Zum Inhalt springen

ADB:Sturm, Leonhard Christoph

aus Wikisource, der freien Quellensammlung

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Sturm, Leonhard Christoph“ von Paul Zimmermann in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 37 (1894), S. 42–45, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Sturm,_Leonhard_Christoph&oldid=- (Version vom 4. Oktober 2024, 03:25 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
<<<Vorheriger
Sturm, Kaspar
Nächster>>>
Sturm, Nicolaus
Band 37 (1894), S. 42–45 (Quelle).
[[| bei Wikisource]]
Leonhard Christoph Sturm in der Wikipedia
Leonhard Christoph Sturm in Wikidata
GND-Nummer 117364177
Datensatz, Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|37|42|45|Sturm, Leonhard Christoph|Paul Zimmermann|ADB:Sturm, Leonhard Christoph}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=117364177}}    

Sturm: Leonhard Christoph St., Mathematiker und Architekt, geboren am 5. November 1669 zu Altdorf, wo sein Vater Joh. Christoph St., Professor der Mathematik und Physik war, † 1719, erhielt anfangs Unterricht von seinem Vater, besuchte dann aber das Gymnasium zu Heilsbronn, von dem er 1683, erst 14 Jahre alt, auf die Hochschule seiner Heimath überging. Sein Vater hatte ihn zum Theologen bestimmt; außer bei ihm hörte der Sohn bei Roetenbeck, Wagenseil u. A. Aber die eigentlichen gelehrten Fächer sprachen ihn nicht an; er fühlte sich mehr zu praktischer Thätigkeit hingezogen und beschäftigte sich zumeist mit Mathematik, Architektur und Festungsbaukunde. Den Freuden des Universitätslebens war er nicht abhold und dem Becher so ergeben, daß er schon im dritten Studienjahre an asthmatischen Beschwerden litt. Im J. 1688 erwarb er sich durch eine Disputation „de philosophia effectiva“ die Magisterwürde. Auch zum Dichter wollte er sich krönen lassen; doch stand er davon ab, da er den vorgeschriebenen Eid, seine Kunst nur in den Dienst Gottes, nicht der weltlichen Liebe zu stellen, nicht leisten wollte. Schon früh zeigte er so einen selbständigen, auch landläufigen Zugeständnissen abgeneigten Sinn, der sich nicht scheute in Gegensatz zu hergebrachten Ansichten und der Meinung der Menge zu treten, ja oft eine abweichende Ueberzeugung schroff und fast geflissentlich hervorkehrte. Im J. 1689 schickte ihn der Vater nach Jena, wo er sich seinen Unterhalt durch mathematischen Unterricht erwerben sollte. Er disputirte hier „de variis methodis inveniendi veritatem“ und wurde im folgenden Jahre zu Thomasius nach Leipzig berufen. Als dieser bald darauf vor seinen Gegnern die Stadt räumen mußte, blieb St. zurück und fand bei einem reichen Liebhaber der mathematischen Wissenschaft, Senator Georg Bose, werkthätige Unterstützung. Er hatte diesem ein „compendium institutionis architecturae“ vorgelegt und war darauf von ihm dem Rathe der Stadt empfohlen. Ehe es aber zu einer Anstellung kam, verfiel er in eine schwere Krankheit. Als er genesen, besuchte er mit Bose’s Hülfe Dresden, wo er in Verbindung mit praktischen Architekten trat, und darauf Berlin. Die Frucht dieser Studien war die Leipziger Disputation „de optima muniendi et aedificandi ratione“; außerdem disputirte er „de recto rationis usu circa mysteria“. Denn nebenbei setzte er, wenn auch mehr dilettantisch, die Beschäftigung mit der Theologie fort, der er auch im späteren Leben nicht untreu wurde. Er huldigte einer stark pietistischen Richtung und verehrte vor allem Ph. J. Spener und A. H. Francke. Als 1694 in Halle die Universität eröffnet wurde, war er dort und wurde durch Samuel Stryk einem Wolfenbüttler Minister empfohlen. Dieser veranlaßte seine Berufung nach Wolfenbüttel, wo er als