Der Binnenhandel (1914)

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Autor: Otto Ehlers
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Titel: Der Binnenhandel
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aus: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Zweiter Band, Sechstes Buch, S. 266–283
Herausgeber: Siegfried Körte, Friedrich Wilhelm von Loebell, Georg von Rheinbaben, Hans von Schwerin-Löwitz, Adolph Wagner
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Entstehungsdatum: 1913
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Reimar Hobbing
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Erscheinungsort: Berlin
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[714]
Der Binnenhandel
Von Dr. Otto Ehlers, Syndikus der Handelskammer Berlin, M. d. A.


Das Erstarken der Wirtschaft, das wir in Deutschland für alle Gebiete feststellen können, hat um so mehr Staunen hervorgerufen, als die Fortschritte sich auf einen verhältnismäßig kurzen Zeitraum zusammendrängen, auf das noch nicht vollendete halbe Jahrhundert, das seit Gründung des Reiches verflossen ist. Aber die Erklärung für diese beschleunigte Entwicklung liegt nahe. Was andere Kulturstaaten, insbesondere England und Frankreich, in jahrhundertelanger stetiger Arbeit erreicht hatten, mußte Deutschland, dessen wirtschaftliche Kräfte in der Periode der politischen Zersplitterung nicht hatten zur Entfaltung kommen können, gewissermaßen im Fluge nachholen. Es ist ein gutes Zeichen für die wirtschaftliche Veranlagung des deutschen Volkes, daß bei seinen Schöpfungen die Solidität des Werkes nicht unter der Schnelligkeit, mit der es hergestellt ward, gelitten hat.

Der Hauptteil der wirtschaftlichen Fortschritte, die sich seit den Tagen der Reichsgründung vollzogen haben, entfällt auf die zweite Hälfte des Zeitraumes. Der Samen, der in der ersten Hälfte gelegt worden war, ging auf und führte zu einer Entwicklung, die mit geringfügigen Unterbrechungen einen außerordentlichen Aufstieg darstellt. Die Weltmacht wurde Weltmarktsmacht.

In nachstehender Darstellung soll erwiesen werden, daß der Binnenhandel an dieser Entwicklung gebührenden Anteil genommen hat.

Der Binnenhandel im Verhältnis zum Außenhandel.

Wer die Geschichte des Deutschen Binnenhandels schreiben will, muß zugleich die Geschichte der Gütererzeugung schreiben. Was an Rohstoffen und fertigen Waren geschaffen wird, bleibt nur zu einem kleinen Teil im Eigenverbrauch der Erzeuger, die weitaus überwiegende Menge wird Gegenstand des Verkehrs und gelangt erst über diesen hin zum endlichen Ziel, zum Verbrauch. Der Weg, den das Gut vom Geburtsort an bis zur Sterbestätte – denn Verbrauch ist Vernichtung – zurücklegt, kann kurz oder lang sein: fast immer wird, um die Fahrt zu bewerkstelligen, eine leitende Hand nötig sein. Diese Hand bietet der Handel. Hält sich die Fahrt innerhalb der Grenzen des einheimischen Gebiets, so sprechen wir von Binnenhandel; schneidet sie die Grenze, so ergibt sich der Begriff des Außenhandels.

Unterschiede sonstiger Art, die das Wesen berühren, bestehen nicht zwischen den genannten zwei Arten des Handels, mag die historische Entwickelung auch einige Verschiedenheiten [715] zutage gefördert haben. Diese schrumpfen im modernen Staat immer mehr zusammen, die Lebensbedingungen, unter denen die beiden Gattungen des Handels sich entfalten, werden die gleichen, die Wechselwirkung zwischen ihnen gewinnt dauernd an Innigkeit. Ein blühender Außenhandel geht regelmäßig mit einem blühenden Binnenhandel Hand in Hand; Störungen, die widrige Verhältnisse, insbesondere menschliche Unvernunft, dem einen bereiten, lassen den anderen nicht unberührt. Weder ist der Außenhandel vornehmer oder produktiver als der Binnenhandel, noch ist er weniger patriotisch als dieser. Alle solche Vorstellungen, denen man in den Kundgebungen verflossener Zeiten vielfach, aber auch heute noch hin und wieder begegnet, halten vor der Erfahrung nicht stand.

In einer Beziehung nimmt allerdings der Außenhandel eine bevorzugte Stellung ein, die scheinbar nur theoretische Bedeutung hat, in Wirklichkeit aber von praktischem Wert ist. Er ist statistisch zu erfassen, ein Umstand, der sowohl dem Privatmann nützliche Winke für Bezugs- und Absatzmöglichkeiten gibt als auch den Staatsmann bei wirtschaftspolitischen Vorschlägen vor der Gefahr irrtümlicher Voraussetzungen behütet. Man braucht nicht gläubig auf die amtliche Statistik zu schwören und wird doch ohne weiteres zugeben müssen, daß die Beurteilung der Verhältnisse des Außenhandels dank der Anschreibungen der Reichsstatistik unvergleichlich leichter und sicherer ist als die Beurteilung der Verhältnisse des Binnenhandels, die in jungfräulicher Reinheit noch des Statistikers harren. Es zeigt sich hier wieder einmal die merkwürdige Erscheinung, daß wir fast immer über Vorgänge, die in unserer Nähe sich abspielen, am mangelhaftesten unterrichtet sind, daß wir, wie jemand treffend bemerkt hat, beispielsweis über den Umlauf der Sterne, die in endlosen Weiten sich befinden, mehr wissen als über den Umlauf des Geldes, das wir in den Fingern fühlen. Der dem alltäglichen Tun und Treiben nahe Binnenhandel ist in dichteren Nebel gehüllt als der Außenhandel, mit dem doch die große Menge der Menschen weder persönliche noch örtliche Fühlung hat.

Den Umfang des Binnenhandels zu schätzen, ist deshalb eine Aufgabe, an deren Lösung man nur mit den erheblichsten Vorbehalten gehen kann. Zahlenmäßige Nachweise gibt es zwar über einen großen Teil des Binnenverkehrs, aber dieser ist nicht gleichbedeutend mit dem Binnenhandel, denn jener umfaßt auch Gütermengen, die ohne Vermittlung des Handels zum Umsatz gelangen.

Die beiden Hauptverkehrswege, die für den Handel Betracht kommen, sind Bahn und Fluß; ihr Übergewicht über die gewöhnliche Landstraße wächst, je mehr das Schienennetz sich ausdehnt, je leistungsfähiger die Ströme und Kanäle gestaltet werden. Man wird darum in den Zahlen des Warenverkehrs, der durch Bahn und Schiff besorgt wird, den geeigneten Anhalt für den Warenverkehr überhaupt finden dürfen. Die Statistik für das Jahr 1911 gibt folgenden Aufschluß:

Menge der beförderten Güter in Tonnen (zu 1000 kg):

auf deutschen
Bahnen
auf deutschen
Flüssen u. Kanälen
insgesamt
im Inlandsverkehr 367 000 000 44 000 000 411 000 000
im Verkehr von und nach dem Auslande       60 000 000 37 000 000 97 000 000
Summa       427 000 000 81 000 000 508 000 000

[716] Nach Ausweis dieser Zusammenstellung erreichte die Gesamtmenge der in Deutschland (auf Bahn und Fluß) beförderten Güter das Gewicht von reichlich 500 Mill. Tonnen. Davon entfielen mehr als 400 Mill. auf den Inlandsverkehr. Zieht man die Jahre 1909 und 1910 heran, so gelangt man annähernd zu dem gleichen Ergebnis; man wird deshalb die Verhältniszahl, wonach der Binnenverkehr 4/5, der Auslandsverkehr 1/5 der Gesamtwarenbewegung umfaßt, im großen und ganzen als zutreffend erachten dürfen.

