Berliner Zeitungen und Redacteure

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Titel: Berliner Zeitungen und Redacteure
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aus: Die Gartenlaube, Heft 21, S. 324–329
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Berliner Zeitungen und Redacteure.

Unter der Regierung Friedrich des Ersten von Preußen erschien in Berlin im Verlag der Rüdinger’schen Buchhandlung eine in Octav auf grauem Löschpapier gedruckte Zeitung, die jedoch nur mit Unterbrechungen herauskam und sich auf die dürftigsten und magersten Nachrichten beschränkte. Sein Nachfolger, der bekannte „Soldatenkönig“, war ein entschiedener Feind aller Publicistik und verbot selbst dieses elende Blatt, da er von dem Grundsatz ausging, daß das Volk sich um politische Angelegenheiten gar nicht kümmern sollte.

Von 1713–14 gab es daher gar keine Zeitung in Berlin. Der König selbst ließ sich die neuesten Nachrichten aus dem „Amsterdamer Courier“ von seinem Hofnarren und Historiographen Gundling in dem berühmten Tabakscollegium vorlesen. Dazu schimpfte er über das Gesindel der schlechten Presse, wenn sich die „verfluchten Zeitungsschreiber“ über seine Potsdamer Garde lustig machten. Hatte doch ein solcher „Kerl“ die Frechheit gehabt, in den holländischen Blättern zu melden, daß man bei der Section des baumlangen Flügelmanns Jonas kein Herz in der Leiche gefunden habe; wogegen der König witzig repliciren ließ, daß bei einem verstorbenen Zeitungsschreiber das Gehirn gänzlich gefehlt haben soll.

Trotzdem sah sich selbst dieser patriarchalische Despot gezwungen, der öffentlichen Meinung eine Concession zu machen, als er gegen die Schweden in’s Feld rückte. Um die Neugierde der lieben Berliner und auch um die eigene Eitelkeit zu befriedigen, da die Truppen unter seinem Befehl siegreich fochten, ertheilte er die Erlaubniß, das Publicum mit den neuesten Vorgängen auf dem Kriegsschauplatz bekannt zu machen. Dazu brauchte man aber eine Zeitung, und so erhielt der genannte Buchhändler Rüdinger am 11. Februar 1722 das Privilegium zum Druck einer „Berlinischen Zeitung“, die er wöchentlich dreimal gegen Erlegung eines Kanon von zweihundert Thalern herausgeben durfte.

[325]

Berliner Redacteure.

Dr. H. Steinitz,
Redacteur der Volkszeitung.
Dr. Beutner,
Redacteur der Kreuzzeitung.
Dr. A. Schmidt,
Redacteur der Spener’schen Zeitung.
Dr. A. Braß,
Redacteur der Norddeutschen Zeitung.
Dr. H. Kletke,
Redacteur der Vossischen Zeitung.
Dr. G. Weiß,
Redacteur der Zukunft.
Dr. F. Zabel,
Redacteur der National-Zeitung.
Jul. Stettenheim,
Redacteur der Berliner Wespen.

[326] Auch diese neue Zeitung war äußerst dürftig und beschränkte sich hauptsächlich auf locale Berichte über die damals überaus häufigen Executionen und grausamen Hinrichtungen, sowie auf ausführliche Beschreibung der abgehaltenen Hoffestlichkeiten bei den fürstlichen Besuchen und hochzeitlichem Beilager. Erst unter Friedrich dem Großen gewann das Berliner Zeitungswesen an Ausbreitung und Interesse. Gleich nach seinem Regierungsantritt erhielt die Haude’sche Buchhandlung, von der Friedrich als Kronprinz heimlich hinter dem Rücken seines gestrengen Vaters die neuesten Erzeugnisse der französischen Literatur bezog, ebenfalls die Erlaubniß, eine zweite Zeitung in Berlin herauszugeben mit dem Motto „Wahrheit und Freiheit“. Haude starb 1748, das ihm ertheilte Privilegium gelangte jedoch an den Bruder seiner Wittwe, den Buchhandler Spener. Dagegen verlor die „Rüdinger’sche Zeitung“ ihr bisheriges Privilegium, weil sie die unerhörte Kühnheit gehabt hatte, in ihren Spalten die Nachricht zu bringen, daß das königliche Lagerhaus eingehen sollte und die märkischen Landstände hunderttausend Scheffel Korn liefern müßten. Da aber das Bedürfniß nach einer zweiten Zeitung sich immer dringender herausstellte, so erhielt der Buchhändler Christian Friedrich Voß, ein Schwiegersohn Rüdinger’s, im Jahre 1751 ein neues Privilegium. Das ist der Ursprung der beiden ältesten, noch heute bestehenden Zeitungen Berlin’s, der „Spener’schen“ und „Vossischen“, welche der Berliner Volkswitz mit den charakteristischen Beinamen „Onkel“ und „Tante“ getauft hat.

