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ADB:Tanner, Karl Rudolf

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Artikel „Tanner, Karl Rudolf“ von Daniel Jacoby in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 37 (1894), S. 383–385, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Tanner,_Karl_Rudolf&oldid=- (Version vom 18. Dezember 2024, 02:24 Uhr UTC)
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Tanner: Karl Rudolf T., schweizerischer Dichter und Staatsmann, wurde 1794 geboren in Aarau (nicht Leutwyl), am 10. August getauft. Seine Mutter verlor er früh; sein Vater war erst Lehrer an der Lateinschule in Aarau, später Pfarrer in Schinznach, wo er 1813 gestorben ist. Nachdem der Knabe die von E. A. Evers geleitete Kantonsschule besucht und in Zürich sich mit Geschichte und Philosophie beschäftigt hatte, widmete er sich in Heidelberg (1814) der Rechtswissenschaft. Die Bestrebungen der deutschen Burschenschaft wirkten auf den feurigen Jüngling nachhaltig für sein ganzes Leben. In Heidelberg lernte er Voß persönlich kennen, fühlte sich jedoch, wie er selbst erzählt, in seinen dichterischen Bemühungen durch ihn eher abgestoßen als gefördert. Die Neigung zur altdeutschen Litteratur und Kunst wurde durch die Sammlung der Brüder Boisserée, durch die Lectüre der romantischen Dichter, auch der schwäbischen, Uhland voran, gefördert. In Göttingen erwarb er sich 1817 die Doctorwürde und ließ sich nach kurzem Aufenthalte in Bern als Fürsprech in seiner Vaterstadt nieder. 1825 zum Mitglied des Bezirksgerichts, ein Jahr später zum Amtsstatthalter ernannt, legte er schon zwei Jahre darauf diese Aemter nieder, voll Abneigung gegen das herrschende politische System. Ein unabhängiger, selbständiger Charakter, Freund jedes Fortschritts, fürchtete er sich vor keiner Opposition: die alten Rathsherren und die „Dächen“ (Decane) waren ihm daher feindlich genug. Ein Freund seiner Jugend (Münch; s. unten) sagt von ihm: „In der Politik war T. stets für durchgreifende Reformen und gegen römischen Jesuitismus wie gegen orthodoxes Protestantenthum unerbittlich.“ Im Bunde mit anderen Freunden begründete er den Sempacherverein, der in der Hauptsache das Ziel der von älteren Männern besuchten helvetischen Gesellschaft [384] unterstützte: in Staat, Kirche, Wissenschaft eine neue Zeit herbeizuführen. An den Bestrebungen einer Aenderung der Verfassung nahm er eifrigen Antheil. Zum Mitglied des Verfassungsrathes 1831 ernannt, zeichnete er sich als Redner aus; zwei Jahre darauf wurde er vom Kreise Kirchberg in den großen Rath gewählt. Dieser ernannte ihn bei der Erneuerung aller Behörden zum Mitglied des Obergerichtts und wiederholt zum Vorsitzenden. An den Tagsatzungen vertrat er 1831 und 1832 den Canton Aargau: der Entwurf einer neuen Bundesverfassung aber kam nicht zu Stande. Auch in der Zeit der aargauischen Klosterstürme (1841) und in den dem Sonderbundskriege vorangehenden Jahren blieb T. ein tapferer Anhänger seiner Partei und wahrte sich den Glauben an eine glücklichere Zukunft des Vaterlandes. „Im Jänner 1841“ ist ein Gedicht ins Distichen betitelt, in dem es heißt: „Aber es reget sich tief, es regt sich die Hoffnung im Busen: Tage des Glanzes, des Glücks, werden dir, Heimath, erblühn.“ Freudig begrüßte er nach dem Sieg über den Sonderbund im September 1848 die neue Bundesverfassung der Schweiz. Zum „Nationalrath“ gewählt, war es ihm, der die Interessen des Gesammtvaterlandes stets hochgehalten hatte, noch vergönnt, an den ersten Verhandlungen in Bern im November 1848 theil zu nehmen und eine feurige Rede für die schweizerische Einheit zu halten. Im Frühjahr 1849 konnte er sich nur in den ersten Wochen an den Berathungen betheiligen: eine Herzkrankheit zwang ihn zur Rückkehr nach Aarau. Dort ist er schmerzlos am 8. Juli 1849 aus diesem Leben geschieden. T. war zweimal verheirathet; aus zweiter Ehe überlebten ihn 3 Kinder, von denen eine Tochter, Irmgard, in Aarau lebt, der Sohn, Erwin, in Basel: als langjähriger Stadtamman von Aarau hat dieser sich entschiedene Verdienste um seine Vaterstadt erworben.