Unter Festhaltung eines solchen Verhältnisses und unter Berücksichtigung der Wertberechnungen, die für den Auslandsverkehr in der amtlichen Statistik vorliegen und die diesen für das letzte Jahr auf rund 20 Milliarden Mark angeben, wird man für die Gütermenge des Binnenverkehrs auf eine Wertsumme von 80 Milliarden Mark kommen. In Anbetracht dessen, daß bei der Berechnung der ganze Landstraßenverkehr, der fast ausschließlich dem Binnenverkehr zuzuzählen ist, außer Ansatz geblieben ist, verschiebt sich das Verhältnis zwischen Binnen- und Auslandsverkehr noch erheblich zugunsten des ersteren, so daß die 80 Milliarden Mark einer Erhöhung benötigen.

Es ist schon angedeutet worden, daß der absolute Wert solcher Berechnungen gering ist. Wie sorgsam die amtliche Statistik auch geführt wird, die Ergebnisse bleiben lückenhaft. Namentlich gilt dies von der Statistik der Schiffahrt, aber auch die Verkehrsziffern der Bahnen geben kein vollständiges Bild; es sei nur daran erinnert, daß bei den Anschreibungen der Bahnverwaltung ein beträchtlicher Teil des Stückgutverkehrs (nämlich Beförderungsmengen unter 500 kg) ganz außer acht gelassen wird. Es ist ferner zu bedenken, daß in der Beförderungsstatistik dieselbe Ware mehrmals erscheinen kann (wenn z. B. eine Lagerung den Beförderungsakt unterbrochen hat), und bei weiterer Betrachtung ergeben sich noch mancherlei andere Bedenken gegen die Genauigkeit der Gewichtsberechnung. Auch obige Wertberechnung ist nur in rohen Umrissen ausgeführt; um eins zu erwähnen, ist bei ihr von jeder Rücksicht auf Qualitätsunterschiede abgesehen worden. Aber eines beweist trotz aller Mängel jene Berechnung: daß der Binnenverkehr den Auslandsverkehr um ein Vielfaches überragt. Namentlich das letzte Jahrzehnt hat dem deutschen Auslandsgeschäft eine überaus starke Steigerung gebracht, indes ist diese Inanspruchnahme wirtschaftlicher Kräfte keineswegs auf Kosten des Binnenverkehrs erfolgt; in gleichem Schritt und Tritt gingen Inlands- und Auslandsverkehr vorwärts.

Groß- und Kleinhandel.

Der gewerbsmäßige Vertrieb von Waren − Ware in ausgedehntestem Umfange verstanden – ist das Merkmal des Handels. Im weiteren Sinne ist auch die Tätigkeit der Fabrikanten und Landwirte, die ihre eigenen Waren an Kaufleute oder Verbraucher absetzen, als Handelstätigkeit zu bezeichnen; dagegen schließt im engeren Sinne der Begriff des Handels nur diejenigen Personenklassen ein, welche nicht die Erzeugung oder Verarbeitung von Waren, sondern einzig und allein den Übergang der Waren von einer Hand in die andere bewerkstelligen. In den Rechtsordnungen werden öfters besondere Merkmale für den Begriff des Handels aufgestellt, so daß eine Einengung des Kreises der zugehörigen Personen erfolgt; in wirtschaftlicher Hinsicht sind diese Unterscheidungen fast belanglos.

[717] Dies gilt im allgemeinen auch von der Einteilung des Handels in Groß- und Kleinhandel. Der Großhändler oder Grossist verabfolgt die Ware nicht an den Verbraucher, sondern an jemanden, der die Ware, im Urzustande oder verarbeitet, weitergeben will, also an den Wiederverkäufer; der Kleinhändler oder Detaillist steht auf der letzten Station des Weges, den die Ware durchmißt, er verabfolgt diese unmittelbar an den Verbraucher. Es bedarf keiner langen Ausführung, daß die Bezeichnungen „Großhandel“ und „Kleinhandel“ mit dem Umfange des Umsatzes nichts zu tun haben; die Wahl dieser Ausdrücke – sie ist nicht besonders glücklich – gründet sich lediglich darauf, daß regelmäßig im Verkehr zwischen einem Großhändler und einem Wiederverkäufer die Waren in größeren Abschnitten, im Verkehr zwischen Kaufmann und Verbraucher dagegen in kleineren Portionen abgegeben werden. Schon die verschwindenden Begriffe, die hier zur Anwendung kommen (Groß und Klein), lassen erkennen, daß zwischen Groß- und Kleinhandel keine Gegensätze bestehen, daß sie vielmehr Schößlinge aus derselben Wurzel sind. Der Großhandel verdankt, wie der Handel überhaupt, sein Daseinsrecht dem Nutzen der Arbeitsteilung, aber auf kaum einem Gebiete des Handels ist dieser Gesichtspunkt zu einer so strengen Anerkennung gelangt wie eben beim Großhandel. Er ist das Vermittlungsgewerbe in reinster Form und stützt sich einzig und allein auf die Bedeutung, welche der Vermittlung, dem Dazwischentreten einer dritten Instanz, im wirtschaftlichen Leben zukommt. Mögen auf anderen Gebieten des Handels Herkommen und Gebräuche eine Rolle spielen, also Momente von nicht reinwirtschaftlichem Charakter, auf dem Gebiete des Großhandels gibt es keine Einflüsse, die die gerade Linie der ökonomischen Entwicklung durchkreuzen. In dem Augenblicke, wo der Großhandel seiner Aufgabe, den Übergang der Ware von der Produktion zur Vertriebsstelle zu erleichtern, nicht genügt, hat seine Stunde geschlagen, und keine Macht der Welt vermag sein Schicksal auch nur um eine kurze Spanne Zeit aufzuhalten; anderseits vermögen keine Vorurteile, kein Mißwollen ihm den Herrschaftsbereich um Haaresbreite zu kürzen. Er trägt dem Regulator in sich selber. Hier kommen die Erwägungen, welche für das Daseinsrecht des Handels überhaupt sprechen, in höchster Potenz zur Geltung.

Die Zahl der Personen, die im Großhandel tätig sind, ist naturgemäß gering gegenüber der Zahl der dem Kleinhandel angehörigen. Seine wirtschaftliche Bedeutung ragt aber über die Kopfzahl weit hinaus. Auch in ethischer Beziehung trifft dies zu. Der Großhandel, dessen Lebenselement die Freiheit des Verkehrs ist, der deshalb jedes Mittel künstlicher Förderung verschmäht, hat zu der Schar der Kaufleute, die mit weitem Blick die Bedürfnisse des Lebens zu erfassen vermögen, stets ein ansehnliches Kontingent gestellt.

Was den Standort des Handels anbelangt, so sind die Gründe, welche für die Wahl desselben entscheidend sind, bei Groß- und Kleinhandel nicht die gleichen. Die Regel wird sein, daß der Großhandel sich mehr in der Nähe der Produktionsstätten ansiedelt, also die Vorteile des Einkaufes voranstellt, während der Kleinhandel, für den die Verkaufsseite von größerer Wichtigkeit ist, dem Sitze des Verbrauchs nahezurücken sucht. Die fortschreitende Verbesserung der Verkehrswege mildert aber jene Verschiedenheit; der Großhandel, der ehedem mit Vorliebe an den Außenrändern des Staates, [718] an See und Fluß, sich niederließ, zieht ins Innere des Landes, und im Kleinhandel entstehen Betriebe, die den Absatz in der Ferne suchen, die sogenannten Versandgeschäfte. Im großen und ganzen kann man sagen, daß der Großhandel freier in der Wahl des Standortes ist als der Kleinhandel.