Friedrich der Große nahm an der Entwicklung der Zeitungen den lebhaftesten Antheil; er selbst erkannte bereits die Macht der öffentlichen Meinung an und verschmähte es nicht, zuweilen durch einen Artikel von seiner eigenen Hand dieselbe zu berichtigen. Vor Allem aber schützte er die junge Presse gegen jede Belästigung, indem er den noch heute beherzigenswerthen Grundsatz aussprach: „Gazetten dürfen, wenn sie interessant sein sollen, nicht genirt werden“.

Wenn er sich auch später durch mancherlei indiscrete Mittheilungen über die Märsche und Stellungen seiner Truppen zur Zeit des siebenjährigen Krieges veranlaßt sah, einige Beschränkungen eintreten zu lassen, so wurde doch auf seinen ausdrücklichen Wunsch die von ihm angeordnete Censur mit großer Milde und Schonung geübt. Um so strenger war das Verfahren gegen die Berliner Zeitungen unter seinem schwachen, irre geleiteten Nachfolger, Friedrich Wilhelm dem Zweiten. Seine Minister und Günstlinge, der berüchtigte Bischoffswerder und der noch verrufenere Wöllner, bedrohten durch ihre bekannten Edicte zugleich die Freiheit des Gewissens und des Geistes.

Die Folgen konnten nicht ausbleiben und das Jahr 1806 mit seinen schmachvollen Niederlagen zeigte nur zu klar, wohin die Bevormundung des Geistes, die Unterdrückung der öffentlichen Meinung, die Beschränkung der Presse eine Regierung führt. Das Volk blieb fast theilnahmlos bei dem Unglück des Vaterlandes; nirgend eine Spur von patriotischer Begeisterung, von energischem Widerstand gegen die Fremdherrschaft, überall dagegen Muthlosigkeit, knechtische Furcht, Abfall und Verrath. Unter dem französischen Joch sanken auch die Berliner Zeitungen zur traurigsten Unbedeutsamkeit herab, indem sie ihre Spalten mit den prahlerischen Siegesbülletins des Moniteur oder mit dem elendesten Theaterklatsch ausfüllten. Um so heller loderte die Begeisterung auf, als das Volk aufstand zum heiligen Kampf für die Freiheit, an dem auch die Berliner Presse ihren redlichen Antheil nahm.

Leider währte diese erhöhte Stimmung nur kurze Zeit, um der immer mehr hervortretenden Reaction Platz zu machen. Es kamen die schimpflichen Tage der Demagogen-Verfolgung, der Karlsbader Beschlüsse, der Maßregeln gegen die Presse, deren Dienste schnell vergessen wurden. Unter dem unerträglichen Druck der verschärften Censur verloren die Berliner Zeitungen jedes Interesse, schrumpften die Berichte über die wichtigsten inneren Angelegenheiten zu wenigen nichtssagenden Zeilen zusammen. Um so üppiger machten sich die localen Tagesneuigkeiten, der banale Stadtklatsch breit. Die Aufführung einer neuen Oper oder eines Ballets war ein Ereigniß für die Residenz und wurde mit der größten Wichtigkeit behandelt, obgleich selbst die unschuldigen Theaterkritiken einer strengen Aufsicht unterlagen. Kein neues Stück durfte damals vor der dritten Vorstellung öffentlich besprochen werden, und jeder noch so bescheidene Tadel mußte vor dem Rothstift des Censors schwinden oder sich in das Gegentheil verwandeln, wenn der betreffende Künstler oder die Künstlerin sich einer hohen Protection erfreuten. Ein Angriff auf den von Oben begünstigten Generaldirector Spontini galt fast für ein Majestätsverbrechen und eine Satire auf die angebetete Sängerin Sontag, die erst später den Grafen Rossi heirathete, zog dem jungen Rellstab eine einjährige Gefängnißstrafe zu. Unter solchen Verhältnissen war es kein Wunder, daß die beiden Berliner Zeitungen als bloße Localblätter vegetirten. Höchstens war es ihnen gestattet, die ausländischen Vorgänge zu besprechen, aber selbst diese nur mit vielen Censurlücken und oft so verstümmelt, daß die Leser nur ein mangelhaftes oder falsches Bild von den französischen und englischen Kammerverhandlungen erhielten, so daß das gebildetere Publicum, wenn es sich über die inneren und äußeren Verhältnisse unterrichten wollte, sich gezwungen sah, in fremden Zeitungen die gewünschte Belehrung zu suchen. Dennoch fühlte die Regierung die Nothwendigkeit, ihre Maßregeln vor der öffentlichen Meinung zu rechtfertigen. Diesem Umstande verdankte der sogenannte „Staatsanzeiger“ seine Entstehung, dessen Redaction anfänglich der Staatsrath Stägemann und der vielseitige Günstling des Staatskanzlers Hardenberg, der bekannte Doctor Koref, später der einst so beliebte und jetzt vergessene Schriftsteller Carl Heun, alias Clauren, übernahm, Verfasser der zu ihrer Zeit mit Begierde verschlungenen Mimili-Romane.