Nachfolger Joh. Balth. Lauterbach’s († April 1694) zum Professor der Mathematik an der Ritterakademie ernannt wurde. Bevor er seine neue Stelle antrat, ging er erst noch einmal nach Leipzig, wo er „de animae humanae immaterialitate“ disputirte. In Wolfenbüttel lehrte er außer der Mathematik besonders die Civil- und Militärbaukunst; er gab hier seine ersten umfassenden Werke über diesen Gegenstand: „Nic. Goldmanns Vollständige Anweisung zu der Civilbaukunst“ (Braunschweig 1699 fol. Vorrede 1. September 1696 unterschrieben) und die „erste Ausübung“ derselben (Braunschweig 1699 fol.) heraus, denen später noch viele [43] andere der Art folgen sollten. Auch machte er ausgedehnte Studienreisen, 1697 nach Holland, 1699 nach Paris. Dennoch ist er trotz der regen Bauthätigkeit, die damals in Braunschweig-Wolfenbüttel herrschte, zur praktischen Ausübung der von ihm theoretisch behandelten Baukunst offenbar nicht gekommen; er würde sonst gewiß später ein Wort darüber in seinen „Architektonischen Reise-Anmerkungen“ gesagt haben, wo er die Bauten in Braunschweig, Wolfenbüttel und Umgebung bespricht, den Kunstsinn des prunkliebenden Herzogs Anton Ulrich preist, über die ausführenden Baumeister sich aber zumeist sehr ungünstig ausläßt. Mit dem Herzoge Rudolf August theilte er die pietistischen Neigungen; das ist wol der Grund gewesen, daß er ihm 1700 „Zehn kurze Betrachtungen über die Heilige Offenbarung S. Johannis“ „in manuscripto“ widmete (Herzogl. Bibliothek zu Wolfenbüttel). Als auf der Akademie einem Lector der französischen Sprache eine philosophische Professur übertragen wurde, führte St. darüber Beschwerde und zog sich dadurch das Mißfallen des einflußreichen Kanzlers Probst von Wendhausen zu. Als der brandenburgische Geheimrath v. Fuchs auf einer diplomatischen Sendung in Braunschweig 1702 St. kennen lernte, bot er ihm eine mathematische Professur in Frankfurt a. d. Oder an, die er annahm; am 15. Juni 1702 ließ er sich als designatus professor in Frankfurt immatriculiren. Da er auch hier Mißstände der Universität schonungslos aufdeckte, so zog er sich bald den Haß seiner Collegen zu. Auch mit der Geistlichkeit gerieth er in Zwiespalt. Er hatte „Bürgerliche Vorschläge, wie eine Stadt der Gefahr einer Pestcontagion begegnen könne“, veröffentlicht. Dagegen ließ ein lutherischer Prediger eine Schrift erscheinen, die ihn so in Harnisch brachte, daß er ein Bekenntniß der Punkte herausgab, in denen er von den Frankfurter Predigern abwiche. Das genügte, um einen Beschluß des geistlichen Ministeriums herbeizuführen, durch den er der kirchlichen Gemeinschaft für unwerth erklärt wurde. Dennoch ging er nicht zu der reformirten Kirche über, aus Furcht man könne seine Handlungsweise als durch äußeren Vortheil veranlaßt verdächtigen. Auch sonst war er, indem er von dem Wahlspruche seines Siegels: caute dein audacter stets nur die zweite Hälfte beobachtete, unvorsichtig in seinen Reden, so daß ihn der König einmal beinahe nach der Festung Spandau hätte abführen lassen. Am 3. Mai 1708 starb seine Frau Ludmilla Katharina, die jüngste Tochter des Quedlinburger Rectors Samuel Schmid, die er am 5. November 1695 geheirathet hatte. Es erregte Anstoß, daß er der Sitte zuwider, in der er nur ein Vorurtheil sah, kaum zwei Monate später eine zweite Ehe mit Justine Sibylle Roetenbeck einging, einer Tochter des Altdorfer Professors Roetenbeck, mit dem er sich in religiösen Dingen sehr gefunden hatte. Zur praktischen Ausübung der Baukunst ist St. auch in Frankfurt fast garnicht gekommen. Wurde er auch 1704 Mitglied der Societät der Wissenschaften in Berlin und auch zur Begutachtung des Münzthurms dorthin in eine