Wie als Mensch, so ist T. auch als Dichter nicht ohne Eigenart gewesen. Seine ersten Gedichte wurden in Zeitschriften bekannt: „Das Rothkehlchen“ im „Freimüthigen für Deutschland“ (Berlin 1819, Nr. 136); in den „Alpenrosen“, einem Schweizer Almanach, wurden in demselben Jahre gedruckt „Die Flucht der Jugend“, später ganz verändert unter dem Titel „Das verlorene Schloß“; „Mutterglück“, später vielfach geändert, wie T. überhaupt fortwährend änderte und feilte; ebenda 1820: „Der Sturm der Zeit“, später geändert und um drei Strophen gekürzt u. d. Titel „Die Habsburg“; „Das Büchlein im Winter“; ebenda 1822: „Ermuthigung“. Auch in den von Ernst Münch herausgegebenen „Helvetischen Eichenblättern“ machte er Gedichte bekannt. Im J. 1826 erschien die erste Ausgabe seiner Gedichte zu Aarau u. d. Titel „Heimathliche Bilder und Lieder“. Nur in dieser finden sich „Uebersetzungsproben altchristlicher Lieder“: der heftige Jesuitenfeind hatte eine besondere Vorliebe für diese; A. L. Follen, wie T. selbst erzählt, hatte durch seine Uebersetzung mittelalterlicher Kirchenlieder ihn lebhaft angeregt. Die zweite, vermehrte Auflage der Gedichte erschien 1829 ebenda; die dritte 1836; die vierte 1842; die „Ausgabe letzter Hand, vermehrt und vermindert“ zu Zürich 1846.

Kampfesfreudig und leidenschaftlich im Leben, war T. in der Poesie kein Freund der Lieder, „die wie Schwerterfunken sprühn“; die sogenannten Zeitgedichte widerten ihn, seinem Geständniß nach, meistens an. Das Gedicht „An die Ungestümen“ spricht seine Denkart deutlich aus. Er wußte, daß die Schöpferkraft der großen Dichter ihm versagt war. Kleine Lieder und Bilder aus der heimathlichen Natur, in die er aus dem Kampf und der Unvollkommenheit des Lebens mit inniger Sehnsucht nach Frieden sich flüchtet, gelingen ihm zuweilen trefflich. Ein Salis zu werden. sagt er selbst, gehörte zu der Begierde meiner frühen Jugend. Es verdient wohl auch Erwähnung, daß die Umgebung Aaraus besonders lieblich und freundlich ist und eher den Geist beruhigt als aufregt. [385] Der Dichter erzählt selbst den Anlaß zu manchen der kleinen Lieder, und daß auf die Abfassung mancher „die Zeit der Entstehung Einfluß übte, da er oft schreitend und wandernd dichtete“. Seine religiösen Gedichte sind ernst und innig: „für mehr gebe ich sie nicht als für bescheidene Opferflammen auf dem persönlich-besonderen, inneren Opferherd; denen vielleicht nicht unwillkommen, die Augenblicke, in welchen solche Lieder hervorwallen, für beseligende halten“. Feind aller Phrase, haßte er die Verzerrung wahrer Frömmigkeit wie wahrer Vaterlandsliebe: „Wie meine Frömmigkeit stets nur in rein menschlicher Weise Gottes heiligem Wesen sich zu nahen bemühte und von bloß kirchlicher Beschränkung sich frei erhielt, so kochte in mir der Unmuth, wenn ich … das Vaterland durch prahlerische Zerrgebilde mir entweiht dachte.“ Nicht selten vermißt man allerdings die sinnliche Plastik des Ausdrucks in seinen Gedichten, manchmal ist auch die einheitliche Stimmung nicht festgehalten, und wo die Reflexion sich erkältend eindrängt, wird auch der Ausdruck leicht mühsam und zu unbestimmt. Wo T. aber das Naturbild in den innigsten Zusammenhang mit dem Menschenleben zu bringen weiß, wo Anschauung und Empfindung sich decken, erreicht er im Kleinen große Wirkungen. Ein Beispiel, „Das Gerede der Wellen“, stehe hier: „Eine Welle sagt zur andern: Ach! wie rasch ist dieses Wandern! Und die zweite sagt zur dritten: Kurz gelebt ist kurz gelitten.“ Das Naturbild soll symbolisch für das Menschenleben sein. Diese Liedergattung setzte T. selber Bildern an die Seite, die sich in der Malerei den Namen Stillleben erworben haben. Oft ist ein einfacher Gedanke echt poetisch ausgedrückt, aber mehr der Keim zu einem Gedicht, als ein wirkliches Lied. In dieser Hinsicht muß man an Lenau’s Urtheil über die Gedichte seines Freundes Karl Mayer denken: „Weit entfernt, das wirklich Schöne in Mayer’s Liedern zu verkennen, kann ich mit der fatalen Kürze nicht einverstanden sein, die den Leser gerade da, wo sich ein poetisches Gefühl in ihm anspinnen will, im Stiche läßt. Ferner tadle ich dieses Hinausgehen in den Wald, dieses Herumspioniren, ob die Natur nicht irgendwo einen poetischen Anhaltspunkt biete, gleichsam eine Blöße gebe, wo ihr beizukommen ist.“ Die Abhängigkeit von Mayer hat T. mit Nachdruck abgelehnt: viele seiner Gedichte, in denen man den Einfluß des schwäbischen Sängers zu sehen meinte, sind schon in der Ausgabe von 1826 erschienen; Mayer’s Gedichte erschienen zuerst 1833. „Die Wahrheit ist,“ sagt T., „wir haben uns … bei verwandtem Wesen unter gemeinschaftlichen Zeiteinflüssen entwickelt.“ Dagegen ist Uhland’s Einfluß oft unverkennbar.

Bibliographie am sorgfältigsten bei A. Schumann im Neuen Anzeiger für Bibliographie, hrsg. von Petzholdt 1880, S. 89–94. – Vorwort zu den Gedichten vom J. 1842 und 1846. – Ernst Münch, Erinnerungen. Karlsruhe 1836, S. 436 f. – Neuer Nekrolog der Deutschen 1849, 2. Thl. Weimar 1851, S. 1132–1140.