Schon mit der Julirevolution und noch mehr seit der Thronbesteigung Friedrich Wilhelm des Vierten trat ein bedeutender Wendepunkt in dem politischen Leben des preußischen Volkes ein. Die Verleihung des wenn auch noch so mangelhaften Februar-Patents, die Verhandlungen des vereinigten Landtags, die dabei sich entwickelnde Opposition boten dem Publicum und auch den Zeitungen einen reichen Stoff, während die Einführung des Ober-Censurgerichts der unterdrückten Presse einigermaßen Schutz gegen die Willkür der Censur gewährte. Bald jedoch verkümmerte die herrschende pietistische Richtung und die auf ihr Ansehen eifersüchtige Bureaukratie diese kaum nennenswerthe Freiheit, obgleich die Regierung die von ihr selbst herausgeforderte öffentliche Meinung nicht mehr zu unterdrücken vermochte.

Mit jedem Tage wurde die Opposition stärker und mächtiger, die liberale Bourgeoisie ihrer Macht sich bewußter. Schon im Jahre 1846 gab der talentvolle G. Julius ein neues Blatt, die „Berliner Zeitungshalle“, heraus, welche anfänglich das liberale Princip vertrat, aber nach der Revolution des Jahres 1848 durch ihre radicale Haltung die besitzenden Classen abstieß und deshalb einging. Glücklicher war die von einer Anzahl wohlhabender und freisinniger Männer auf Actien gegründete „Nationalzeitung“, die unter der Redaction des verdienstvollen Doctor Zabel einen bedeutenden Aufschwung nahm.

Mit den Märztagen und der Befreiung der Presse begann überhaupt eine neue Periode für das Berliner Zeitungswesen. Jede Partei, selbst jede Fraction suchte sich ihr eigenes Organ zu schaffen, besonders blühte die humoristische Tagesliteratur, welche von fliegenden Buchhändlern in den Straßen colportirt wurde. Die darauf folgende Reaction und der eingetretene Belagerungszustand machte diesem frischen Treiben ein plötzliches Ende. Die meisten dieser politischen Eintagsfliegen starben entweder eines gewaltsamen Todes[WS 1] oder gingen an der Apathie des Volkes zu Grunde. Dies Schicksal traf vor Allen die zahlreichen Witzblätter, während die Organe der Mittelpartei, der sogenannten „Gothaer“, trotz aller Anstrengungen und Opfer dahinsiechten.

Nur die beiden Schöpfungen der äußersten Richtungen, die demokratische „Urwähler-Zeitung“, durch den genialen Bernstein in’s Leben gerufen, und die feudale „Neue preußische Zeitung“ (Kreuzzeitung), die, von einer aristokratischen Gesellschaft gegründet, in dem Assessor Wagener den geeigneten Redacteur erhalten hatte, zeigten eine festere Constitution und wahre Lebenskraft, während „Kladderadatsch“ sich seit seiner Geburt als „ein gesundes Berliner Kind“ legitimirte.