Commission berufen, führte er auch 1706 bei dem Jubiläum der Universität die Ehrenpforten für den König in einer Weise aus, die Aufsehen erregte, so setzte man doch zumal in Berlin in sein positives Können sehr geringes Zutrauen; die Baumeister sahen stolz auf den schriftstellernden Theoretiker herab, der zudem nichts weniger verstanden zu haben scheint als sich in hohen, einflußreichen Kreisen beliebt zu machen. Bei seinem lebhaften Wunsche, seine Kunst auch praktisch einmal bethätigen zu können, kränkte ihn das tief, und dies ist wol vor allem der Grund gewesen, daß er einen Ruf nach Mecklenburg annahm, der im November 1710 von dem Herzoge Friedrich Wilhelm an ihn erging. Er wurde am 27. März 1711 in Schwerin als Baudirector angestellt und am 19. April 1712 auch zum Kammerrathe ernannt. St. hatte hier vor allem den Umbau an dem Schlosse zu Neustadt an der Elde auszuführen, der schon vor ihm begonnen war. Auch [44] wurde gelegentlich für andere Bauten sein Gutachten gefordert. Als er ein solches über einen Kirchenbau zu erstatten hatte, veranlaßte ihn dies zu der Schrift „Bedenken von Protestantischer Kleinen Kirchen Figur und Einrichtung an Eine Durchl. Person über einen gewissen Casu gestellet“ (Hamb. 1712, 8°), der später seine „Vollständige Anweisung alle Arten von Kirchen recht wohl anzugeben“ (Augsburg 1718, fol.) nachfolgte. Bei Ausführung der Bauten war er so eifrig, daß er, als bei dem Neustädter Schloßbau die Fürstlichen Zahlungen einmal stockten, 1500 Thaler aus eigenen Mitteln zur Fortsetzung des Baues vorschoß. Es geschah dies dicht vor dem Tode Friedrich Wilhelm’s, der am 31. Juli 1713 erfolgte. Die unglücklichen tiefgreifenden Wirren, die unter seinem Nachfolger, dem Herzoge Karl Leopold, ausbrachen, waren auch für St. verhängnißvoll. Er wurde zwar am 7. September 1715 in seiner Stellung bestätigt, erhielt aber von dem neuen Fürsten nur einmal seinen Gehalt ausbezahlt. Dennoch blieb er bis 1719 in mecklenburgischen Diensten, wenn auch, wie es scheint, ganz ohne Beschäftigung. Er entfaltete jetzt eine sehr ausgedehnte schriftstellerische Thätigkeit, die sich auf alle Gebiete des Hoch- und Wasserbaues, des Festungsbaues, auch auf Maschinen und Anderes der Art erstreckte. Er verließ Schwerin und hat sich anfangs vielleicht in Hamburg, seit 1716 aber jedenfalls in Rostock niedergelassen. Auch in dieser Zeit ruhten die theologischen Streitigkeiten nicht. Als er die Worte der Einsetzung des heiligen Abendmahls: „das ist mein Leib“ in „desgleichen ist mein Leib“ veränderte, entbrannte darob heftiger Zorn der Theologen, und es entstand 1714 bis 15 eine litterarische Fehde, die von beiden Seiten mit großer Erbitterung geführt wurde. Da St. unter diesen Verhältnissen allmählich in große Bedrängniß gerathen war, die auch auf seine Gesundheit einen sehr üblen Einfluß gehabt hatte, so griff er mit Freuden zu, als ihm gegen Ende des Jahres 1718 von dem Herzoge Ludwig Rudolf zu Braunschweig und Lüneburg, der damals Blankenburg als selbständiges Fürstenthum regierte, eine Anstellung angeboten wurde. Etwa um Ostern 1719 trat er als Rath und Baudirector in Blankenburg in Dienst; aber er sollte die Ruhe nur kurze Zeit genießen, schon am 6. Juni 1719 machte ein Schlagfluß seinem Leben ein Ende. Auf der Nordseite der Bartholomäikirche wurde ihm von dem Herzog ein alabasternes Grabmal errichtet, das jetzt leider verschwunden ist. Ihn überlebten eine Wittwe und sechs Kinder, die sich noch 1732 – wie es scheint mit wenig Erfolg – bemühten, das 1713 von St. in Neustadt vorgeschossene Capital nebst den aufgelaufenen Zinsen, worum er selbst oft vergeblich nachgesucht hatte, zurück zu erhalten.

