ADB:Lenau, Nikolaus
[243] beendigt. Weihnachten 1820 kam er zum ersten Male im Hause der Großeltern mit dem jungen Dichter Anton Schurz zusammen, der in ihm die Flamme der Dichtung vielleicht zuerst erweckt hat. Therese, die um Kövesdy getrauert hatte, faßte zu Schurz eine innige Neigung: Mitte August war die Hochzeit. Am 1. Juni des folgenden Jahres schreibt L. der Mutter: Gedichte mache ich nun gerne, und ich bemerke, daß es mir nicht ganz am Kopfe dazu gebricht. Ein unbedeutender Vorfall – der junge Dichter hatte seiner alten Lust, der Vogelfängerei, gefröhnt und war mit schmutzigen Stiefeln ins Zimmer der Großmutter gestürmt – veranlaßte seine fluchtähnliche Abreise nach Preßburg, wo er nur vorübergehend das ungarische Recht studirte, um sich darauf in Ungarisch-Altenburg auf der Ackerbauschule der Landwirthschaft zu widmen. Dort Freundschaftsbund mit Fr. Kleyle; (siehe Gedicht an diesen). Lenau’s Wissensdrang fand weder in diesem noch in dem zu Wien neu begonnenen Rechtsstudium Befriedigung. Im Herbste 1823 war er mit der Mutter dorthin gezogen; sie blieb bei dem Sohne bis zu ihrem 1829 erfolgten Tode. Des Trostes reinste Quelle – s. das Gedicht „Zuflucht“ – war für ihn versiegt. Zu einem entscheidenden Entschluß in Betreff des Berufes kam L. nicht; nach drei Jahren widmete er sich der Medicin. Wiewol er vier Jahrgänge studirte, einzelne Prüfungen auch gut bestand –, manche Nacht hat er wie sein Faust über die wunderbaren Gebilde des Leibes, über das Leben, „das scheue Wild“, brütend nachgedacht, – zu einem Abschluß brachte er es nicht. Vergebens mahnten ihn Freunde, wie der treuherzige Poet Schleifer. (S. den Brief vom 13. November 1830.) Krankheit und Tod der geliebten Mutter verdüsterten L.: ein unseliges Verhältniß mit einem Mädchen, das seiner Liebe unwürdig war, verwundete ihn bis ins Mark. Die Gedichte „An die Wolke“, „Das todte Glück“, „Die Waldkapelle“ bezeugen das ganz besonders. – Der Tod seiner Großmutter, die ihrem schon 1822 gestorbenen Gatten Niembsch v. Strehlenau nachgefolgt war, brachte ihm ein mäßiges Vermögen: er konnte nun unabhängiger der Dichtkunst leben. Das erste Lied, das er bekanntmachte, „Die Jugendträume“, erschien 1828 in J. G. Seidl’s Aurora; der „Allegorische Traum“, „Glauben, Wissen, Handeln“, den er der Mutter noch mitgetheilt hatte, wurde zwei Jahre darauf durch Vermittlung seines edlen Freundes Anastasius Grün (Graf Anton Auersperg) der Oeffentlichkeit übergeben. Anregung fand der Dichter durch Männer wie Seidl, Bauernfeld, Grün, Hermannsthal (s. d. Art.) und andere, die sich in Neuner’s „silbernem Kaffeehause“ zum freien Gespräche zusammenfanden. Dem Drucke der Censur in Oesterreich, für die er im Leben wie im Gedichte die schärfsten Ausdrücke hatte, zu entgehen, sammelte L. seine Gedichte, um sie in Stuttgart drucken zu lassen. Ende Juni 1831 reiste er ab; der trauernden Therese versprach er: ich möchte die Erde nicht verlassen, ging es mir auch noch so schlecht, so lange du sie mir durch deine Liebe verschönst. Ueber Gmunden, wo er Schleifer besuchte und von wo er den Traunstein bestieg – seine Schilderung im Briefe an Schurz vom 9. Juli erinnert an Stellen in seinem „Faust“ – begab sich L. über Salzburg, München, Heidelberg nach Stuttgart. Hier lebte er zwei Monate des Herbstes bei G. Schwab; durch ihn kam er mit Uhland, K. Mayer, J. Kerner, Pfizer, Alexander von Württemberg zusammen. Die Tage in Stuttgart waren für ihn ein Freudenfest, wie er von Heidelberg am 1. December 1831 an K. Mayer schreibt. „Auch noch ein Sonnenblick der Liebe fiel in mein krankes Herz, in mein unheilbares“; vgl. das Gedicht „Ohne Wunsch“. Die Erinnerung