Der Großhandel, der mit dem Außenhandel mannigfache Berührungspunkte hat, ähnelt diesem auch insofern, als die Bemängelungen, die von berufener und mehr noch von unberufener Seite dem Handelsgewerbe gewidmet werden, ihn im allgemeinen verschonen. Der Ehrentitel der Produktivität, den man dem Kleinhandel für gewisse Fälle abzusprechen beliebt, wird ihm in der Regel nicht vorenthalten. Sobald es sich dabei nicht um unklare Gefühlsäußerungen handelt, ist es die bereits erwähnte Eigenart des Großhandels, die ihm die freundlichere Beurteilung sichert. Sein Wirken schließt sich in so starkem Grade dem realen Bedürfnis an, sein Werden und Vergehen, sein Wachstum und sein Rückgang sind so sehr den Zufälligkeiten entrückt, daß es hier, wie schon ein kurzer Blick zeigt, für die Bildung ungesunder Zustände an dem Nährboden mangelt.

Hilfsanstalten des Handels.

Von Einrichtungen, die in früheren Zeiten dem Handel, insbesondere dem Großhandel, Hilfsdienste leisteten, ist nur eine beschränkte Zahl in die Jetztzeit übergegangen, und auch unter diesen befinden sich einige, die den Anschein erwecken, als seien sie dem allmählichen Untergange geweiht. Es gilt dies von den Märkten und Messen, deren Ruhm aus fernen Zeiten herüberleuchtet, die aber großenteils nur ein kümmerliches Dasein führen. Die Märkte in Form der Jahr- und Wochenmärkte bringen in das Gewebe des alltäglichen Lebens, namentlich soweit es sich in Vorstädten, Kleinstädten und auf dem platten Lande vollzieht, noch immer einen bunten Einschlag, aber ihre allgemein wirtschaftliche Bedeutung ist dahin. Die Messen, die ehedem die vornehmste Erscheinungsform des Großhandels bildeten, haben sich nur an einigen wenigen Plätzen – voran steht Leipzig – und für besondere Warenklassen (Pelzwerk, Erzeugnisse der Buchdruckerei pp.) erhalten.

Von größerer Wichtigkeit für den Großhandel sind die Börsen, die Märkte, auf denen die Kaufleute zusammenströmen, um Handelsgeschäfte über Wertpapiere und Waren abzuschließen. Nach den Gegenständen, die dort gehandelt werden, pflegt man Effekten- und Produktenbörsen zu unterscheiden. Die Bedeutung der Effektenbörsen erschöpft sich nicht in den Diensten, die sie dem Handel leisten, sie sind ein unentbehrliches Instrument der Wirtschaft im ganzen. Ihre Verfassung mag wandelbar sein, und es liegt nicht außer dem Bereiche der Möglichkeit, daß durch andere Formen der wirtschaftlichen Organisation im Laufe der Zeit und auf gewissen Gebieten ein Ersatz für die heutigen Effektenbörsen geschaffen werde, aber immer wird die Notwendigkeit für das Bestehen großer Märkte vorliegen, auf denen sich der Verkehr in Wertpapieren nach festen Normen vollzieht.

Anders steht die Sache der Warenbörsen, die ebenfalls ein Instrument des Großhandels sind, obwohl hier nicht eine scharfe Scheidung vom Kleinhandel betont werden soll. Die Zahl der deutschen Städte, in denen Warenbörsen bestehen, beträgt 17; es sind [719] dies die 8 preußischen Plätze Berlin, Magdeburg, Stettin, Danzig, Königsberg, Elbing, Köln und Koblenz, die 3 sächsischen Plätze Dresden, Leipzig und Chemnitz, die 3 Hansestädte, endlich Stuttgart, Mannheim und Straßburg. Zu diesen Börsen treten noch mehrere börsenartige Gebilde. Nimmt man die Hamburger Börse aus – an ihr werden Waren verschiedenster Art gehandelt, auch Fracht-, Versicherungsgeschäfte usw. abgeschlossen – so kann festgestellt werden, daß die deutschen Warenbörsen sich in der Hauptsache auf die Regelung des Verkehrs in Getreide und sonstigen landwirtschaftlichen Erzeugnissen beschränken. Sie kommen also für den weitaus überwiegenden Teil des Handels nicht in Betracht. Man kann sie als Märkte mit feinerer Organisation bezeichnen, wobei zu beachten ist, daß sich die Grenze zwischen ihnen und gewöhnlichen, loser geordneten Märkten leicht verwischt. Der Terminhandel, diese eigenartige Erscheinung des Börsenverkehrs, ist in beachtenswertem Umfange nur an einigen Plätzen vertreten, nämlich in Berlin, Hamburg und Bremen, und zwar für Kaffee, Zucker, Rüböl und Baumwolle.

Produktivität des Binnenhandels.

Die Frage, in welchem Maße der Binnenhandel produktiv sei, hat in der öffentlichen Erörterung von jeher einen breiten Raum eingenommen. Die Praxis hat sich allerdings um die theoretischen Untersuchungen wenig gekümmert, die Wucht der Tatsachen hat dem Handel die Stellung zugewiesen, die ihm als notwendigem Bestandteil der Wirtschaftsorganisation zukommt.

Die volkswirtschaftliche Bedeutung eines Berufszweiges richtig einzuschätzen, ist eine ebenso schwierige wie notwendige Aufgabe: notwendig deshalb, weil die Wirtschaftspolitik, die nicht die Bevorzugung einzelner Interessen, sondern den Ausgleich der verschiedenen Strömungen des gewerblichen Lebens zum Ziel hat, ohne die Abwägung der die Bedarfsbefriedigung besorgenden Kräfte nicht eine Hebung, sondern eine Hemmung der Gesamtwirtschaft herbeiführen würde; schwierig deshalb, weil die Rechnung, deren Endsumme die Bedeutung des Berufszweiges erkennen lassen soll, aus zahllosen Posten besteht und weil die sonst übliche Methode der Abwägung bei einem Teil dieser Posten, den sogenannten Imponderabilien, völlig versagt. Ganz besonders gilt dies für den Versuch, die Bedeutung des Handels festzustellen.

Die Frage, welche Stellung ein Berufszweig im Gesamtrahmen der Volkswirtschaft einnimmt, gliedert sich in die zwei Fragen:

Welche Dienste leistet er bei der allgemeinen Bedarfsbefriedigung?
In welchem Umfange dient er als Nahrungsgewerbe für eine begrenzte Klasse von Personen, nämlich für die in ihm tätigen?

Die erstbezeichnete Frage kann hier kurz abgetan werden. Je komplizierter das Wirtschaftswesen ist, um so weniger entbehrlich ist eine Organisation, die der aus der Produktion quellenden Gütermenge den Abfluß bahnt. Wir wollen hier nur einen einzigen Punkt berühren, der für den heutigen Stand des Wirtschaftslebens von höchster Wichtigkeit ist. Ohne einen leistungsfähigen Handel, der die erzeugten Güter aufnimmt und die Vorratshaltung besorgt, würden die produzierenden Gewerbe, insbesondere Industrie und Landwirtschaft, aus einer Krisis in die andere taumeln.

[720] Einer eingehenden Beantwortung bedarf die zweite Frage. Es ist von vornherein klar, daß sie je nach Lage des Falles scheinbar zu entgegengesetzten Schlußfolgerungen führen könnte. Ein Beruf, der vielen Personen Brot schafft, wird in der Regel hoch einzuschätzen sein; anderseits darf ein Beruf, der mit dem Aufwande eines kleinen Personals große Dienste dem gemeinen Wesen leistet, um dieser seiner Eigenart willen nicht gemißachtet werden, er wird im Gegenteil besondere Schätzung verdienen. Freilich wird die mechanische Auffassung, die gern an der greifbaren Zahl klebt, der letzteren Erwägung öfters das Anerkenntnis versagen.

Zahl der im Binnenhandel tätigen Personen.

Die Zahl der Personen, welche gegenwärtig der deutsche Handel beschäftigt, ist mit reichlich 2 Millionen anzusetzen. Diese Ziffer begreift den Handel im engeren Sinne, den Beruf der selbständigen Kaufleute und ihrer Angestellten (einschließlich der Arbeiter). Was an Handelstätigkeit in den Kontoren der Fabrikanten pp. oder im Nebenberuf geleistet wird, bleibt ganz oder großenteils außer Betracht.