Sturm’s bleibende Bedeutung liegt auf dem Gebiete der Baukunst. Wenn er sie im wesentlichen auch nur theoretisch behandelt hat, so ist er für seine Zeit doch nicht ohne Einfluß gewesen. „Er ist“, wie Gurlitt S. 65 sagt, „der wissenschaftliche Vertreter der norddeutsch-protestantischen Hochrenaissance vor ihrer Befreiung aus spießbürgerlicher Befangenheit durch Schlüter, dessen erbittertster Gegner er zugleich gewesen ist.“ Als seinen Lehrer verehrte er Nic. Goldmann, der ebenfalls fast nur litterarisch wirkte und dessen Hauptwerk von ihm zur Veröffentlichung gebracht wurde. Sein nüchterner klarer Geist, der des höheren künstlerischen Schwunges entbehrte, kam auch in seiner Kunst deutlich zum Ausdrucke. Er schloß sich an die aus Vitruv entlehnten Grundsätze der Franzosen und Niederländer an, sah in der Ordnung den Grund aller architektonischen Schönheit und forderte vor allem unbedingte Befolgung der von ihm aufgestellten Regeln. In der Antike wurzelnd war er ein eifriger Verfechter des Classicismus; aber er suchte doch mit den classischen die nationalen Formen zu verbinden und nannte sich nicht ohne Stolz einen deutschen Architekten. Die [45] geniale Regellosigkeit des Barockstils war seiner methodischen Art gründlich zuwider. Wie im Leben so war er auch in der Kunst von schroffer Einseitigkeit; rücksichtslos verurtheilte er das, was zu seinen Regeln nicht stimmte; für geschichtliche Entwicklung, für die Bauwerke des Mittelalters besaß er nicht das geringste Verständniß. Vornehm sah er herab auf die „absurde Gothische Bau-Art“; in einer an schönen mittelalterlichen Bauten so reichen Stadt wie Braunschweig findet er „wenig sonderliches zu sehen“; der sogenannte Mosthof, die im Geschmack der Zeit umgebaute Burg Dankwarderode, erscheint ihm als „das würdigste“, während im Dome daneben seines „Behalts nichts zu sehen ist“. Dazu stimmt seine Stellung in der Kirchenbaufrage, in der dennoch der Hauptwerth seines Wirkens ruht. Entschlossen bricht er hier mit allen Ueberlieferungen, die sonst durch die Reihe der Jahrhunderte geheiligt erscheinen. Nachdrücklich fordert er für die Protestanten andere Kirchen wie für die Katholiken; dort sei die Predigt, hier die Messe die Hauptsache; man müsse daher für die Protestanten Predigtkirchen, nicht Meßkirchen bauen. Sein eigenes religiöses Bekenntniß kommt hier zum deutlichen Ausdruck. Er nennt sich selbst „keinen großen Liebhaber von prächtigen Kirchen-Gebäuden“, da er wisse, „daß Gott als einem Geist, sonderlich in der geistlichen Zeit Neues Testaments, damit nicht viel gedient wird, sondern mehr mit göttlich- und von oben herab geschmückten Tempeln des Hertzens.“ … Nüchternen Sinnes beurtheilte er in seinen Kirchenanlagen alles nur vom Standpunkte des Bedürfnisses aus. Er will vor allem Räume schaffen, in denen so viele Zuhörer wie möglich den Prediger hören und sehen können. Daher nimmt er zu seinen Kirchen als Grundform das Quadrat, den Kreis, das Dreieck und noch abweichendere Formen, die eine concentrische Anordnung des Gestühls gestatten. Eine höhere künstlerische Entwicklung war bei solchen Bauten zwar mehr oder weniger unmöglich gemacht, aber dennoch muß man anerkennen, daß berechtigte Gedanken seinen Theorien zu Grunde lagen, und daß sie zumal seiner Zeit, in der für Kirchenbauten gemeiniglich geringe Mittel zur Verfügung standen, sehr wohl entsprachen.

Vgl. Humbert’s Aufsatz in der Bibliothèque Germanique T. 27 (Amsterdam 1733), S. 62–85. – Walch’s Einleitung in die Religionsstreitigkeiten außer der evang.-luther. Kirche, III. Thl. (Jena 1734), S. 190 ff. – Hassel, Ritter-Akademie zu Wolfenbüttel (Braunschweig 1754). S. 10 f. – Gurlitt, Geschichte des Barockstiles und des Rococo in Deutschland (Stuttgart 1889), S. 65 ff. – O. Sommer, Der Dombau in Berlin in Westermann’s Monatsheften, Bd. 68 (1890), S. 370 ff. – Koch’s Aufsatz in den Jahrbüchern für mecklenb. Gesch. u. Alterth., 56. Jahrg. (1891), S. 241 ff. – Kirchenbau des Protestantismus von der Reformation bis zur Gegenwart. Hrsg. von der Vereinigung Berliner Architekten (Berlin 1893), S. 74 ff. – Der von Lessing (Hempel’s Ausg. XX. Thl., S. 565) erwähnte Aufsatz über Sturm’s Leben bis 1708 in einer Handschrift der Wolfenbüttler Bibliothek, der von der Hand des Archivars H. K. Koch herrührt und wol auf eigenen Aufzeichnungen Sturm’s beruht. – Herzogl. Landes-Haupt-Archiv zu Wolfenbüttel.