ADB:Wagenmann, Julius August
Dorner, welcher damals in Göttingen wirkte, erhielt W. 1861 einen Ruf als ordentlicher Professor an die Georg-Augustsuniversität, welcher er bis an seinen Tod angehörte. Seine Vorlesungen erstreckten sich auf das ganze Gebiet der Kirchen- und Dogmengeschichte; öfter las er auch über das Leben Jesu und regelmäßig außerdem über die niedersächsische Kirchengeschichte, besonders über die von Hannover und Braunschweig. Er starb auf einer Ferienreise in seinem Heimathlande, welches er fast alljährlich aufzusuchen pflegte, am 27. August 1890 zu Tübingen, wo er auch begraben wurde. Die theologischen akademischen Würden waren ihm von Tübingen (Lic. theol. 20. März 1861) und von Göttingen (D. theol. hon. causa 8. November 1862) zu theil geworden, und 1878 hatte er dazu den Charakter als preußischer Consistorialrath erhalten. Sein amtliches Wirken war ein rein gelehrtes; von allem Eingreifen in das kirchliche Parteitreiben seiner Zeit hielt er sich fern; den dogmatischen Charakter der württembergischen Landeskirche spiegelte er in seiner Person wieder, am meisten verwandt mit dem gleichartigen Dorner, nur nicht dessen speculativen Gedankengängen hingegeben, sondern stets den historischen Realitäten der Kirchengeschichte zugewandt. Seiner ganzen Geistesart nach war er eine sammelnde und aufnehmende Natur; es war ihm Bedürfniß, zunächst möglichst viel Kenntnisse zu erwerben; er las ungemein viel und, da er sich eines ausgezeichneten Gedächtnisses erfreute, so verfügte er über ein historisches Wissen, wie es selten angetroffen wird: Personen und Thatsachen, Zahlen und Daten, Büchertitel und Editionen, der ganze Apparat kirchenhistorischer Gelehrsamkeit war ihm in staunenerregender Vollständigkeit gegenwärtig; er glich einer wandelnden Realencyklopädie der Theologie. Ueber dieser seiner receptiven Thätigkeit ist W. zu selbständigen litterärischen Productionen nicht gekommen; es existirt von ihm kein Buch; aber eine reiche Fülle seines gelehrten Wissens hat er in zahlreichen Artikeln encyklopädischer Werke niedergelegt: Herzog’s Realencyklopädie für Theologie und Kirche, Schmid’s Encyklopädie des gesammten Erziehungs- und Unterrichtswesens und die Allgemeine Deutsche Biographie wurden die Ablagerungsstätten seines überreichen Wissens. Die erste Auflage von Herzog’s Realencyklopädie (1866) enthält allein 67 Artikel aus seiner Feder, die zweite (1888) deren sogar 144, welche sich auf alle Perioden der Kirchengeschichte vertheilen. Der Allgemeinen Deutschen Biographie hat er von Anfang an das regste Interesse entgegengebracht; er war der Redaction ein stets hülfsbereiter Berather sowol in der Aufstellung der zu bearbeitenden Artikel als in der Nennung empfehlenswerther Mitarbeiter, und am fleißigsten hat er selbst Artikel für sie geschrieben, welche alle schon wegen ihrer litteraturgeschichtlichen Nachrichten auf die Dauer Beachtung verdienen; sie zeichnen sich auch durch gediegenes Wissen und maßvolles Urtheil aus. Ein Mann von solcher allgemeiner Kenntniß aller nur denkbaren theologischen Angelegenheiten mußte einem Dorner, [478] Ehrenfeuchter und anderen gleichgesinnten Theologen als besonders geeignet zur Führung der Redactionsgeschäfte der „Jahrbücher für deutsche Theologie“ erscheinen. Diese streng wissenschaftliche Zeitschrift war 1856 außer von den beiden genannten noch von Liebner, Landerer, Palmer und Weizsäcker ins Leben gerufen worden. Nach seiner Ueberführung nach Göttingen trat auch W. in die Redaction ein und hat gerade in der Blüthe seines Lebens ein hohes Maß von Kraft und Zeit diesem litterarischen Unternehmen gewidmet, bis es mit dem 23. Bande (1878) einging. Im Kreise der wissenschaftlich arbeitenden Theologen gelten die „Jahrbücher für deutsche Theologie“ als eine Zeitschrift von bleibendem Werth, da mehrere der angesehensten Theologen Abhandlungen von durchschlagendem Einfluß in ihnen veröffentlicht haben. W. hat außer zahlreichen Bücheranzeigen seit 1870 eine Reihe „kirchengeschichtlicher Säcularerinnerungen“ für sie geschrieben: im Bd. XV (Jahrb. 