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ADB:Wieseler, Friedrich

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Artikel „Wieseler, Friedrich“ von Albert Müller in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 42 (1897), S. 430–433, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Wieseler,_Friedrich&oldid=- (Version vom 23. November 2024, 23:11 Uhr UTC)
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Wieseler: Friedrich Julius August W. wurde am 19. October 1811 zu Altencelle (Reg.-Bez. Lüneburg) geboren, wo sein Vater Pastor war. Schon im J. 1819 verlor er Vater und Mutter. Die Sorge für den verwaisten Knaben übernahm sein mütterlicher Großoheim, der Pastor Hölty zu Brome und später zu Hintbergen (Reg.-Bez. Lüneburg) – ein Bruder des bekannten Dichters. Von Ostern 1824 bis Michaelis 1829 besuchte W. das Gymnasium [431] zu Salzwedel, legte aber die Reifeprüfung am Gymnasium zu Göttingen ab. Aus einer Theologenfamilie stammend und selbst zum Studium der Theologie bestimmt, wurde er auf ein Jahr in die bald darauf eingegangene theologische Vorbereitungsanstalt des Klosters Loccum aufgenommen, wo er sich jedoch wegen des dort herrschenden crassen Rationalismus sehr unglücklich fühlte. Daher studirte er, als er Michaelis 1830 die Universität Göttingen bezog, allerdings noch bei Ewald orientalische Sprachen, wandte sich aber bald ausschließlich dem Studium der hauptsächlich durch K. O. Müller vertretenen classischen Philologie zu. Michaelis 1833 führte ihn der Wunsch, Boeckh’s Vorlesungen zu hören, nach Berlin, wo er noch ein Jahr immatriculirt war, dann aber für sich seine Studien fortsetzte, namentlich auch in den königlichen Museen. Im J. 1836 kehrte er nach Göttingen zurück und privatisirte daselbst, bis er sich Michaelis 1839, als K. O. Müller seine Reise nach Italien und Griechenland antrat, für Philologie und Archäologie habilitirte. Nach Müller’s Tode wurde er 1842 zum außerordentlichen Professor ernannt und zugleich mit der Aufsicht über die archäologisch-numismatischen Sammlungen betraut; dieses letztere Amt theilte er indessen 1843 auf seinen eigenen Wunsch mit K. F. Hermann, dem Nachfolger Müller’s. In demselben Jahre verheirathete er sich mit Frl. E. Nöldeke, Tochter des Postmeisters Nöldeke[WS 1] zu Göttingen, mit der er fast fünfzig Jahre in glücklichster, aber kinderloser Ehe gelebt hat. Einen Ruf nach Dorpat lehnte er 1845 ab, nachdem ihm eine Gehaltszulage bewilligt und die Gründung eines mit mehreren kleinen Stipendien ausgestatteten archäologischen Seminars – des ersten in Deutschland – zugesagt war. Vom November 1845 bis zum Juli 1846 wurde seine Lehrthätigkeit durch eine Reise nach Italien und Sicilien unterbrochen, die ihm wissenschaftlich reichen Ertrag gewährte, für seine Gesundheit aber nicht vortheilhaft war; einen hartnäckigen Rheumatismus verlor er erst später im Bade Eilsen. Im J. 1854 wurde er ordentlicher Professor und 1856 nach Hermann’s Tode wieder alleiniger Director des archäologisch-numismatischen Instituts. Bis zu diesem Jahre hatte der Professor eloquentiae allein sämmtliche Abhandlungen für die Indices scholarum u. s. w. geschrieben, nun aber wurden drei philologische Professoren, unter ihnen W., mit diesem Geschäfte beauftragt; seit den sechziger Jahren hatte er auch mitunter die Festrede bei den Preisvertheilungen zu halten. In die Societät der Wissenschaften wurde er im J. 1869 aufgenommen; während er bis dahin alljährlich – so lange Hermann lebte abwechselnd mit diesem – ein Winckelmannsprogramm herausgegeben hatte, ließ er jetzt derartige Arbeiten in den Nachrichten der Societät erscheinen. In die Facultät trat er 1874 ein und verwaltete als Mitglied derselben im J. 1878/79 das Decanat. Am 1. October 1889 legte er die Aufsicht über das archäologisch-numismatische Institut nieder und behielt nur die wöchentlich einstündigen Uebungen des Seminars bei. Bei dieser Gelegenheit wurde er durch Verleihung des Charakters als Geheimer Regierungsrath ausgezeichnet. Außer zahlreichen Bade- und Erholungsreisen hat er mehrfach wissenschaftliche Reisen unternommen, so besuchte er 1859 Paris, 1861 London, 1863 Kopenhagen, 1867 Petersburg und Stockholm, 1873 Griechenland und Konstantinopel, 1874 Oberitalien und 1883 zum zweiten Male Rom. Von den wissenschaftlichen Ergebnissen mehrerer dieser Reisen hat er in den Nachrichten der Societät Rechenschaft abgelegt. Am 3. December 1892 starb er sanft infolge eines acht Tage zuvor eingetretenen Schlagflusses.