So lange die Schreckensherrschaft Hinckeldey’s dauerte, schwebte über den Berliner Zeitungen trotz der durch die Verfassung garantirten Preßfreiheit das Damoklesschwert einer unerhörten Willkür. Die freisinnige Presse ward in einer kaum glaublichen, empörenden Weise gemaßregelt, die mißliebigen Zeitungen wurde confiscirt, die Redactionen durch Haussuchungen belästigt, die Mitarbeiter durch Preßprocesse eingeschüchtert, die liberalen Schriftsteller [327] ausgewiesen oder eingesperrt, die Buchdrucker mit Concessionsentziehungen bedroht, um das Erscheinen der Blätter zu hindern. Unter solchen Verhältnissen sah sich die Urwähler-Zeitung nach langen, schweren Kämpfen gezwungen, vorläufig einzugehen, um jedoch bald wieder als „Volkszeitung“ im Verlag von Franz Duncker ihre Auferstehung zu feiern. Selbst die loyale Kreuzzeitung wurde nicht geschont und eine Zeit lang systematisch chicanirt, weil sie nicht in allen Stücken nach der Pfeife des „Dey von Berlin“ tanzen wollte.

Nach dem Tode Hinckeldey’s durch die Hand des „edlen“ Hans von Rochow, wie ihn der Präsident des Herrenhauses nannte, athmete die gequälte Presse wieder auf, obgleich sie unter dem Ministerium Manteuffel-Westphalen keineswegs auf Rosen gebettet lag. Aber weder die Tyrannei des früheren Polizeipräsidenten, noch die späteren „Preßordonnanzen“, noch die zahlreichen Processe und Verurtheilungen konnten die fortschreitende Entwickelung der Zeitungen aufhalten und die mit jedem Tage mehr anerkannte Macht der Presse beschränken.

Statt eines elenden, zusammengestoppelten Blättchens auf grauem Löschpapier erscheinen jetzt neun große Zeitungen, die täglich, zum Theil zweimal, oft mit fünf bis acht Beilagen versehen, ausgegeben werden. In ihrem Dienste stehen der elektrische Telegraph und das transatlantische Kabel, welche die wichtigsten Nachrichten mit Blitzesschnelligkeit aus den fernsten Ländern ihnen zutragen. Die bedeutendsten und tüchtigsten Männer sind an der Redaction oder als Mitarbeiter beschäftigt. Ein Heer von Setzern und Druckern arbeitet bei Tag und Nacht; Ballen von unendlichem Papier werden von der Schnellpresse mit Hülfe der Dampfkraft überwältigt und Tausende von Exemplaren, die oft die Stärke eines mäßigen Buches erreichen, verbreiten an jedem Morgen mit den neuesten Nachrichten Bildung, Aufklärung und Gesittung in allen Schichten der Gesellschaft.

Außer den politischen Blättern besitzt Berlin noch zwei Gerichtszeitungen, die ebenfalls sich noch mit Politik befassen, ferner die beiden humoristischen Wochenschriften „Kladderadatsch“ und „Wespen“, während für die Interessen der Kunst, Wissenschaft, der Mode und des Theaters, für kirchliches Leben und ähnliche Zwecke gegen zweihundert mehr oder minder bekannte und verbreitete Organe sorgen.

Von den beiden ältesten Berliner Zeitungen nimmt unstreitig die Vossische in der Gunst des Publicums den ersten Rang ein. Sie ist dem echten Berliner unentbehrlich und wenn er in der Fremde weilt, greift er gewiß zuerst nach der geliebten „Tante“, um zu erfahren, was in der Heimath passirt. Diese Vorliebe verdankt sie wohl zumeist ihren trefflichen Eigenschaften einer treuen Berichterstatterin, indem sie wie ein Spiegel das Bild des Berliner Lebens wiedergiebt; außerdem aber dem Umstande, daß sie ähnlich wie die „Times“ stets mit der öffentlichen Meinung Hand in Hand geht und mit anerkennungswerther Unabhängigkeit den gesunden Menschenverstand und den vernünftigen Fortschritt repräsentirt. Zu allen Zeiten kämpfte sie, wie noch jetzt, auf politischem und auf religiösem Gebiete für die Freiheit des Gewissens, vertrat und vertritt sie stets das liberale Bewußtsein des aufgeklärten und gebildeten Bürgerstandes, beseelt von jenem Geiste humaner Duldung, den sie von ihrem ältesten und größten Mitarbeiter, Gotthold Ephraim Lessing, geerbt zu haben scheint.

