ADB:Wehrli, Johann Jakob
Fellenberg (s. A. D. B. VI, 612) an einem Fortbildungscursus theilgenommen, von diesem letzteren die Erlaubniß erhielt selbst auch für einige Zeit nach Hofwyl zu kommen. Fellenberg, der sich seit Erwerbung des Wylhofes bereits mit dem Problem der Armenerziehung beschäftigt hatte, aber bis dahin ohne Erfolg, wies W. eine Anzahl Taglöhnerkinder zum Unterrichten zu, und als er sah, wie gut dem jungen Mann der Versuch gelang, schien er, erzählt W., „vor Freuden fast außer sich zu kommen und klopfte mir einmal auf die Schulter sprechend: Es geht mein Freund; nun wollen wir mit der Armenschule beginnen“. W. ließ sich bewegen, auf die ursprüngliche Absicht baldiger Heimkehr zu verzichten und Fellenberg übergab ihm – Frühsommer 1810 – sieben arme, theilweise auch verwahrloste Kinder, die er aus verschiedenen Kantonen zusammengebracht hatte, zur Erziehung.
Wehrli: Johann Jakob W. Geboren am 6. November 1790 zu Eschikofen (Kt. Thurgau) wuchs W. als Sohn des dortigen Schulmeisters in dürftigen aber Arbeitsamkeit und häuslichen Sinn vorzüglich bildenden Verhältnissen auf. Schon hatte er zwei Winter hindurch an einer kleinen Dorfschule gewirkt, als er durch Vermittlung seines Vaters, der 1809 beiWas Fellenberg anstrebte, war eine Armenerziehung, die den Armen in den der Armuth entsprechenden äußeren Verhältnissen zur Gesittung und zur vollen Entfaltung seiner Kräfte für Erringung einer menschenwürdigen Existenz führen wollte. Hauptmittel einer solchen Erziehung war die Arbeit und an diese schloß sich der Unterricht und alle übrige erzieherische Einwirkung an. Durch den Arbeitsgewinn sollten die Kosten der Erziehungsanstalt, wenn nicht ganz, so doch annähernd gedeckt, und so die Möglichkeit gegeben werden, dem Pauperismus in immer größerem Maßstab entgegenzuarbeiten und ihn für den Fortschritt der Cultur unschädlich zu machen. Fellenberg’s „landwirthschaftliche Industrieschule“ – eben die Anstalt, an deren Verwirklichung er jetzt durch Beiziehung Wehrli’s ging – ruhte auf den nämlichen Ideen, die ein Menschenalter früher Pestalozzi bei seiner Armenerziehungsanstalt auf dem Neuhof vorgeschwebt hatten (1774–1780), nur daß gemäß den Grundanschauungen des „Stifters von Hofwyl“ nicht der Fabrikationsbetrieb, sondern die Urproduction der richtige Boden war, von welchem die Entsumpfung der Menschheit ausgehen sollte.