Dieses so einfach verlaufene Gelehrtenleben ist durch eine außerordentlich rührige Thätigkeit ausgefüllt. W. war von der Philologie zur Archäologie gelangt und hat zeitlebens an der Verbindung beider Disciplinen festgehalten. Lange Jahre hat er eine philologische Societät geleitet und stets auch philologische [432] Vorlesungen gehalten, auch als Schriftsteller sich mit der Kritik und Hermeneutik griechischer Autoren beschäftigt, hauptsächlich der Dramatiker, aber auch Hesiod’s und einiger Prosaiker, selbst solcher, die dem classischen Philologen ferner liegen, wie Clemens Romanus. Ganz besonders ist diese Verbindung von Philologie und Archäologie seinen Arbeiten auf dem Gebiete des griechischen Bühnenwesens zu Gute gekommen, auf das er durch die über K. O. Müller’s Ausgabe der Eumeniden entstandenen Streitigkeiten geführt wurde und dem er einen großen Theil seiner Kraft gewidmet hat. Schon seine ersten Abhandlungen (zu Aesch. Eumeniden und Aristoph. Vögeln) enthalten Einschlagendes; die Schrift über die Thymele beschäftigt sich namentlich mit der Herrichtung der Orchestra für scenische Aufführungen; die größere Arbeit über das Satyrspiel behandelt außer den Alterthümern des Satyrdramas auch einige allgemeine Fragen, besonders in Betreff des Kostüms. Diesen Schriften folgte 1851 das Buch „Theatergebäude und Denkmäler des Bühnenwesens“, welches das erste umfassende Urkundenbuch für die Theaterarchitektur und die scenischen Bildwerke mit eingehenden Erklärungen bildet. Ein besonderer Beweis außerordentlicher Gelehrsamkeit ist der Artikel „Griechisches Theater“ in Ersch und Gruber’s Allg. Encyclopädie Sect. I, Band 83, welcher eine Statistik der Theater und eine Erörterung des griechischen Theaterbaus enthält. In einer Anzahl von Aufsätzen in den Annali dell’ Instituto di corrispondenza archeologica, sowie in mehreren Proömien der Göttinger Universität hat W. ferner theils die Publication scenischer Bildwerke fortgesetzt, theils einzelne Fragen der Bühnenalterthümer mit gewohnter Gründlichkeit erörtert. Sein unbestrittenes Verdienst ist es, zum ersten Male in ausgedehntem Maße die antiquitas figurata bei Behandlung scenischer Fragen herangezogen zu haben, und seine Anschauungen sind in wesentlichen Stücken lange Zeit für weite Kreise maßgebend gewesen. Neuerdings hat man in der Behandlung dieser Disciplin andere Bahnen eingeschlagen.

Auf rein archäologischem Gebiete ist Wieseler’s bedeutendstes Werk die verdienstvolle Fortsetzung und Erneuerung von O. Müller’s „Denkmälern der alten Kunst“, von der leider die dritte Bearbeitung des zweiten Bandes unvollendet geblieben ist. Der Text dieses Werkes zeigt dieselben Eigenschaften, welche Wieseler’s sonstige zahlreiche Einzelschriften charakterisiren, gründliche Sachkenntniß, vorsichtige Kritik und außerordentliche Akribie; überhaupt fühlte er sich sehr zur Einzeluntersuchung hingezogen. In einer größeren Zahl seiner Abhandlungen beschäftigt er sich mit Untersuchungen über die Symbole und Attribute der Götter, wie er denn auch eine Vorlesung über Symbolik zu halten pflegte. Das Hauptgewicht bei der Behandlung der Denkmäler legte er auf die Erklärung, Erörterungen über den Stil der Kunstwerke lagen ihm ferner. In seinen Vorlesungen pflegte er im Vortrage deutlich zu unterscheiden zwischen dem für die Aufzeichnung Bestimmten und dem zur Erläuterung Hinzugefügten.

W. war eine liebenswürdige, durchaus irenische Natur, die gern persönliche Conflicte vermied; so liebte er es auch nicht, im mündlichen Verkehr Differenzen in wissenschaftlichen Anschauungen zum Austrage zu bringen, in seinen Schriften konnte er jedoch mitunter scharf werden. Seinen Schülern, unter denen einige zu großer Bedeutung in der Wissenschaft gelangt sind, gewährte er gern Anregung und Rath, und zog sie auch zu geselligem Verkehr in seiner äußerst behaglichen Häuslichkeit heran. Viele werden sich mit Dank der großen Herzlichkeit erinnern, mit der ihnen W. und seine Gemahlin entgegen kamen. Kein Wunder, daß seine Denktage sich durch die auch einen äußeren Ausdruck findende Theilnahme seiner Schüler zu schönen Festtagen gestalteten. So stifteten diese z. B. 1892 zu seinem fünfzigjährigen Professorenjubiläum ein Reliefporträt, [433] das, von Küsthardt meisterhaft in Marmor ausgeführt, erst nach seinem Tode vollendet und in den Räumen des archäologischen Instituts angebracht wurde.

Wieseler’s Leistungen fanden auch höheren Orts die gebührende Anerkennung; so wurde er sowol von der hannoverschen und preußischen, als auch von der schwedischen, italienischen und griechischen Regierung durch Ordensverleihungen ausgezeichnet.

Nach eigenhändigen Aufzeichnungen Wieseler’s und einer von seiner Wittwe verfaßten Biographie.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Arnold Nöldeke (1768–1839): Vgl. Neuer Nekrolog der Deutschen. 17. Jahrgang, 1839. Erster Theil. Weimar 1841, S. 162–164