ADB:Wagner, Ernst
Wagner: Johann Ernst W., Romanschriftsteller, wurde am 2. Februar 1769 (also nicht 1768 oder 1767) im Marktflecken Roßdorf in der Rhön, Sachsen-Meiningen, als Sohn des Pfarrers geboren. Die Familie führte in der anmuthigen Gegend ein trauliches, fast idyllisches Dasein, und von der hier herrschenden friedsamen Stimmung ist in Wagner’s Wesen und Schaffen viel übergegangen. Der lebendige Knabe, dessen Entwicklung nichts störte, wurde nur durch den wissenschaftlich mannichfach gebildeten Vater humanistisch vorgebildet, auch mit einer umfänglichen Lectüre, besonders classisch-belletristischer Gattung versehen. Auch das eigene Dichten regte sich schon, ehe er zur Universität ging. Er studirte in Jena die Rechte mit gutem Erfolge, obwol er bei tüchtigem Fleiße die Freuden der akademischen Freiheit zu genießen nicht versäumte: er galt sogar als lustiger Gesellschafter, betheiligte sich aber an den damaligen Auswüchsen Jenenser Fidelität nicht, aus Gründen der Abneigung und seines Börsenmancos. Sein heimathlicher Gutsherr, Freiherr von Wechmar, ein vielseitig gebildeter Edelmann und Gönner des allbeliebten Pastors, ernannte den Heimgekehrten zu seinem Privatsecretär, bald auch zum Oberaufseher über den ökonomischen Betrieb der verzweigten Wirthschaft. Dazu besorgte er die Actuariatsgeschäfte des Patrimonialgerichts. Die Mühen und die mancherlei Reibungen dieser mehr als zehnjährigen Amtsthätigkeit machten ihm letztere bei aller Anhänglichkeit an den Geburtsort gemach zur Last. Das Jahrzehnt der französischen Revolution erzeugte auch in diesem kleinen Kreise staatlichen Lebens Zwiste, die W. als Vertreter der Behörde meist gütlich beizulegen suchte; einmal, als er sich bei einem strengen Verfahren, das wider vieler Gemeindemitglieder Neuerungsstreben angeordnet war, nicht mehr auf einen Weg der Vermittlung besann, warf er, der Protokollführer, wie absichtlos das Tintenfaß über die Niederschrift der Aussagen und tunkte dann, „unter dem Scheine, die Acten zu retten, sie immer tiefer in diesen Lethestrom ein“. Dieses Vorgehen, das wirklich die Nichtwiederaufnahme der Untersuchung erreichte, ist für Wagner’s Sinnesart bezeichnend; als Mensch war er gegen Freund und Feind stets gleich liebenswürdig und gemüthvoll, als Dichter bevorzugte er durchgängig die zarten Töne.
Aus solchen Widerwärtigkeiten erwuchs W. mehr und mehr die Einsicht, daß er nicht auf passendem Felde stehe. Dazu verflog mit dem Aussterben des Hauses seines theuren Vaters, in dessen Posten Wagner’s Bruder eingerückt war, [487] der Zauber inniger Anziehungskraft des angestammten Bodens. Trost suchte er theilweise durch die Heirath (1793) mit Demoiselle Bergeon aus Neuchatel, früherer Gouvernante in adligem Hause unweit Meiningen, welche mit drei Söhnen und einer Tochter gesegnete Ehe sich sehr glücklich gestaltete. Andererseits in der Schriftstellerei: gerade in diesem äußerlich unbefriedigendsten Jahrzehnt erblühte Wagner’s poetischer Lenz. Zunächst versuchte er sich, nach jugendlichen Vorübungen, auf dramatischem Gebiete; die ganz fertig gestellten Lustspiele „Die reisenden Maler“ und „Der Triumph der Liebe“ sollten ihn 1801 vors Publicum führen, doch fanden sich weder Bühne noch Drucker willfährig, und dies gab für ihn den Ausschlag, sich der erzählenden Poesie zuzuwenden. In dieser hat er für seine Zeit recht Gutes und nicht bloß Anerkennenswerthes, sondern auch Anerkanntes geleistet. 