Die Aufgabe verlangte bei demjenigen, der sie zu lösen unternahm, völlige Hingabe und Selbstlosigkeit. W. entsprach dieser Forderung aufs trefflichste. „Ich theilte mit den Zöglingen Alles, Arbeit, Nahrung, Kleidung, Wohnung, Spiel, – Alles, sodaß man mich häufig für einen Zögling ansah. Selbst zum Behälter meiner Kleider hatte ich auch nur ein Banktrögli wie sie … Ich [436] war ihr Vater. Ich war den ganzen Tag ohne Unterbrechung bei ihnen, und wenn ich auch etwas später als sie zu Bette ging, so blieb ich doch im Schlafzimmer und am Morgen stand ich mit ihnen auf“. Geniale Begabung und wissenschaftliche Bildung besaß er nicht; aber in ihm waren durch glückliche Naturanlagen diejenigen Eigenschaften vereinigt, welche dem Lehrer und Erzieher nothwendig sind: gesunder Menschenverstand, die Gabe klarer Mittheilung, Ernst und Beharrlichkeit, liebevolle Milde und lautere Herzensfrömmigkeit. Er besaß ein vorzügliches Geschick, die Belehrung mit der Arbeit zu verbinden; dadurch brachte er einerseits die Zöglinge dazu, denkend zu arbeiten, anderseits gelang es ihm, trotz der kurzen Zeit eigentlichen Unterrichtes sie in ihren Kenntnissen allseitig auf überraschende Weise zu fördern; die geistige Frische und das Interesse, das sie ungeachtet der strengen Tagesarbeit in die abendlichen Lehrstunden mitbrachten, überraschte die Besucher aufs angenehmste; der vormalige helvetische Minister Rengger, der den Bericht der von Fellenberg 1813 erbetenen eidgenössischen Prüfungscommission ausarbeitete, gibt von diesem Eindrucke beredtes Zeugniß. Seit dieser Zeit wurden der Anstalt aus verschiedenen Kantonen auch junge Leute übergeben, um sich hier für den Beruf als Armenerzieher heranzubilden; allmählich trat der Zweck der Armenlehrerbildung für die Anstalt selbst in den Vordergrund; und bei der Aufnahme neuer Armenschüler sah man von verdorbenen Elementen mehr und mehr ab. So wurde sie zu einer Art Normal-Armenschule im Dienste der allgemeinen Menschenbildung, das erste von In- und Ausland als gelungen erklärte Musterbeispiel dieser Art. Namentlich seit den Nothjahren im zweiten Jahrzehnt unsers Jahrhunderts erwachte vielerorts das Bestreben nach ihrem Vorbilde ähnliche Anstalten zu gründen; in Hofwyl gebildet traten die Erzieher für den Bläsihof im Kt. Zürich, die Armenschule in Carra bei Genf, die Linthcolonie, die Schurtanne bei Trogen u. s. w. in die Nachfolge Wehrli’s ein; selbst in andern Erdtheilen fanden die „Wehrlischulen“ Anerkennung und Nachahmung.
Bei Wehrli’s Abgang von Hofwyl (1833) belief sich die Gesammtzahl der von ihm seit Gründung der Anstalt erzogenen jungen Leute auf 275. Von dem innigen Verhältniß zwischen W. und den Zöglingen zeugt nachstehender Vorfall. Als infolge der von Fellenberg aufgestellten Forderung, die Zöglinge sollten bis zum 20. Jahre in der Anstalt verbleiben und so die Erziehungskosten abverdienen, 1821 einzelne sich zu Trotz und Widersetzlichkeiten verleiten ließen, traten die sittlich gereifteren Zöglinge unter sich zu einem Bunde zusammen, um W. zur Seite zu stehen und dem Unwesen zu steuern. Auf Grund einer Abstimmung unter sämmtlichen Zöglingen bildeten sie nun einen Vereinsrath, der eine Pflegebrüderschaft zu Gunsten der jüngeren und eine abwechselnde Zutheilung der mannichfachen kleinen Hausgeschäfte organisirte. Es charakterisirt W., daß er sich bestimmen ließ, der Schreiber dieses Vereinsrathes zu sein und sich von der Austheilung der Aemter, ohne seiner Autorität etwas zu vergeben, nicht ausnehmen ließ, wenn die Reihe an ihn kam; und nicht minder den freien Geist auf Hofwyl, daß Fellenberg diesem Vereinsrath die Entscheidung übertrug, ob das Vergehen eines Zöglings mit Ausstoßung und Entfernung zu strafen sei. – Die von W. erzielte Entwicklung der Zöglinge, namentlich in sittlicher Beziehung übertraf alle Erwartungen in dem Maße, daß selbst Pestalozzi erstaunte bei der Wahrnehmung, wie ein junger Mann, der nie sein unmittelbarer Schüler gewesen war, seinen Gedanken so glücklich erfaßt und ausgeführt habe, und Augenzeugen erklärten: daß sie wenige Menschen kennen gelernt haben, welche sie so ganz an ihrer Stelle gefunden hätten, als W. in der Leitung der Armenschule auf Hofwyl.