an die Erlebnisse in Wien war es nicht allein, was L. abhielt, sein Glück beherzt zu fassen. Seine Zweifelsucht, die träumerische Bedenklichkeit ließen ihn zu keinem Entschluß kommen. In vielen Gedichten aber lebt die Liebe zu dem Stuttgarter Lottchen unsterblich fort: auch die schönen „Schilflieder“ sind ihr [244] gewidmet. – Um den Zerstreuungen zu entfliehen, hatte er sich nach Heidelberg begeben. Aber seine Seelenstimmung wurde von Tag zu Tag trüber. Damals vertiefte er sich in Spinoza’s Schriften. Sie gaben seinem Geiste nicht den Frieden wie einst dem jungen, unruhvollen Goethe. Ich mag nun, schreibt er an Mayer, wandern im Gebiete der Poesie oder der Philosophie, so stöbert und schnuppert mein Scharfsinn vor mir herum, ein unglückseliger Spürhund, und jagt mir richtig immer das melancholische Sumpfgeflügel der Welt aus seinem Verstecke. Damals dichtete er am Jahrestage der unglücklichen Polenrevolution das Gedicht „In der Schenke“, „Die Heidelberger Ruine“, einen Theil der „Marionetten“ u. a. Zu seiner unglücklichen Stimmung kam der Widerwillen gegen die politischen Zustände hinzu; wie so viele andere erfaßte auch ihn die Begeisterung für Amerika. Es ist gewiß aufrichtig gemeint, wenn L. in Briefen aus jener Zeit von seinem Aufenthalt in Amerika eine wunderbare Wirkung auf sein Gemüth sich verspricht. Aus dem Schlusse des Gedichtes „Der Maskenball“ klingt eine sehnsüchtige Begeisterung wieder. „Künstlerische Ausbildung ist mein höchster Lebenszweck’“ schrieb er dem abmahnenden Freunde. Trotzdem daß ihn bisweilen die Ahnung herber Enttäuschung beschlich – „mich regiert eine Art Gravitation nach dem Unglück“ – verließ er Deutschland in demselben Jahre, da Goethe starb. In demselben Sommer waren seine Gedichte, ein mäßiges Bändchen, bei Cotta erschienen. Am 1. August segelte er von Amsterdam ab. Die Seereise stimmte ihn erhaben: das sturmgepeitschte Meer empörte seinen Stolz, die ruhig hingegossene See erweckte tiefsinnige Gedanken; in der grenzenlosen Einsamkeit sang er, in Sehnsucht nach Menschen und Bergen der Heimath, ergreifende Lieder. Mitte October schreibt er von Baltimore den ersten Brief an Schurz. Nur zu bald folgte die Enttäuschung. Er lernte den „Urwald“, „das Blockhaus“, „die Indianer“ kennen, hörte das Rauschen des „Niagara“; das Land aber wie die Menschen mit ihrem „englischen Thalergelispel“ stießen ihn ab. (S. „das Blockhaus“, wo er Uhland preist.) Mit dem einseitigen Grimm des getäuschten Idealisten schreibt er von Amerika an Emilie Reinbeck als dem „wahren Lande des Unterganges“. Krankheit kam hinzu: er überließ seinen angekauften Grundbesitz einem übrigens ungetreuen Manne und kehrte heim. In Freiligrath’s Gedichtcyklus „Der ausgewanderte Dichter“ finden wir Züge von L. und seiner Reise wieder. Im Juni 1833 begrüßte er in Bremen den deutschen Boden; er war indeß ein berühmter Dichter geworden: der Name L. tönte von den Lippen zarter Frauen wie deutscher Männer und Jünglinge. In Schwaben begrüßten ihn die alten Freunde; im Herbste reiste er nach Oesterreich. Auch hier allgemeine Anerkennung, die ihn heiter und lebensfrischer machte. Neue Genossen gesellten sich zu ihm: musikalische Genüsse erhoben ihn, der Beethoven glühend verehrte, der selbst ein trefflicher Geiger war. Von jeder Berufspflicht frei, lebte er eifrigen und tiefen Studien. Allein ein unsteter Drang ließ ihn nie zur Ruhe kommen: Reisen zwischen Oesterreich und Schwaben wechselten in den folgenden Jahren ab. Zur Fahrt nach Stuttgart gaben die häufigen Auflagen seiner Gedichte den äußeren Anlaß; vom ersten Theil erschien 1834 die zweite, 1838 die dritte, 1840 die vierte Auflage. In