Der Sitz des deutschen Reichstags. Sonst und Jetzt

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Autor: Karl Braun-Wiesbaden
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Titel: Der Sitz des deutschen Reichstags. Sonst und Jetzt
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aus: Die Gartenlaube, Heft 23-24, S. 384-387, 394-396
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Der Sitz des deutschen Reichstags.
Sonst und Jetzt.

Eine historisch-politische Plauderei von Karl Braun-Wiesbaden.


Erstes Capitel.

Der Grundstein zum Gebäude des deutschen Reichstages soll in diesen Tagen gelegt werden. Das Gebäude wird in Berlin aufgerichtet. Mag man über Architektur und Baustil streiten, so viel man will – der alte lateinische Spruch, daß über den Geschmack gar nicht zu streiten, ist auch heute noch eine Wahrheit – es wird ein stattlicher und monumentaler Bau werden, und Deutschland wird Ursache haben, sich seiner zu freuen. Mit diesem Bau aber und mit dessen Vollendung ist thatsächlich eine Frage entschieden, über welche, wie bei Gelegenheit des preußischen Verfassungsconflicts sich einmal der Staatsminister von der Heydt ausdrückte, „in der Verfassung nichts geschrieben steht“.

Der geneigte Leser wird sich erinnern, daß der Reichskanzler Fürst Bismarck, der an der guten Stadt Berlin Mancherlei auszusetzen hat, zuweilen Zweifel darüber ausgesprochen, ob es nothwendig oder auch nur zweckmäßig sei, daß der Reichstag seinen Sitz gerade in Berlin habe. Er fürchtete, die jeweilige Stimmung der mit jedem Tage mehr anschwellenden hauptstädtischen Bevölkerung könne dort einen allzu mächtigen Einfluß auf die Volksvertretung Gesammtdeutschlands ausüben. Er sprach sogar von einer Verlegung des Reichstags nach Potsdam, wo der „Pfingstberg“ die Möglichkeit eines Reichstagsgebäudes mit einer dominirenden Lage und einer schönen Aussicht gewähren würde. Ein andermal von Kassel, der Hauptstadt der Provinz Hessen, wo sich am Ende wohl die nöthigen Sitzungslocalitäten auf der Wilhelmshöhe finden ließen, – zu Füßen des „großen Christoph“, wie das biedere Volk der Hessen mit Beharrlichkeit den Hercules nennt, der dort auf dem Octogon thront. Und als diese Aeußerung des Fürsten im Reichstage fiel, wurde sie sofort nach Kassel telegraphirt – und zwar, wie dies ja bei der Kürze der Telegramme zum Oefteren zu geschehen pflegt, – in einer etwas zu kategorischen Fassung. Die Zeitungen meldeten, man habe an dem Abend in Kassel vor Freuden illuminirt – was in dieser allgemeinen Fassung ebenfalls nicht ganz richtig war – und dann machten sich die nämlichen Zeitungen nachgehends lustig über die optimistische Leichtgläubigkeit der Chatten, welche den Reichstag schon in der Tasche zu haben und an den diätenlosen Abgeordneten viel Geld verdienen zu können glaubten. Auch dieser Spott war nicht ganz in der Ordnung. Denn man darf nicht Jemandem [386] Beweggründe unterschieben, zu welchen er sich nicht selber bekennt, und warum soll eine Stadt es sich nicht zur Ehre rechnen, den Reichstag, der ja früher stets auf der Wanderschaft war, auch einmal in ihrer Mitte zu haben? Und endlich, haben nicht ähnliche Motive, wie die oben angedeuteten, in anderen Ländern mit repräsentativen Verfassungen obgewaltet? Hat nicht die amerikanische Union den Sitz des Congresses statt nach einer der volkreichen Städte nach dem verhältnißmäßig kleinen Washington gelegt? Und hat nicht Frankreich sein Parlament von der Hauptstadt nach dem stillen und todten Versailles verlegt? Freilich geschah letzteres nur nach einem so unerhörten Ereignisse, wie es der Commune-Aufstand war, und auch dann nur auf kürzere Zeit.

Wenn man aber den Gang der deutschen Geschichte auf ein Jahrtausend rückwärts überblickt, wenn man vergleicht, was der Reichstag in dem alten heiligen römischen Reiche deutscher Nation war und was er in dem gegenwärtigen modernen deutschen Reiche ist, und wenn man endlich Umschau hält über Alles, was darum und daran hängt, so wird man zu der Ueberzeugung gelangen, daß es schwerlich in der Macht eines Sterblichen liegt, auch wenn er so gewaltig ist, wie der Fürst Bismarck, den jetzigen deutschen Reichstag – und mit ihm natürlich auch die Reichsregierung, die preußische Regierung und den Bundesrath, denn das Alles gehört ja zusammen – von Berlin zu verlegen, sei es, um ihm einen anderen Ort zum bleibenden Sitz anzuweisen, sei es, um ihn, wie dies vormals der Fall war, zum Wandern zu verurtheilen.

