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ADB:Stolberg-Wernigerode, Henrich Ernst Graf zu

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Artikel „Stolberg-Wernigerode, Henrich Ernst Graf zu“ von Eduard Jacobs in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 36 (1893), S. 393–396, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Stolberg-Wernigerode,_Henrich_Ernst_Graf_zu&oldid=- (Version vom 18. Dezember 2024, 04:36 Uhr UTC)
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Stolberg-Wernigerode: Henrich Ernst, regierender Graf zu St.-W., wurde seinem Vater Christian Ernst (s. o. S. 381 ff.) von dessen Gemahlin Sophie Charlotte am 7. December 1716 auf Schloß Wernigerode geboren. Obwol anfangs so schwächlich, daß er die Nothtaufe erhielt, blieb er doch von sieben Söhnen, welche den Eltern geschenkt wurden, allein über die ersten Kindheitsjahre hinaus am Leben. Da er nach dem Absterben eines älteren sechsjährigen Bruders Erbgraf war, so wurde auf seine Erziehung ganz besondere Sorgfalt gewandt. Schon in seinem fünften Lebensjahre erhielt er in dem frommen Juristen Joh. Friedr. Mickwitz aus Königsberg i. Pr. einen gewissenhaften und tüchtigen Hofmeister. Im J. 1728 wurde dieser von dem Hofdiakonus und späteren Hofprediger Sam. Lau und dessen Freunde Joh. Aug. Seydlitz abgelöst. Sowie seine frühesten Jugendlehrer in ihrem Pflegling einen sehr dankbaren Schüler fanden, der von Kind auf mit Freuden in die Bahn des Spener’schen und Francke’schen Pietismus eintrat, so war dies nicht weniger bei dem mit dem älteren Urlsperger verschwägerten Württemberger Chr. Adam Jäger v. Jägersberg der Fall, dem am 1. August 1732 die Leitung des Erbgrafen anvertraut wurde. Derselbe begleitete ihn auf die Universitäten Halle und Göttingen, wobei Graf Christian Günther zu Stolberg-Stolberg, der Vater des Dichterpaares, sein Haus- und Studiengenosse war. Daß die akademische Lehrzeit mit einer größeren Reise, die am 12. April 1738 angetreten wurde, und auf der Jäger v. Jägersberg ihn wieder begleitete, ihren Abschluß fand, war nichts außergewöhnliches, wol aber die Art und Weise, wie dieselbe unternommen wurde. Zielpunkte waren nicht, wie sonst so häufig, Paris oder Italien, große Höfe und Prachtbauten, sondern auf einem Wege, der durch Thüringen, Franken, Schwaben, die Schweiz, Elsaß und weiter durch Belgien bis nach Holland führte, wurden vor allem die befreundeten pietistischen Kreise und die gläubigen Prediger aufgesucht und die geistlichen Zustände und Bestrebungen in jenen Gegenden kennen gelernt. Nächst dieser ist noch eine merkwürdige, zwei Jahre später, vom 11. August bis 12. September 1740 mit den pietistischen Hofräthen v. Caprivi und Walbaum unternommene Reise zu seiner Tante, der Herzogin Augusta von Mecklenburg-Güstrow zu erwähnen, bei welcher man die wernigerödische Pietistencolonie in Dargun kennen lernte. Ueber beide Reisen wurden nach damaliger Gewohnheit Tagebücher geführt. Bald nach der ersten Reise verlobte sich H. E. noch im J. 1738 mit Marie Elisabeth, Tochter des Grafen Erdmann zu Promnitz, einer der zartesten Gestalten aus dem Kreise des Francke’schen Pietismus. Das innige Gemeinschaftsleben, das er mit dieser hochbegnadeten Gattin führte, fand schon am 20. Juli 1741 durch deren frühzeitigen Tod sein Ziel. Mit des Grafen Vermählung begann aber auch seine ernste Berufsthätigkeit, der er sich [394] dann vierzig Jahre lang, davon dreißig als Gehülfe seines oft kränklichen oder abwesenden Vaters, mit ganzer Hingebung widmete. Am 20. April 1742 wurde ihm die Leitung der gräflichen Kammer mit dem Forst- und Bergwesen übertragen. Nach äußersten Kräften suchte er die wirthschaftlichen Verhältnisse des Hauses in guter Ordnung zu erhalten. Bei seiner gewissenhaften Zeiteintheilung und einem um 6 und 7 Uhr im Sommer und Winter beginnenden Tagewerk war es ihm möglich, viel zu leisten. Eine wie treue Hülfe ihm sein Sohn gewesen, davon gibt der Vater noch am späten Abend seines Lebens ein rührendes Zeugniß. Neben dieser Aufgabe für die Verwaltung der Grafschaft hatte der Erbgraf auch noch andere. Nicht zu gedenken der von 1765–1771 geführten Leitung der Geschäfte in den seinem Sohne geschenkten schlesischen Besitzungen, hatte er auch geistliche Würden mit ihren Pflichten zu versehen. Im J. 1739 war ihm von seinem Vater eine durch Cession eines Herrn v. Polenz frei gewordene Präbende am Domstift zu Halberstadt erworben, eine andere trat ihm ein Herr v. Kalnein ab; auch wurde er 1758 vom Könige Friedrich II. als Propst des Stifts St. Bonifatii und Mauritii bestätigt und war einer der ersten, die den vom Könige gestifteten St. Stephansorden erhielten. Im J. 1740 trat er die stricte Residenz an und hatte dann jährlich einen etwa dreißigtägigen Aufenthalt in Halberstadt zu nehmen, wobei er mit den geistig regsamsten Kreisen der Stadt, insbesondere auch mit Gleim, der Karschin u. A. in Verkehr trat und für Kirche und Schule manches Gute zu stiften in die Lage kam. Als der erste seines Hauses, der seit der Reformationszeit unter den regierenden Grafen eine solche Stelle bekleidete, erhielt er in der Familie die Bezeichnung ‚der geistliche Herr‘, die er aber auch seiner ganzen inneren Richtung nach verdiente. Denn wenn er auch seiner religiösen Richtung nach durchaus das Abbild seines Vaters war, so war er doch in seinem ganzen Wesen und Sinnen in besonderer Weise der geistlichen Betrachtung zugewandt, wovon besonders seine sehr lange und regelmäßig geführten Tagebücher Zeugniß geben.