1804 trat er mit „Wilibald’s Ansichten des Lebens. Ein Roman in vier Abtheilungen“ (2. Aufl. 1809, 3. Aufl. 1822) hervor, seinem nach Gedanken, Ausführung und Form nach allgemeinem Urtheile bedeutendsten Werke. „Wilibald’s neue Ansichten des Lebens“ (1807) und der aus zwei entgleisten Lustspielen zusammengeschweißte Roman „Die reisenden Maler“ (1806) fallen schon in die Periode, da Wagner’s äußeres Dasein und damit die Möglichkeit ruhigen Schaffens völlig gesichert war. Die seinem litterarischen Debüt bezeigte Theilnahme war bei Jean Paul besonders lebhaft, und wahrscheinlich auf dessen Empfehlung, wenigstens seine Vermittlung, erhielt W. 1804 den Ruf als Cabinetssecretär des allbeliebten bildungsfreundlichen Herzogs Georg von Meiningen, der aber vor Wagner’s Amtsantritt starb. Die Witwe Luise Eleonore, Vormünderin des dreijährigen Bernhard, bestätigte Wagner’s Bestallung, und 1805 übersiedelte er nach dem neuen Bestimmungsorte, wo er seitdem in auskömmlichem mehr nominellen Amt fast ganz litterarischer Beschäftigung gelebt hat, im wesentlichen wohl nur zur Bibliotheksverwaltung verpflichtet. Aber schon sehr bald meldete sich eine nervöse Schwäche in den Händen und, noch schlimmer, in den Füßen; trotz strengster Diät und angeborner Mäßigkeit entwickelte sich Rückenmarksdarre, die dem sanften Geiste Wagner’s die sonst wohlbegründete Zufriedenheit mit seinen angenehmen Verhältnissen untergrub, aber dem heitern Gemüthe trotz arger immer verstärkter Qual die Lebensfreudigkeit nicht geraubt hat. Außer mit dem Pastor und herzoglichen Erzieher Friedrich Mosengeil (s. d.), seinem Biographen und Herausgeber seiner Werke, hat W. mit dem ehemaligen kurhessischen Major Freiherr Christ. v. Truchseß, einem auf der angestammten Bettenburg im bairischen Untermainkreise ansässigen kunstsinnigen Edelmanne, einen höchst anregenden vertrauten Verkehr gepflogen, wozu noch der überschwängliche Briefwechsel mit Herzog August von Gotha kommt. Am 25. Februar 1812 starb er nach längerem schmerzhaften Krankenlager an dem furchtbaren Leiden, das ihn seit Jahren immer ärger gepeinigt und die Freude an Freundschaft und Poesie vergällt hatte.
Man darf, wenn man Wagner’s litterarischen Rang zu bestimmen unternimmt, nur den Maaßstab seiner Zeit anlegen. Er hatte sich an Goethe, dessen „Wilhelm Meister“ für „Wilibald’s Ansichten“ vorschwebte, und Jean Paul gebildet und insbesondere des Letzteren Empfindsamkeit, Naturgefühl, Zartheit aufgenommen und in selbständiger Richtung ausgestaltet; von Goethe suchte er gewählte Rede, Klarheit des Stils und Deutlichkeit der Darstellung zu erlernen. An Phantasie und Ideentiefe reicht er freilich nicht an Jean Paul heran, was in seiner noch engeren localen Beschränktheit begründet sein mag. Geschichtliche Weite, dichterische Herrschaft über den Makrokosmos, diese Glanzseiten seiner beiden Muster, fehlen ihm ganz; träumerische Weichheit, oft ins Visionäre, Mystische, Legendenhafte verschwimmend, waltet überall vor und läßt auch Anflüge von Witz, ja selbst den „Humor in Thränen“ nirgends rein aufkommen. Dabei [488] achtet er mehr auf Rundung des Themas und Knappheit des Vortrags als die ihm vorbildliche Art J. Paul’s; das Zerhackte, Zerstückelte sammt illusionstörenden Einschiebseln tritt bei ihm viel mehr zurück. Am schönsten gelangen Wagner stimmungsvolle Naturskizzen, namentlich der Landschaft nach ihrem rein romantischen Zauber, sodann die Schilderung sentimentaler seelischer Erregungszustände, daneben Studien über praktische Kunsttendenzen, die er durch fürstliches Eingreifen in einer umfänglichen Anstalt zu nationalen Zwecken verwirklicht sehen zu können wähnte. Diese Pläne sind zunächst wol durch die Blume auf seinen Meininger Herzog gemünzt, übrigens nie technisch recht glücklich in die Erzählung eingewoben. Maßgeblich durchziehen sie nicht nur „Die reisenden Maler“, sondern gewannen auch in dem 1803–1808 verschiedentlich schriftlich fixirten Entwurfe zur Gründung einer allgemeinen deutschen Kunstschule handlichern Ausdruck. Es „knüpft W. … überall in den Gesprächen, die seine Romanhelden führen, allgemeine Lebensansichten, Betrachtungen über die Menschen, die Kunst u. s. w. an“ (W. Menzel [s. u.] S. 