Das Prinzip der Bekleidung

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Autor: Adolf Loos
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Titel: Das Prinzip der Bekleidung
Untertitel:
aus: Adolf Loos: Sämtliche Schriften in zwei Bänden – Erster Band, herausgegeben von Franz Glück, Wien, München: Herold 1962, S. 105–112
Herausgeber: Franz Glück
Auflage:
Entstehungsdatum: 1898
Erscheinungsdatum: 1962
Verlag: Herold
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Erscheinungsort: Wien
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Originaltitel:
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Quelle: PDF bei Commons
Kurzbeschreibung: Loos pflegte eine Kleinschreibung (außer bei Satzanfängen und Namen) auch bei seinen Titeln, wie den Inhaltsverzeichnissen zu entnehmen ist (im Buch selbst sind die Titel in Versalien gesetzt). Um Irritationen zu vermeiden, werden die Titel in der gewohnten Groß-Kleinschreibung gegeben
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[105]
DAS PRINZIP DER BEKLEIDUNG
(4. september 1898)


Sind für den künstler alle materialien auch gleich wertvoll, so sind sie doch nicht für alle seine zwecke gleich tauglich. Die erforderliche festigkeit, die notwendige konstruktion verlangen oft materialien, die mit dem eigentlichen zwecke des gebäudes nicht im einklang stehen. Der architekt hat etwa die aufgabe, einen warmen, wohnlichen raum herzustellen. Warm und wohnlich sind teppiche. Er beschließt daher, einen teppich auf den fußboden auszubreiten und vier aufzuhängen, welche die vier wände bilden sollen. Aber aus teppichen kann man kein haus bauen. Sowohl der fußteppich wie der wandteppich erfordern ein konstruktives gerüst, das sie in der richtigen lage erhält. Dieses gerüst zu erfinden, ist die zweite aufgabe des architekten.

Das ist der richtige, logische weg, der in der baukunst eingeschlagen werden soll. So, in dieser reihenfolge, hat die menschheit auch bauen gelernt. Im anfange war die bekleidung. Der mensch suchte schutz vor den unbilden des wetters, schutz und wärme während des schlafes. Er suchte sich zu bedecken. Die decke ist das älteste architekturdetail. Ursprünglich bestand sie aus fellen oder erzeugnissen der textilkunst. Diese bedeutung des wortes kennt man noch heute in den germanischen sprachen. Die decke mußte irgendwo angebracht werden, sollte sie genügend schutz für eine familie bieten! Daher kamen die wände dazu, die zugleich seitlichen schutz boten. Und so entwickelte sich der bauliche gedanke sowohl in der menschheit als auch im individuum.

Es gibt architekten, die das anders machen. Ihre [106] phantasie bildet nicht räume, sondern mauerkörper. Was die mauerkörper übrig lassen, sind dann die räume. Und für diese räume wird nachträglich die bekleidungsart gewählt, die dem architekten passend erscheint.

Der künstler aber, der architekt, fühlt zuerst die wirkung, die er hervorzubringen gedenkt, und sieht dann mit seinem geistigen auge die räume, die er schaffen will. Die wirkung, die er auf den beschauer ausüben will, sei es nun angst oder schrecken, wie beim kerker; gottesfurcht, wie bei der kirche; ehrfurcht vor der staatsgewalt, wie beim regierungspalast; pietät, wie beim grabmal; heimgefühl, wie beim wohnhause; fröhlichkeit, wie in der trinkstube – diese wirkung wird hervorgerufen durch das material und durch die form.

Ein jedes material hat seine eigene formensprache, und keines kann die formen eines anderen materials für sich in anspruch nehmen. Denn die formen haben sich aus der verwendbarkeit und herstellungsweise eines jeden materials gebildet, sie sind mit dem material und durch das material geworden. Kein material gestattet einen eingriff in seinen formenkreis. Wer einen solchen eingriff dennoch wagt, den brandmarkt die welt als fälscher. Die kunst hat aber mit fälschung, mit lüge nichts zu tun. Ihre wege sind zwar dornenvoll, aber rein.

Den Stefansturm kann man wohl in zement gießen und irgendwo aufstellen – er ist aber dann kein Kunstwerk. Und was vom Stefansturm gilt, gilt auch vom palazzo Pitti, und was vom palazzo Pitti gilt, gilt auch vom palazzo Farnese. Und mit diesem bauwerke wären wir mitten drin in unserer ringstraßenarchitektur. Eine traurige zeit für die kunst, eine traurige zeit für die wenigen künstler unter den damaligen architekten, die gezwungen [107] wurden, ihre kunst dem pöbel zuliebe zu prostituieren. Nur wenigen war es vergönnt, durchwegs bauherren zu finden, die groß genug dachten, den künstler gewähren zu lassen. Am glücklichsten war wohl Schmidt. Ihm zunächst kam Hansen, der, wenns ihm schlecht ging, im terracottabau trost suchte. Fürchterliche qualen muß wohl der arme Ferstel ausgestanden haben, den man in letzter minute zwang, seiner universität ganze fassadenteile in zementguß anzunageln. Die übrigen architekten dieser epoche wußten sich, mit wenigen ausnahmen, von gefühlsduseleien wie diesen qualen frei.