Zugleich hat sie immer das große Glück oder Verdienst gehabt, daß sie noch stets zur rechten Zeit auch den rechten Mann zu finden wußte. So war der bekannte Rellstab der ganz geeignete Mann für sie in jenen Tagen, wo das artistisch-literarische Interesse noch das politische Leben überwog. Damals schwur der Berliner auf seinen Rellstab, und so leicht hätte Niemand ein Urtheil über eine Oper oder ein Schauspiel abgegeben, bevor nicht der große Kritiker der Vossischen sein Wort gesprochen. Mit Entzücken wurden seine gemüthlichen Weihnachtswanderungen, mit Bewunderung seine harmlosen Reisebilder gelesen. Er war im eigentlichen Sinne der Genius der Vossischen Zeitung, bis die Revolution auch ihn von seinem literarischen Throne stürzte und seiner patriarchalischen Herrschaft ein Ende machte.

Mit dem Jahre 1848 gewann die Vossische Zeitung an dem leider zu früh gestorbenen Dr. Otto Lindner ein frische, bedeutende Kraft, welche die neue Ordnung der Dinge forderte. Mit einer gründlichen philologischen Bildung, einem tiefen philosophischen Wissen und den gediegensten künstlerischen Studien besonders auf musikalischem Gebiete verband Lindner einen seltenen politischen Scharfblick und eine große Energie des Charakters, die zuweilen selbst an Schroffheit grenzte. Durch diese Eigenschaften gab er dem ihm anvertrauten Blatt eine feste, entschiedene Richtung, indem er es zugleich aus der gemüthlichen Weißbier-Sphäre localer Beschränkung zu einem höheren, selbst ideellen Standpunkt mit bewunderungswürdiger Kraft und Vorsicht erhob. In der „Sonntagsbeilage“ erschien er zwar als Anhänger der Schopenhauer’schen Philosophie, aber in dem politischen Theil der Zeitung war er nichts weniger als ein thatenloser „Quietist“, sondern einer der muthigsten Kämpfer für Freiheit, Recht und Wahrheit. Hier erwarb er sich vor Allem das große Verdienst, durch seine unablässigen Angriffe wesentlich mit zur Beseitigung des Manteuffel'schen Regiments beigetragen zu haben. Auch in dem Conflict zwischen der jetzigen Regierung und dem Abgeordnetenhause unterstützte er mit der ganzen Macht seines Talents und seines Charakters das letztere, während er mit staatsmännischer Einsicht die großen Ereignisse des Jahres 1866 erfaßte und in diesem Sinn das Werk der deutschen Einheit nach Kräften zu fördern suchte.

Nach seinem beklagenswerten Tode übernahm sein schlesischer Landsmann und langjähriger Mitarbeiter, Dr. Hermann Kletke, die Redaction, dieselbe im gleichen Geist fortführend. Ursprünglich nur als begabter Lyriker, als Dichter reizender Kindermärchen und viel gelesener Jugendschriftsteller bekannt, entwickelte der liebenswürdige und bescheidene Kletke eine überraschende politische Befähigung und eine Vielseitigkeit, wodurch die von ihm jetzt geleitete Zeitung eher gewonnen als verloren hat. Noch heute wie früher ist die Vossische Zeitung das Lieblingsblatt des gebildeten Bürgerstandes, auf dessen Anschauungen sie den größten Einfluß übt. Unter ihren Mitarbeitern befinden sich viele ausgezeichnete Männer, wie der Nestor der Berliner Journalistik, der fünfundachtzigjährige Professor Gubitz. Gegenwärtig zählt dieselbe mehr als siebenzehntausend Abonnenten, außerdem hat sie die zahlreichsten Annoncen, so daß sie an manchen Tagen bis zehn Bogen Beilagen bringt. Ihre Besitzer, die Lessing’schen Erben, Verwandte des berühmten Lessing, beziehen aus ihr eine höchst bedeutende Jahresrevenue.

