Das Wesen des Christentums/Dreizehnte Vorlesung

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
« Zwölfte Vorlesung Adolf von Harnack
Das Wesen des Christentums
Vierzehnte Vorlesung »
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).


[142]
Dreizehnte Vorlesung.




Wir haben bisher festgestellt, daß der griechische Katholizismus als Religion durch zwei Elemente charakterisiert ist, durch den Traditionalismus und den Intellektualismus. Nach dem Traditionalismus ist die pietätsvolle und jede Neuerung abwehrende Bewahrung des überlieferten Erbes nicht nur etwas Wichtiges, sondern bereits die Bethätigung der Religion selbst. Das ist ganz antik gedacht und ist dem Evangelium fremd; denn dieses weiß schlechterdings nichts davon, daß an die Pietät gegen eine Überlieferung an sich der Verkehr mit der Gottheit gebunden ist. Aber auch das zweite Element, der Intellektualismus, ist griechischer Herkunft. Die Ausspinnung des Evangeliums zu einer großen Gott-Welt-Philosophie, in welcher alle denkbaren Materien behandelt werden, die Überzeugung, daß, weil die christliche Religion die absolute ist, sie auch auf alle Fragen der Metaphysik, Kosmologie und Geschichte Auskunft geben müsse, die Betrachtung der Offenbarung als einer unübersehbaren Menge von Lehren und Aufschlüssen, alle gleich heilig und wichtig – das ist griechischer Intellektualismus. Nach ihm ist ja die Erkenntnis das Höchste, und der Geist ist nur Geist als erkennender: alles Ästhetische, Ethische und Religiöse muß umgesetzt werden in ein Wissen, dem dann der Wille und das Leben mit Sicherheit folgen werden. Die Entwicklung des christlichen Glaubens zu einer alles umspannenden Theosophie und die Identifizierung von Glaube und Glaubenswissen ist ein Beweis, daß die christliche Religion auf griechischem Boden in den Bannkreis der dort heimischen Religionsphilosophie eingetreten und in ihm verblieben ist.

[143] Aber innerhalb dieser großen Gott-Welt-Philosophie, die als „Inhalt der Offenbarung“ und als „orthodoxe Lehre“ einen absoluten Wert besitzt, sind es zwei Elemente, die sie von der sonst so verwandten griechischen Religionsphilosophie durchgreifend unterscheiden und ihr einen ganz eigentümlichen Charakter verleihen. Ich meine nicht die Berufung auf Offenbarung – denn auf Offenbarung beriefen sich auch die Neuplatoniker –, sondern den Schöpfungsgedanken und die Lehre von der Gottmenschheit des Erlösers. Sie durchbrechen das Schema der griechischen Religionsphilosophie an zwei entscheidenden Punkten und sind daher auch stets von den echten Vertretern derselben als fremd und unerträglich empfunden worden.

Über den Schöpfungsgedanken können wir uns kurz fassen. Er ist unzweifelhaft ein ebenso wichtiges wie dem Evangelium entsprechendes Element. Durch ihn ist die Verflechtung von Gott und Welt aufgehoben und die Wirklichkeit und Kraft des lebendigen Gottes zum Ausdruck gebracht. Zwar haben auch bei christlichen Denkern auf griechischem Boden – eben weil sie Griechen waren – die Versuche nicht gefehlt, die Gottheit lediglich als die einheitliche Kraft des Weltgefüges, als die Einheit in der Vielheit und als das Ziel der Vielheit zu fassen. Sogar die Kirchenlehre trägt heute noch einige Spuren dieser Spekulation; aber der Schöpfungsgedanke hat doch triumphiert, und damit hat die Christlichkeit einen wirklichen Sieg erfochten.