Durch die Beihülfe der älteren Lehrerzöglinge in derselben wurde es W. [437] nun auch möglich, Fellenberg bei einem anderen Plane die Hand zu bieten, den derselbe zu Ende der zwanziger Jahre ins Leben führte, der Errichtung einer Erziehungsanstalt für den Mittelstand (Mittelschule), an der er den Unterricht in einigen Fächern übernahm, ohne deshalb der Armenschule sich zu entfremden; und zugleich wurden von Fellenberg unter Wehrli’s Mitwirkung die Normalcurse für Schullehrerbildung wieder aufgenommen, welche nun die in der Wehrlischule eingeführte Lehrweise auch auf die Volksschule zu übertragen strebten. Dem gleichen Zwecke dienten zwei kleine Schriftchen, die W. anfangs der dreißiger Jahre veröffentlichte: „Zehn Unterhaltungen eines Schulmeisters in der Schulstube“ und „Einige naturkundliche Unterhaltungen eines Schullehrers mit der 1. und 2. Elementarklasse“ (Bern 1833).
So hatte W. die specielle Aufgabe, die ihn auf Hofwyl festhielt, nicht nur gelöst, sondern er war selbst bereits darüber hinausgeschritten; er war nicht mehr bloß Armenerzieher, sondern wieder, was er anfangs sein wollte, Schulmeister, nur auf höherer Stufe, nämlich Lehrerbildner. Das sittliche Element der Armenerziehung war mit dem bis dahin vorherrschend intellectuell erfaßten Lehrerberufe in Verbindung getreten und stellte ihm eine neue Aufgabe, die Volksschule als bürgerlich praktische Erziehungsanstalt darzustellen. Was er in Hofwyl als Armenerzieher angefangen, konnten und sollten seine Zöglinge fortsetzen, erhalten, den Umständen gemäß weiter ausbilden; sein innerer Beruf trieb ihn, als Bildner von Volksschullehrern einen ausgedehnteren Wirkungskreis zu suchen. Nachdem er frühere Berufungen an Waisenanstalten abgelehnt, folgte er dem Wunsche seines Heimathskantons und schied im Herbst 1833 von seinem lieben Hofwyl, um die Leitung des neu zu gründenden thurgauischen Lehrerseminars in Kreuzlingen zu übernehmen.
Die Lehrerbildung wie sie W. während zwei Decennien in Kreuzlingen für den Thurgau und die Zöglinge aus einigen anderen Kantonen der Ostschweiz durchführte (welche vertraglich die Bildung ihrer Lehrer dem Seminar in Kreuzlingen anvertrauten), faßte das unmittelbare Bedürfniß der Schule in einfachen ländlichen und bürgerlichen Verhältnissen ins Auge; die Lehrer sollten nicht aus dem Volksleben herausgehoben, sondern zu einem berufsfreudigen erzieherischen Wirken in engem Anschlusse an dasselbe und zu vorbildlichen Vertretern der Volkstugenden, der Arbeitsamkeit, des häuslichen Sinnes und der Anspruchslosigkeit in den äußeren Bedürfnissen erzogen werden. Darum verlangte W. von vornherein die Einrichtung eines Convicts unter seiner Leitung. Mit wahrhaft väterlicher Milde waltete „Vater Wehrli“ in demselben; neben ihm stand ebenso echt mütterlich „Mutter Wehrli“ – W. hatte sich noch zu Ende seines Hofwyler Aufenthaltes mit Anna Schlunegger von Lauterbrunnen verheirathet – den Zöglingen in gesunden und kranken Tagen helfend zur Seite. So gestaltete sich das Convict zu einem Familienleben, das sittlich veredelnd und kräftigend auf die große Mehrzahl der Zöglinge wirkte. Nach modernen Begriffen war die Einfachheit und Sparsamkeit, die in dem Haushalte herrschte, eine fast zu weit getriebene, namentlich bezüglich der Ernährung; aber der Erfolg kam den Zöglingen selbst zu gute, da der Unterhalt des Convicts wesentlich aus den Kostgeldern der Zöglinge gedeckt wurde.