Einer der am meisten in die Augen springenden Unterschiede zwischen dem alten und dem gegenwärtigen Reichstag ist ähnlich dem zwischen einem seßhaften und einem im Umherziehen betriebenen Gewerbe. Mit anderen Worten: der jetzige Reichstag ist ein seßhaftes Parlament, der alte dagegen war nichts als eine Wanderversammlung. Der Letztere konnte an jeden beliebigen Ort im deutschen Reiche einberufen werden. Ja sogar auf fremdem Boden hat man ihn abgehalten, z. B. im Jahre 967 in Verona und im zwölften Jahrhundert auf den Roncalischen Feldern. Wo der Kaiser sich aufhielt, mochte es auch das kaiserliche Heerlager im Auslande sein, dahin folgte ihm auch der Reichstag. Später, als die Gewalt des Kaisers im Schwinden war und die der Territorialherren, namentlich die der Kurfürsten, immer mehr zunahm, war der Kaiser an die Zustimmung der Kurfürsten gebunden in Betreff der Fragen, ob, wann und wohin der Reichstag zu berufen sei. Im sechszehnten Jahrhundert aber, da Karl V. Kaiser war, wurde ausdrücklich vom Reichstage beschlossen, daß ein Reichstag nicht im Auslande abgehalten werden dürfe. Karl V. war zugleich auch König von Spanien, er hatte Besitzungen in Italien und in den Niederlanden, ja gar jenseits der Meere; und es schien der Verdacht vorzuliegen, daß er den deutschen Reichstag nach dem Ausland zu berufen die Absicht habe, um ihn dort fügsamer zu machen.

Im Uebrigen bestand überhaupt keine Beschränkung in der Auswahl des Ortes, mit Ausnahme einer Clausel zu Gunsten der freien Reichsstadt Nürnberg. Schon in der „Goldenen Bulle“ Kaiser Karl’s IV., die im Jahre 1356 auf den Reichstagen in Nürnberg und in Metz festgestellt wurde und von der ich später noch reden werde, heißt es wörtlich:

„Schon in den angesehnsten Berichten und Ueberlieferungen der Alten finden wir festgestellt, daß durch die, welche uns im Regiment glücklich voraufgegangen, von uralten Zeiten her, so daß sich Niemand einer gegentheiligen Uebung erinnert, stets daran festgehalten worden ist, daß der deutsche König und zukünftige römische Kaiser seinen ersten königlichen Tag (Prima regalis curia) in der Stadt Nürnberg abhalte, weßhalb auch Wir aus bewegenden Gründen uns für die Zukunft daran festgehalten wissen wollen, soweit nicht ein gesetzliches Hinderniß im Weg steht.“

Die Gelehrten stritten in einer Anzahl profunder und zum Theil sogar leidenschaftlicher Pamphlete zwar über die Frage, ob unter „Curia regalis“ ein wirklicher Reichstag zu verstehen, aber gleichwohl finden wir, daß Jahrhunderte lang an dieser Ueberlieferung festgehalten worden ist. Konnte einmal ausnahmsweise an dieser Regel nicht festgehalten werden, dann stellte der Kaiser der Stadt Nürnberg auf deren Verlangen einen Revers aus des Inhalts, daß diesmal aus bewegenden Gründen von der gedachten Regel habe abgewichen werden müssen, daß daraus jedoch der mehrgedachten getreuen Stadt keinerlei Nachtheil oder Präjudiz erwachsen sollen. Ich habe nirgends eine zuverlässige Nachricht über den Ursprung oder Grund dieses Vorzuges von Nürnberg finden können, ich vermuthe aber, die Ursache ist der von mir in meinen Aufsätzen über den Reichsadler und die Kaiserkrone in Nummer 14 und 15 der „Gartenlaube“ d. J. des Weiteren aus einander gesetzte Umstand, daß die im Eigenthum des Reichs und im Besitz und Gebrauche des jeweiligen Kaisers befindlichen Reichsinsignien und Krönungsgeräthe der Stadt Nürnberg zur Aufbewahrung anvertraut waren, – mit alleiniger Ausnahme des Kaiserschwertes, des Gladii Caroli Magni, das in Aachen aufbewahrt und jedesmal von dort requirirt, bei der Krönung aber dem Kaiser von dem Kurfürsten von Brandenbnrg, als des heiligen römischen Reiches Erzkämmerer, umgegürtet wurde, worauf der Kaiser den Thron bestieg, verschiedenen Herren mit diesem Schwerte den Ritterschlag ertheilte und dann sich nach althergebrachter Sitte zum Mitcanonicus des Aachener Stiftes aufnehmen ließ, wie dies Alles des Näheren zu lesen in dem über die letzte Krönung vom 14. Juli 1792 aufgenommenen „Protokoll des kurfürstlichen Wahl-Conventes zu Frankfurt am Main mit allen Beilagen nach dem Original“, Frankfurt 1792.

Der Umstand also, daß Nürnberg diese Insignien aufbewahrte und daß dieselben nicht nur bei der eigentlichen Krönung, sondern auch auf den Reichstage, besonders auf dem ersten, eine absonderliche Rolle spielten, mag wesentlich dazu mitgewirkt haben, daß der deutsche König oder römische Kaiser seinen ersten Reichstag, wenn nicht unübersteigliche Hindernisse vorlagen, allemal in Nürnberg abhalten mußte.