Bei aller Milde und zärtlichen Liebe gegen seine Kinder war er in der Erziehung doch nicht weichlich und schonte selbst bei den Enkeln die Ruthe nicht. Mit Vorliebe las er in Luther’s Schriften und freute sich an dessen kerniger Sprache. In biblischer Sprache äußert er auch wol einmal den Grundsatz, daß er kein stummer Hund sein solle, der nicht beißen könne. Hinsichtlich seiner kirchlichen Anschauung hielt er darauf, daß nach A. H. Francke’s Grundsatz die Ordnung des Heils in jeder Predigt verkündigt werden solle. Gleich seinem Vater hielt er sich von der ihm weichlich und schwärmerisch scheinenden Brüdergemeinde zurück. Auch darin hielt er treu an der Ueberlieferung seiner Eltern und der Fürstin Christine, daß er es für seine heilige Pflicht erkannte, nach äußerstem Vermögen dahin zu streben, daß sein ganzes Haus und alle ihm anbefohlenen Unterthanen selig werden möchten und das keins, ‚keine Klaue‘, dahinter bleibe.

Den regsten Antheil nahm er an dem Schulwesen und fehlte nicht leicht bei den öffentlichen Prüfungen der Lateinschule in Wernigerode, für die er noch ein Jahr vor seinem Tode wichtige neue Einrichtungen traf. Aber auch die Landschulen besichtigte er möglichst oft und betheiligte sich lebhaft an den seine Zeit bewegenden Fragen im Erziehungswesen.