Stuttgart fand er in der Familie Reinbeck die sorglichste Aufnahme; auf seinen Ausflügen sah er Uhland, Mayer, Schwab, Alex. von Württemberg. Lob und Ruhm machten ihn nicht eitel, er strebte sie zu verdienen. Nie ruhten in ihm heftige Gemüthsbewegungen, nie das Gefühl der Verpflichtung, den höchsten Fragen des Lebens nachzusinnen. Im J. 1836 erschien sein „Faust“, den er 1833 zu Wien in der Wohnung seines Schwagers Schurz begonnen hatte; einzelne Scenen waren in dem von ihm herausgegebenen Frühlingsalmanach für 1835 schon bekannt geworden. Seine eigene Persönlichkeit, seine Erlebnisse, sein Seelenleiden treten uns aus dem [245] dramatisch-epischen Gedichte ergreifend entgegen. Selten hat wol ein Dichter in einem Werke sein innerstes Wesen so unvermittelt, freilich auch mit allen Schlacken des Zufälligen, dargelegt wie L.: das ist, wie mir scheint, zugleich die Stärke wie die Schwäche des Gedichts. – Das tiefe Bedürfniß seiner Natur, in religiösen Fragen zur Klarheit zu gelangen, seine inneren Kämpfe spiegeln sich in dem 1837 erschienenen „Savonarola“. Mit wahrer Dichtergluth hat er den spröden Stoff zu schmeidigen gewußt. Ein vorübergehender Seelenfrieden ward ihm zu Theil bei der hinreißenden Darstellung inniger Glaubensseligkeit, welche in dem irdischen Gewühle an den göttlichen Mittler sich anklammert, da er sich überzeugt glaubte, Christenthum und Freiheit seien unzertrennlich: „Despoten! Christenthum ist Liebe, ganz lieben kann der Freie nur.“ Ich kann Anastasius Grün nicht beistimmen, daß L. für die Verherrlichung des Heidenthums kräftigere Farben gehabt habe als für Savonarola’s Strafreden gegen dasselbe. – Aber Lenau’s Wahrheitssinn, sein Forschergeist, sein eindringender Verstand konnten sich nicht mit dem Ausruhen in mystischen Vorstellungen dauernd befriedigt fühlen. Schon im J. 1838 schreibt er an Johannes Martensen, der auf ihn einen bedeutenden Einfluß ausgeübt und dem L. seinen Savonarola gewidmet hatte, die in dem Gedichte ausgesprochene Weltansicht habe ihn noch nicht genug gehoben und gestählt; „ich fühle mich manchmal unglücklich, und in Stunden düsteren Affectes ist mir die Sache Gottes selbst als eine unsichere, ja fast als eine res derelicta erschienen, quae patet diabolo occupanti“. Nur kurzsichtige Parteisucht – L. selbst nannte es in einem Briefe an H. Marggraff in Berlin gehässiges Unrecht – konnte den Dichter des Abfalles verdächtigen, der in seiner Gedankenarbeit immer von selbständigster Haltung war. Was anderen nur die Haut ritzte, das bohrte sich ihm tief ins Innerste. Die 1838 erschienenen „neueren Gedichte“ bezeugten es. – In gewisser Hinsicht ein Verhängniß für L. war die Liebe zu der jungen Frau eines Freundes, Sophie geb. Kleyle, die er in Wien bald nach der Heimkehr, Ende des Jahres 1833, kennen gelernt hatte. Sie hatte ihn und sein Wesen wie Niemand verstanden, (siehe Gedicht „Zueignung“); sie hing mit aller Leidenschaft an ihm: daß er diese bedeutende Frau nie besitzen durfte, konnte er seinem Schicksal nie verzeihen, wie er in dem herrlichen Liede „Ach, wärst du mein“ beklagte. An eine Verbindung mit der Sängerin Karoline Unger dachte er nur vorübergehend. Seine ganze Kraft wendete er einer neuen Dichtung zu. In den „Albigensern“ (1842), die L., für die Form wie den Inhalt bezeichnend, „Freie Dichtungen“ nannte, vertritt er in der Darstellung des Kampfes der Ketzer gegen Innocenz III. die Rechte des freien Geistes gegen Unterdrückung aller Art. „Der Stoff spielt mir in alle Regionen meines Herzens hinein“, schreibt er schon im September 1838 an Emilie Reinbeck; er hofft, daß „Gott auf diese Arbeit mit holdem Auge herab sieht“.