Ist es anders geworden? Man erlasse mir die beantwortung dieser frage. Noch herrschen imitation und surrogatkunst in der architektur. Ja, noch mehr. In den letzten jahren haben sich sogar leute gefunden, die sich zu verteidigern dieser richtung hergaben – einer allerdings anonym, da ihm die sache nicht reinlich genug erschien –, so daß der surrogatarchitekt nun nicht mehr nötig hat, klein beiseite zu stehen. Jetzt nagelt man schon die konstruktion mit aplomb auf die fassade und hängt die „tragsteine“ mit künstlerischer berechtigung unter das hauptgesims. Nur herbei, ihr herolde der imitation, ihr verfertiger von aufpatronierten intarsien, von verpfusche-dein-heim-fenstern und papiermachéhumpen! In Wien erblüht euch ein neuer frühling, der boden ist frisch gedüngt!

Aber ist der wohnraum, der ganz mit teppichen ausgelegt ist, keine imitation? Die wände sind ja nicht aus teppichen erbaut! Gewiß nicht. Aber diese teppiche wollen nur teppiche sein und keine mauersteine, sie wollen nie für solche gehalten werden, imitieren sie weder durch farbe noch muster, sondern bringen ihre [108] bedeutung als bekleidung der mauerfläche klar zutage. Sie erfüllen ihren zweck nach dem prinzipe der bekleidung.

Wie schon eingangs erwähnt, ist die bekleidung älter als die konstruktion. Die gründe für die bekleidung sind mannigfacher art. Bald ist sie schutz gegen die unbill des wetters, wie der ölfarbenanstrich auf holz, eisen oder stein, bald hat sie hygienische gründe, wie bei den glasierten steinen in der toilette zur bedeckung der mauerfläche, bald ist sie mittel zu einer bestimmten wirkung, wie die farbige bemalung der statuen, das tapezieren der wände, das fournieren des holzes. Das prinzip der bekleidung, das zuerst von Semper ausgesprochen wurde, erstreckt sich auch auf die natur. Der mensch ist mit einer haut, der baum mit einer rinde bekleidet.

Aus diesem prinzip der bekleidung stelle ich aber auch ein ganz bestimmtes gesetz auf, das ich das gesetz der bekleidung nenne. Man erschrecke nicht. Gesetze, so heißt es gewöhnlich, machen jeder entwicklung ein ende. Und dann sind ja die alten meister auch ganz gut ohne gesetze ausgekommen. Gewiß. Wo der diebstahl eine unbekannte sache ist, wäre es müßig, auf ihn bezügliche gesetze aufzustellen. Als die materialien, die zur bekleidung verwendet werden, noch nicht imitiert wurden, hatte man keine gesetze nötig. Nun aber scheint es mir hoch an der zeit zu sein.

Das gesetz lautet also: Es muß so gearbeitet werden, daß eine verwechslung des bekleideten materials mit der bekleidung ausgeschlossen ist. Das heißt: holz darf mit jeder farbe angestrichen werden, nur mit einer nicht – der holzfarbe. In einer stadt, deren ausstellungskommission beschloß, alles holz in der rotunde „wie mahagoni“ [109] anzustreichen, in einer stadt, in der das fladern der einzige anstrichdekor des holzes ist, ist dieser satz sehr gewagt. Es scheint hier leute zu geben, die dergleichen für vornehm halten. Da die eisenbahn- und trambahnwagen, wie der gesamte wagenbau, aus England stammen, so sind sie die einzigen hölzernen objekte, die absolute farben zur schau tragen. Ich wage nun zu behaupten, daß ein solcher wagen – besonders einer der elektrischen linie – mir in seinen absoluten farben besser gefällt, als wenn er, nach dem schönheitsprinzipe der ausstellungskommission, „wie mahagoni“ gestrichen wäre.

Aber auch in unserem volke schlummert, allerdings verscharrt und vergraben, das wahre gefühl für vornehmheit. Sonst könnte die bahnverwaltung nicht mit dem umstande rechnen, daß die braune, also in der holzfarbe gestrichene dritte klasse das gefühl von weniger vornehmheit wachruft als die grüne zweite und erste.

