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ADB:Thorbecke, Andreas Heinrich

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Artikel „Thorbecke, Andreas Heinrich“ von Adalbert Merx in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 38 (1894), S. 115–117, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Thorbecke,_Andreas_Heinrich&oldid=- (Version vom 3. Dezember 2024, 17:58 Uhr UTC)
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Thorbecke: Andreas Heinrich Th., einer der bedeutendsten unter den Forschern und Kennern auf dem Gebiete der arabischen Litteratur, welche in unserem Jahrhundert sich ausgezeichnet haben, kann erst jetzt in seiner ganzen Bedeutung gewürdigt werden, nachdem durch die Katalogisirung seines Nachlasses durch Müller und Socin, welche in der Zeitschrift der deutschen morgenländischen Gesellschaft 1891 (XLV, P. 465) veröffentlicht ist, eine Einsicht in die Art und Ausdehnung seiner Arbeiten eröffnet ist. Denn leider ist es ihm nicht vergönnt gewesen, das Werk seines Lebens zum Abschlusse zu bringen, und seine Wittwe hat, um seine Arbeit nicht verloren gehen zu lassen, den richtigen Ausweg ergriffen, sie der deutschen morgenländischen Gesellschaft zu übergeben, welche Thorbecke’s Sammlungen unter gewissen nothwendigen Vorsichtsmaßregeln der Benutzung aller Arabisten zur Disposition stellt, die sich dabei allerdings zu verpflichten haben, die Art und das Maaß der Benutzung genau anzugeben. Th. ist zu seinen wissenschaftlichen Reichthümern nur durch eine von Anfang an zielbewußt gelenkte Thätigkeit gekommen, die durch eine bei uns ungewöhnliche Lebensentwickllmg bedingt war, so daß in seinem scheinbar so einfachen Lebenslaufe die Momente erkannt werden müssen, die ihn in eigenthümlicher Weise beeinflußt und befähigt haben.

Th. wurde am 14. März 1837 in Meiningen geboren, wo sein Vater, dessen Eltern von Holland nach Deutschland zurückgekehrt waren, eine Tabaksfabrik gegründet hatte. Im J. 1843 kehrte dieser nach Mannheim in das schon von seinem Vater betriebene Geschäft zurück; hier erhielt der Knabe in der Volksschule und im Lyceum seinen ersten Unterricht. Der vorzeitige Tod des Vaters (18. November 1846) versetzte die mit sechs unmündigen Kindern zurückbleibende Wittwe, Amalie geb. Ausfeld, in eine schwierige Lage, durch die sie sich veranlaßt sah, ihre vier Söhne der Salzmann’schen Erziehungsanstalt Schnepfenthal zu übergeben, mit deren Leitern (Karl Salzmann und seit 1848 Wilh. Ausfeld) sie in verwandtschaftlicher und freundschaftlicher Beziehung stand. Hier entwickelte sich Th. sehr rasch und glücklich bis 1851, wo er wieder in das Mannheimer Lyceum eintrat. Ein besonders hervorragender an dieser Schule thätiger Gelehrter, Ebner, unterwies ihn schon auf der Schule in den Anfangsgründen des Arabischen und las mit ihm Hebräisch. Als er 1854 die Universität bezog, durfte er indessen aus praktischen Gründen seiner Neigung für die orientalischen Sprachen nicht folgen, sondern mußte classische Philologie studiren. So wurde er in Erlangen Schüler Döderlein’s und Nägelsbach’s, später 1855 in Göttingen K. Fr. Hermann’s und Schneidewin’s in so ausschließender Weise, daß er selbst H. Ewald in Göttingen nicht gehört hat. Der fast gleichzeitige Tod der beiden großen Philologen, zu deren Gedächtniß das Seminar Usener’s Quaest. Anaximeneae herausgab, wobei Th. mit unterzeichnete, veranlaßte ihn Göttingen mit Berlin zu vertauschen, wo er von Ostern 1856–57 sich an Böckh, Ritter und Gerhardt anschloß. Nachdem er dann noch den Sommer in Jena und das ganze folgende Jahr in Heidelberg studirt hatte, bestand er im Herbste 1858 das philologische Staatsexamen in Karlsruhe und erwarb im Frühling 1859 die philosophische Doctorwürde in Heidelberg. In diesem vollkommenen Abschluß des Studiums der classischen Philologie, in der er methodisch und kritisch ausreifte, bevor er zu den morgenländischen Studien überging, wird man den eigentlichen Grund seiner späteren Tüchtigkeit erblicken müssen, da er nun nicht mehr hin und her tastend, sondern mit philologisch klaren Zielen an den neuen [116] Gegenstand treten konnte, zu dem man in jener Zeit meist von theologischen Vorstudien aus gelangte, wobei das Arabische sich nicht sofort als Mittelpunkt zur Hauptsache machen läßt.