Lenau: Nicolaus L., eigentlich Niembsch von Strehlenau; wurde geboren zu Csatad unweit Temesvar in Ungarn am 13. August 1802. Der Vater Franz, der kurze Zeit dem Soldatenstande angehört hatte, war Beamter der dortigen k. Cameralherrschaft; sein Hang zu wüster Ungebundenheit, zu leichtsinnigem Wohlleben, seine Spielwuth machten der Gattin, Therese Maigraber, Tochter einer wohlhabenden Ofener Bürgerfamilie, die trübsten Tage. Ihr leicht erregbarer Sinn hatte sich auf den Sohn vererbt. Lenau’s Vater starb in Ofen, wohin er sich nach Aufgabe seines Amtes begeben hatte, noch nicht 30 Jahre alt, 1807. Die Mutter wies das Anerbieten der Eltern des Gatten, nach Brünn zu ziehen, ab und blieb in Ofen, in bescheidenen Verhältnissen sich ihren Kindern mit zärtlichster Sorgfalt widmend: Niki war der verzogene Liebling. Die religiös gestimmte Frau, die reich und phantasievoll in jungen Jahren so Schweres durchgekostet hatte, wirkte tief auf die Seele des Knaben, der die Gebräuche der katholischen Kirche verehrte, dem damals ein Gebet brünstiger Genuß war. Nachdem die Mutter sich 1811 mit einem Arzte, Dr. Vogel, wieder vermählt hatte, siedelte die Familie fünf Jahre später nach dem rebengesegneten Tokai über. Dort verlebte L. die glücklichsten Tage seines Lebens. Ein junger Gelehrter, v. Kövesdy, der die ältere Schwester Therese verehrte, unterrichtete ihn; „ich weiß es“, so schrieb L. der Mutter kurz vor seines Lehrers Tode, „ihm allein Dank, daß ich mein ganzes Sein unbefleckt erhalten.“ Das Jahr 1817 brachte er mit der Mutter in Ofen zu, wo diese nahe der Stadt in einer zum Wohnhause umgestalteten Kapelle wohnte; im folgenden Jahre kam er zu den Großeltern nach Stockerau bei Wien und besuchte seit Herbst 1819 in Wien philosophische Vorlesungen. Die Mutter hatte ihn nur nothgedrungen ziehen lassen, die Briefe zeigen ihre grenzenlose Sehnsucht, auch ihre Neigung zu Mißtrauen. „Wie tief kränkt es mich, daß es meinen Kindern gleichsam zur Bedingniß gemacht wird, ihre Mutter zu verlassen, um einst reich zu werden.“ So schreibt sie aus Preßburg, wohin sie mit dem Gatten gezogen, um ihren Kindern nahe zu sein. Ihre Liebe vergalt L. mit Verehrung und seltener Treue. „So lange Sie leben, bin ich froh“ (Brief vom 13. November 1820). Auch den Stiefvater und die Stiefgeschwister wieder zu sehen, ist ihm ein Fest: im Herbste 1821 hatte er die philosophischen Studien, was damals in Oesterreich so hieß, durch einige PrüfungenDie Freunde in Schwaben, wenigstens Schwab, Kerner, wie auch den genannten J. Martensen in Kopenhagen, welche den Savonarola nicht genug bewundern konnten, stieß diese Dichtung eher ab. Die Lebensansicht des Dichters, schrieb Martensen nach Lenau’s Tode an Schurz, war eine entgegengesetzte geworden, er suchte die Wahrheit auf einem Wege, welcher mit dem der Negativität große Verwandtschaft hat. – Je mehr L. mit der Welt und mit sich im Streite lag, desto sehnlicher wurde der Wunsch in ihm rege, ein Wesen ganz sein nennen zu dürfen. Gerade in der Zeit, da er, ohne Furcht vor dem kühnen Genius Lord Byrons, mit der Arbeit an seinem „Don Juan“ beschäftigt war, lernte er im Sommer 1844 in Baden-Baden ein sanftes, anmuthiges Mädchen, Marie Behrend aus Frankfurt, kennen, die seine Liebe aufs innigste erwiederte. In ein Exemplar seiner Gedichte schrieb er ihr: „mich ließ ein flüchtig Lächeln des [246] Geschickes, wie bis ins Herz du schön, erkennen.“ Berthold Auerbach, der in jener Zeit mit L. verkehrte, erzählt von Stunden heiteren Ernstes und leichten Frohmuthes. In einer Sommernacht besprach L. den „Don Juan“; die Eintönigkeit oder doch die geringe Empfindungsscala in dem Gedichte habe sich immer mehr herausgestellt, den Abschluß – Don Juan wirft den Degen weg und läßt sich von Pedro erstechen – habe L. nicht für den endgiltigen gehalten, sondern auf einen neuen gesonnen. Das Fragment hat A. Grün, den L. mit der Herausgabe ausdrücklich betraut hat, in Lenau’s „dichterischem Nachlasse“ (1851) bekannt gemacht.