Der Unterricht erstreckte sich auf zwei, seit 1841 auf drei Jahrescurse. Auch hier zwangen die äußeren Verhältnisse – der Staat wies, und zwar zunächst nur für ein Provisorium von sechs Jahren, jährlich 4000 fl. für das Seminar an – zu einfachen Einrichtungen. Neben W. war nur ein ständig angestellter, wissenschaftlich gebildeter Lehrer, der den Unterricht in deutscher Sprache, Geschichte und Geographie ertheilte und in Wehrli’s methodische Ideen einging. Nach Wehrli’s Auffassung hatte der Seminarunterricht seinen obersten [438] Zweck darin, tüchtige Lehrer, nicht Gelehrte zu bilden. Das entsprach ja auch unmittelbar Wehrli’s persönlicher Eigenart und seiner Vergangenheit. Die Pädagogik, die er vortrug, war wesentlich praktisch gehalten; in der systematischen Anordnung und in der Formulirung der Definitionen schloß er sich an bewährte Vorgänger an, deren Werke er fleißig studirte; original war die Ausführung der einzelnen Theile auf Grund seiner Erfahrungen. Methodisch betonte er in Wort und That den Werth der Anschauung und die Nothwendigkeit stetigen Zurückgehens auf dieselbe. Der Auffassung, welche er von seiner Stelle hatte, entsprach es durchaus, daß er zähe daran festhielt, den Religionsunterricht wenigstens für die protestantischen Zöglinge selbst zu ertheilen. Wenn er auch zugab, daß ihm die wissenschaftliche Befähigung dazu abging, so war es für ihn als Vater seiner Zöglinge Herzensbedürfniß, den künftigen Lehrern ihre Aufgabe im Lichte der Religion zu zeigen, den biblischen Stoff für ihr eigenes Leben fruchtbar machen zu können. „Auch ihr sollt Apostel sein bei euren künftigen Schülern und in euren Gemeinden“, dies war die gewöhnliche Nutzanwendung, die W. bei solcher Bibellectüre machte und die auch, wenigstens momentan, ihres Eindrucks nicht verfehlte.
Auch der Unterricht in den andern Fächern wich wesentlich von dem sonst in Lehrerseminarien befolgten ab. W. hielt sich an die Beobachtung, daß der als Lehrer in das praktische Leben eintretende Zögling des Seminars in derselben Weise zu unterrichten pflege, wie er selbst unterrichtet worden sei. Er glaubte daher die Seminarzöglinge so unterrichten zu sollen, wie sie selbst einst ihre Schulkinder zu unterrichten hätten. Er nahm mit ihnen gleich von Anfang an die Fibel, den Schreibunterricht, die Zahlenlehre u. s. w. ganz in gleicher Weise durch, wie wenn er es mit Kindern des ersten Schuljahres zu thun hätte, nur mit dem Unterschiede, daß er überall die Gründe eines solchen Unterrichtsverfahrens darlegte. Die Vorführung und Durchführung der einzelnen Unterrichtsfächer schloß hiemit zugleich die Methodik ein.
Eine mit dieser Auffassung zusammenhängende Eigenthümlichkeit des von W. dirigirten Seminars war die Anstellung bisheriger Zöglinge als Hülfslehrer auf die Zeit einiger Jahre an Stelle einer Vermehrung der ständigen Lehrkräfte. Indem er zwei bis drei Jahre lang seine Schüler zu beobachten Gelegenheit hatte, konnte er die geeignetsten und vertrauenswürdigsten zu Mitarbeitern auswählen; und in der Regel zeigte sich bei diesen Jünglingen die Hingebung, der Wetteifer in der eignen Fortbildung und die Beharrlichkeit bei der Leitung der ihnen anvertrauten Classe in einem Maße, wie es bei Lehrern, die anderwärts ihre Bildung und Vorbereitung erhalten, nicht erwartet werden durfte.