Ihre gleichaltrige Collegin, die Spener’sche Zeitung, wird dagegen wegen ihrer mehr vermittelnden Stellung und minder entschiedenen Haltung vorzugsweise in den höheren Beamten- und Professorenkreisen gelesen. „Onkel Spener“ macht weit mehr den Eindruck eines alten, behaglichen und bedächtigen Herrn, der sich nicht gerne echauffirt und lieber mit aller Welt in Frieden lebt, als die lebhafte, sanguinische Tante, welche nach Art resoluter Frauen kein Blatt vor den Mund nimmt und, wenn es ihr zu toll wird, kräftig dazwischen fährt. Durch den früheren Besitzer und Redacteur, Dr. Spiker, der wegen seiner Vorliebe für englische Institutionen und Literatur den Beinamen „Lord Spiker“ führte, hat die Spener’sche Zeitung eine gewisse vornehm steife, gentlemanlike reservirte Haltung angenommen. Obgleich von der Regierung unabhängig, erhält sie wegen ihrer gemäßigten Stellung von Zeit zu Zeit einen freundschaftlichen Händedruck in Form vertraulicher Mittheilungen aus „sicherer Quelle“ oder einen Wink von hochgestellten Beamten, die mit dem stets anständigen Onkel auf vertrautem Fuß stehen. Ganz besondere Aufmerksamkeit schenkt sie den Erscheinungen des Büchermarktes, die sie weniger mit kritischer Schärfe als bibliophiler Sorgsamkeit bespricht, wodurch sie sich in den gelehrten Kreisen Anerkennnug erworben hat.

Ihr jetziger Redacteur, Dr. Alexis Schmidt, zugleich Vorsitzender des Vereins der „Berliner Presse“, genießt wegen seines biederen Charakters, seiner Humanität und Gefälligkeit die allgemeinste Verehrung. Wie in seinem Blatt nimmt er auch im Leben eine zwischen den Parteien stets vermittelnde, die Extreme versöhnende und darum höchst beliebte Stellung ein.

Unter den demokratischen Zeitungen Berlins behauptet die „Volkszeitung“, welche an die Stelle der eingegangenen „Urwähler-Zeitung“ getreten ist, noch immer den höchsten Rang. Sie besitzt in ihrem eigentlichen Redacteur Herrn Bernstein, dessen Portrait und Biographie die Gartenlaube bereits im Jahrgang 1861 brachte, eine wahrhaft bewunderungswürdige, unerschöpfliche Kraft. Seine zahllosen Leitartikel, seine naturwissenschaftlichen Aufsätze haben die Volkszeitung zum gelesensten Blatt gemacht. An populärer Begabung findet er kaum seines Gleichen, an Scharfsinn und geistvoller Auffassung [328] steht er unübertroffen da. Stets überrascht er durch neue glückliche Wendungen, durch die staunenswerthe Klarheit und Originalität seiner Gedanken. Selbst die Gegner, welche ihm eine gewisse „talmudische“ Spitzfindigkeit oder politische Consequenzenmacherei zum Vorwurf machen, ihn wegen mancher Verirrung besonders in den Fragen der äußern Politik tadeln, müssen dem Geist des Schriftstellers, dem lauteren Charakter des Mannes volle Gerechtigkeit widerfahren lassen. Der Leitartikel Bernstein’s ist die Seele, der Geist der Volkszeitung, deren politische Nachrichten von den Herren Dr. Holdheim und Steinitz redigirt werden, während Herr Dr. Max Hirsch den socialen Theil mit besonderer Aufmerksamkeit und Sachkenntniß besorgt. Die Abonnentenzahl, wohl zur Hälfte den arbeitenden Classen angehörig, schwankt je nach den Zeitverhältnissen zwischen 25–30,000.

Der durch Johann Jacoby besonders in der deutschen Frage vertretene Standpunkt eines Theils der entschieden demokratischen Partei und die damit verbundene Spaltung hat eine neue Zeitung, „die Zukunft“, unter der Redaction des Herrn Dr. Guido Weiß in’s Leben gerufen, wozu die von den Freunden Jacoby’s gesammelte Summe von fünfzehntausend Thalern von diesen bestimmt wurde. Anfänglich Mediciner, hat Herr Weiß sich später mit seinem Freunde und Landsmann Lindner an der Vossischen Zeitung betheiligt, in der seine geistvollen Berichte besonders über die preußischen Kammerverhandlungen durch Schärfe und pikanten Stil nur wohlverdientes Aufsehen erregten. Durch die Natur seines Blattes, so wie durch eigene Neigung auf die Polemik angewiesen, gebraucht er die ihm zu Gebote stehenden Waffen der Satire und des schneidenden Witzes mit eleganter Sicherheit, aber auch oft mit schonungsloser Consequenz, so daß er Freunde und Feinde zugleich verwundet und verletzt. Seine spitz zugeschliffenen Leitartikel sind mitunter zu fein für die große Menge und darum Caviar für das Volk, während sie von den höher Gebildeten der Partei mit großem Genuß gelesen und gewürdigt werden. Guido Weiß ist übrigens – zum ersten Mal in Deutschland – mit einem Wagniß vorgegangen, das einen schlagenden Beweis von der Beliebtheit seines Blattes liefert. Nachdem die oben erwähnten Mittel zur Kostendeckung seiner Zeitung verausgabt waren, erschien die weitere Existenz des Blattes, das sich selbst noch nicht deckte, gefährdet und die Presse kündigte bereits das Eingehen desselben an. Da erließ Guido Weiß einen in sehr würdigem Ton gehaltenen Aufruf an alle Freunde des Blattes und der entschiedenen Demokratie, worin er ohne Weiteres aufforderte, die Fortexistenz eines so wichtigen Organs der guten Sache durch freiwillige Beiträge zu ermöglichen. Und siehe da – binnen vierzehn Tagen waren nicht nur die augenblicklich nöthigen Mittel vollständig vorhanden, die Beiträge liefen auch so beträchtlich und zahlreich ein, daß nunmehr das Bestehen der „Zukunft“ auf Jahre hinaus gesichert ist.