Nur ganz kurze Zeit genoß L. sein Liebesglück ungetrübt. Die Schatten der Vergangenheit lagerten sich um ihn, die Sorge wegen der Zukunft trat ihm nahe, der den Anforderungen des Lebens immer ausgewichen war. Nachdem er Ende Juli mit der Cotta’schen Buchhandlung einen Vertrag gemacht hatte, wonach der Verlag aller seiner bisher erschienenen Schriften dieser gegen eine Pauschalsumme überlassen ward, begab er sich Anfangs August nach Wien; seine Freunde fanden ihn in einer überreizten Stimmung: Gemüthserschütterungen der qualvollsten Art, die ihm durch Erklärung gegen seine Freundin Sophie nicht erspart wurden, bedrohten bei seinem bedenklichen Gesundheitszustande sein Leben. Das Lied „Blick in den Strom“ gibt ein rührendes Zeugniß von dem Zwiespalt in seiner Brust. Er dichtete es Mitte September, da er von Wien die Donau hinauffuhr. Nach einem Unfall des Schiffes in der Nähe von Linz fuhr L., der bei der Flottmachung des Schiffes mitgearbeitet und sich eine heftige Erkältung zugezogen, über München nach Stuttgart. Auf der Fahrt entstand das ergreifende Sonett „Eitel nichts“, sein letztes Gedicht. Nur zu bald zersprang der Krug am Brunnenstein. Bei Reinbecks am 29. September, als das Bewußtsein seiner Lage mit allen Schrecken auf ihn einstürmte, traf ihn ein Nervenschlag, der die linke Gesichtsseite lähmte. Wie ein müdgehetzter Hirsch kam er sich in jenen Unglückstagen selbst vor. „Wohl jenen, die vom sicheren Schusse fielen! Ihm krallte sich der Nachtmahr in die Weichen“ (Paul Heyse auf Lenau). Mitte October befiel ihn Tobsucht; darauf umnachtete ihn der Wahnsinn. Bei dieser Kunde ergriff die Besten in Deutschland der aufrichtigste Schmerz. In der Heilanstalt zu Winnenthal, wohin er Ende October gebracht wurde, blieb der Kranke 21/2 Jahre; am 16. Mai 1847 betrat er die Heimath wieder und wurde in die Irrenanstalt des Dr. Görgen zu Oberdöbling gebracht. Erst am 22. August 1850 erlöste ihn der Tod. Zu Weidling, einer lieblichen Ortschaft bei Klosterneuburg unweit Wiens ruhen seine sterblichen Reste. In den Wäldern in der Nähe Weidlings, wo seine Schwester damals wohnte, hatte L., nachdem er die „Albigenser“ gedichtet, seine tiefen „Waldlieder“ gesungen. –
Eines so eigenartigen Dichters Wesenheit ganz aufzudecken, wer will es sich unterfangen? L. hatte Spinoza viel studirt; im „Waldgespräch“, einer in seinen „Faust“ 1840 eingeschobenen Scene, nennt er ihn den weisen Schreiber nie vergessener Schriften. Von seinem Geiste hat er nicht wie Goethe in entscheidender Lebenszeit Selbstbeschränkung und Selbstüberwindung gelernt. Kühn, folgerecht und ohne Schonung gegen sich selbst in der Verfolgung seiner Gedanken, ist er ohne Willenskraft eigenster Lebensführung gewesen. Den Kampf mit dem Dasein nahm er nicht auf; sich allen Gewalten zum Trotz zu erhalten war ihm versagt. Vererbung und Erziehung, eine vorwiegend weibliche, kommen in Betracht: die angeborene Weichheit, reizbare Fühlbarkeit und einsame Verschlossenheit wurden durch die begeisterte Hingebung und das Schwelgen in der Musik nur gefördert. Mit Schmerzen früh vertraut, in tiefsinniger Grübelei den Stimmen seines Inneren lauschend, war er der Gewalt der Außenwelt gegenüber zu wehrlos. Der beständigen Gedanken- und Gemüthsarbeit fehlte ein Gegengewicht; für ihn [247] war es unheilvoll, daß keine Pflicht ihn nöthigte, der Wirklichkeit mit