1870), S. 207 ff. über „Tersteegen, Hiller, Gellert. Eine Säcularerinnerung“; dazu in demselben Bande, S. 405 ff.: „Kirchengeschichtliche Rückblicke“; in Bd. XVII (1872), S. 321 ff.: „Kirchengeschichtliche Säcularerinnerungen“; ebensolche in Bd. XVIII (1873), S. 422 ff.; Bd. XIX (1874), S. 392 ff.; Bd. XX (1875), S. 311 ff.; Bd. XXI (1876), S. 131 ff.; Bd. XXII (1877), S. 93 ff.; 661 ff.; Bd. XXIII (1878), S. 59 ff. Sie dienten alle zur Belebung des kirchengeschichtlichen Sinnes, boten aber für die Forschung nichts neues. Sehr dankenswerth sind dagegen seine beiden kirchen- und culturgeschichtlichen Abhandlungen zu der Geschichte der Universitäten. Das Jubiläum der Hochschule in Leyden 1875 veranlaßte ihn zur Abfassung der Arbeit „Die Stiftung der Universität Leyden in ihrer kirchen- und culturhistorischen Bedeutung“ (Jahrg. f. d. Th., Bd. XX, 1875, S. 128 ff.) und die Erinnerung an die Stiftung Helmstedts zeitigte die Abhandlung „Die Julius-Universität Helmstedt und ihre Bedeutung für die Geschichte der Theologie und Kirche“ (Jahrb. f. d. Th., Bd. XXI, 1876, S. 224 ff.). Die „säcularen Erinnerungen führten ihn schließlich noch zu Arbeiten über „Porphyrius und die Fragmente eines Ungenannten in der athenischen Makariushandschrift“, Jahrb. f. d. Th., Bd. XXIII, 1878, S. 269 ff. und „Anno der Heilige, ein deutscher Reichskanzler vor achthundert Jahren“, Jahrb. f. d. Th., Bd. XXX, 1875, S. 661 ff. In demselben Bande finden sich S. 441 ff. auch Gedanken und Bemerkungen „zum johanneischen Prolog“. Ein von W. geschriebenes „Lebensbild Luthers“ veröffentlichte Karl Goedeke als Einleitung zu seiner Ausgabe der „Dichtungen D. Martin Luthers“ (Leipz. 1883, S. V–XXXV). – Bei der reichen Fülle seiner Gelehrsamkeit und bei seinem Entgegenkommen gegen jüngere Mitarbeiter war W. recht eigentlich im Stande, wissenschaftlich Hülfe und Rath zu ertheilen, wo man ihn nötig hatte. Wußte man nicht recht, an welcher Stelle man mit der Forschung einsetzen sollte, so brauchte man nur bei W. anzufragen; er schüttelte die Themata förmlich „aus dem Aermel“, gab Directiven und führte in die Litteratur über den fraglichen Gegenstand ein, welchen man bearbeiten wollte. Meine Schrift über „Peter von Ailli“, welche 1877 erschien, verdankt in letzter Linie ihre Entstehung nur dem Rathe, welchen W. mir ertheilte, als ich Michaelis 1873 nach Göttingen gegangen war, hauptsächlich um bei Waitz zu arbeiten. Dieser wußte gerade kein mir zusagendes Thema für eine größere Arbeit zu nennen; er schickte mich deshalb zu W., welcher sofort mit Rathschlägen zur Hand war. Auch meine erste Abhandlung über „Peter von Ailli, und die ihm zugeschriebenen Schriften de difficultate und de necessitate reformationis ecclesiae“, welche ich 1874 bei Waitz fertig stellte und 1875 in Leipzig behufs Absolvirung des philosophischen Doctorexamens einreichte, hat mir W. freundlichst in den Jahrb. für deutsche Theologie, Jahrg. 1875, drucken lassen. – Johannes Beste hat seine Geschichte der braunschweigischen Landeskirche [479] 1889 (neben seinem ehrwürdigen Vater auch) unserm W. gewidmet, ein Zeichen der Hochachtung, welche W. als gründlicher Kenner der Kirchengeschichte bei der niedersächsischen Geistlichkeit genoß.