Neben dem Unterricht war für W. die Feldgärtnerei, der Landbau ein integrirender Theil der Seminarbildung; nicht bloß wegen seines körperstärkenden und gemüthbildenden Einflusses; auch nicht darum allein, weil die Vorstufe in Wehrli’s eigenem Leben eine Verbindung von Landwirthschaft und Schule gewesen, sondern mit klarem Bewußtsein wurde als Hauptbindemittel zwischen Schule und Leben in einem größtentheils agricolen Kanton die Lust und der Sinn für den Landbau in den künftigen Volksschullehrern gehegt und gepflegt. In den Bemühungen für Hebung der Landwirthschaft unter der Bevölkerung ging W. seinen Schülern mit dem Beispiel voran. Unter seiner Mithülfe entwickelte sich aus der Seminarschule eine selbständige kantonale landwirthschaftliche Schule; er war einer der Gründer der kantonalen landwirthschaftlichen Gesellschaft (des „Bauernvereins“, wie er sie gern nannte); W. war nicht bloß der Präsident, sondern die Seele des kantonalen landwirthschaftlichen Festes von 1846, das ihn auf der Höhe seines öffentlichen Wirkens und Strebens zeigte.
[439] Mit seinen Schülern suchte er das von seiner Gemüthsinnigkeit getragene väterliche Verhältniß auch über die Seminarzeit hinaus in Kraft und Wirksamkeit zu erhalten. So erließ er als Neujahrsgabe auf das Jahr 1841 „ein väterliches Wort“ an seine ehemaligen Seminarzöglinge (abgedruckt bei Morf S. 85–97). Aus dem Detail dieser Anleitung zur Selbstprüfung für Lehrer, welches seinen Sinn für die Treue im Kleinen wie im Großen bekundet, treten der pädagogischen Perlen viele hervor; es ist die ganze Begeisterung Wehrli’s für sein Schulideal, die aus den schlichten Zeilen dieses „Wortes“ spricht.
Als W. nach Aufhebung des Klosters Kreuzlingen 1849 aus dem kleinen Schloßgebäude am See mit dem Seminar in das großartige Stiftsgebäude übersiedelte und in ihm seinen sechzigsten Geburtstag festlich beging, war auch für ihn schon der Lebensabend herangenaht. Bereits hatten sich Lungenblutungen eingestellt und war eine Abnahme der Kräfte ihm fühlbar geworden. Gleichzeitig hatte die Erstarkung und Einwurzelung der Schule im Volk, größtentheils Wehrli’s Werk, zur Folge, daß man jetzt daran denken konnte und mußte, auch den Lehrern eine weitergehende wissenschaftliche Bildung zu geben, als das Seminar in Kreuzlingen sie bis dahin dargeboten. Unter der thurgauischen Lehrerschaft gab sich eine Mißstimmung kund, daß W. dem Drängen derselben nach Aufbesserung ihrer Stellung nicht mit der nämlichen Energie Vorschub leistete, mit welcher Dr. Scherr für die zürcherischen Lehrer eingestanden war. Die bisherigen Lehrmittel wurden vielfach denjenigen Dr. Scherr’s gegenüber angefeindet. Als daher im J. 1852 der Erziehungsrath neu und zumeist aus anderen Männern als bisher bestellt wurde, fand W. auch für sich die Zeit gekommen, von seiner Stelle zurückzutreten. Man hatte bisher es unterlassen, dem Seminar eine definitive Gestaltung zu geben, da man seine Einrichtung aufs innigste und unauflöslich mit Wehrli’s Persönlichkeit verwoben und von ihr getragen wußte. Jetzt mußte er im Seminar eine Umgestaltung gewärtigen, die ihm unmöglich zusagen konnte. Indessen ließ er sich doch bewegen, die Leitung desselben noch bis Frühjahr 1853 fortzusetzen.