Zunächst begab sich Th. nach einer kurzen Hauslehrerepisode in Hamburg 1860 zu M. J. Müller nach München, doch mußte er hier seine Studien noch öfter aus praktischen Rücksichten unterbrechen, sodann brachte er 1864–66 bei Fleischer in Leipzig zu, wo seine Richtung ihren eigentlichen Stempel erhielt. Erst nach einer Frist von zwei Jahren habilitirte er sich dann in der philosophischen Facultät in Heidelberg, so daß zwischen seinem philologischen Staatsexamen und seiner Habilitirung ein volles Jahrzehnt vergangen ist. Auch dies ist ein im deutschen Gelehrtenleben seltener Umstand, er begann die Laufbahn mit einunddreißig Jahren, und zwar sofort mit der ausgesprochenen Richtung auf die historische Erforschung des Arabischen, von der Sprache der alten Dichter an bis zu den heutigen Vulgärdialekten, von denen er dann wieder reiches Licht für die vergleichende Betrachtung der übrigen semitischen Dialekte ausgehen lassen wollte. So concentrirte er seine Arbeit einerseits auf die alten Dichter und auf diejenigen neueren, in denen das Araberthum noch ziemlich unverfälscht zum Ausdruck gekommen ist, andrerseits auf das Vulgärarabische, und dehnte auf diesen Gebieten seine Lectüre und seine Sammlungen in einer Weise aus, die ihres gleichen nicht hatte und die sich nicht auf gedruckte Texte beschränkte, sondern wobei er aus zahlreichen von ihm selbst abgeschriebenen und collationirten Handschriften seinen Stoff entnahm. Das Müller-Socin’sche Verzeichniß zählt allein für die alte Poesie 81 Nummern von durchgearbeiteten Sammlungen – unter denen z. B. das Kitâb el agâni allein 21 Bände füllt – und einzelnen Dichtern auf, darunter eine Sammlung von Redschezversen (etwa Alexandrinern zu vergleichen), die auf etwa 5000 Zetteln eingetragen ist. Bei dieser philologischen Behandlung der alten Poesie mußte sich ganz von selbst eine lexikalische Sammlung entwickeln, aber Th. hat diese nicht gelegentlich, sondern mit systematischer Consequenz hergestellt, so daß seine lexikalischen Materialien auf einer so umfassenden Lectüre beruhen, daß sich nicht leicht ein anderer gleich ausgedehnter Studien wird rühmen können. Hier Einzelnheiten anzuführen würde für Nichtorientalisten zwecklos sein, um ihnen eine Vorstellung von der Ausdehnung dieser Arbeit zu geben, genügt es zu bemerken, daß die Quellenverweisungen der lexikalischen Notizen sich auf 136 arabische und 155 abendländische Schriftsteller beziehen. Diese Nachweisungen sind einerseits in seinem Handexemplare von Freytag’s arabischem Lexikon, andrerseits auf etwa 100 000 Zetteln eingetragen, beides zusammen bildet eine untheilbare Einheit, über die Art indessen, wie diese in der Bibliothek der deutschen morgenländischen Gesellschaft aufbewahrten Schätze nutzbar gemacht werden können, ist eine bestimmte Ansicht noch nicht geäußert.