Vergleicht man den Handel als unmittelbar nährendes Gewerbe mit anderen Berufszweigen, so fällt ins Auge, daß die Zahl der von ihm lebenden Personen verhältnismäßig gering ist. Nach dem Ausweise der Berufsstatistik vom Jahre 1907 machte der Anteil, den das Handelsgewerbe an der Gesamtzahl der in Deutschland gewerblich tätigen Personen hatte, nur etwas über 7% aus, und es ist anzunehmen, daß seitdem keine allzu wesentliche Verschiebung erfolgt ist. Jedenfalls liegt auch für die Gegenwart die Tatsache vor, daß die anderen großen Produktionszweige, Landwirtschaft und Industrie, ein Heer von Personen beschäftigen, gegen welches das Häuflein der Kaufleute und ihrer Angestellten verschwindet. Soweit also in den wirtschaftlichen Kämpfen, die von den Vertretern[WS 1] der verschiedenen Berufszweige ausgefochten werden, die bloße Kopfzahl als ausschlaggebendes Beweismaterial herangezogen wird, werden die Interessen des Kaufmannsgewerbes stets einen schweren Stand haben.

Die gekennzeichnete Eigenart beruht auf dem Wesen des Handelsgewerbes. Seine Tätigkeit läuft auf Vermittlung des Umsatzes hinaus, ist somit zu einem erheblichen Teil eine dirigierende, bei dem körperliche Arbeit weniger in Betracht kommt. Soweit letztere erforderlich ist, wird sie in reichlichem Umfange durch Hilfsgewerbe, Spedition, Verkehrsanstalten usw., erledigt. Der Handel ist an sich ein menschenarmes Gewerbe.

Die verhältnismäßig niedrige Zahl von Personen, welche vom Handel unmittelbar leben, hat ihm aber nicht den Vorwurf erspart, daß er überfüllt sei. Nach der (allerdings nicht genauen) Statistik ernährte der deutsche Handel im Hauptberufe:

i. J. 1882   842 269 Personen
i. J. 1895 1 205 134 Personen
i. J. 1907 1 739 910 Personen

Man kann darnach annehmen, daß die Zahl der Beschäftigten sich in den letzten 25 Jahren um etwa 100% vermehrt hat. In eben dieser Zeit stieg die Bevölkerung [721] des Deutschen Reiches nur um etwa 30%. Es will dies besagen, daß der Kreis der Kunden, die vom Handelsgewerbe bedient werden, pro Kopf des in diesem Gewerbe beschäftigten Personals von 50 auf etwa 30 sank.

Eine Untersuchung darüber, ob in solcher Wandlung die Anzeichen einer Überfüllung des Handelsgewerbes zu erblicken sei, ist wohl angebracht. Die Tatsache, daß das Handelsgewerbe heute verhältnismäßig mehr Köpfe zu ernähren hat als vor einem Menschenalter, ist nach obiger Statistik nicht abzustreiten. Es fragt sich nur, ob nicht die Vermehrung der Kopfzahl eine notwendige Folge der Erweiterung des Aufgabenkreises des Handelsgewerbes gewesen ist.

Für die Beantwortung dieser Frage ist folgendes von Wichtigkeit. Die Zahl der Betriebe betrug im Handelsgewerbe:

i. J. 1882   482 125
i. J. 1895 578 497
i. J. 1907 667 238

Die Steigerung stellte sich darnach in den letzten 25 Jahren auf 37% und ging nur um ein Geringes über den Prozentsatz der Volksvermehrung hinaus. Man kommt angesichts dessen zu dem Ergebnis, daß, wenn der Maßstab des Bevölkerungsstandes zugrunde gelegt wird, die Zahl der Neuetablierungen im Kaufmannsstande während des erwähnten Zeitraumes im allgemeinen normal geblieben ist. Dagegen hat sich in diesen Beruf ein breiter, stets wachsender Strom von Handlungsgehilfen und Arbeitern ergossen. Es wurden im Handelsgewerbe beschäftigt:

  Angestellte   Arbeiter
i. J. 1882 74 446 283 698
i. J. 1895 141 399 485 238
i. J. 1907 268 386 804 286

Man hat es also mit Steigerungen zu tun, die über 200% hinaus schwanken.

Aus diesen Aufstellungen geht hervor, daß zugleich mit der normalen Vermehrung der kaufmännischen Betriebe die Ausstattung dieser Betriebe mit kaufmännischem Personal in überaus starkem Umfange erfolgte. Hier stößt man auf einen Gegensatz zur Industrie. In der Industrie ist ebenfalls die Zahl der Angestellten und Arbeiter mächtig angeschwollen – sie stieg in den letzten 25 Jahren auf reichlich das Doppelte –, aber Hand in Hand mit der Vermehrung vollzog sich eine Konzentration innerhalb der industriellen Gewerbe, die dahin führte, daß die Zahl der Betriebe sich um 10% verminderte.

Das gewaltige Heer neuer Arbeitskräfte konnte in der Industrie trotz der Ausschaltung einer erheblichen Reihe von Betrieben Unterkunft finden, weil der Typ der großen Unternehmung vorherrschend wurde. Auch im Handelsgewerbe war die Tendenz zum Großbetrieb zu beobachten; zahlreichen Spezialgeschäften gelang es, ihren Absatz weit über die früheren Grenzen auszudehnen, und neben ihnen entstanden die Riesenbetriebe der Warenhäuser. Diese Großunternehmungen waren imstande, einen beträchtlichen Teil der Arbeitskräfte, die sich den kaufmännischen Betrieben zur Verfügung [722] stellten, aufzunehmen. Aber mit einer derartigen Aufsaugung von Arbeitskräften war nicht, wie es in der Industrie zutage trat, eine Aufsaugung der Kleinbetriebe verbunden.

Zur Illustrierung der eben gemachten Ausführungen mögen hier noch ewige Zahlen folgen, die sich auf Preußen beziehen.

Zahl der Betriebe
in Industrie und Handwerk im Handel
1882 1907 Zu- oder
Abnahme
1882 1907 Zu- oder
Abnahme
Gehilfenlose Betriebe 755 176 518 574 −30 % 246 501 252 904 +2½ %
Betriebe mit höchstens 2 Gehilfen 249 768 279 582 +12 % 92 877 314 235 +238 %
mit 3–5 Gehilfen 162 656 204 487 +25 % 50 696 119 484 +140 %
mit 6–10 Gehilfen 28 431 55 282 +94 % 10 667 28 435 +167 %
mit 11–50 Gehilfen 20 579 51 485 +150 % 4 448 16 700 +275 %
mit mehr als 50 Gehilfen 5 529 16 463 +200 % 255 1 697 +565 %

Der Unterschied in der beiderseitigen Entwicklung springt scharf ins Auge. In den verarbeitenden Gewerben haben die Zwergbetriebe eine Abnahme erfahren, die fast ein Drittel beträgt, und die kleinen Betriebe haben zwar nicht an Zahl eingebüßt, sind aber doch nur um ein Geringes gewachsen. Im Handelsgewerbe dagegen haben sich die Zwergbetriebe ziemlich behaupten können, die Zahl der kleinen und mittleren Betriebe hat stark zugenommen.

Groß- und Kleinunternehmung im Handelsgewerbe.

An der eben geschilderten Stelle offenbart sich das Wesen des Handelsgewerbes, seine Kraft, wie seine Schwäche.