Viel schwieriger ist es, über die Lehre von der Gottmenschheit des Erlösers ein richtiges Urteil zu gewinnen. Sie ist unzweifelhaft das Herzstück der ganzen griechischen Dogmatik. Von ihr aus ist die Trinitätslehre gewonnen, und beide zusammen bilden nach griechischer Auffassung die christliche Lehre in nuce. Wenn ein griechischer Kirchenvater einmal gesagt hat: „Die Gottmenschheit (die Menschwerdung) ist das Neue unter dem Neuen, ja das einzig Neue unter der Sonne“[WS 1] so hat er damit nicht nur das Urteil aller seiner Konfessionsgenossen richtig wiedergegeben, sondern zugleich in treffender Weise ihre Meinung ausgedrückt, daß alle übrigen Stücke der Lehre sich bei gesunden Sinnen und ernstem Nachdenken von selbst ergeben, dieses aber darüber hinaus liegt. Die Theologen der griechischen Kirche sind davon überzeugt, daß christliche Glaubenslehre und natürliche Philosophie sich eigentlich nur dadurch unterscheiden, daß jene die Lehre von[144] der Gottmenschheit (und der Trinität) umfaßt. Höchstens der Schöpfungsgedanke kann daneben noch in Betracht kommen.

Ist dem so, dann ist es von durchschlagender Bedeutung, den Ursprung, den Sinn und den Wert jener Lehre richtig zu fassen. In ihrer Ausführung muß sie jeden, der von den Evangelien her an sie herantritt, ganz fremd anmuten. Dieser Eindruck kann auch durch keine geschichtliche Reflexion überwunden werden – der ganze Bau der kirchlichen Christologie steht außerhalb der konkreten Persönlichkeit Jesu Christi –; aber geschichtliche Erwägungen vermögen doch nicht nur ihren Ursprung zu erklären, sondern auch bis zu einem gewissen Grade die Formulierung selbst zu rechtfertigen. Versuchen wir es, uns die Hauptpunkte klar zu machen.

Wir haben in einer früheren Vorlesung gesehen, wie es dazu gekommen ist, daß sich die kirchlichen Lehrer den Begriff des Logos erwählten, um das Wesen und die Würde Christi sicher zu stellen. Da der Begriff „Messias“ für sie ganz unverständlich, also nichtssagend war, und da man Begriffe nicht zu improvisieren vermag, so hatten sie nur die Wahl, entweder sich Christus als vergotteten Menschen (also als Heros) vorzustellen oder sein Wesen nach dem Schema eines der griechischen Götter zu denken oder es mit dem Logos zu identifizieren. Die beiden ersten Möglichkeiten mußten abgelehnt werden, denn sie waren „heidnisch“ oder erschienen so. Es blieb also der Logos. Wie zweckmäßig diese Formel nach vielen Seiten war, haben wir bereits hervorgehoben – ließ sich doch auch der Begriff der Gottessohnschaft ungezwungen mit ihr vereinigen, ohne auf die anstößigen Theogonien zu führen, und der Monotheismus schien nicht gefährdet zu sein –, aber die Formel hatte auch ihre eigene Logik, und diese führte nicht zu Ergebnissen, die in jeder Hinsicht unbedenklich waren. Der Begriff des Logos war sehr verschiedener Ausprägung fähig; trotz seinem erhabenen Inhalt konnte er auch so gefaßt werden, daß sein Träger keineswegs wahrhaft göttlichen Wesens sei, sondern eine halbgöttliche Natur habe.