Der Neujahrstag 1853 brachte ihm 40 alte Zöglinge aus verschiedenen Kantonen nach Kreuzlingen mit einer Dankadresse von mehr als 400 seiner ehemaligen Schüler. In ehrenvoller Weise wurde ihm für sein zwanzigjähriges Wirken die Anerkennung und der Dank des Großen Rathes zu Theil. Mit wehmüthigen Gefühlen schied W. im Mai 1853 vom Seminar, um zu seinem Schwiegersohn nach dem Guggenbühl (Gemeinde Andwyl) überzusiedeln.
Bald aber war auch dieser Schmerz überwunden. Mit jugendlicher Freude konnte er der nach einem Leben voll Mühe und Arbeit gewonnenen Freiheit und des ungehemmten Naturgenusses sich freuen. Wie aber hätte der Mann, dessen Leben Arbeit und Erzieherthätigkeit war, ruhen können? Auf dem Guggenbühl rief er eine landwirthschaftliche Mittelschule ins Leben, die unter seiner Leitung fröhlich aufblühte; seine Muße benutzte er dazu seine Lebenserfahrungen aufzuzeichnen. Doch es war ihm kein längeres Wirken mehr beschieden. An den Folgen einer Brustentzündung starb er am 15. März 1855. Auf dem Friedhofe zu Andwyl bezeichnet ein bescheidener Marmor Wehrli’s Grabstätte und das Wesen des Mannes durch seinen Denkspruch: Bete und arbeite!
Bleibend und unvergänglich ist Wehrli’s Bedeutung für die Armenerziehung. Hier gebührt ihm im Danke der Nachwelt eine Ehrenstelle neben den großen schweizerischen Volkserziehern seiner Zeit, deren Namen in alle Welt gedrungen: Pestalozzi, Fellenberg, P. Girard.
Nicht so unbestritten dürfte auf den ersten Anblick sein Verdienst als Lehrerbildner für die Volksschule sein. In Wehrli’s Rücktritt vom Seminar ist selbst ein Anflug des Gefühls: Unter der Erde liegt schon meine Zeit. Es ist wahr: [440] in mancher Beziehung war das patriarchalische Seminar Wehrli’s von den Zeitbedürfnissen überholt. Und doch ist’s, genauer besehen, nicht also mit dem Kerne von Wehrli’s Wirken am Seminar, wenn auch die zufällige, durch Wehrli’s Vergangenheit und autodidactisch erarbeitete eigene Bildung gegebene Form nur so lang genügen konnte, als die primitiven Verhältnisse des Schulwesens dauerten, denen sie angepaßt war. Manches ist seit vierzig Jahren erreicht, was W. und seine Zeit erst zu erkämpfen hatten. Und was Wehrli’s Wirken beseelte, ist gerade das, was unsere Zeit eben jetzt in erhöhtem Maße fordert: daß im Lehrerberuf die erziehende Thätigkeit wieder mehr Grundlage, in der Lehrerbildung die methodische Tüchtigkeit mit erneuter Kraft erstrebt, in der Schule harmonische Ausbildung von Herz, Kopf und Hand geboten und die Beziehung aufs Leben in ihr volles Recht eingesetzt werde.
- Die grundlegende Biographie von J. J. Wehrli ist: J. A. Pupikofer, Leben und Wirken von J. J. Wehrli als Armenerzieher und Seminardirector (Frauenfeld 1857); theilweise Ergänzungen bieten J. J. Schlegel, Drei Schulmänner der Ostschweiz (Zürich 1879, S. 241–278); Dr. H. Morf, J. J. Wehrli im Neujahrsbl. d. Hülfsgesellschaft Winterthur 1891 (Winterthur). P. Tschudi, „Vater Wehrli“ in d. Zeitschr. „Ueber Berg u. Thal“ (Zürich 1893). Wesentlich das Gepräge zusammenfassender Auszüge tragen die biographischen Skizzen von Hunziker (schweiz. Zeitschr. f. Gemeinnützigkeit 1871, schweizerische Schulgeschichte [Zürich 1881] III, 256 ff.), sowie von J. Seifensieder, J. J. Wehrli, ein Jünger Pestalozzi’s (Fürth 1896).