Verständniß näher zu treten. Er floh sie immer, bis sie zuletzt ihn erdrückend überfiel. Ein tief ernster Mensch hat L. die trüben Eindrücke der Jugend, die Krankheit und den Tod der geliebten Mutter, eigene und fremde Verschuldung nie verwinden können. Nicht wie Goethe wurde er über die quälenden Erinnerungen dadurch Herr, daß er im Gedichte sich von ihnen befreite: ihn beherrschte vielmehr die Vergangenheit. Jener Tropfen holden Leichtsinnes, der das Leben allein erträglich macht, fehlte seinem Geblüte ganz. Untreue schien es ihm schon, einen Schmerz auch nur vorübergehend zu vergessen, sich in ihn nicht rückhaltlos hineinzubohren. So ruht seine Schwermuth auf edlem Grunde: sie ist nie kleinlich, sie ist frei von gemeiner Empfindelei; sich mit dem Unendlichen vergleichend, erkennt L. die Kleinheit des Individuums, das Menschenloos erscheint ihm tief traurig, es empört und demüthigt ihn, daß wir, mit dem griechischen Tragiker zu sprechen, Scheinbilder, nur leere Schatten sind. Jenes Wort aus Goethe’s Tasso paßt auf ihn: Mit breiten Flügeln schwebte das Bild des Todes ihm vor den Augen, deckte ihm die Aussicht in die immer neue Welt; die heiteren Farben des Lebens sah er nicht. In der Natur fand er nicht Tröstung und Beruhigung, wie der doch viel herbere Lord Byron, welcher, stark angewöhnt das Schwerste zu tragen, mehr mit den Einrichtungen dieser Welt, mit der menschlichen Gesellschaft grollt als mit dem Himmel oder dem Schicksal. Vielmehr erscheint die Natur, deren Gestalten und Aeußerungen L. so scharf aufzufassen vermag, selbst im Grunde erlösungsbedürftig. Die Alpen, der Ocean gaben ihm erhabene, aber zugleich die trübsinnigsten Bilder und Anschauungen. Darin unterschied sich L. so sehr von Byron, mit dem man ihn verglichen und mit dem er als Dichter manche Aehnlichkeit in Einzelheiten hat, daß ihm die sarkastische Stimmung des Britten als dauernder Gemüthszustand, wenn auch durchaus nicht vorübergehend, ferne lag, die Stimmung, welche mit der überirdischen Sehnsucht fest abgeschlossen hat. Kein Wunder, daß er dem klassischen Alterthum ziemlich kalt gegenüber stand. In der Sorgsamkeit und der Strenge der Form mag L. von den Alten gelernt haben, in einzelnen Jugendgedichten ist der Einfluß des Horaz, mehr durch Klopstock und besonders Hölty vermittelt, erkennbar; aber da, wo der eigenthümliche Geist der Antike, nicht eine einzelne Aeußerung, ihm entgegen trat, hat L. keine innere Berührung und Verwandtschaft. Denn sie hat für seine Klagen nichts mit ihrer Kunst und Weisheit; sie kann, wie sein Savonarola sagt, über alle Leichen und alle Schrecken der Natur nicht die Brücke schlagen, sie verschleiert nur die Wunde, die durch das Herz der Menschheit brennt; ihren höchsten Zauber erkennt er darin, daß sie am Schmerz, den sie zu trösten nicht gewußt, milde vorüberführt. – Dem katholischen Christenthum hing L. in seiner Kindheit aufs innigste an. Spätere Zweifelsucht und Loslösung von der Mystik, die er, mit der Dichtung der Albigenser beschäftigt, für eine Krankheit hielt und Schwindel schalt, konnten ihn trotz aller Abwendung vom confessionellen Kirchenthum und trotz allen Aeußerungen, die nur scheinbar das Gegentheil bezeugen, niemals ganz dem Kreuze untreu werden lassen. Sein schwäbischer Freund Kerner, um von Schwab zu schweigen, ging mit dem Opium krankhafter Mystik so vorsichtig um, daß er