Sonst konnte der Kaiser – später der Kaiser in Uebereinstimmung mit den Kurfürsten – den Reichstag berufen, wohin er wollte; nur mußte, im Gegensatze zu dem heute üblichen Verfahren, bei welchem zuweilen nur acht Tage zwischen dem Tage der Einberufung und dem des Zusammentritts liegen, damals zwischen dem Einberufungs- und dem Zusammentrittstage ein Zwischenraum von wenigstens sechs Monaten eingehalten werden. Freilich waren damals der Telegraph, die Eisenbahn und das Dampfschiff noch nicht erfunden, für dieselben Strecken brauchte man damals wenigstes eben so viele Tage, als heute Stunden; kurz, das Reisen war ein mühsam und beschwerlich Ding und wurde dadurch noch umständlicher, daß bei vornehmen Herren ein großes Gefolge von Pferden und Menschen aus Standesrücksichten nicht entbehrt werden konnte.

Aus Zweckmäßigkeitsrücksichten wählte man für den jeweiligen Sitz des Reichstages regelmäßig größere und wohlhabendere Orte, „so weder der Behäbigkeit noch der Sicherheit ermangeln.“ Denn besondere Vorkehrungen gegen Ueberfall und Gewalt waren überall nöthig, und sicher schlief man nur hinter Graben und Mauern.

Gewöhnlich war es entweder ein opulenter Bischofssitz, oder die Stätte eines Kaiserpalastes, oder eine ansehnliche freie Reichsstadt, wo der Reichstag sein Zelt aufschlug. Ausnahmsweise finden wir den Reichstag auch in einer gewöhnliche Land- (im Gegensatze zu Reichs-) Stadt, z. B. 1497 in Freiburg.

Während der letzten drei Jahrhunderte des Bestehens des heiligen römischen Reichs deutscher Nation wird regelmäßiger Weise immer nur eine Reichsstadt zum Sitze des Reichstags auserkoren, besonders solche im Westen und Süden des Reiches.

Wenn auf einem Reichstag über den nächstfolgenden und die Zeit seines Zusammentrittes Beschluß gefaßt wurde, so wurde bei dieser Gelegenheit in der Regel auch in Betreff des Ortes „Abrede genommen“. Zuweilen auch gaben die Kurfürsten dem Kaiser Vollmacht, die Wahl des Ortes allein zu treffen. Seit dem sechzehnten Jahrhundert machte auch die Berücksichtigung der confessionellen Verhältnisse einige Schwierigkeiten. Man verlangte nämlich, daß nicht nur die Katholiken, wie früher, sondern auch die Protestanten an dem Sitze des Reichstages Gelegenheit hätten, ihren religiösen Uebungen obzuliegen, und zwar öffentlich. Die Katholiken und die Lutheraner wußten für sich dies durchzusetzen. Auf die Reformirten nahm man weniger Rücksicht; man gestattete ihnen nur, eigene Priester mitzubringen und durch dieselben in ihren Privatquartieren Gottesdienst abhalten zu lassen. In Frankfurt und in Regensburg war den Katholiken zwar der öffentliche Gottesdienst gestattet, nicht aber die Abhaltung von Processionen auf öffentlichen Straßen und Plätzen. Gleichwohl wurde an diesen Orten der Reichstag sehr häufig abgehalten.

In der Regel wurde der Reichstag an dem Orte, wo er abgehalten wurde, auch geschlossen. Ausnahmsweise aber kam [387] es vor, daß der Reichstag „an ein anderes Ort um entstandener Kriegsumruhen oder um der ‚Contagion‘ (d. i. ansteckender Krankheiten) willen“ theils durch den Kaiser und die Kurfürsten, theils durch einen vom Kaiser mit seiner Zustimmung versehenen förmlichen Reichsschluß verlegt wurde. Vielleicht gewährt folgende hierher gehörige Episode, die ich dem alten Quartanten Johann Jacob Moser’s „Von den deutschen Reichstägen“ entnehme, einiges Interesse:

Im Jahre 1713 tagte die Versammlung in Regensburg, als daselbst die Pest zum Ausbruch gelangte. Darauf erstattete der Reichstag an die kaiserliche Commission am 18. August 1713 folgenden Bericht:

„Nachdem man dahier seit einiger Zeit wahrgenommen, daß die eingeschlichenen ansteckenden Krankheiten nicht nachlassen, es auch nicht abzusehen, welchen ferneren Verlauf es damit haben werde: so hat man in den drei Collegien des Reichstages – nämlich erstens dem Kurfürsten-Collegium, zweitens dem Reichsfürsten-Rath und drittens dem Collegium der Reichsstädte – für gut befunden, daß zwar des heiligen römischen Reiches freie Stadt Regensburg der eigentliche Sitz der Versammlung sein und bleiben solle, sich aber weiter dahin verabredet, sich zwischenzeitig und so lange, bis obgedachte Krankheit sicher sei aufgehört zu haben, nach des heiligen römischen Reichs freier Stadt Augsburg insgesammt zu begeben, worüber der kaiserlichen allergnädigsten Genehmhaltung entgegen gesehen werde.“

Diese Genehmigung erfolgte noch an dem nämlichen Tage. Man scheint es sehr eilig gehabt zu haben und führte noch als Grund an, wie zu befürchten stehe, man werde bei längerer Verzögerung der Abreise außer Stand gesetzt, von hier (Regensburg) abzureisen oder anderwärts eingelassen zu werden. – wegen der um der Pest willen von allen Gebieten angeordneten gegenseitigen Ab- und Aussperrung nämlich.