Wagenmann: Julius August W., evangelischer Theologe, † 1890. Unter den gelehrten Württembergern, welche außerhalb ihres engeren Heimathlandes ihr Leben der theologischen Wissenschaft widmeten, hat sich W. in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts als Professor der historischen Theologie in Göttingen einen geachteten Namen erworben. Er erblickte das Licht der Welt am 23. November 1823 zu Berneck in Württemberg (Schwarzwaldkreis) und nahm als Jüngling den Bildungsgang, wie er in der schwäbischen Kirche durchschnittlich üblich ist; er studirte von 1841 bis 1845 zu Tübingen, wurde 1846 Repetent am Seminar in Blaubeuren, 1849 am Stift in Tübingen, wo er bis 1851 blieb. In das geistliche Amt kam er in Göppingen 1852 als Diakonus und 1857 als Archidiakonus. Auf Veranlassung seines LandsmannesNicht blos wissenschaftlich, sondern auch gesellig, durfte man W. in jenen Jahren näher treten. Sein glückliches Haus, geleitet von seiner ausgezeichnet wirthschaftlichen und stets freundlichen Gattin, fröhlich belebt von heranblühenden Töchtern war für die jüngere akademische Welt Göttingens ein hochgeschätzter Anziehungspunkt. Wir jüngeren Leute haben in jener Zeit ideal schöne Abende in Wagenmann’s Familie verlebt, und die damals noch recht stille Ecke an der Weender Chaussee und dem heutigen Kreuzbergwege wird gewiß bei uns allen in dankbarer Erinnerung bleiben. Freilich, als ich Ostern 1890 die Ehre hatte, in Göttingen sein Specialcollege zu werden, fand ich ihn körperlich matt; der Tod seiner Gattin hatte ihn geknickt: aber geistig arbeitsam und voll Theilnahme an der Entwickelung der gesammten Theologie blieb er bis zu seinem Tode.
Innerhalb des Universitätslehrkörpers hat W. auch stets Interesse für die Geschäftsführung der Hochschule bewiesen; in den verschiedensten Zweigen ihrer Verwaltung, auf dem Gebiete des Beneficienwesens, der Wittwencasse, des Bibliothekswesens u. a. m. hat er mit kundigem Sinn und sicherer Geschäftskenntniß zum Besten der Universität mitgewirkt. Auch in ihrer Geschichte war er so bewandert, daß ihm von seiten der Universitätsverwaltung die Aufgabe gestellt wurde, die Geschichte der Universität Göttingen, welche bisher nur bis 1837, also nur für ihr erstes Jahrhundert bearbeitet ist, von da an bis zur Gegenwart fortzuführen. Aber die körperliche Ermüdung, welche er in seinen letzten Lebensjahren verspürte, hat ihn an der Ausführung dieses Planes gehindert, für den er sonst gewiß der gegebene Mann gewesen wäre. Sein Andenken wird indeß auch ohne diese Leistung unter uns ein gesegnetes bleiben. Von seinen beiden Söhnen wirkt der ältere als ordentlicher Professor der Ophthalmologie und Director der ophthalmologischen Klinik in Jena, der andere als Consistorialassessor und Pastor in Hannover. Außer ihnen überlebten den Vater noch drei jetzt verheirathete Töchter.