Die Frage nach der näheren Bestimmung der Natur des Logos-Christus hätte nun in der Kirche nicht die ungeheure Bedeutung erlangen können, die sie bekommen hat, und man hätte sich bei mannigfaltigen Spekulationen beruhigt, wenn nicht gleichzeitig eine sehr präzise Vorstellung von der Erlösung den Sieg gewonnen und eine peremptorische Forderung gestellt hätte. Unter allen den möglichen Erlösungsvorstellungen – Vergebung der Schuld, Erlösung[145] aus der Macht der Dämonen u. s. w. – trat nämlich im 3. Jahrhundert diejenige souverän in der Kirche in den Vordergrund, welche die christliche Erlösung als Erlösung vom Tode und damit als Erhebung zu göttlichem Leben, also als Vergottung, faßte. Diese Vorstellung hat im Evangelium zwar einen sicheren Anhaltspunkt und in der paulinischen Theologie eine Stütze; in der Gestalt aber, in der sie nun ausgebildet wurde, ist sie ihnen fremd und ist griechisch gedacht: die Sterblichkeit an sich gilt als das größte Übel und als die Ursache aller Übel, der Güter höchstes aber ist, ewig zu leben. Wie streng griechisch das gemeint ist, geht daraus hervor, daß 1. die Erlösung vom Tode ganz realistisch als pharmakologischer Prozeß vorgestellt wurde – die göttliche Natur muß einströmen und muß die sterbliche Natur umbilden – und daß 2. ewiges Leben und Vergottung identifiziert wurden. Handelt es sich aber um einen realen Eingriff in die Konstitution der menschlichen Natur und um ihre Vergottung, so muß der Erlöser selbst Gott sein und Mensch werden. Nur unter dieser Bedingung ist die Thatsächlichkeit des wunderbaren Vorgangs vorstellbar. Wort, Lehre, einzelne Thaten vermögen hier nichts – oder kann man durch Anpredigen einem Steine Leben geben, einen Sterblichen unsterblich machen? –; nur wenn das Göttliche selbst leibhaftig in die Sterblichkeit eingeht, kann diese transformiert werden. Das Göttliche aber, d. h. ewiges Leben, und zwar so, daß er es zu übertragen vermag, hat nicht der Heros, sondern nur Gott selbst. Also muß der Logos Gott selbst sein, und er muß wahrhaft Mensch geworden sein. Ist diesen beiden Bedingungen genügt, dann ist die reale, naturhafte Erlösung, d. h. die Vergottung der Menschheit, wirklich gegeben. Von hier aus erklären sich die ungeheuren Streitigkeiten um die Natur des Logos-Christus, welche mehrere Jahrhunderte angefüllt haben. Von hier aus erklärt es sich, warum Athanasius für die Formel, der Logos-Christus sei eines Wesens mit dem Vater, so gestritten hat, als handle es sich um Sein oder Nichtsein der christlichen Religion. Von hier aus wird es deutlich, warum andere griechische Kirchenlehrer jede Gefährdung der vollen Einheit von Göttlichem und Menschlichem in dem Erlöser, jede Vorstellung einer bloß moralischen Verbindung wie eine Auflösung des Christentums betrachtet haben. Sie haben ihre Formeln durchgesetzt, die für sie nichts weniger als scholastische Begriffe waren, sondern Beschreibung und Sicherstellung eines That-[146] bestandes, ohne welchen die christliche Religion so ungenügend wäre, wie alle anderen. Die Lehren von der wesensgleichen Trinität – wie es zur Lehre vom heiligen Geist gekommen ist, mag hier auf sich beruhen – und von der Gottmenschheit des Erlösers entsprechen genau der eigentümlichen Vorstellung von der Erlösung als einer wesenhaften Vergottung durch Unsterblichkeit. Ohne diese Vorstellung wäre es niemals zu jenen Formeln gekommen; aber sie stehen und fallen auch mit ihr. Sie haben sich aber nicht durchgesetzt um ihrer Verwandtschaft mit der griechischen Philosophie willen, sondern im Gegensatz zu ihr. Die griechische Philosophie hat nie gewagt und nie daran gedacht, dem Wunsche nach Unsterblichkeit, den sie so lebhaft empfand, in irgendwie ähnlicher Weise durch „Geschichte“ und Spekulation entgegenzukommen. Ganz mythologisch und abergläubisch mußte sie es anmuten, einer geschichtlichen Persönlichkeit und ihrem Erscheinen einen solchen Eingriff in den Kosmos beizulegen und ihr eine Umwandlung des ein für allemal Gegebenen und ewig Fließenden zuzuschreiben. Das „allein Neue unter der Sonne“ mußte ihr als die schlimmste Fabel erscheinen und ist ihr so erschienen.