Auf allen Feldern des wirtschaftlichen Schaffens begegnen wir den beiden Formen der Unternehmung: dem Großbetrieb und Kleinbetrieb. Der Untergang des letzteren erscheint vom sozialen Standpunkte als eine Gefahr, der mit allen Kräften entgegengearbeitet werden muß. Am erheblichsten ist die Gefahr auf dem Gebiete der Industrie, am schwächsten auf dem Gebiete der Landwirtschaft; das Handelsgewerbe steht in der Mitte. Nicht menschlicher Unverstand schafft diese Verschiedenheiten, die Natur der Dinge gibt den Grund ab für die Staffelung. In der Industrie ist die technische Überlegenheit des Großbetriebes am hervorstechendsten, in der Landwirtschaft ist sie am geringsten, ja, sie kehrt sich hier wohl ins Gegenteil. Das Handelsgewerbe bietet zwar auch dem Großbetrieb ein Feld der Betätigung, indes stehen den Vorteilen, die diesem System an sich eigen sind und die besonders auf der Möglichkeit einer mechanischen Gestaltung der Arbeit, einer Massenbehandlung in persönlicher wie sachlicher Beziehung beruhen, Nachteile gegenüber, die der Kleinbetrieb vermeidet, da er für eine individualisierende Geschäftstätigkeit mehr geeignet ist. So ergibt sich die Tatsache, daß ungeachtet des scharfen Wettbewerbes, den die Großbetriebe entfalten und der an einzelnen Stellen die Reihen der Kleinbetriebe dezimiert, doch im großen und ganzen diese ungeschwächt an Zahl aus dem Konkurrenzkampfe hervorgehen.

[723] Liegt in dieser natürlichen Widerstandsfähigkeit des Kleinbetriebes ein Trost für den Sozialpolitiker, der das Aufschießen der Warenhäuser nicht ohne Besorgnis begleitet, und verbürgt sie die Zukunft des Detaillistenstandes, so ist andererseits nicht außer acht zu lassen, daß der erwähnte Vorzug die Ursache einer ungesunden Entwicklung sein kann. Bei aller Sympathie für den Kleinbetrieb im gewerblichen Leben wird man doch der Erkenntnis nicht ausweichen dürfen, daß Gebilde, die der Lebensfähigkeit entbehren, im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse verschwinden sollen. Der Reinigungsprozeß vollzieht sich in der Industrie unaufhaltsam; die Hand am Besen hat der Großbetrieb. Eine Überschwemmung industrieller Berufe mit ungesunden Existenzen ist deshalb vielleicht vorübergehend, aber nicht auf längere Dauer möglich. Anders im Handel: durch die weit geöffneten Tore ziehen frische Rekruten ein, um sich in die Armee der Kämpfer einzureihen; aber selbst wenn sie sich als ungeeignet erwiesen haben, werden sie noch geraume Zeit das Ganze als unnützer Troß beschweren – dank eben jener Zähigkeit, die hier zwar nicht die Bedingung eines gesunden Lebens, aber doch die Möglichkeit des Vegetierens schafft.

Zu untersuchen, ob in der heutigen Besetzung des Handelsstandes bereits der Zustand der Überfüllung zu erkennen sei, ist müßig. Wichtiger ist es, nach Mitteln Umschau zu halten, die für Gegenwart und Zukunft der Gefahr der Überfüllung vorbeugen. Aus dem Zustrom der Elemente die ungeeigneten auszuscheiden und dem Stande dauernd fernzuhalten, wird um so eher gelingen, je mehr durch Selbsthilfe und Maßnahmen des Staates das Niveau des Handels gehoben wird. Die Anforderungen, die in geistiger Beziehung an die Angehörigen des Berufs gestellt werden, müssen hoch gehalten werden; das Erfordernis sorgfältiger Schulung wirkt verscheuchend auf Elemente, die der Vorbildung entbehren. Die Hebung des Niveaus hat zwar in gewissem Umfange zur Folge, daß der Wettbewerb innerhalb des Gewerbes sich verschärft und damit dem einzelnen Unbequemlichkeiten erwachsen, aber im Interesse der Sichtung des Standes ist dies nur erwünscht. Zu den wichtigsten Maßregeln, durch die Abwehr und Ausmerzung ungeeigneter Elemente mittelbar bewirkt werden, gehören diejenigen, welche den Unlauterkeiten in Handel und Wandel entgegenwirken. Das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, das am 27. Mai 1896 ergangen war, wies einige wesentliche Lücken auf, die das neue Gesetz, das vom 7. Juni 1909 datiert, auszufüllen versucht hat. Die Verschärfungen, die es brachte, konnten im Interesse des soliden Handels nur willkommen geheißen werden. Allerdings muß man sich vor dem Wahn hüten, als ob gesetzliche Zwangsmittel genügten, um die Auswüchse im Handelsverkehr zu vernichten. Mehr als vom Gesetz ist von der Sitte zu erwarten; das Zusammenwirken der Angehörigen der einzelnen Zweige des Handelsgewerbes ist von schöpferischer Kraft. Ohne Organisation keine Erziehung, dies gilt auch für das Handelsgewerbe, das mehr als andere Gewerbe zur Zersplitterung neigt. Eine allzu starke Betonung der Staatshilfe bei Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbes ist imstande, der Verbreitung der irrtümlichen Ansicht Vorschub zu leisten, als sei alles, was der Staat nicht verbietet, erlaubt.

Die Gefahr einer Überfüllung des Kaufmannsstandes wird noch durch einen besonderen Umstand in die Nähe gerückt: durch die Absperrung der Frauen von den anderen [724] Berufen. Die große Menge der Mädchen, die sich einem Berufe widmen wollen oder müssen, fand bis vor nicht langer Zeit die Pforten zu zahlreichen Gewerben verschlossen; unter den wenigen Berufen, die sich ihnen öffneten, stand in erster Linie der kaufmännische. Ihm wandte sich deshalb Jahr für Jahr ein starker Strom weiblicher Arbeitskräfte zu, gleichgiltig, ob der Bedarf den Zugang rechtfertigte, gleichgiltig, ob die Arbeitswilligen sich die nötige Vorbildung erworben hatten. In dieser Beziehung hat die Neuzeit anerkennenswerte Fortschritte aufzuweisen, deren Einwirkung auch das Handelsgewerbe spüren wird. Immer mehr Berufe werden den Frauen erschlossen, so daß die Verteilung auf das Gebiet der Erwerbstätigkeit nicht in dem Maße wie zuvor mit künstlicher Stromleitung zu rechnen hat. Freilich stehen wir erst in den Anfängen der Entwicklung. Auch der Gedanke, daß männliche und weibliche Handlungsgehilfen in bezug auf Vorbildung, Lehrzeit usw. nicht verschieden zu behandeln seien, bricht sich Bahn.

Der Warenhandel.

Alles, was in Vorstehendem ausgeführt ist, trifft in besonderem Maße auf diejenige Unterart des Handelsgewerbes zu, die den weitaus größten Bestandteil des Ganzen bildet, auf den Warenhandel. Er ist der eigentliche Handel. Erheblich mehr als drei Viertel der Personen, die im gesamten Handelsgewerbe beschäftigt werden, entfallen auf diesen Hauptzweig, und in ihn vornehmlich hat sich die große Menge von Arbeitskräften ergossen, die während der letzten Jahrzehnte neu in das Handelsgewerbe eingetreten sind. Es haben sich zwar auch die anderen Unterarten des Handelsgewerbes an diesem Vermehrungsprozeß beteiligt, prozentual sogar in höherem Grade als der Warenhandel, indes bleiben sie in den absoluten Ziffern weit zurück. Die nachstehende Aufstellung, die der amtlichen Berufsstatistik des Reiches entnommen ist, gibt ein Bild der Bedeutung der Handelszweige nach der Kopfzahl der in ihnen tätigen Personen.

Unterarten des Handelsgewerbes Zahl der im
Jahre 1907
tätigen Personen
Der Zuwachs
betrug gegen das
Jahr 1895
Warenhandel 1 491 780 456 557
Geld- und Kredithandel 66 338 32 649
Handelsvermittlung 55 885 14 604
Hilfsgewerbe des Handels 47 746 15 728
Buch-, Kunst- und Musikalienhandel 37 910 16 216
Zeitungsverlag und -spedition 17 300 9 634
Versteigerung, Verleihung, Aufbewahrung 22 951 10 236

Die erwähnte Tatsache, daß der Warenhandel in besonderem Maße die Kennzeichen des Handelsgewerbes überhaupt aufweist, wird auch dadurch bestätigt, daß das weibliche Element hier den breitesten Raum einnimmt. Es macht mehr als ein Drittel des Personalbestandes aus, während in den übrigen Handelszweigen seine Beteiligung bisher nur einen verhältnismäßig geringfügigen Umfang erreicht hat.