228). Seine Gewohnheit, die Handlung mit derlei Excursen zu durchflechten, erinnert an die Gesellschaftsromane des geistreichen Max Waldau (s. Spiller von Hauenschild, Georg, A. D. B. XXXV, 190), die aber ihre Zeit ungleich plastischer spiegeln. Eine Sterne’sche Ader geht W. völlig ab; sie wäre gerade in ebengenanntem Werke am Platze gewesen. Denn, obzwar harmloser als die meisten großen Subjectivitätskämpen der Poesie, immerhin kokettirt er doch zu viel mit dem interessanten Heroismus seines Ich-Gemüthes. Weil nun auch die epischen Elemente von der Reflexion fast stets übersponnen werden, so tritt das Ziel seiner Stoffe, Adel und Bürgerthum besonders auf dem Boden der Kunst auch persönlich einander zu nähern, arg zurück, und der erwartete sociale Roman bleibt aus. Ebensowenig traf er den Ton des damals beliebten Reiseromans; dafür gebricht es ihm schon an dem Wunsche, leicht zu unterhalten. Die große Erstlingsleistung Wagner’s, eine Bildungsgeschichte wie Goethe’s vielfarbiges Weltgemälde „Wilhelm Meister“, bringt trotz des hauptsächlich idyllischen Hintergrundes eine Fülle ausgeprägter weiblicher Charaktere vor, nur alle für den Titelhelden, der weder von einem Don Juan noch von einem Lovelace etwas hat, überhaupt des sogenannten Erobernden entbehrt, zu mechanisch dahinschmelzend; sie bleibt trotzdem mit Recht die Stütze seines poetischen Namens, obschon oder eher gerade da „Wilibald’s Ansichten“ über alles Mögliche recht im Schatten stehen und das Gefüge nicht übermäßig durchwuchern. Die Liebesgeschichten in dem ja der Anlage nach älteren Romane „Die reisenden Maler“ sind nicht bloß oberflächlicher, sondern auch in den Standesgegensätzen, dem Versteckspiel mit dem Range, der gesuchten Natürlichkeit beim Liebewiderstand und Umschwunge ziemlich schablonenhaft erfunden. Freilich entsprachen sie drum dem Geschmacke jenes Publicums, das durch die niederschmetternden politischen Ereignisse und die damit zusammenhängende geistige Misere abgestumpft war, viel besser als der bedeutendere Inhalt der „Reisen aus der Fremde in die Heimat“ (I 1808, mit Porträt; II 1809; III, aus dem Nachlasse, 1826). Dieses übersatte, äußerlich etwas saloppe Gemisch erzählender und beschreibender Studien gruppirt sich um einen Reisenden, dem das eine der von ihm geliebten Mädchen von einem Andern weggeheirathet wird, das andere – ein dazumal in allen poetischen Gattungen todtgejagtes Motiv – als Nonne unerlangbar ist. „Das Schönste in diesem Roman aber sind die Erinnerungen des Reisenden an seine Jugend. Nichts kann wahrer und schöner erzählt werden, als der Zank zwischen den Knaben und Mädchen, der Trotz beider Geschlechter gegen einander in den Jahren kurz vor der Entwicklung“ (Menzel a. a. O.). Der „Anhang“ zu diesem Werke, „Historisches ABC eines vierzigjährigen hennebergischen Fibelschützen“ (1810), ist ein [489] mit viel Alltäglichem, wenig geschickter Satire durchsetztes Compendium allerlei eigener scherzhafter Einfälle, für seine Epoche aber doch ähnlich charakteristisch wie Gisb. v. Vincke’s „ABC für Haus und Welt“ (s. A. D. B. XXXIX, 755) für die seinige, die ‚Romane‘ „Ferdinand Miller“ (1809) und „Isidora“ (1812, aus dem Nachlaß) novellistische Versuche, modernere Probleme mit freierfundener Handlung zu umkleiden, der „Thalheim“ betitelte, kaum von W. als druckfertig erachtete, erst 1828 mit gedruckt, verschmilzt eine Robinsonade mit Anklängen an den Schlußtheil von Wilh. Heinse’s „Ardinghello“, dessen Titelheld überdies schon in Wagner’s Wilibald sichtlich auferstanden war. Die „Lebenserfahrungen und Weltansichten“ (1811) endlich behandeln mehr lehrhaft: I. „Aberglaube – Mysterien“, II. „Nachbeterei – Zwischending“, ohne rechte eigenthümliche Unterlagen, sind aber keineswegs „vermischte Aufsätze“, wie Ad. Stern nach der Aufschrift zu vermuthen scheint.