Die griechische Kirche ist heute noch davon überzeugt, in diesen Lehren das Wesen des Christentums als Geheimnis und als enthülltes Geheimnis zugleich zu besitzen. Die Kritik dieser Behauptung ist nicht schwer. Anerkannt soll werden, daß jene Lehren mächtig dazu beigetragen haben, die christliche Religion vor dem Zerfließen in die griechische Religionsphilosophie zu schützen, ferner, daß der absolute Charakter dieser Religion an ihnen eindrucksvoll deutlich wird, weiter, daß sie der griechischen Erlösungsvorstellung wirklich entsprechen, endlich, daß diese Vorstellung selbst eine ihrer Wurzeln im Evangelium hat. Aber darüber hinaus läßt sich nichts anerkennen; es ist vielmehr zu sagen: 1. die Vorstellung von der Erlösung als Vergottung der sterblichen Natur ist unterchristlich, weil ihr sittliche Momente im besten Fall nur angefügt werden können, 2. die ganze Lehre ist unannehmbar, weil sie mit dem Jesus Christus des Evangeliums kaum zusammenhängt, und ihre Formeln auf ihn nicht passen; sie entspricht also nicht dem Wirklichen, 3. sie führt, weil sie nur durch unsichere Fäden mit dem wirklichen Christus zusammenhängt, von ihm ab: sie erhält nicht sein Bild lebendig, sondern sie verlangt, daß man dieses Bild lediglich in angeblichen Voraussetzungen erkenne, die in[147] theoretischen Sätzen zum Ausdruck gebracht sind. Daß die Wirkungen dieser Substitution nicht so schlimme und grundstürzende sind, ist wesentlich die Folge davon, daß die Kirche die Evangelien doch nicht unterdrückt hat, und diese sich mit eingeborener Kraft geltend machen. Man mag auch zugestehen, daß die Vorstellung von dem menschgewordenen Gott nicht überall nur wie ein berauschendes Mysterium wirkt, sondern zu der bestimmten und reinen Überzeugung: Gott war in Christus, überleiten kann. Man mag endlich einräumen, daß der egoistische Wunsch nach unsterblicher Dauer innerhalb der christlichen Sphäre eine sittliche Reinigung erfahren wird durch die Sehnsucht, mit und in Gott zu leben und untrennbar mit seiner Liebe verbunden zu bleiben. Aber alle diese Zugeständnisse können die Einsicht nicht wegschaffen, daß in der griechischen Dogmatik die verhängnisvollste Verbindung geschlossen ist zwischen dem antiken Wunsche nach unsterblichem Leben und der christlichen Verkündigung. Auch kann niemand leugnen, daß diese Verbindung, eingestellt in die griechische Religionsphilosophie und ihren Intellektualismus, zu Formeln geführt hat, die unrichtig sind, einen erdachten Christus an Stelle des wirklichen setzen und außerdem der Selbsttäuschung Raum geben, daß man die Sache habe, wenn man nur die richtige Formel besitze. Selbst wenn die christologische Formel die theologisch zutreffende wäre – wie weit hat sich die Kirche vom Evangelium entfernt, die da behauptet, man könne zu Jesus Christus kein Verhältnis gewinnen, ja man versündige sich an ihm und werde hinausgestoßen, wenn man nicht allem zuvor anerkenne, daß er eine Person mit zwei Naturen und zwei Willensenergieen, je einer göttlichen und einer menschlichen, gewesen sei? Bis zu solcher Forderung hat sich der Intellektualismus ausgebildet! Darf da noch das Evangelium vom kananäischen Weibe oder vom Hauptmann zu Kapernaum gelesen werden?


Mit dem Traditionalismus und Intellektualismus ist aber noch ein weiteres Element verbunden; das ist der Ritualismus. Stellt sich die Religion als eine überlieferte, weitschichtige Lehre dar, die nur wenigen wirklich zugänglich ist, so vermag sie nur als Weihe bei der Mehrzahl der Gläubigen praktisch zu werden. Die Lehre wird appliziert in stereotypen Formeln, die von symbolischen Handlungen begleitet sind. So läßt sie sich zwar nicht innerlich verstehen, aber es läßt sich etwas Geheimnisvolles dabei empfinden.[148] Eben die Vergottung, welche man von der Zukunft erwartet und die an sich etwas Unbeschreibliches und Unfaßliches ist, wird schon jetzt wie ein Angelt durch Weihehandlungen appliziert. Die Erregung der Phantasie und Stimmung ist die Disposition für ihren Empfang und die Steigerung jener Erregung das Siegel desselben.

So empfinden es die griechisch-katholischen Christen. Der Verkehr mit Gott vollzieht sich durch einen Mysterienkultus, durch hunderte von kleineren und größeren wirksamen Formeln, Zeichen, Bildern und Weihehandlungen, die, wenn sie pünktlich und gehorsam beobachtet worden, göttliche Gnade mitteilen und auf das ewige Leben vorbereiten. Auch die Lehre als solche bleibt wesentlich unbekannt: in liturgischen Sprüchen tritt sie allein in die Erscheinung. Für neunundneunzig Prozent dieser Christen ist die Religion nur als Zeremonienritual vorhanden und in ihm veräußerlicht. Aber auch für die geistig geförderten Christen sind alle diese Weihehandlungen schlechthin notwendig; denn die Lehre erhält nur in ihnen die rechte Anwendung und den rechten Erfolg.