Auf drastische art habe ich einst einem kollegen dieses unbewußte gefühl nachgewiesen. In einem hause befanden sich im ersten stockwerk zwei wohnungen. Der mieter der einen wohnung hatte auf seine kosten die fensterkreuze, die braun gefleckt gewesen waren, weiß streichen lassen. Wir schlossen eine wette ab, der zufolge wir eine bestimmte anzahl von personen vor das haus führten und sie, ohne auf den unterschied in den fensterkreuzen aufmerksam zu machen, fragten, auf welcher seite ihrem gefühle nach der herr Pluntzengruber und auf welcher Seite der fürst Liechtenstein wohne, zwei parteien, die wir uns in das haus einzumieten erlaubten. Einstimmig wurde von allen hinzugeführten die holzgefladerte seite für die Pluntzengruberische erklärt. Mein kollege streicht seither nur mehr weiß.

[110] Die holzfladerei ist natürlich eine erfindung unseres jahrhunderts. Das mittelalter strich das holz vorwiegend grellrot, die renaissance blau, das barock und das rokoko im innern weiß, außen grün. Unsere bauern haben sich noch so viel gesunden sinn bewahrt, daß sie in absoluten farben streichen. Wie reizend wirken nicht auf dem lande das grüne tor und der grüne zaun, die grünen jalousien zu der weißen, frisch getünchten wand. Leider hat man sich schon in einigen ortschaften den geschmack unserer ausstellungskommission angeeignet.

Man wird sich noch der moralischen entrüstung erinnern, die im surrogat-kunstgewerbelager entstand, als die ersten in ölfarbe gestrichenen möbel aus England nach Wien kamen. Nicht gegen den anstrich wendete sich die wut dieser braven. Hatte man doch auch in Wien, sofern weiches holz verwendet wurde, mit ölfarbe gestrichen. Daß aber die englischen möbel wagten, ihre ölfarbe so frank und frei zur schau zu tragen, statt hartes holz zu imitieren, brachte diese sonderbaren heiligen in harnisch. Man verdrehte die augen und tat so, als ob man die ölfarbe überhaupt noch nie angewendet hätte. Vermutlich sind die herren der meinung, daß man ihre gefladerten möbel und bauarbeiten bisher für aus hartem holz gemacht angesehen hat.

Wenn ich mit solchen anschauungen aus der ausstellung der anstreicher keine namen nenne, glaube ich des dankes dieser genossenschaft sicher zu sein.

Auf die stukkateure angewendet, würde das prinzip der bekleidung lauten: Der stuck kann jedes ornament erhalten, nur eines nicht – das des ziegelrohbaus. Man sollte glauben, daß das aussprechen einer solchen selbstverständlichkeit unnötig sei, aber erst neulich hat man [111] mich auf ein bauwerk aufmerksam gemacht, dessen geputzte wand rot gefärbelt und mit weißen fugen versehen wurde. Auch die so beliebte küchendekoration, die steinquadern imitiert, gehört hierher. überhaupt dürfen alle materialien, die zur wandverkleidung dienen, also tapeten, wachstuch, stoffe und teppiche, nicht ziegel und steinquadern vorzustellen trachten. Man wird nun auch verstehen, warum die trikotbekleideten beine unserer tänzerinnen so unästhetisch wirken. Gewirkte wäsche darf in jeder farbe gefärbt werden, nur nicht fleischfarben.

Ein bekleidendes material kann seine natürliche farbe behalten, wenn das gedeckte material dieselbe farbe aufweist. So kann ich schwarzes eisen mit teer bestreichen, ich kann holz mit einem andern holz bedecken (fournieren, marquetieren und so weiter), ohne das bedeckende holz färben zu müssen; ich kann ein metall mit einem andern metall durch feuer oder galvanisch überziehen. Doch verbietet es das prinzip der bekleidung, durch einen farbstoff das darunter befindliche material nachzuahmen. Daher kann eisen wohl geteert, mit ölfarbe gestrichen oder galvanisch überzogen, nie aber mit bronzefarbe, also einer metallfarbe, verdeckt werden.

Hier verdienen auch die chamotte- und kunststeinplatten erwähnung, von denen die einen das terrazzopflaster (mosaik), die andern persische teppiche imitieren. Gewiß finden sich leute, die die platten dafür halten – die fabrikanten müssen ja ihr publikum kennen.

Doch nein, ihr imitatoren und surrogatarchitekten, ihr irrt euch! Die menschliche seele ist etwas zu hohes und erhabenes, als daß ihr sie durch eure mittel und mittelchen hinters licht führen könntet. Unseren armseligen [112] körper habt ihr allerdings in eurer gewalt. Nur fünf sinne stehen ihm zu gebote, echt von unecht zu unterscheiden. Und dort, wo der mensch mit seinen sinnesorganen nicht mehr hinreicht, dort beginnt so recht eure domäne, dort ist euer reich. Aber selbst hier – nochmals, ihr irrt euch! Malt auf die holzdecke, recht, recht hoch, die besten intarsien – die armen augen werden es vielleicht auf treu und glauben hinnehmen müssen. Aber die göttliche psyche glaubt euch euren schwindel nicht. Sie fühlt in den besten „wie eingelegt“ gemalten intarsien doch nur ölfarbe.