Der kaiserliche Principal-Commissarius sandte sofort einen „Cavalier“ mit der erforderlichen Notification nach Augsburg. Allein der hohe Rath dieser freien Reichsstadt war bei übler Laune. Er ließ besagten „Cavalier“ gar nicht zur Stadt herein, sondern ließ ihm hinaussageu, daß man sich zur Aufnahme des Reichstages nicht anders verstehen könne, als nachdem alle Gesandtschaften der Reichsstände in der Nachbarschaft der Stadt eine vierzehntägige Contumaz (Quarantäne) abgehalten hätten. Und es behielt, trotz aller Proteste und trotz der Berufung darauf, „was der allerunterthänigste Respect gegen Ihro kaiserliche Majestät und das Reich erfordert hätte“, dabei sein Bewenden.

Der Reichstag fühlte sich in dem widerborstigen Augsburg nicht behaglich. Regensburg dagegen wünschte dessen Rückkehr. Schon am 6. März 1714 schrieb die Stadt Regensburg an den hohen „Reichs-Convent“ (so nannte man damals den Reichstag), die Pest habe aufgehört und es sei böswillige Nachrede, wenn ausgestreut werde, die Stadt sähe lieber, daß der Reichs-Convent wegbliebe. Der Reichstag stellt seine Anträge auf Rückkehr ad locum unde, und endlich erläßt die kaiserliche Commission die Verfügung: „Nachdem durch göttliche Gnade sich eine Bestand verheißende Besserung aller Orten, und sonderlich zu Regensburg, auch nach zurückgelegter Frühlings- und hitziger Sommerzeit gezeiget, will es Allerhöchst Ihre Kaiserliche Majestät allergnädigst zufrieden sein, daß die Reichsversammlung gegen die Mitte des bevorstehenden Monats October dorthin wieder zurückverleget werde, allermaßen alsdann Kaiserliche Majestät den Magistrat zu Regensburg dessen werde versichern lassen, damit er alles dazu Benöthigte zeitig veranstalten und fertig zu halten habe.“

Ich gebe in der unten stehenden Anmerkung[1] ein Verzeichniß der Orte, in welchen der Reichstag in der Zeit vom Ende des zehnten bis zum Ende des fünfzehnten Jahrhunderts abgehalten wurde. Ich häbe es mit großem Zeitaufwand aus zahlreichen Folianten ausgezogen, kann aber trotzdem für dessen vollkommene Genauigkeit und Vollständigkeit nicht einstehn. Denn gerade die Ortsfrage ist nirgends ex professo behandelt.

In dem zweiten und letzten Capitel werde ich von einzelnen dieser früheren Sitze des alten deutschen „Reichs-Convents“ eine kurze Charakteristik und Schilderung zu geben versuchen, um zum Schluß, anknüpfend an den Eingang dieses ersten Capitels, zu einer Parallele zwischen Sonst und Jetzt zurückzukehren und zu erklären, warum der neue deutsche Reichstag in Berlin sitzt und menschlicher Berechnung nach dort zu bleiben bestimmt ist.

[394]
Zweites und letztes Capitel.

Wenn wir einen Rückblick werfen auf das am Schlusse des ersten Capitels befindliche Verzeichniß der Städte, welche sich der Ehre erfreuten, während des Bestands des alten heiligen römischen Reiches deutscher Nation den „Reichsconvent“ in ihren Mauern beherbergen zu dürfen, so finden wir: es sind vorzugsweise Reichsstädte des mittleren, des südlichen und des westlichen Deutschland. Nur im Zeitalter der sächsischen Herrscher bewegen wir uns vorzugsweise auf niedersächsischem Boden. Später finden wir fränkische, schwäbische und baierische Städte. Eger und Metz, welche auch ihre Reichstage hatten, gingen später Deutschland verloren. Metz wurde 1871, wie Berthold Auerbach sagte, „wieder unser“. Die weiland freie Reichsstadt Eger ist jetzt böhmisch.

Daß wir in der Zeit vom zehnten bis zum fünfzehnten Jahrhundert Berlin noch nicht unter, jenen Städten finden, ist sehr begreiflich. Im zehnten Jahrhundert war Berlin ein Fischerdorf, und vielleicht Das kaum; im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert herrschte dort noch die nicht allzu culturfreundliche Zeit der Herren von Quitzow, die uns der alte Herr von Klöden in seinem höchst lesenswerthen Buche „Die Mark Brandenburg unter Kaiser Karl IV. bis zu ihrem ersten hohenzollernschen Regenten oder Die Quitzow’s und ihre Zeit“ (Berlin 1846, vier Bände) so anschaulich geschildert.