Der Detailhandel.

Kann man Warenhandel als den eigentlichen Handel bezeichnen, so erklärt sich die Tatsache, daß die Wandlungen, [725] die sich im Laufe der Zeit und namentlich im letzten Menschenalter auf dem Gebiete des Handels vollzogen haben, mit allen ihren Folgen gerade im Warenhandel am schärfsten zum Ausdruck gekommen sind. Vom Gesamtwarenhandel ist es wiederum der Hauptteil dieser Handelsart, der Freud und Leid der Entwicklung am meisten gespürt hat, der Detailhandel.

Niemand wird angesichts der reichen Ausgestaltung, welche der Detailhandel im Ganzen wie in seinen einzelnen Betrieben während der letzten Jahrzehnte erfahren hat, in Abrede stellen, daß die Leistungsfähigkeit hier stark gewachsen ist, indes kann ebensowenig bestritten werden, daß neben der Errungenschaften, die vorzugsweise dem kaufenden Publikum zugute gekommen sind, im Gewerbe Erscheinungen zutage getreten sind, die den Kampf ums Dasein erheblich schwieriger gestalten. Hat sich auch überall im wirtschaftlichen Leben der Wettbewerb verschärft, so trifft diese Wahrnehmung doch in erster Linie für den Warenhandel zu. Es kann deshalb nicht verwunderlich erscheinen, daß je mehr hier neue Konkurrenzbetriebe auf den Plan treten, um so lauter aus den Kreisen derer, die bisher im Besitze gewesen sind, die Klage ertönt, daß das ganze Gewerbe gefährdet sei.

Unter den neuen Konkurrenten, die in den Detaillistenstand eingerückt sind, stehen voran die Warenhäuser.

Detailhandel und Warenhäuser.

Entgegen dem großen Zuge, der das kaufmännische Gewerbe beherrscht, der Spezialisierung, haben die Warenhäuser den Grundsatz der Zusammenfassung aller Warengruppen an einer Verkaufsstelle zur Durchführung gebracht, unter weitgehender Benutzung der Vorteile des Großbetriebes. Die Gesetzgebung steht der neuen Erscheinung im allgemeinen nicht freundlich gegenüber. Das preußische Gesetz vom 18. Juli 1900 belegt die Warenhäuser mit einer Sondersteuer in Höhe von 1–2% des Umsatzes, und Bayern, Sachsen usw. sind dem Beispiele gefolgt. Die Ausdehnung, welche der Warenhausbetrieb in Preußen während des verflossenen Jahrzehnts gewonnen hat, läßt sich an der Hand nachstehender Tabelle abschätzen.

Zahl der Warenhäuser und ihre Steuern.

1903 1904 1905 1906 1907
Zahl der Warenhäuser 73 82 93 90 101
Betrag der veranlagten Wa-
renhaussteuer in Mark
1 933 250 1 965 005 2 160 394 2 525 218 2 676 545
1908 1909 1910 1911 1912
Zahl der Warenhäuser 107 101 109 108 121
Betrag der veranlagten Wa-
renhaussteuer in Mark
2 737 074 2 583 704 3 077 707 3 346 324 3 933 066

Es ergibt sich darnach, daß im letzten Jahrzehnt die Zahl der Warenhäuser um etwa 50%, ihre Steuerleistung aber um etwa 100% gewachsen ist. Die Zahl ist in geringerem Maße gestiegen als der Umsatz, d. h. eine Reihe von Warenhäusern hat sich zu Riesenbetrieben ausgewachsen.

[726] Der Umsatz der Warenhäuser ist für einige Jahre amtlich berechnet worden. Er wurde festgestellt für das Jahr:

1903   auf 143 Millionen Mark
1905 auf 176 Millionen Mark
1906 auf 196 Millionen Mark
1907 auf 216 Millionen Mark

Auf Grund dieser Bezifferungen wird man den warenhaussteuerpflichtigen Umsatz schätzen können für das Jahr:

1908   auf 230 Millionen Mark
1909 auf 250 Millionen Mark
1910 auf 270 Millionen Mark
1911 auf 300 Millionen Mark
1912 auf 350 Millionen Mark

Zu diesen Summen treten noch die Beträge des Umsatzes an Waren, die in den Warenhäusern zwar geführt werden, aber laut Gesetz von der Warenhaussteuer freibleiben, sowie der Umsatz im Großhandel, der ebenfalls steuerfrei ist.

In welchem Grade die Konkurrenz der Warenhäuser für die übrigen Betriebe des Kleinhandels fühlbar geworden ist, läßt sich an der Hand der Umsatzstatistik schwer nachweisen, da wohl Schätzungen des Umsatzes der Warenhäuser, nicht aber Ziffern über den Gesamtumsatz der Detailgeschäfte zur Verfügung stehen. Man ist auf Mutmaßungen angewiesen, die im besten Falle nur annähernd richtig sind; es geht hier wie bei den Berechnungen, wie sie z. B. über Volksvermögen und Volkseinkommen angestellt werden. Schätzt man das jährliche Volkseinkommen in Preußen auf 25 Milliarden Mark und nimmt man an, daß von dieser Summe die Hälfte zur Deckung der Nahrungs-, Kleidungsbedürfnisse usw. in die Verkaufsläden wandert – für die kleinen Einkommen ist diese Quote ohne Zweifel zu tief gegriffen – so gelangt man zu dem Ergebnis, daß zurzeit der Anteil, den die Warenhäuser an den Umsätzen des Detailhandels haben, nicht wesentlich über 3% hinausgeht. Anders sieht aber die Rechnung aus, wenn man den Umstand berücksichtigt, daß der Wettbewerb der Warenhäuser sich nicht gleichmäßig über das ganze Staatsgebiet erstreckt, sondern sich vorzugsweise in den Groß-Städten entfaltet. Am schärfsten ist er in Berlin. Im Jahre 1912 entfiel reichlich die Hälfte der in ganz Preußen veranlagten Warenhaussteuer allein auf Berlin. Da für diese Stadt der Satz der Warenhaussteuer, der zur Erhebung gelangt, auf ungefähr 1% zu schätzen ist – für die Riesenbetriebe, die in Berlin bestehen und an sich bis zu 2% besteuert werden könnten, ermäßigt sich die Steuersumme nach § 5 des Warenhaussteuergesetzes unter Umständen bis auf die Hälfte – ergibt sich, daß die 20 Warenhäuser, die im Jahre 1912 in Berlin gezählt wurden, einen Umsatz von nahezu 200 Millionen Mark hatten. Der Prozentsatz, den diese Summe von dem Gesamtbetrage der im Berliner Detailhandel umgeschlagenen Werte ausmacht, ist naturgemäß um ein mehrfaches höher als der oben für Preußen ermittelte Durchschnittssatz; selbst wenn man den starken durch den Fremdenverkehr erhöhten Konsum Groß-Berlins mit ansehnlichen Ziffern einsetzt, wird man annehmen [727] dürfen, daß die Warenhäuser an dem Berliner Detailgeschäft mit mindestens 10% beteiligt sind.

