so finden wir doch, daß sein Name genannt werden muß neben solchen wie Baron Manteuffel und Anderen, weil er ein Charakter war.“