die kleinen Portionen bis ins Greisenalter gut verdauen konnte; L. hatte nur vorübergehend davon gekostet und sich dann entschieden abgekehrt. Aber den Zwiespalt zwischen Natur und Geist hat er nie ausgleichen können, wiewol ihn nach eigenem Bekenntniß sein Herz zur Natur drängte, um in innigem Verkehr mit ihr Befriedigung zu suchen. Und vergebens wie sein Faust strebte er später aus „Christus und Natur die Seele herauszuschälen“ und sich selbst genug sein „starres Ich“ zu behaupten. – Sein Wort ist mir von Bedeutung, daß er zu einem Freunde, L. A. Frankl, ausgesprochen [248] hat: „Seit Spee’s ‚Trutznachtigall‘ hat die Natursymbolik keiner wieder aufgegriffen, bis ich.“ Der Einfluß Spee’s auf ihn ist nicht ohne Wirkung geblieben. Dieser war wie L. ein ächter Dichter, von milder Gesinnung, im Kampfe gegen die Hexenprocesse ein wackerer Streiter der Menschheit. L. hat nichts von der spielenden Art Spee’s, aber bei aller Verschiedenheit welche Aehnlichkeit! Spee personificirt die Natur wie L. Seine Gottesliebe nennt Gervinus eine Leidenschaft und hebt die brünstige Stimmung hervor, in welcher Spee der schnöden Welt ein stetes Ade sagt, allen Scherz als Qual ansieht. Und Wilhelm Scherer von seinen Gedichten: „Weltverachtung und Naturschwelgerei, Todessehnsucht und Thränenströme, … plastische Personificationen und zerfließende Schwärmerei schlingen sich durcheinander.“ Wie Vieles davon trifft bei L. zu!
Und doch hat er eine nachhaltige Wirkung auf die Zeitgenossen ausgeübt, auf die jüngeren Dichter der dreißiger und vierziger Jahre dieses Jahrhunderts; ich erinnere nur an Karl Beck, Moritz Hartmann, Alfred Meißner, Gottfried Keller (s. dessen Gedichte 1846 „An Lenau“ S. 299). L. litt und kämpfte mit ihnen und fand für ihre Gefühle das kühne Schlagwort, weil das Ringen der Zeit nach Freiheit in Kirche und Staat mit seinem innersten Bedürfnisse zusammentraf. L. ist ein durchaus moderner Dichter; seine Sehnsucht nach Amerika war keine bloße Grille. In selbständiger Wahrheitsliebe lehnte er sich an keine überkommene Anschauung aus bloßer Bequemlichkeit. Die Romantik hatte sich überlebt; Goethe war gestorben. L., der Freiheit und Christenthum, wie er es auffaßte, für nothwendig zusammengehörig ansah, der durch die Religion zur Freiheit gelangen wollte, stand im bewußten Gegensatze zu Goethe, dem er künstlerischen Indifferentismus vorwarf. Nicht um den religiös sittlichen Wahrheitsgehalt, so meinte er, sondern um die schöne Form bekümmere sich dieser; während der wahre Dichter, wie die wahren Propheten, dem unwahren zeitlichen Bewußtsein der Menschen ein Ewigkeitsbewußtsein entgegensetzen, und richtende und freimachende Worte in seine Zeit hineinsprechen müsse. Und in seinem Briefe an Martensen, in dem er bekennt, durch die in seinem „Savonarola“ ausgesprochene Weltanschauung nicht genug befriedigt zu sein, schreibt er dennoch, sein Gedicht habe den Geruchlosen (s. Savonarola, „Der Tod Lorenzo’s“) und Ruchlosen nicht gefallen. „Noch sitzen Spinoza und Goethe in ihren Buden und beherrschen den Markt der Litteratur.