Dagegen ist es auffallend, in dem Verzeichnisse der Sitze des alten „Reichsconventes“ Wien durch gänzliche Abwesenheit glänzen zu sehen. Dasselbe ist ja doch eine bis in die Römerzeit hinaufreichende alte Culturstätte. Es hatte schon im elften Jahrhundert unter den Babenbergern eine gewisse Blüthe erreicht. Um das Jahr 1440 macht uns Enea Silvio de’ Piccolomini eine glänzende Schilderung des damaligen Wien, seiner Pracht und seines Luxus; und zu Ende des fünfzehnten Jahrhunderts schreibt Antonio de Confinis (Confinii „rerum Ungaricarum“ Decad. IV. Lib. V., 593, 599): „Wien gehört unter die schönsten Städte der Barbaren“. In der That betrachtete sich Wien nicht so recht als zum „Reiche“ im engeren Sinne gehörig. Man sprach dort von „Denen da draußen im Reich“; und lange Zeit hindurch waren die Beherrscher von Oesterreich, Böhmen und Ungarn darauf aus, ihre Lande mehr aus Deutschland heraus, als in dasselbe hinein wachsen zu machen. Die antihabsburgischen Schriftsteller, wie z. B. Hippolytus a Lapide (Philipp von Chemnitz), erheben laut den Vorwurf, das Haus Oesterreich denke überhaupt nur dann an das deutsche Reich und den Reichstag, wenn es Geld von dem Letzteren verlange, um den Krieg wider die Türken zu führen, was doch im Grunde genommen nicht als deutsche, sondern als ungarische Angelegenheit zu beträchten.

Unter den ältesten niedersächsischen Reichstagssitzen finden wir vor Allem die alte vielthürmige monumentale Harz- und Hansastadt Goslar, wo 1884 der hansische Geschichtsverein seine Wanderversammlung abhielt. Neunhundert Jahre früher, 984, [395] tagte dort die deutsche Reichsversammlung; sie ist überhaupt nicht weniger als dreiundzwanzigmal in der Kaiserpfalz zu Goslar versammelt gewesen. In der Mitte des elften Jahrhunderts wurde dort der Palast der salischen Kaiser erbaut, in welchem von da ab bis gegen das Ende des dreizehnten Jahrhunderts die Reichstage abgehalten wurden. In dieser „Pfalz“ residirten auch häufig die Kaiser. Die Capelle, welche sie an den „Palas“ anbauen ließen, ist eine zweistöckige Doppelkirche. Wir haben in Deutschland ältere Kirchen, aber keinen älteren Profanbau, als diese Kaiserpfalz. Als ich vor dreiundvierzig Jahren zum ersten Mal in Goslar war, befand sich dieses prachtvolle Denkmal ältester weltlicher frühromanischer Baukunst in Deutschland im traurigsten Zustande äußerster Verwahrlosung. Es war Vieles durch Brand zerstört und Anderes drangebaut, was besser weggeblieben wäre. Mehr als hundert Jahre lang war dieses durch seine Architektur so interessante und durch seine Geschichte so ehrwürdige Gebäude als Getreidespeicher und als Holzstall benutzt worden. Kaum aber war das neue deutsche Reich aufgerichtet, da erinnerte man sich auch wieder der Verpflichtungen gegen die gemeinsame Vorzeit, während vorher vorzugsweise nur diejenigen Monumente gepflegt wurden, an welche sich dynastische und territoriale Erinnerungen knüpften. Am 15. August 1875 haben der Kaiser Wilhelm und der Kronprinz die alte Kaiserpfalz in Augenschein genommen, und seitdem schreitet deren stilgerechte Restauration in erfreulicher Weise vorwärts. Bereits jetzt steht der Bau äußerlich vollendet da und macht einen mächtigen Eindruck. Demnächst wird wohl der jetzige deutsche Reichstag einmal einen Ausflug nach Goslar machen, um zu sehen, wie und wo seine Vorfahren vor fast tausend Jahren getagt haben. Goslar war auch ein Hauptsitz des Bergbaues auf dem oberen Harze. Kaiser Otto I. soll damit begonnen haben, nachdem das Pferd seines Jägers durch Zufall eine massive Silbererzstufe mit dem Huf aus der Erde geschlagen. Er ließ Bergleute aus dem Frankenlande kommen. Daher rührt es, daß in dem eigenthümlichen Dialekt, den man hier spricht, noch das Fränkische vorwiegt. Goslar war bis 1802 freie Reichsstadt. Seitdem ist es abwechselnd preußisch, dann „westfälisch“, nämlich unter „Jérôme roi de Westphalie“, hierauf hannöverisch und endlich wieder preußisch geworden. Früher eine der reichsten Städte in Deutschland – „Ditissima Saxoniae urbs“ heißt sie in der lateinischen Chronik – ist es seit dem Dreißigjährigen Krieg eine der ärmsten geworden. Jetzt beginnt sie sich wieder zu heben. Eine Curiosität verdient noch erwähnt zu werden: die „Kräuter“-Anstalt des „Naturarztes“ Lampe, wo die Menschen „durch Kunst und Kräuter“ curirt wurden. König Georg von Hannover schwärmte für dieselbe. Jetzt steht die Heilaustalt unter wissenschaftlich gebildeten Aerzten.

Wie Goslar die alten sächsischen Zeiten repräsentirt, so ist Nürnberg die Stadt der Franken, Augsburg die Stadt der Schwaben oder Alemannen, Regensburg die Stadt der Baiern oder Bajuwaren.

