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ADB:Walbaum, Anton Heinrich

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Artikel „Walbaum, Anton Heinrich“ von Eduard Jacobs in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 54 (1908), S. 784–788, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Walbaum,_Anton_Heinrich&oldid=- (Version vom 17. Dezember 2024, 19:26 Uhr UTC)
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Walbaum: Anton Heinrich W., pietistischer Secretär, geboren und getauft am 30. August alten Stils, 10. September neuen Stils 1696 zu Stadthagen, † auf Schloß Wernigerode am 27. Mai 1753. Als Sohn einer nur mäßig bemittelten, mit mehreren Kindern gesegneten Kaufmannsfamilie konnte er nur mit schweren Opfern der Eltern sich den Studien widmen, wozu er von Kindesbeinen an eine starke Neigung verspürte. Im 14. Lebensjahre verlor er die Mutter, kam dann nach Hannover auf die Schule und trat zu Ostern 1714 in das königliche Pädagogium zu Halle a. S. ein. Auf dieser Francke’schen Stiftung gefiel es ihm ausgezeichnet; er lernte mit Lust und Eifer und schloß sich mit jugendlich-feuriger Liebe dem Bunde frommer Jünglinge an, die sich zu Gebets- und Glaubensandachten vereinigten und deren Seele der junge Zinzendorf, Friedrich v. Wattenwyl, Frhr. Wilh. v. Söhlenthal, auch W. selbst waren. Zinzendorf organisirte diese Verbindung später als Orden vom Senfkorn und wies darin W. die Stelle eines Archivars und Syndikus zu. Zinzendorf hatte den vier Jahr älteren W. besonders lieb und hätte ihn gern statt des ihm aufgenöthigten Crisenius an seiner Seite gehabt. Dieser dankte es dem Vater innigst, daß er ihn so lange auf dem Pädagogium ließ, bis er zu Ostern 1716, vollreif für die Universität, als Selectaner die Anstalt verlassen durfte. Da sein innerstes Sinnen und Trachten ganz den religiös-christlichen Fragen zugekehrt war, so schien man in ihm nur einen Studiosen der Gottesgelahrtheit erwarten zu sollen, und doch widmete er sich nicht ihr, sondern lag bis Herbst 1717 in Jena, von da ab in Halle dem Studium der Rechte ob und zwar mit solchem Eifer, daß seine Lehrer ihn alle seines treuen Fleißes wegen schätzten und er sich selbst der zu eifrigen Hingebung an seine Studien wegen gelegentlich Gewissensbisse machte. Freilich waren es nicht die Juristen Gerhard, die beiden Struve, Beck, Hertel in Jena, oder ein Thomasius, J. K. Spener, Böhmer, Ludewig in Halle, die auf seine innere Entwicklung den größten Einfluß übten, das waren vielmehr die beiden größten Theologen ihrer Zeit, August Hermann Francke in Halle, zu Jena aber Franz Buddeus, den er wohl als Gottesgelahrten in der That und Wahrheit, nicht dem Namen nach bezeichnete. Beide Männer hielten auch den aufrichtig frommen Jüngling lieb und werth.

Im J. 1720 begann W. die Verwerthung seiner Studien als Mentor eines in Halle studirenden Sohnes des Generalsuperintendenten Coldewey aus Aurich und zweier Söhne des dortigen Raths Bacmeister. Er wohnte bei dem frommen Grafen Heinrich XXIII. Reuß, dem Aug. Herm. Francke durch eine besondere Schrift ein ehrendes Denkmal gesetzt hat. Im J. 1724 wurde er Hofmeister bei Zinzendorf’s Stiefbruder Karl Dubislav, dem Sohne des Generals, dann Feldmarschalls v. Natzmer. Vom Herbst 1725 bis December 1727 begleitete er den seiner