Nichts ist trauriger zu sehen als diese Umwandlung der christlichen Religion aus einem Gottesdienst im Geist und in der Wahrheit zu einem Gottesdienst der Zeichen, Formeln und Idole! Man braucht gar nicht bis zu den religiös und intellektuell völlig verwahrlosten Gliedern dieser Christenheit, zu Kopten und Abessyniern herunterzusteigen, um diese Entwicklung schaudernd zu erkennen – auch bei Syrern, Griechen und Russen steht es im ganzen nur um weniges besser. Wo aber ist in der Verkündigung Jesu auch nur eine Spur davon zu finden, daß man religiöse Weihen als geheimnisvolle Applikationen über sich ergehen lassen soll, daß man ein Ritual pünktlich befolgen, Bilder aufstellen und Sprüche und Formeln in vorgeschriebener Weise murmeln soll? Um diese Art von Religion aufzulösen, hat sich Jesus Christus ans Kreuz schlagen lassen; nun ist sie unter seinem Namen und seiner Autorität wieder aufgerichtet! Die „Mystagogie“ ist nicht nur neben die „Mathesis“ (die Lehre) getreten, durch welche sie ja hervorgerufen ist, sondern in Wahrheit ist die „Lehre“ – wie sie auch beschaffen sein mag, sie ist doch ein geistiges Element – in den Boden gesunken, und die Zeremonie beherrscht alles. Damit ist der Rückfall in die antike Form der Religion niederster Ordnung bezeichnet; der Ritualismus hat auf dem weiten Boden der griechisch-orientalischen Christenheit die geistige Religion nahezu erstickt. Sie[149] hat nicht nur etwas Wesentliches eingebüßt, nein sie ist auf ein ganz anderes Niveau geraten; sie ist auf jene Stufe herabgedrückt, auf der der Satz gilt: Religion ist Kultus, nichts anderes.


Das griechisch-orientalische Christentum birgt jedoch ein Element in sich, das Jahrhunderte hindurch fähig gewesen ist, dem verbündeten Traditionalismus, Intellektualismus und Ritualismus einen gewissen Widerstand zu leisten, ja ihn heute noch hie und da leistet – das ist das Mönchtum. Der griechische Christ antwortet auf die Frage, wer Christ im höchsten Sinn des Wortes sei: der Mönch. Wer sich im Schweigen übt und im Reinsein, wer nicht nur die Welt flieht, sondern auch die Weltkirche, wer nicht nur die falsche Lehre vermeidet, sondern auch das Reden über die richtige, wer da fastet, kontempliert und unverrückt wartet, bis seinem Auge der Lichtglanz Gottes aufgeht, wer nichts für wertvoll hält als die Stille und das Nachdenken über das Ewige, wer nichts vom Leben verlangt als den Tod, wer aus solcher vollkommenen Selbstlosigkeit und Reinheit Barmherzigkeit hervorquellen läßt – der ist der Christ. Für ihn ist auch die Kirche nicht schlechthin notwendig und die Weihe, die sie spendet. Die ganze geheiligte Weltlichkeit ist einem solchen entschwunden. In diesen Asketen hat die Kirche fort und fort Erscheinungen erlebt von solcher Kraft und Zartheit der religiösen Empfindung, so erfüllt von dem Göttlichen, so innerlich thätig, sich nach gewissen Zügen des Bildes Christi zu bilden, daß man wohl sagen darf: hier lebt die Religion, und sie ist des Namens Christi nicht unwürdig. Wir Protestanten dürfen uns nicht sofort an der Form des Mönchtums stoßen. Die Bedingungen, unter denen unsere Kirche entstanden ist, haben uns ein herbes und einseitiges Urteil über dasselbe auferlegt. Und ob wir auch berechtigt sein mögen, es für die Gegenwart und unsern Aufgaben gegenüber festzuhalten – auf andere Verhältnisse dürfen wir es nicht ohne weiteres anwenden. Ein Ferment und ein Gegengewicht innerhalb jener traditionalistischen und ritualistischen Weltkirche, wie es die griechische Kirche gewesen ist und noch ist, konnte nur das Mönchtum sein. Hier war Freiheit, Selbständigkeit und lebendige Erfahrung möglich; hier behielt die Erkenntnis ihr Recht, daß in der Religion nur das Erlebte und das Innerliche Wert hat.