Im ganzen wird Karl Schütze’s Epitheton für W.: „einer der innigsten und tieffühlendsten Romandichter“ einem unparteiischen Beurtheiler ebensowenig übertrieben erscheinen, wie des allezeit besonnenen A. Koberstein ruhige Bezeichnung, die eine wichtige Erörterung zur Poetik an eine Wagner’sche These zur Theorie des Romans anlehnt: „einer unserer talentvolleren Romanschreiber aus dem Anfange dieses Jahrhunderts, der aber schon lange und über zum Theil weit schlechteren Nachfolgern in Vergessenheit gerathen ist“ (Ztschr. f. d. dtsch. Unterricht VIII, 441).
„Sämmtliche Schriften. Ausgabe letzter Hand, besorgt von Friedrich Mosengeil“, 12 Bde. (vor I. W.s Porträt), Lpzg. 1827–1828 (3. Aufl. 6 Bde., ebd. 1854–1856); darin Bd. 11 und 12 (bez. Bd. 6): „Lebensgeschichtliche Nachrichten und Mittheilungen aus dem Nachlaß enthaltend“, arg panegyrisch und aus den Reflexionen und Schilderungen gewiß viel zu viel Autobiographisches herauslesend. Die „Bibliothek der deutschen Classiker“ des Bibliographischen Instituts zu Hildburghausen, 15. Bd., brachte als 6. und 7. Lieferung von W. Porträt (nach jenem), S. 723 s. Lebens- und Charakterskizze, S. 725–1000 „Wilibald’s Ansichten“, S. 1001–1006 „Aphorismen“. Vgl. ferner „Briefe über den Dichter Ernst Wagner“, herausg. von Fr. Mosengeil (2 Bde., Schmalkalden 1826), die „eine anziehende Charakteristik liefern“ (Pierer’s Encyklopäd. Wörterbuch 25. Bd. [1836], 436b, wo auch bemerkt ist: „Einige ungedruckte Briefe Wagner’s finden sich in der Dresdener Morgenzeitung 1827, Nr. 91 und in dem Kometen 1831, Nr. 123.“) Genaue Inhaltsbesprechung nebst anerkennenden Glossen bei W. Menzel, Gesch. d. dtsch. Dchtg. III, 226–228, neuere Charakteristik der Romane bei Gottschall, Die dtsch. Nationallitt. d. 19. Jhhs.6 I, 326–328. Von Gesammthandbüchern berücksichtigen W. wol nur Vilmar (24. Aufl., S. 466), ferner C. Oltrogge’s kleine, recht selbständige „Gesch. d. dtsch. Dchtg.“ (1862), S. 539. Obige Citate aus K. Schütze, Deutschlands Dichter und Schriftsteller (1862), S. 475, bez. Stern, Lex. d. dtsch. Nationallit. (1882), S. 379, das Geburtsdatum nach dem Taufregister durch Herrn Pfarrer J. Köhler (1896).[1]
[Zusätze und Berichtigungen]
- ↑ S. 486–489. Wagner, Ernst: Viel Neues bringen des Heidelberger Romantiker- und des Grimm’schen Kreises „Beziehungen zu Ernst Wagner“, die R. Steig i. d. Zeitschr. f. dtsch. Philol. XXIX, 208–215, aus brieflichen Materialien aufdeckt. Er gibt dabei auch eine liebevolle Charakteristik Wagner’s. Wichtig ist besonders Wilh. Grimm’s anonyme ausführliche Recension von Wagner’s „Histor. Abc eines reisenden Handwerksburschen“ i. d. Heidelberg. Jahrbüch. 1810, V 2, 371 bis 374. Das „Festbuch zur hundertjährigen Jubelfeier der deutschen Kurzschrift zur Mosengeilfeier am 28. Juni 1896. Herausgegeben von Chr. Johnen“ (1896) enthält nicht nur vielerlei Neues über Wagner’s Herausgeber und Intimus Mosengeil (s. A. D. B. XXII, 368, XL, 487 u. 489), sondern S. 19 u. 25 auch Erwähnungen E. Wagner’s selbst. [Bd. 44, S. 573]