Nürnberg repräsentirt die Kunst und das Gewerbe; Augsburg, namentlich im fünfzehnten und sechszehnten Jahrhundert, den Sitz der großen Bank- und Kaufleute, den Handel mit Waaren, mit Geld und mit Credit.

Regensburg, wo heute noch der Bischof Bier braut und noch vor Kurzem Fürst von Thurn und Taxis das ausgedehnteste private Land-Transportgewerbe betrieb, das jemals auf dem Kontinente bestanden, ist die Stadt der Grandseigneurs und der Ritter, der Priester und der Monsignori. Sie war zum ständigen Sitze der Reichsversammlung geworden, jedoch erst in der Zeit des Untergangs und der bereits weit vorgeschrittenen „rückschreitenden Metamorphose des Alters“ des heiligen römischen Reiches. Die Reichsversammlung wurde nämlich seit dem Jahre 1663 in Regensburg gehalten, und da ist sie auch zugleich mit dem römischen Reiche im Sommer 1806 gestorben. Gerade sechszig Jahre später starb in dem benachbarten Augsburg der deutsche Bundestag, dessen Rudera sich in das daselbst gelegene, dürch seine reiche Weincollection berühmte „Gasthaus zu den drei Mohren“ zurückgezogen hatten, um daselbst in Ruhe und Frieden zu tagen, oder – was auch sehr häufig geschah – Ferien zu halten. Leider ist dies gut gewählte Asyl vor dem Richterstuhle der Weltgeschichte nicht anerkannt worden, und der Bundestag ist dort verschieden, ohne ein Testament oder irgend welche Aufzeichnungen über seine letzten Tage und Stunden hinterlassen zu haben.

Diese drei illustren Reichsconventssitze – Augsburg, Nürnberg und Regensburg – haben bekanntlich aufgehört, Reichsstädte zu sein. Sie sind baierisch geworden, ohne jedoch ihre glorreichen Erinnerungen zu vergessen.

Während der letzten Industrie- und Kunstausstellung zu Nürnberg, die allerdings recht imposant und zugleich schön war, hörte ich einen patriotischen Nürnberger mit einem Seitenblick auf die politische Hauptstadt München sagen: „Die moralische Hauptstadt ist und bleibt doch Nürnberg.“ Daß indessen die politische Hauptstadt doch eine große Anziehungskraft ausübt, beweist unter Anderem, daß auch die „Allgemeine (die Alemannische) Zeitung“ Augsburg mit München vertauscht hat. Augsburg prätendirt, das Pulver erfunden zu haben. Gewiß ist, daß man in Nürnberg die Glasmalerei gleichsam wieder exhumirt hat. In der von Clemens Jäger in der Mitte des sechszehnten Jahrhunderts verfaßten „Chronik der Stadt Augsburg“ finden wir die Behauptung, im Jahre 1353 habe in Augsburg ein griechischer Jude, des Namens Typsiles, das Pulver erfunden, und von Augsburg aus habe die Pulverbereitung, die Verwendung desselben zu militärischen Zwecken und die Anfertigung von Geschützen ihren Weg durch Deutschland und das übrige Europa genommen. Ich habe das Für und Wider dieser zweifelhaften Nachricht in „Nord und Süd“ (XXV. 75. Seite 376. u. s. f.) erörtert.

Der Anspruch Nürnbergs, die Glasmalerei, die während der jämmerlichen und unglückseligen Zeiten im siebenzehnten und achtzehnten Jahrhundert verschollen, verkommen und vergessen worden war, zum zweite Mal erfunden oder aus ihrem Grabe aufgeweckt und wieder hervorgerufen zu haben, ist dagegen vollkommen begründet.

Im Jahre 1770 wurde in Nürnberg, dem glorreichen alten Sitze deutscher Architektur, Malerei und Plastik, Sigismund Frank geboren, und dieser hat „nach vielen vergeblichen Versuchen endlich im Jahre 1805 jene Schmelzfarben wieder entdeckt, die sich beim Brennen mit dem Glas unlösbar verbinden, ohne dessen Durchsichtigkeit allzusehr zu beschränken.“

Diese culturgeschichtlichen Notizen vorausgeschickt, wende ich mich nun insbesondere zu Nürnberg.

Der alte Sebastian Münster sagt, Nürnberg liege zwar in einer sandigen und ziemlich unfruchtbaren Gegend, aber, fügt er hinzu, „gerade darum hätten die Nürnberger ihre spitze Vernunft desto fleißiger auf subtile Werke und Künste geworfen, und das Bauernvolk um die Stadt herum genieße desto fleißiger die sterile Natur des ungeschlachten Erdreichs durch Arbeit.“

Schon um die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts aber schreibt Enea Silvio de' Piccolomini, der hochgebildete und anspruchsvolle Italiener, später als Papst Pius II. geheißen, dessen ich oben bei Wien schon gedachte, die Stadt habe etwa 80,000 Einwohner, von welchen ein Jeder „besser wohne und lebe, als die Könige Schottlands“. Aeneas kannte Schottland aus eigner Anschauung.