Aber – die wertvolle Spannung, die innerhalb dieses Teils[150] der Christenheit zwischen der Weltkirche und dem Mönchtum bestanden hat, ist leider fast ganz verschwunden, und der Segen, den es gestiftet hat, ist kaum mehr zu spüren. Nicht nur die Weltkirche hat sich das Mönchtum unterworfen und es überall unter ihr Joch gebeugt, sondern auch die Weltlichkeit ist in besonderem Maße in die Klöster eingezogen. In der Regel sind die griechischen und orientalischen Mönche heute die Organe für die niedersten und schlimmsten Funktionen der Kirche, für den Bilder- und Reliquiendienst, den krassesten Aberglauben und die blödeste Zauberei. Ausnahmen fehlen nicht, und noch immer muß sich die Hoffnung auf eine bessere Zukunft an die Mönche klammern; aber abzusehen ist nicht, wie einer Kirche Besserung werden soll, die, mag sie lehren was sie will, sich dabei beruhigt, daß ihre Mitglieder gewisse Zeremonien richtig beobachten – das ist der christliche Glaube – und die Fasten richtig einhalten – das ist die christliche Sittlichkeit.


Wir fragen schließlich: Wie ist das Evangelium in dieser Kirche modifiziert worden, und wie hat es sich behauptet? Nun zunächst habe ich keinen Widerspruch zu erwarten, wenn ich antworte: dieses offizielle Kirchentum mit seinen Priestern und seinem Kultus, mit allen den Gefäßen, Kleidern, Heiligen, Bildern und Amuletten, mit seiner Fastenordnung und seinen Festen hat mit der Religion Christi gar nichts zu thun. Das alles ist antike Religion, angeknüpft an einige Begriffe des Evangeliums, oder besser, das ist die antike Religion, welche das Evangelium aufgesogen hat. Die religiösen Stimmungen, die hier erzeugt werden, oder die dieser Art von Religion entgegenkommen, sind unterchristliche, sofern sie überhaupt noch religiös genannt werden können. Aber auch der Traditionalismus und die „Orthodoxie“ haben mit dem Evangelium wenig gemein; auch sie sind nicht von ihm her gewonnen oder von ihm abzuleiten. Korrekte Lehre, Pietät, Gehorsam, Schauer der Ehrfurcht können wertvolle und erhebende Güter sein; sie vermögen den einzelnen zu binden und zu zügeln, zumal wenn sie ihn in die Gemeinschaft eines festen Kreises hineinziehen; aber mit dem Evangelium haben sie so lange nichts zu thun, als der einzelne nicht dort gefaßt wird, wo seine Freiheit liegt und die innere Entscheidung für oder wider Gott. Dem gegenüber ist in dem Mönchtum, in dem Entschlusse, Gott durch Askese und Kontemplation zu dienen, immerhin ein ungleich Wertvolleres enthalten, weil Sprüche[151] Christi, sei es auch in einseitiger und beschränkter Anwendung, doch als Richtschnur dienen und die Möglichkeit, daß sich selbständiges, inneres Leben entzündet, hier näher liegt.