Die Muße, diese ungeheure Arbeit zu bewältigen, bot ihm das von ihm über Alles geliebte Heidelberg, wo er im Januar 1873 zum Extraordinarius ernannt wurde, wo aber seine Lehrkraft nur wenig in Anspruch genommen war. Seit dem 4. Januar 1869 mit Emma Bassermann vermählt führte er hier ein glückliches Forscherleben, dem es allerdings auch an den unvermeidlichen Bitternissen des akademischen Lebens nicht gefehlt hat, sofern trotz seiner großen Gelehrsamkeit die Vorschläge ihn nach Tübingen, München, Breslau, Wien zu berufen, sämmtlich nicht zur Ausführung kamen. Hier entstand denn nach seiner Habilitationsschrift „Antarah ein vorislamischer Dichter“, in der er das Leben und die Dichtungen dieses Beduinen von Anfang an bis zur Entstehung des Antarahromans an der Hand aller Ueberlieferungen verfolgt, seine hochgelehrte Ausgabe von Hariri’s Durrat al ġawwâṣ (Taucherperle), Leipzig 1871, einer [117] Schrift, welche die sprachlichen Irrthümer der Gebildeten geißelt. Ihr folgte die Ausgabe von Ibn Duraid’s Kitâb al malâḥin, einer Sammlung doppelsinniger Redensarten, vermittels deren man beim Schwure täuschen kann (Festschrift für die Philologenversammlung in Karlsruhe. Heidelberg 1882). Ebenfalls in Heidelberg entstand die Ausgabe des Theiles von Tabari’s bei Brill in Leiden erschienenen Großen Chronik, welchen Th. übernommen hatte, nämlich die Geschichte der Jahre 40–65 der Hidschra, d. i. der Anfang der zweiten Abtheilung des Werkes.

Das Jahr 1885 brachte Th. endlich eine Berufung nach Halle, zuerst noch als Extraordinarius, doch trat er am 9. November 1887 in die ordentliche Professur ein. In dieser Zeit erschien seine Ausgabe von Miḫâ’îl Sabbâg’s „Grammatik der arabischen Umgangssprache in Syrien und Aegypten“ (Straßburg 1886), dem ältesten Versuch, das moderne Arabisch grammatisch zu beschreiben, den der 1816 in Paris verstorbene Syrer Sabbag verfaßt hatte, und der bis dahin ungedruckt in der Münchener Bibliothek lag. Noch in Heidelberg hatte er auch die schwierigste seiner Arbeiten, die Ausgabe der alten Gedichtsammlung der Mufaḍḍalijât begonnen, deren erstes und einziges Heft 1885 erschien, deren Fortsetzung aber der Tod ein Ende bereitet hat. Neben diesen Werken schrieb er noch viele eingehende Recensionen über neu erschienene Werke der arabischen Litteratur, die in der Zeitschrift der deutschen morgenländischen Gesellschaft abgedruckt sind, hier aber nicht einzeln verzeichnet werden können. Im Herbst 1889 wurde er nach Heidelberg zurückgerufen, aber ehe er die Professur übernehmen konnte, setzte der Tod seinem arbeitsreichen Leben am 3. Januar 1890 ein Ziel, während er bei seinen Geschwistern in Mannheim die Weihnachtsferien zubrachte. Ein stilles Gelehrtenleben, das nur im engen Kreise der eingeweihten Mitarbeiter richtig gewerthet, äußern Erfolg und Anerkennung wenig gefunden hat, war abgerissen, Deutschland hatte einen seiner bedeutendsten Orientalisten, seine Freunde einen ihnen werthen und liebenswürdigen Charakter verloren.