“ – Den Erkenntnißtrieb sah L. wie sein Faust – im charakteristischen Gegensatz zu Goethe – für unheilvoll an. Aber das Recht der Forschung, des Zweifels ließ er sich nicht nehmen. Seine Erbitterung gegen die damaligen Gewalthaber in Staat und Kirche hat ihren Ursprung in der Ueberzeugung, daß jene die Gedankenfreiheit knechten wollten. Der Held der „Albigenser“, so schreibt er selbst, ist der Zweifel, der von Innocenz blutig gejagte und in Ketten geschlagene, den aber das Klirren seiner Ketten und deren harter Druck nicht einschlafen ließen. Mit religiöser Innigkeit bewahrt sich L. auch in diesem Gedicht, in welchem seine fortgeschrittene Denkart hervortritt, den Glauben an die Menschheit. Nicht rhetorisch, wie die meisten Dichter jener Zeit, aber gewiß nicht mit weniger Kraft und Gluth veranschaulicht er, daß sich der „Sonnenaufgang nicht verhängen läßt mit Purpurmänteln oder dunkeln Kutten“. Zur vollen Reife aber, zur inneren Festigkeit und Harmonie, so daß er seine unruhig suchenden Zeitgenossen überragt hätte, ist L. nicht gelangt. Seine Kunst ehrte er hoch, die Dichtung war ihm alles. „Ich möchte mich selber ans Kreuz schlagen, wenn’s nur ein gutes Gedicht gibt“, schreibt er einmal mit Anspielung auf ein Gedicht Chamisso’s. Doch auch seine Dichtung beglückte ihn nicht. Denn was wissen wir vom Leben? „’S ist eitel nichts, wohin mein Aug’ ich hefte!“
Einige Lieder Lenau’s sind von überraschender Schönheit und Tiefe; aber bei aller Anerkennung des wahren und warmen Gefühls, bei aller Bewunderung [249] glänzenden Einzelheiten vermißt man nicht blos an den größeren Dichtungen Geschlossenheit, Abrundung, Ganzheit. Jene Erhebung und Befreiung des Gemüths wird nicht oft zu theil, welche uns über die peinliche Erinnerung an menschliche Bedürftigkeit kraftvoll hinaushebt. L. hatte wenig von der künstlerischen Herrschermacht, die wir an Goethe bewundern, der schon in früher Jugend im „Werther“ die eigensten Erlebnisse, die quälendsten Gefühle von allem Gelegentlichen, allem Zufälligen und Willkürlichen zu befreien und zu läutern wußte. Der Ernst aber und die Geradheit Lenau’s, sein männlicher Denkmuth bei aller kindlichen Weichheit, seine liebevolle Persönlichkeit, der edle Menschensinn haben auf die Zeitgenossen gewirkt, und Spätere werden dafür nicht unempfänglich sein. – Neben Heinrich Heine bleibt L. nach Goethe’s Tod die eigenartigste Erscheinung in unserer Lyrik. Auch der Genuß, den Heine’s Gedichte gewähren, ist kein ungetrübter, aus ganz anderer Ursache; aber wer möchte L., wer möchte Heine in unserer Dichtung leichten Herzens missen? wer die Lücke nicht beklagen? Wiegen sie doch eine ganze Reihe von vielgenannten und commentirten Dichtern auf.
- Lenau’s gesammelte Werke erschienen 1855 bei Cotta, herausgegeben von A. Grün mit einer Biographie von demselben. Wiederholte Auflagen; die neueste illustrirte von 1881 enthält Bildnisse des Dichters von Rahl, Kriehuber, Aigner. Die Anordnung blieb im Wesentlichen dieselbe; neu ein Nachtrag zur „Lyrischen Nachlese“ und einige Zusätze zum Text. – Lenau’s Leben, „großentheils aus des Dichters eigenen Briefen“ von X. Anton Schurz, 1855. – L.’s Briefe an einen Freund, herausgeg. von K. Mayer, 1853. – E. Niendorf, L. in Schwaben, 1853. – Zu L.’s Biographie von L. A. Frankl, 1854. – Lenau. Erinnerung und Betrachtung. Vortrag von Berthold Auerbach, 1876. Wien. – Constant. v. Wurzbach im biogr. Lexicon des Kaiserth. Oesterreich 20, 324 f., 1869; mit Angaben über die zahlreichen Schriften, welche Einzelheiten aus L.’s Leben behandeln. – Jüngst (1882) erschien eine neue Ausgabe seiner Werke mit Einleitungen u. s. w. Leipzig, Bibliogr. Institut.