Etwa zwanzig Jahre pflegte H. E. die ihm verliehene Gabe der Dichtung, deren Erstlingsfrüchte schon in der Studentenzeit hervortraten. In mehreren Bänden sind 688 von ihm verfaßte Gedichte handschriftlich erhalten, 388 derselben durch Prof. Siegmund Jak. Baumgarten in Halle von 1748–1752 in vier Bänden zum Druck befördert. Als Gelegenheitsgedichte im besten Sinne geben diese Schöpfungen innere Vorgänge im Leben des Dichtenden wieder. Daß [395] sie ausnahmslos geistlichen Inhalts sind, ist daher ein kräftiges Zeugniß für die einheitliche Richtung seines ganzen Sinnens. Weil er in gebundene Rede brachte, was ihm als heilige Lebensfrage erschien, so haben seine Dichtungen einen praktisch-kirchlichen Zweck. Er gab daher auch thunlichst Singweisen an, weil er seine Lieder gesungen wünschte. Jener sehr ernst verfolgte Zweck erklärt auch seinen Wunschseufzer, den er gelegentlich beim Lesen der Missionsberichte äußert, daß seine Gedichte demnächst ins Malabarische übersetzt werden möchten. Als kirchlich brauchbar sind in evangelische Gesangbücher übergegangen ein halbes Dutzend dieser Lieder: „Eile, eile, meine Seele“; „Fort, fort, dem Himmel zu“; „Fort, fort, mein Herz“; „Meine Zuflucht ist die Liebe“; „O süße Ruh’, die du mir, Herr, erworben“; „Prüfe, Herr, wie ich dich liebe“. Da H. E. den Drang in sich fühlte, seine Lieder und Gedanken der christlichen Gemeinde mitzutheilen, so war es ihm ein rechter Trost, daß er eine Anweisung und Aufmunterung zum wahren Christenthum, durch welche einfältige und alte Leute – daher der Druck mit großen Typen – aufs kürzeste auf das hingewiesen werden, was zum Seligwerden noth thut, noch kurz vor seinem Tode zum Druck befördern konnte. Verschiedene seiner Lieder haben sich lange, etliche bis zur Gegenwart in Gesangbüchern und geistlichen Liedersammlungen erhalten; das neueste Wernigeröder Gesangbuch hat davon noch eins. Auch auf die englische Hymnologie haben seine Lieder eingewirkt: „Eile, eile, meine Seele“ und „Morgen soll es besser werden“ sind ins Englische übersetzt. Aber der fleißig dichtende Graf gab auch die Anregung und wurde der Mittelpunkt für einen besonderen Kreis wernigerödischer geistlicher Sänger, für welche die Hauptquelle die im J. 1752 von H. E. herausgegebene ‚Neue Sammlung geistlicher Lieder‘ bildet. Von den 818 Nummern derselben rühren 370 von ihm selbst her. Von einigen älteren Liedern abgesehen, sind darin u. a. enthalten Beiträge von Allendorf, Annoni, Basch, v. Bogatzky, v. Bonin, A. Cyr. Breithaupt, v. Caprivi, Ehrenpfort, Jäger v. Jägersberg, Gottl. Fr. Lange, S. Lau, Eleon. Gräfin Dönhof, M. G. Schönborn, Christiane Eleon. Gräfin zu Stolb.-Wern., M. Nik. Ziegler, J. Libor. Zimmermann. Im J. 1767 erschien auch ein Melodienschatz zu diesen Liedern.

Bei aller ernsten Beschaulichkeit macht H. E. durchaus nicht den Eindruck eines finstern Asketen. Bei seinem ernsten fortwährenden Streben nach Heilsgewißheit war er glücklich zu derselben durchgedrungen. Herrschende Gedanken, denen er öfter Ausdruck gibt, sind bei ihm: ‚Die Sonne scheint, man öffne nur die Fenster‘, oder: ‚Wer voraus viel überdenkt, der hat immer viel zu thun; wer ins stille Nun sich senkt, kann in Gott stets müssig ruh’n‘.