Aufsicht Befohlenen auf einer weiten Reise durch Norddeutschland, Holland, England, Belgien, Frankreich, Oberitalien, Oesterreich, [785] West-Ungarn, Süd- und Mitteldeutschland bis zurück nach Berlin. Der junge v. Natzmer wurde Gesellschafter des Kronprinzen, späteren Königs Friedrich II. von Preußen, der ihm (1731) seine Skizze von der Lage Preußens in Europa widmete. Als W. seine Aufgabe bei dem jungen v. Natzmer zur größten Zufriedenheit des Vaters erfüllt hatte und es sich nun darum handelte, einen festen, dauernden Lebensberuf zu ergreifen, war ein solcher nicht so leicht zu finden. Denn obwohl aufs gründlichste vorbereitet und nach Zinzendorf’s Zeugniß grundgelehrt, ermangelte doch W. der Eigenschaften, die ihn für einen bestimmten praktischen Beruf eines Juristen geschickt machten. Gleich beim Abschluß seiner Studien hatte sein Freund und Gönner A. H. Francke dies erkannt und ihn gewarnt, „er solle sich nicht durch überhäufte Commissions und Briefwechsel von seiner ordentlichen Berufsarbeit abhalten lassen“. Aber gerade aus dieser besonderen Art seines Wirkens, durch welche er sich den Weg zu einer der ordnungsmäßigen Stellungen eines Juristen verbaute, ging sein bedeutsamer Einfluß auf größere Kreise seiner Zeitgenossen, seine außerordentliche Stellung hervor, um derentwillen seiner hier zu gedenken ist. Seine Bedeutung liegt in seiner lauteren, religiös-sittlichen Persönlichkeit und der unermüdlichen Energie, mit welcher dieselbe auf alle einwirkte, die in seine Kreise traten. Wie Zinzendorf schon den zarten Jüngling als nützliches Organ seines Senfkornordens erkannte, so hat W. auch mit ihm 1718/19 Namens A. Herm. Francke’s für eine Versöhnung der Wittenberger Theologen gewirkt. Feurig begeistert für einen persönlichen Zusammenschluß der auf demselben Boden christlich-evangelischen Glaubens stehenden Persönlichkeiten hat er nicht nur durch einen erstaunlichen fleißigen Briefwechsel das Band der Gemeinschaft unter der großen Zahl seiner Jugendgenossen zu knüpfen und zu festigen gesucht, sondern auch bis an sein Ende durch seinen Verkehr mit einem immer mehr sich ausdehnenden Briefwechsel mit erweckten Männern und Frauen diese Thätigkeit fortgesetzt. Wo er war und wohin er reiste, hat er in gewinnender Weise für den Herrn und den Glauben, der ihn beseelte, geworben. Auch jene „Commissions“, d. h. Gefälligkeiten, die er Vielen mit rührendem Eifer erwies, gewannen Manchen für das Wesentliche und Eine, worauf es ihm immer ankam. Weil er bei seinem Eifer für die evangelische Wahrheit nie sich selbst suchte, so erwarb er sich auch das volle Vertrauen bei Hoch und Nieder. Als auf ein merkwürdiges Beispiel wahrer dauernder Freundschaft mit einer hochgestellten Persönlichkeit ist auf sein Verhältniß zum Herzog Christian Ernst von Sachsen-Saalfeld, dem bekannten Enkel Herzog Ernst’s des Frommen von Sachsen-Coburg-Gotha, hinzuweisen. Als W. diesem im December 1723 seine dankbare Verehrung bezeugt hatte, antwortete ihm am 15. Januar 1724 der damalige Prinz: „Ich habe mit dem König David zu allen Zeiten die Treuen und Redlichen geliebet, welche in Dero Person gefunden und mich Ihnen verbindlich machet.“ Nicht anders wie der Prinz beurtheilt ihn Zinzendorf, der ihn aufs genaueste kannte, wenn er ihn von Herzen fromm, ehrlich und aufrichtig nennt.