Nürnberg im Süden und Bremen, Lübeck und Danzig im Norden, sind heute noch die monumentalsten Städte in Deutschland. Obgleich in Nürnberg Manches zerstört und Anderes zwar wiederhergestellt ist, aber, wie mir scheint, nicht immer ganz richtig, zeigt uns dennoch auch noch sein heutiger Anblick, wie imposant es gewesen sein muß, als die deutschen Kaiser auf der „Burg der Noriker“ residirten und in der Stadt die Reichsversammlung berathschlagte.

Die prachtvolle gothische Kirche mit ihren architektonischen, plastischen und malerischen Kunstwerken, mit ihrem Helldunkel im Innern, mit ihren prachtvollen Glasmalereien die uns die Wappen jener Patricier zeigen, welche eine so ehrenvolle Rolle gespielt haben und von welchen heute noch einige Familien existiren und an den großen Ueberlieferungen ihrer Vorfahren festhalten; – die interessanten alten Häuser, mit festungsartigem Erdgeschosse und Pechnasen über den Eingangsthüren, wie bei den florentinischen Palazzi, mit vielfachen Freskomalereien auf den äußeren Wänden und jenen malerischen und zierlichen Erkern, welche hier „Chörlein“ genannt werden; – die stattliche Burg auf dem höchsten der Hügel (Nürnberg behauptet nämlich, und ich will es weder bestätigen noch bestreiten, es liege auf zwölf Hügeln, also noch fünf mehr, als das alte Rom!) mit ihrem runden Thurme, ihrem fünfeckigen Thurme und dem „Lueg in’s Land“; – die zahlreiche Thürme im Innern der Stadt (es sollen deren vormals [396] so viele gewesen sein, als Tage im Jahre); die rotchen Stadtmauern mit den runden riesigen Thürmen an den Thoren: alles Das zeigt uns die Größe und den Glanz der Stadt, die eine so große Stelle in der Reichsgeschichte einnimmt, an welche uns namentlich auch der schöne Brunnen erinnert, – eine stolz emporsteigende steinerne Pyramide, welche unter einer Menge Figuren – Propheten, Helden, Heiligen etc. – in erster Linie die sieben Kurfürsten aufweist.

Nennen wir noch die Namen: Dürer, Pirkheimer, Behaim und Hans Sachs, und fügen wir hinzu, daß es Nürnberger waren, welche die wichtigsten Erfindungen machten: die Taschenuhren, auch „Nürnberger Eier“ genannt; die Windbüchse; das Flintenschloß, das die Lunte ersetzt; das Messing; den Holzschnitt, – und am Ende wohl auch gar den „Nürnberger Trichter“.

Wohl keine deutsche Stadt ist von den Dichtern so gepriesen worden, wie Nürnberg.

Max von Schenkendorf singt von ihr:

„Wenn Einer Deutschland kennen
Und Dentschland lieben soll,
Wird man ihm Nürnberg nennen,
Der edeln Künste voll,
Dich, nimmer noch veraltet,
Du treue fleiß’ge Stadt,
Wo Dürer’s Kraft gewaltet
Und Sachs gesungen hat.“

Augsburg hat nicht die Reize von Nürnberg, aber auch eine ruhmvolle Geschichte. Es ist unzweifelhaft römischen Ursprungs und hat daher den Namen „Augusta“, auf welchen Bentivoglio Bezug nimmt, wenn er im Jahre 1616 schreibt: „Diese Stadt Augusta hat in der That einen augusteische Charakter in ihren Gebäuden, ihren Straßen und ihren Einwohnern.“ Die höchste Blüthe war damals schon vorüber.

Ihre großen Erinnerungen stammen aus der Zeit der Fugger. Sogar in dem „Don Quixote“ von Cervantes finden wir die damals in Spanien landläufige Redensart „Reich wie ein Fugger“, womit man den höchsten Grad damaligen Reichthums bezeichnete. Der Chef des Hauses, der Graf Anton, soll, als er 1535 Kaiser Karl V. beherbergte, dessen Kamin mit dem damals noch sehr raren und theuren Zimmetholz geheizt und dann auf diesem kostbaren Scheiterhaufen eine Schuldverschreibung des Kaisers, lautend auf viele Tausende, verbrannt und auf diese Forderung verzichtet haben.

Auf dem Augsburger Reichstage 1530 war es, wo zuerst die confessionellen Parteien in einen heftigen Hader geriethen. Karl V. kam geflissentlich am Abend vor dem Frohnleichnamsfeste an und wollte die versammelten Fürsten zwingen, am anderen Tage die Procession mitzumachen. Allein der Markgraf von Brandenburg erklärte ihm, lieber lasse er sich den Kopf abschlagen. Karl, der Spanisch und Vlämisch und nur ein mangelhaftes Hochdeutsch sprach, suchte ihn zu beruhigen mit den Worten: „Min löw First, nit Kopp ab, nit Kopp ab.“ Andere protestantische Fürsten gingen zwar mit, weigerten sich aber, bei den feierlichen Acten niederzuknieen.