Dabei ist aber noch folgendes zu beachten. Wird die Konkurrenz, welche die Warenhäuser den übrigen Betrieben des Warenhandels bereiten, auch von der Mehrzahl der letzteren empfunden, so stuft sich der Grad der Einwirkungen doch ab. Am wenigsten werden diejenigen Detailgeschäfte beeinflußt, die weitab vom Zentrum der Stadt gelegen sind, eine englokale Kundschaft haben, den alltäglichen Bedarf befriedigen; es sind dies vorzugsweise kleinere Geschäfte. Die ganze Wucht des Wettbewerbes der Warenhäuser dagegen haben die mittleren und größeren Betriebe des Detailhandels auszuhalten. Schält man sie aus der Gesamtmasse der Spezialgeschäfte heraus und stellt sie den Warenhäusern gegenüber, so erfährt der obige Prozentsatz wiederum eine Steigerung. Für Berlin gibt die städtische Statistik, die über das Personal der gewerblichen Mittel- und Großbetriebe geführt wird, einen Anhalt zur Beurteilung der einschlägigen Verhältnisse, wenn auch der Schluß von der Zahl der Beschäftigten auf den Umfang des Umsatzes nicht ganz einwandfrei ist. In den kaufmännischen Betrieben Groß-Berlins, in denen ein Personal von wenigstens 25 Personen beschäftigt war, betrug die Gesamtziffer der Angestellten in neuester Zeit etwa 70 000; von diesen waren in den Warenhäusern 20 000, also mehr als 28%, beschäftigt.

Detailhandel und Konsumvereine.

Neben den Warenhäusern sind es die Konsumvereine, die einen Teil des Warenhandels an sich ziehen und damit den Wettbewerb im Detailgeschäft verschärfen. Über den Umfang, den die Konsumvereinsbewegung im Laufe der letzten 5 Jahre angenommen hat, gibt nachstehende Tabelle einige Auskunft, in die des Vergleichs halber auch Ziffern aus fremden Ländern aufgenommen worden sind:

Jahresumsatz der Konsumgenossenschaften in Millionen Mark:

  Deutschland Großbritannien Frankreich
1907 306 1363 175
1908 356 1396 184
1909 357 1406 198
1910 412 1437 213
1911 496 1496 240.

Diese Aufstellung umfaßt aber nur die Konsumvereine, die in Genossenschaften zusammengeschlossen sind, und von diesen auch lediglich diejenigen, welche eine ordnungsmäßige Statistik führen. Die zahlreichen losen Gebilde mit konsumvereinsartigem Charakter sind nicht einbezogen worden. Die Gesamtumsätze, die durch Konsumvereine oder ähnliche Verkaufsorganisationen vermittelt werden, sind somit höher als die in obigen Ziffern bezeichneten Umsätze. Eine Schätzung ist naturgemäß nicht möglich, indes darf man annehmen, daß der sogenannte heimliche Warenhandel, der in behördlichen Bureaus und privaten Kontoren sich eingenistet hat, nicht unbeträchtliche Mengen von Waren umschlägt. Vom Standpunkte des Detailhandels sind angesichts dieser Verhältnisse [728] zwei Forderungen berechtigt: daß erstens jeder Kleinhandelsbetrieb, in welcher Form er auch stattfindet, den gleichen öffentlichen Verpflichtungen steuerlicher, sozialer usw. Art unterstellt werde wie der gewerbsmäßige Detailhandel und daß zweitens dem gemeinsamen Bezuge von Waren keine behördlichen Begünstigungen irgendwelcher Art (Benützung von amtlichen Räumlichkeiten, Handelsbetrieb während der Amtsstunden usw.) gewährt werden.

Staats- und Selbsthilfe.

Nach alledem ist es verständlich, daß die Detaillisten in dem Wettbewerbe der Warenhäuser und Konsumvereine eine empfindliche Bedrängnis erblicken und eifrig nach Mitteln suchen, um ihrer Herr zu werden. Die Unterstützung des Staates darf diesen Bestrebungen nicht fehlen, aber man wird dessen eingedenk bleiben müssen, daß in der Gestaltung, die der moderne Handelsverkehr angenommen hat, der staatliche Einfluß, der auf positive Hilfe hinausläuft, wenig Raum hat. Das Lebensprinzip aller Handelstätigkeit ist die Freiheit der Bewegung; wer davon den Blick ablenkt und fremden Einflüssen sich anvertrauen will, verläßt das Erdreich, in dem der Handel wurzelt. Je mehr der Detaillistenstand die Selbsthilfe betont, um so mehr hat er andererseits das Recht, gegen wirkliche Mißstände, die zu beheben die eigene Kraft nicht ausreicht, die Hilfe des Staates anzurufen. Aber hier ist der Punkt, an dem nicht selten im Kampfe um angebliche Interessen die Übertreibung einsetzt, die mit dem Schlagwort des Rückganges oder gar Unterganges des mittleren Handels operiert. Es sei des Beispiels halber nur darauf hingewiesen, daß in dem an die Wand gemalten Todeskampfe des Mittelstandes selbst der Hausierhandel eine Rolle zugewiesen erhält, während die nackten Tatsachen ihn in bescheidenen Hintergrund drücken. In Preußen betrug nämlich der Gesamtbetrag der Steuer vom Gewerbebetrieb im Umherziehen im Jahre:

1900/1901 je 2,9 Millionen Mark
1902/03/04 je 3,0 Millionen Mark
1906/06/07/08 abwechselnd       2,9 und 3,0 Millionen Mark
1909 3,1 Millionen Mark
1910 3,2 Millionen Mark
1911 3,3 Millionen Mark

Die Stagnation des Hausierhandels, die Tatsache, daß er eine im allgemeinen überwundene Form des Kleinhandels darstellt, kann nicht besser gekennzeichnet werden als durch diese Zifferreihe.

Umwälzungen im Binnenhandel.

Wenn alle Fortschritte, die der Binnenhandel im Laufe der letzten Jahrzehnte erzielt hat, nicht haben verhindern können, daß aus den Reihen derer, die in ihm ihr Brot finden, Klagen über wachsende Erwerbsschwierigkeiten ertönt sind und täglich weiter ertönen, so ist dies zu einem wesentlichen Teil auf die Umwälzungen zurückzuführen, die in der betreffenden Zeit auf dem Gesamtgebiet des wirtschaftlichen Lebens eingetreten [729] sind und deshalb auch am Handel ihre Spuren hinterlassen mußten. Namentlich gilt dies für den Detailhandel.

Trotz seiner Beweglichkeit ist der Detailhandel im Grunde ein konservatives Gewerbe. Dank der Zähigkeit, die ihm innewohnt, vermag er bestehende Verhältnisse auch dann noch für eine gewisse Zeit aufrechtzuerhalten, wenn sie den veränderten Bedürfnissen nicht mehr genügen. Die primitive Art, in der die Vorfahren das Handelsgeschäft betrieben haben, ist keineswegs aus der Welt verschwunden, man begegnet ihr vielmehr auch heute noch, namentlich auf dem platten Lande und in Kleinstädten. Wo Beschränktheit des Verkehrs, lokale Eigenart usw. die Festhaltung alter Formen und Gewohnheiten gestatten, wird der Konflikt zwischen früher und jetzt nicht zu Tage treten. Wo aber der fortschreitenden Verkehrsentwicklung keine Hindernisse im Wege liegen, wo tausend und abertausend findige Geister bereit sind, jede Entdeckung und Erfindung in die Praxis überzuführen, geraten diejenigen kaufmännischen Betriebe unter die Räder, welche sich nicht rechtzeitig modernisieren. Das Schlachtfeld, auf dem die Opfer fallen, wird insbesondere durch die großen Städte gebildet, reicht aber auch noch in die Mittelstädte hinein. Die Rückständigkeit, die sich an einzelnen Stellen des Handels zu halten vermochte, hat in den großen Städten völlig ausgespielt.

Indes können die Klagen, welche aus den Kreisen der Detaillisten ertönen und im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte nicht leiser, sondern lauter geworden sind, nicht einfach mit dem Bemerken abgetan werden, daß es sich hier lediglich um den Kampf zwischen den Mächten des Fortschritts und Rückschritts handle. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die weitaus überwiegende Zahl der Detailgeschäfte der Großstädte von dem Vorwurfe der Rückständigkeit nicht getroffen wird. Wenn aber gerade hier die Behauptung am eindringlichsten verfochten wird, daß die Lage des Kleinhandelsgewerbes überaus schwierig sei, so müssen die Gründe in Tatsachen zu suchen sein, die mit der Rückständigkeit der Betriebe nichts zu tun haben. Es sei dies kurz erläutert.