Prinz Christian Ernst fand bald Gelegenheit, sein großes Vertrauen zu W. zu bewähren, denn als dieser Ende 1727 wegen einer ihn versorgenden Lebensstellung in Verlegenheit war, ernannte er ihn, obwohl noch nicht zur Regierung gelangt, alsbald zu seinem Secretär, wobei er auch der warmen Empfehlung durch den mittlerweile verstorbenen A. H. Francke gedachte. Wie sich aus den Quellen ergibt, handelte es sich bei dieser Stellung, in der er bald zum Geheimen Secretär, dann Hofrath befördert wurde, nicht um ein Secretariat im gewöhnlichen Sinne, vielmehr war es eine besondere persönliche Vertrauensstellung; [786] W. war und blieb bis an dessen Ende der vertraute geistliche Freund und Gewissensrath des Herzogs. W. war durch seine praktischen Dienste so wenig beschränkt, daß er Jahr für Jahr nach seines Herzens Wunsch reisen und seine geistlichen Freunde besuchen konnte. Als nun aber am 4. September 1745 der Herzog von Sachsen-Saalfeld gestorben war und für den kaum 49jährigen W. abermals die ernste Frage wegen einer entsprechenden außerordentlichen Versorgung aufzutauchen schien, da war wieder bereits aufs beste für ihn gesorgt. Seit 1731 hatte er nämlich, nachdem er kurz vorher den gräflichen Hofprediger Zimmermann kennen gelernt hatte, Jahr für Jahr in Wernigerode, besonders auf dem Grafenschlosse verkehrt und gefunden, daß hier ganz besonders „fette geistliche Weide“ sei. Sein Amtsgenoß, der saalfeldische Secretär Straßer, redete sogar von „Wernigerode im gelobten Lande“. Nachdem man ihn nun schon so manches Jahr mit Liebe und Freude aufgenommen hatte, bot ihm, als das baldige Dahinscheiden des Herzogs bestimmt zu erwarten stand, Graf Christian Ernst freien gastlichen Aufenthalt auf Schloß Wernigerode für sein ganzes Leben an. Von bestimmten amtlichen Verpflichtungen war auch hier nicht die Rede, und wie bisher konnte W. Reisen zum Besuch seiner geistlichen Freunde und Freundinnen unternehmen. Dennoch war sein Wernigeroder Aufenthalt durchaus kein unthätiges Genießen und Ausruhen, und das Verhältniß des erlauchten Wirths und des Gasts war das eines gegenseitigen Nehmens und Gebens. Untergeordnet war dabei die Arbeit, die ihm dabei für die anwachsende gräfliche Bibliothek und nicht lange vor seinem Ende in einer Beaufsichtigung der Erziehung des gräflichen Stammhalters Christian Friedrich angesonnen wurde. W. war in erster Linie, besonders mit der Feder, die rechte Hand des Grafen und seines Hauses bei dessen religiskirchlichen Bestrebungen, der Typus eines pietistischen Secretärs und als solcher das merkwürdigste uns bekannte Beispiel. Bei seiner freien Stellung als Gast führte er aber diesen Briefwechsel nicht etwa auf besonderen Auftrag, wenn er gleich in einzelnen Fällen veranlaßt sein mag, aber seine eigenen religiös-kirchlichen Bestrebungen fielen mit denen der gräflichen Herrschaft zusammen. Und in der Pflege derselben entwickelte er eine erstaunliche Thätigkeit. So pflegte und förderte er den Verkehr, die geistliche Lebensgemeinschaft Wernigerodes mit den erweckten Höfen, den erlauchten Personen und ihren Räthen, Geistlichen und sonstigen erweckten Männern und Frauen in ganz Deutschland, so in Thüringen, im Voigtland, in Franken, der Lausitz, Niedersachsen, Ostfriesland, mit Dargun in Mecklenburg, Schleswig-Holstein, Dänemark, mit den deutschen Predigern in England, Nordamerika, den ausgewanderten Salzburgern in Südkarolina, den Missionaren in Indien. Infolge seiner Reisen konnte er über die kirchlichen Zustände und Bewegungen im Auslande, in den Niederlanden und Frankreich, Venedig berichten. A. H. Francke erhielt von ihm wichtige Nachrichten über die hervorragendsten Jansenisten in Frankreich; Bedeutsames konnte er daheim über die geistlichen Bewegungen in England, die beiden Wesley, Whitefield, Doddridge in England, mit denen er ebenfalls einen Briefwechsel anknüpfte, berichten. Mit Eifer verbreitete er in Deutschland und ins Ausland nach Dänemark, England und weiter erbauliche Schriften von Joh. Arnd, Spener, A. H. Francke, Zimmermann und andern Wernigerödern. Besonders Francke’sche Schriften waren es, die er 1726/27 mit den Jansenisten austauschte, auch sammelte er für die Mission.