Das Organ der sogenannten anständigen oder gemäßigten Demokratie ist die „National-Zeitung“, welche, von ihrem Redacteur Herrn Dr. Zabel mit großer Umsicht durch alle Klippen und Untiefen der politischen Gewässer gesteuert, noch stets die Schwierigkeiten ihrer eigenthümlichen Stellung glücklich überwunden oder vermieden hat, ohne ihrem Principe untreu zu werden, oder ihren wohlbegründeten Ruf einzubüßen. Dazu war und ist gerade Herr Zabel der geeignete Mann, da er bei aller scheinbarer Nachgiebigkeit sein Ziel unverrückbar im Auge behält und mit einer gewissen Elasticität auch die Zähigkeit und Festigkeit eines darum allgemein geachteten Charakters verbindet. Zum Theologen bestimmt, wußte er sich eine so vielseitige Bildung zu erwerben, daß er sogar einige Zeit an der Herausgabe eines medicinischen Werkes sich betheiligte. Vor Allem aber besitzt er die seltene Eigenschaft, junge Talente zu erkennen, aufzumuntern und an die richtige Stelle zu bringen. Diesem Umstande verdankt die Nationalzeitung eine Anzahl ausgezeichneter Mitarbeiter, die merkwürdiger Weise zum Theil später in den Staatsdienst übergetreten sind, wie die Herren Lothar Bucher und Michelis. Besondere Sorgfalt schenkt die Redaction dem Feuilleton, an welchem Adolph Stahr, Titus Ullrich, Karl Frenzel, Woltmann, Julius Lessing etc. arbeiteten, während der handelspolitische und volkswirthschaftliche Theil von Herrn Schweitzer mit großer Umsicht und vielem Geschick geleitet wird.

Nach so manchen gescheiterten und wieder aufgegebenen Versuchen hat auch die gegenwärtige Regierung an der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung“ ein geeignetes Organ und in Herrn Dr. August Braß den ihr zusagenden Redacteur gefunden. Derselbe gehörte in vormärzlicher Zeit und im Jahre 1848 wie die Mehrzahl der damaligen Jugend zu der äußersten Demokratie. In seiner Sturm- und Drangperiode schrieb er noch sociale „Geheimnisse von Berlin“ und rothe „Barricadenlieder“. Durch die nachfolgenden Ereignisse zur Flucht gezwungen, lernte er in der Schweiz das traurige Loos der Verbannung kennen. Das heiße Blut hatte sich abgekühlt und die Begeisterung war der kälteren Betrachtung gewichen. Als Herr Braß in Folge der erlassenen Amnestie nach Berlin zurückkehrte, war der politische Umwandlungsproceß so weit gediehen, daß er ein „Norddeutsches Wochenblatt“ gründete, aus dem sich im Laufe der Zeit die jetzige „Norddeutsche Zeitung“ allmählich entwickelte, deren mit vielem Geist geschriebene Leitartikel den Lesern durch eine gewisse staatsmännische Ueberlegenheit imponirten und sie zugleich mystificirten, so daß man das Blatt bald für ein Organ des „Augustenburgers“, bald im Interesse Oesterreichs geschrieben hielt, bis es eines Tages seine wahre Gestalt enthüllte und mit Sack und Pack in das ministerielle Lager überging, wobei sich die Zeitung und die Redaction gleich wohl befinden sollen.