Wir haben den Handel ein menschenarmes Gewerbe genannt, man kann ihn weiter ein kapitalarmes nennen, namentlich wenn man den Vergleich mit der Industrie zieht. Während hier das stehende Kapital in der Form kostspieliger Anlagen, Maschinen usw. eine große Rolle spielt, ohne daß aber deshalb die Bedeutung des umlaufenden Kapitals, der Betriebsmittel, in den Hintergrund tritt, ist die Gründung eines Handelsbetriebes in zahlreichen Fällen auch denjenigen möglich, welche nicht kapitalkräftig sind. Der Schwerpunkt liegt beim kaufmännischen Gewerbe nicht im stehenden, sondern im umlaufenden Kapital. Während aber das stehende Kapital eine feste Größe darstellt, bei der eine Herabminderung meistens nur auf Kosten der Leistungsfähigkeit der Gesamtanlage durchgeführt werden kann, ist das Band des umlaufenden Kapitals so elastisch, daß es ohne Schaden für den Betrieb verkürzt werden kann, sofern es dem Inhaber gelingt, den Umschlag des Warenlagers zu vervielfachen. An der Bildung des Nationalkapitals hat zwar der Handel stets großen Anteil gehabt, aber die Regel war, daß die Werte, die er ansammelte, das eigene Heim verließen und in fremden Dienst traten. Industrie, Bergwerk, Häuserbau, Schiffsbau usw. nahmen fast das ganze Nationalkapital für sich in Anspruch.

[730] In neuerer Zeit aber hat innerhalb der Gesamtentwickelung des Warenhandels sich eine Richtung durchgesetzt, die nach entgegengesetzter Seite führt. Es zeigt sich hier wiederum die alte Wahrheit, daß die Vielgestaltigkeit des Lebens sich nicht in ein Schema pressen läßt. Der Faktor des stehenden Kapitals, der bisher vorzugsweise auf industriellem Gebiete seine Erzeugungskraft betätigt hatte, wurde auch für den Handel nutzbar gemacht, es entstanden die Riesenbetriebe der Warenhäuser. Die Zusammenfassung des Angebots aller möglichen Waren, wie sie in diesen Betrieben erfolgt, setzte die Herstellung großer Räumlichkeiten voraus, und das Bestreben, das Publikum dem jahrmarktsähnlichen Treiben geneigt zu machen, nötigte dazu, die Warenpaläste mit raffiniertem Glanz auszustatten. Da für die Beschaffung der festzulegenden Kapitalien die eigenen Mittel der Gründer oft nicht ausreichten, war das Hilfsmittel des Kredits in Anwendung zu bringen. Die Banken, die bis dahin ihre Hauptaufgabe gegenüber dem Handel in der Gewährung von Wechselkredit erblickt hatten, unterstützten die neue Bewegung durch Gewährung langfristiger Darlehen.

Aber die Warenhäuser bildeten nicht die einzige Klasse der Großdetailgeschäfte, die in der gesteigerten Verwendung stehenden Kapitals ein Mittel erblickten, die Kraft ihres Wettbewerbes zu stärken. Den gleichen Weg wandelten die großen Kaufhäuser, die sich als Spezialgeschäfte darstellen. Die Zahl der Spezialgeschäfte, die in Umfang und Pracht der Haus- und Ladeneinrichtung mit den Warenhäusern jeden Vergleich aushalten, ist heute recht erheblich. Allerdings ist zu beachten, daß die Verschiedenheit des Charakters der Spezialgeschäfte und der Warenhäuser, die unverwischbar bleibt, auch für die Art der Kapitalsverwendung Verschiedenheiten erzeugt. Es sei dies an zwei Punkten gezeigt.

Daß die Bedingung für die Rentabilität eines Warenhausbetriebes, der erstens mit großem Anlagekapital arbeitet und zweitens ein nahezu unbegrenztes Warensortiment führt, der Massenumsatz ist, bedarf keiner Bemerkung. Die Forcierung des Absatzes liegt im Wesen des Warenhauses; der Rücksicht auf sie müssen alle sonstigen Erwägungen weichen, und selbst der Grundsatz der Arbeitsteilung, der die moderne Wirtschaft beherrscht und deshalb im Warenhause bis zu einem gewissen Grade beachtet werden muß, beugt sich Einschränkungen. Hier liegt einer der Unterschiede zwischen den Warenhäusern und anderen Großbetrieben des Detailhandels. Auch bei letzteren sind die erwähnten Merkmale, große stehende Kapitalien und Massenabsatz, anzutreffen, indes haben alle Folgerungen, die aus dieser Verbreiterung des Betriebes zu ziehen sind, sich dem obersten Grundsatze unterzuordnen: der Spezialisierung. Ferner kommt folgendes in Betracht. Die gesteigerte Verwendung des Kapitals in Gestalt fester Anlagen betätigt sich auch darin, daß die großen Detailgeschäfte, mögen sie sich Spezialgeschäfte oder Warenhäuser nennen oder die Form der Konsumvereine wählen, oft über den Rahmen der reinen Handelstätigkeit hinausgehen und zur Eigenproduktion schreiten. In welchem Umfange aber eine solche Angliederung industrieller Tätigkeit erfolgt, wird durch Gesichtspunkte bestimmt, die bei Spezialgeschäften einerseits und Warenhäusern wie Konsumgenossenschaften andererseits verschieden sind. Während bei jenen der Grundsatz der Spezialisierung auch hier einschränkend wirkt, geht bei diesen die Grenze [731] bis zu dem Punkte, wo infolge der Angliederung weiterer industrieller Tätigkeit die Übersichtlichkeit des Gesamtbetriebes verloren gehen würde.

Damit ist die Grenze bezeichnet, die überhaupt der Ausbreitung der Warenhäuser und ähnlicher Gebilde gezogen ist: die Gefährdung der Übersichtlichkeit des Betriebes ist die einzige Hemmung, die nicht auf Zufälligkeiten beruht, sondern im Wesen der Sache begründet ist. Hier liegt die Schwäche des Systems.

Zukunft des Kleinhandels.

Von zahlreichen Vertretungen der mittleren und kleinen Detailgeschäfte wird ein lebhafter Kampf gegen die Warenhäuser geführt.

Daß die Einwirkung der Warenhäuser, die ihre Fangarme nach fast allen Zweigen des Warenhandels ausgestreckt und deshalb das Detailgeschäft im ganzen beeinflußt haben, lediglich eine zerstörende gewesen sei, könnte nur die Kurzsichtigkeit behaupten. Wenn die Technik des Verkaufswesens in den letzten Jahrzehnten einen gewaltigen Aufschwung genommen hat, wenn überlebte Formen im kaufmännischen Betriebe verschwunden und einer modernen Ausgestaltung aller Einrichtungen gewichen sind, wenn für neue Bedürfnisse mancherlei Anregung geschaffen und damit der Warenverbrauch erhöht worden ist, so hat an der Herbeiführung dieser Errungenschaften das ungestüme Vordrängen der Warenhäuser einen erheblichen Anteil gehabt.

Gleichwohl wird man eine Entwickelung, die den Kleinhandel in der Verzweigtheit und Mannigfaltigkeit seiner Betriebe schwächt, dagegen die Konzentrierung in Riesenbazaren fördert, vom Standpunkte des allgemein wirtschaftlichen wie sozialen Interesses als bedenklich bezeichnen müssen. Ein Detailhandel, der sich in zahlreiche Betriebe gliedert, ohne daß die großen unter ihnen die mittleren zerreiben, ein Detailhandel, der die individualisierende Bedarfsbefriedigung mit geübten Händen und am richtigen Platze anwendet, stellt diejenige Entwicklungsstufe dar, bei welcher das Wohl von Staat und Gesellschaft am besten aufgehoben ist.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: vertretern