Beachtenswerth ist es, daß wir bei dem so entschiedenen Pietisten gewisse Einseitigkeiten dieser ethisch so energischen Richtung vermieden oder doch gemildert sehen. Durch vergleichende Beobachtung auf weiten, langen [787] Reisen war sein Auge für die Schönheit in der äußeren Schöpfung geöffnet und geübt. So sah er mit Bewunderung die erhabene Natur der Alpen mit ihren Bergen, Strömen und menschlichen Anlagen, wie der Riviera, die er vom Meere aus bei Genua vor sich sieht. Aber er hat auch ein Auge für die Lieblichkeit des überelbischen Landes mit seinen Wäldern und Seen, für den Reiz der Parks in England wie im Voigtland und in seiner schaumburgischen Heimath, endlich für den Reiz und die Anmuth der Harzthäler bei Wernigerode und für die Lage des Schlosses. Den Werken der Kunst in Italien schenkt er seine Aufmerksamkeit und sammelt selbst Kupferstiche, und neben dem geistlichen Liede weiß er auch das Oratorium zu schätzen. Auch hat er Herz und Gefühl für sein Vaterland und die Eigenart des deutschen Volks. Als ihn von 1725–1727 Gott mit seinem Pflegebefohlenen zwanzig Monate lang außer unserm deutschen Vaterlande herumgeführt und er endlich jenseit Pontebba in Friaul nach Markt Derbes (Tarvis) in Kärnten kommt, heimeln ihn die biedern deutschen Leute mit ihrer besonderen Tracht und den grünen Hüten ungemein an und er wird sich des Unterschieds zwischen deutschem und wälschem Wesen kräftig bewußt: „und scheint“, sagt er, „den Leuten hier mehr Aufrichtigkeit aus den Augen zu leuchten, als dort. Enfin, sobald wir nur über die Grenzen traten, däuchte uns wohler zu werden“. Der geheiligte Kern seines Wesens war aber doch seine kindliche Frömmigkeit, sein unerschütterliches Vertrauen auf Gottes Gnade. Als er im October 1726 in Paris schwer erkrankte und sich darauf gefaßt machte, hier im fremden Lande von hinnen zu scheiden, redete er mit dem Arzt von Gottes heilsamem Willen mit ihm und wie es nicht anders als gut und selig sein könne, wenn er jetzt nach Gottes Willen stürbe. Das fand der Franzose sehr trübselig und forderte ihn auf, den Muth nicht zu verlieren. Damit hatte er aber den Kranken ins Herz getroffen. Trotz seiner großen Schwachheit richtete er sich im Bette auf und sprach zum Arzte, ob er glaube, daß solche Gedanken den Muth nähmen. Und als der Doctor ihm gar eine muntere Gesellschaft und scherzende Unterhaltung zu seiner Aufheiterung empfahl, gab er zurück, er habe viel mehr Freudigkeit, als er, der Doctor, verstehe.

Der so ausgedehnte Briefwechsel wuchs in Verbindung mit anderen Schriftstücken zu einem Walbaum-Archive an, das als solches gelegentlich 1772 erwähnt wird und in herrschaftlichem Besitze zu Wernigerode war. Leider ist davon nur noch ein Theil beisammen. Ungefähr läßt sich sein einstiger Umfang aus den 21 Bänden seines Tagebuchs (1720–24, 1748 bis 14. Mai 1753) berechnen, da W. vor jedem Jahrgang regelmäßig sämmtliche an ihn gelangten und von ihm geschriebenen Briefe verzeichnete. Sein hinterlassener besonders durch theologische Schriften bemerkenswerther Büchervorrath ist an die öffentliche Bibliothek zu Wernigerode gelangt.

Nach dem Tagebuch, dem Rest des Walbaumarchivs und sonstigen Correspondenzen im Fürstl. Archiv zu Wernigerode. – Von Druckschriften sind zu vergleichen: Spangenberg, Zinzendorf’s Leben, S. 84–90. – G. Kramer, Aug. Herm. Francke, Halle 1892, II, 293, 463, wo auch zwei ältere Drucke eines merkwürdigen Briefs an W. nachgewiesen sind. – Gneomar Ernst v. Natzmer, Lebensbilder aus dem Jahrhundert nach dem großen deutschen Kriege. Gotha 1892, S. 239 ff., 246, 305. – Derselbe, Die Jugend Zinzendorfs im Lichte ganz neuer Quellen. Eisenach 1894, (an vielen Stellen, die merkwürdigste S. 245 f.) – In der Nachricht über die Fürstl. Bibliothek zu Wernigerode Juli 1899, in der Wern. Zeitung – auch in einem Sonderabzug S. 2–8 – sind Walbaum’s litterarisch-bibliothekarische [788] Bestrebungen hervorgehoben. – Zeitschrift für Schleswig-Holsteinsche Kirchengeschichte. – Siehe auch Zeitschrift des Harzvereins für Geschichte u. Alterthumskunde 32 (1899), S. 346–360. – Anton Heinrich Walbaum und die pietistische Bewegung in den Herzogthümern Schleswig und Holstein. Von Archivrath Dr. E. Jacobs (Wernigerode), Schriften des Vereins f. schleswig-holsteinische Kirchengeschichte, II. Reihe. Beiträge und Mittheilungen, 4. Heft. Kiel 1900, S. 30–136.