Halb Mönch, halb Soldat kämpft die Kreuzzeitung für das feudale Princip, für Thron und Altar, am kräftigsten jedoch für die Interessen der kleinen, aber mächtigen Partei, der sie ihre Existenz und ihr ferneres Bestehen verdankt. Unter ihrem früheren Redacteur, dem bekannten Herrn Wagener, hat sie ihre Flegeljahre durchgemacht, damals stimmte sie besonders in ihrem zuschauerlichen Theil einen bisher unerhörten Ton in der Berliner Presse an, der sich zuweilen bis zur Denunciation der würdigsten Männer verirrte. Ihre kurzen, bald sibyllinisch, bald drohend klingenden Leitartikel, die zwar einseitig, aber mit Geist und Talent abgefaßten Betrachtungen des frommen Rundschauers, große Rührigkeit und vor Allem ihre vielseitigen Verbindungen mit den hohen und höchsten maßgebenden Kreisen sicherten ihr einen bedeutenden Einfluß, den sie für ihre Zwecke mit Geschick zu benutzen wußte. Zur Belohnung seiner Verdienste wurde Herr Wagener von seinen Parteigenossen mit der Schenkung des Ritterguts Dummerwitz, von der Regierung mit einer hohen Stellung im Staatsdienst belohnt.

Sein Nachfolger, Herr Beutner, ein ehemaliger Theologe, wird wegen seiner persönlichen Liebenswürdigkeit gerühmt. Unter seiner Leitung hat die Kreuzzeitung auch in ihrem Zuschauer eine gemäßigtere Sprache und mildere Formen angenommen, wozu wohl auch die veränderten Verhältnisse viel beigetragen haben mögen. Der Wahlspruch ihres gegenwärtigen Redacteurs scheint im Leben und in der Politik zu lauten: „suaviter in modo, fortiter in re“. Zu ihren Mitarbeitern zählt das Blatt den bekannten Romanschriftsteller Hesekiel, den Dichter Fontane und den fleißigen Adami.

In jüngster Zeit hat auch der Kladderadatsch einen Concurrenten an den „Berliner Wespen“ erhalten, die im Verlag des Buchhändlers Brigl von Herrn Stettenheim, einem talentvollen Humoristen, herausgegeben werden. Derselbe ist ein geborener Hamburger und hat sich bereits früher durch seine witzigen Arbeiten einen vortheilhaften Ruf erworben. Seinen Wespen fehlt keineswegs der satirische Stachel, die scharfe, geistvolle Spitze, und wenn ihnen auch die classische Bildung der Kladderadatsch-Gelehrten hier und da abgeht, so ersetzen sie diesen Mangel durch angeborenen Mutterwitz so reichlich, daß sie in kurzer Zeit sich in Berlin eingebürgert haben und gegenwärtig in Verbindung mit der in demselben Verlage erscheinenden von Mützelburger redigirten „Tribüne“ gegen fünfzehntausend Abonnenten zählen. Auch die beigegebenen Zeichnungen von dem Maler Herrn Heyl erfreuen sich des wohlverdienten Beifalls.

So lebt, arbeitet und kämpft die Berliner Presse, an ihrer Spitze die genannten Männer, mit anerkennungswerther Selbstverleugnung und – was bei der Berliner Presse ausdrücklich hervorgehoben werden muß – mit reinen Händen, frei von jeder Bestechung. Das ist dem Zeitungsgebahren gewisser anderer Städte gegenüber ein großer Vorzug und deshalb Ehre diesen Männern, die für ihre harte Arbeit weder pecuniären noch großen literarischen Erfolg aufzuweisen haben. Ihre besten Gedanken sind eben nur für den Tag geboren und werden vergessen, bevor der Abend kommt. Nicht einmal der Ruhm bleibt ihnen und ihr Name wird kaum oder [329] nur flüchtig genannt. Wie der unbekannte Säemann schreiten sie durch das Leben und streuen unbekümmert den Samen der Zukunft aus. Gleichgültig empfängt meist die gedankenlose Menge das tägliche Brod, die Nahrung der Seele aus ihren Händen, und nur Wenige wissen oder ahnen auch nur, welch’ eine Fülle von Wissen und Intelligenz, von Muth, Fleiß und Ausdauer in diesen vorüberrauschenden Blättern wohnt, in denen der Geist der Zeit und die Macht des Gedankens sich offenbaren.




Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Todse