Hier näher liegt – sie fehlt, Gott sei Dank, auch in dem öden Gehäuse dieses Kirchentumes doch nicht ganz, und auch die Sprüche Christi schallen an das Ohr der Kirchenbesucher. Über die Kirche als solche mit ihrem ganzen Apparate läßt sich nichts Günstigeres sagen, als was gesagt worden ist: aber das Wertvollste ist, daß sie, wenn auch in bescheidenem Maße, die Kenntnis des Evangeliums aufrecht erhält. Das Wort Jesu, wenn auch nur gemurmelt von den Priestern, steht auch in dieser Kirche an oberster Stelle, und die stille Mission, die es übt, wird nicht unterdrückt. Neben dem ganzen Zauberapparate und der Überschwenglichkeit, deren corpus mortuum die Zeremonie ist, stehen die Sprüche Jesu; sie werden gelesen und vorgelesen, und die Superstition vermag ihre Kraft nicht auszutilgen. Die Frucht kann niemand verkennen, der hier etwas genauer hineingeschaut hat. Auch unter diesen Christen, Priestern und Laien, findet man solche, die Gott als den Vater der Barmherzigkeit und als den Leiter ihres Lebens kennen gelernt haben und die Jesum Christum lieb haben – nicht weil sie ihn als die geheimnisvolle Person von zwei Naturen kennen, sondern weil ein Strahl seines Wesens aus dem Evangelium in ihr Herz gedrungen und dieser Strahl ihnen Licht und Wärme geworden ist für das eigene Leben. Und mag auch der Gedanke der väterlichen Vorsehung Gottes im Orient leichter eine fast fatalistische Form annehmen und allzu quietistisch wirken – daß er auch hier Kraft und Thatkraft, Selbstlosigkeit und Liebe verleiht, ist gewiß. Ich brauche nur wiederum auf die schon einmal citierten „Dorfgeschichten“ Tolstoi’s zu verweisen, die nicht erkünstelt sind; ich kann aber auch aus mancher eigenen Anschauung und Erfahrung bestätigen, wie sich selbst beim russischen Bauern oder niederen Priester trotz Bilder- und Heiligen-Dienst doch auch eine Kraft des schlichten Gottvertrauens, eine Zartheit der sittlichen Empfindung und eine thatkräftige Bruderliebe findet, die ihren Ursprung aus dem Evangelium nicht verleugnet. Wo sie aber vorhanden sind, da kann selbst der ganze Zeremoniendienst der Religion eine Vergeistigung erfahren, nicht durch „Umdenken ins Symbolische“ – das ist etwas viel zu Künstliches –, sondern weil sich selbst am Idol der Sinn zu dem[152] lebendigen Gott erheben kann, wenn die Seele überhaupt nur einmal von ihm berührt ist.

Es ist aber wahrlich nicht zufällig, daß, sofern sich überhaupt selbständiges religiöses Leben auch bei den Gliedern dieser Kirche findet, es sich alsbald in Gottvertrauen, Demut, Selbstlosigkeit und Barmherzigkeit äußert, und zugleich Jesus Christus mit Ehrfurcht erfaßt wird; denn das sind eben die Züge, die es offenbaren, daß das Evangelium noch nicht erstickt ist, und daß es an jenen religiösen Tugenden seinen eigentlichen Inhalt hat.


Das System der orientalischen Kirchen ist als Ganzes und in seiner Struktur etwas dem Evangelium Fremdes; es bedeutet sowohl eine wirkliche Transformation der christlichen Religion als auch die Herabdrückung der Frömmigkeit auf ein viel tieferes Niveau, nämlich auf das antike. Aber in seinem Mönchtum, sofern es nicht ganz der Weltkirche unterworfen und selbst verweltlicht ist, ist ein Element gegeben, welches den ganzen Kirchenapparat auf eine zweite Stufe herabsetzt, und in welchem die Möglichkeit, zu christlicher Selbständigkeit zu gelangen, offen steht. Vor allem aber hat die Kirche, indem sie das Evangelium nicht unterdrückt hat, sondern, wenn auch in kümmerlichem Maße, zugänglich erhält, das Korrektiv noch immer in ihrer Mitte. Dieses Evangelium übt seine eigene Wirkung in und neben der Kirche bei einzelnen aus. Die Wirkung aber stellt sich in einem Typus von Frömmigkeit dar, welcher eben die Züge trägt, die wir in der Verkündigung Jesu als die entscheidendsten nachgewiesen haben. Somit ist das Evangelium auf diesem Boden nicht völlig untergegangen. Menschenseelen gewinnen auch hier Gebundenheit und Freiheit in Gott, und wenn sie sie gefunden haben, sprechen sie die Sprache, die ein jeder Christ versteht und die einem jeden Christen zu Herzen geht.




Anmerkungen (Wikisource)

  1. Johannes von Damaskus, Genaue Darlegung des orthodoxen Glaubens (Expositio fidei), Buch III, Kap. 1: „Und obwohl er vollkommener Gott ist, wird er vollkommener Mensch und vollbringt das Neueste von allem Neuen, das allein Neue unter der Sonne, wodurch sich die unendliche Macht Gottes offenbart.“ (nach BKV 44).


« Zwölfte Vorlesung Adolf von Harnack
Das Wesen des Christentums
Vierzehnte Vorlesung »
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).