Seine Beschaulichkeit machte ihn auch zum sinnigen Naturfreunde. In der Waldeinsamkeit und auf der Höhe des Brockens dichtete und betete er gern. Die Freude an der Natur machte ihn auch zum eifrigen Weidmann. Aber auch die wissenschaftliche Erforschung der Natur lag ihm am Herzen. Er führte wol selbst seinen Kindern elektrische Versuche vor, und der bekannte Naturforscher Kratzenstein, ein Wernigeröder, der ihm 1746 seine Theoria electricitatis widmete, hatte ihm bereits ein paar Jahre früher auf seinen Wunsch und zu seinem besonderen Vergnügen Versuche mit der Elektrisirmaschine vorgeführt. Da ihm bereits früh die Verwaltung des Forstwesens anvertraut war, so widmete er sich dieser Aufgabe mit allem Eifer, führte fremde Nadelhölzer ein und machte dabei besonders den Versuch, dem kahlen Brockengipfel eine grüne Decke zu verschaffen. Die Forstakademie v. Zanthier’s stand unter ihm in höchster Blüthe. Er unterstützte besonders des verdienten Forstmanns Bestrebungen durch wirthschaftliche Erleichterungen. Auch eine schätzbare Sammlung verschiedener Holzarten diente den forstwissenschaftlichen Interessen. Daneben legte er Sammlungen von Conchylien [396] und Insecten, von Modellen und physikalischen Apparaten und eine optische und astronomische Kammer an. Da sein Vater Christian Ernst ein so hohes Alter erreichte und bis zum 25. October 1771 lebte, so waren ihm für seine Regierung nur sieben Jahre beschieden. Obwol ihn seine vielen Arbeiten fast niederdrückten, so führte er doch ein schönes Familienleben. Besonders wurden der 5. und 7. December, seiner Gemahlin, der Fürstin Christiane Anna Agnes von Anhalt-Cöthen, die er im J. 1742 in zweiter Ehe heimführte, und sein Geburtstag, von den Kindern aufs schönste gefeiert. Nach kurzer Krankheit verstarb er während seiner domherrlichen Residenz zu Halberstadt am 24. October 1778 zu Halberstadt, nahezu 62 Jahre alt. Bis in seine letzten Fieberphantasien begleitete ihn sein geistliches Sinnen. Von H. E. sind verschiedene in Druck und Malerei ausgeführte Bilder auf uns gekommen. Unter den ersteren ist zu erwähnen das von J. Jak. Haidt in Schwarzkunst ausgeführte auf einem größeren Blatte zu der Leichenpredigt auf seine erste Gemahlin Marie Elisabeth 1741. Besonders ähnlich wurde von den Kindern erkannt ein von Reinhold in Pastellfarben ausgeführtes Bildniß, das in einer Nachbildung in Lichtdruckverfahren dem dritten Theile der als Handschrift gedruckten ‚Briefe und Journale u. s. f.‘ beigegeben ist. Dasselbe läßt den Grafen mit dem ihm von König Christian VI. von Dänemark im J. 1739 verliehenen Danebrogsorden sehen. Ein von Calow in Leipzig 1770 gemaltes Bild führt ihn als geistlichen Herrn im Domherrnornat vor Augen. Ein weiteres Bild rührt von Tischbein her. Die fürstliche Porträtsammlung in Wernigerode besitzt von ihm eine in Deckfarben auf Seide ausgeführte Zeichnung seines Porträts in größtem Format. Ein letztes sehr ähnlich gefundenes Bild wurde noch im Sommer 1778 ausgeführt.

Außer sonstigen zahlreichen handschriftlichen und gedruckten Hülfsmitteln sind als Hauptquellen zu erwähnen eine vom Unterzeichneten gearbeitete Erinnerungsschrift, zunächst die Jahre 1770–1772 behandelnd und (Anna, Gräfin zu Stolb.-Wern.) Briefe und Journale der Fürstin Luise Ferdinande zu Anhalt-Cöthen u.s.f. von 1764 bis 1784, 7 Theile, als Handschrift gedruckt.