Mehr noch als Augsburg hat Regensburg seinen alterthümlichen Charakter bewahrt. Die Häuser sind zum Theil Festungen; eine jede flankirt von einem mächtigen Bergfried oder Donjon. In einem dieser Häuser, dem Gasthofe zum „Goldnen Kreuz“, ist der berühmte, zu Wasser und zu Land siegreiche Feldherr Don Juan d'Austria geboren. Er ist der Sohn des Kaisers Karl und des Töchterleins der Wirthin im Kreuze. Es lohnt der Mühe, sich die Localitäten zu betrachten, in welchen die Reichsversammlung von 1663 bis 1806 hier getagt hat. Es sind jämmerliche alte kleine ärmlich ausgestattete Rumpelkammern, in welchen es halb dunkel ist. Die kleinen, in dickes Blei eingefaßten runden Fensterscheiben sind nicht geeignet, viel Licht durchzulassen, und breit machen kann man sich in diesen Gemächern auch nicht. Die Kaiser, die früher durch persönliche Gegenwart den Reichstagen Glanz und Bedeutung verliehen, kamen nicht mehr. Das Jahr 1663 ist das letzte, in welchem der Kaiser – es war Leopold I. – dem Reichstage beiwohnte. In der That lohnte es auch kaum noch der Mühe. Der Reichstag vertrödelte seine Zeit in der Regel mit eiteln Rang- und Etikettestreitigkeiten, über die Reihenfolge beim Aufmarschiren und beim Sitzen, über rothe und grüne Sessel. Die ersteren galte für vornehmer, und deshalb wollte Jeder auf ihnen sitzen.

Einst schleppte sich der Hofnarr des Kaisers Matthias mit einem großen Folianten.

„Was hast Du da?“ fragte der Kaiser, „laß einmal sehen.“

„Ich habe in dieses Buch die Thaten des Regensburger Reichstages eingeschrieben,“ sagte der Narr, indem er dem Kaiser das Buch überreichte. Der Kaiser schlug es auf und fand darin nichts, als unbeschriebene Blätter.

Als Kaiser Joseph II. das baufällige Reichsgebäude in Regensburg sich beschaute, sagte er lächelnd:

„Nun, wenn das Ding einstürzt, dann ist der letzte Reichsabschied wohl endlich fertig.“

Der knapp bemessene Raum zwingt mich, meine Charakteristik auf wenige Städte zu beschränken, so gern ich auch noch solcher Orte, wie Mainz und Frankfurt, in verdienten Ehren gedacht hätte. Nur die schöne, auf einer Insel des Bodensees, Angesichts der Alpen, gelegene vormals freie Reichsstadt Lindau will ich noch erwähnen.

Kaiser Maximilian I. hat hier im Jahre 1499 einen Reichstag abgehalten, welcher die Aufgabe hatte, die Reichsjustizgesetze, und namentlich die Kammergerichtsordnung zu Stande zu bringen. Aus Anlaß dieser Gesetze entbrannte der sogenannte „Schwabenkrieg“ zwischen den nördlichen Schweizercantonen und dem deutschen Reiche, oder richtiger gesagt: dem schwäbischen Bunde. Denn das übrige Deutschland ließ den Kaiser im Stiche, und der Krieg nahm einen kläglichen Ausgang.

Ich eile zum Schluß: Das alte heilige römische Reich war keine Monarchie, sondern eine Art Republik, an deren Spitze ein gewähltes Oberhaupt stand, das in seinen Functionen theils gesetzlich, theils thatsächlich immer mehr beschränkt wurde zu Gunsten jener fürstlichen Aristokratie, aus welcher sich nach und nach eine namentlich auch durch Karl V. begünstigte Oligarchie, die der Kurfürsten, emporhob.

Selbst der Kaiser hatte ursprüuglich keine feste Residenz, sondern zog von einer kaiserlichen Pfalz zu der andern. Natürlich wanderte da auch der Reichstag.

In dem heutigen Deutschland steht, obgleich es ja noch lange kein einheitliches Reich, sondern ein zusammengesetzter Staat ist, eine Erbmonarchie an der Spitze. Wir kennen keine Kurfürsten mehr. Die an der Spitze stehende preußische Erbmonarchie hat ihre feste Residenz schon seit Jahrhunderten. Das ist Berlin, eine Stadt, mit welcher das Haus Hohenzollern durch hundert Beziehungen und Bande auf das Engste verknüpft ist, – eine Stadt, die, durch ihre Wasserstraßen mit der Ost- und Nordsee gleichmäßig verbunden, eine solche Anziehungskraft entwickelt und so wenig exclusiv ist, daß ein geübtes Ohr in der Berliner Stadtverordnetenversammlung alle Dialekte Deutschlands zu erkennen und zu unterscheiden im Stand ist.

Unter diesen Umständen ist es natürlich, daß die centralen Reichsbehörden, der Bundesrath und der Reichstag, ihren Sitz in der Residenz der Hohenzollern haben, von wo auch der Zollverein und der Norddeutsche Bund ihren Ausgang genommen, die in der That die Vorläufer des deutschen Reichs sind.

Die Zollconferenzen waren anfangs auch noch Wanderversammlungen. Der Zollbundesrath und das Zollparlament aber hatten schon einen festen Sitz in Berlin. Jetzt sind beide in dem Bundesrathe und dem Reichstage aufgegangen.

Auch der Reichstag des neunzehnten Jahrhunderts versuchte im Anfange zu wandern. Aber er sah, daß das nicht gut that. Das Werk der Paulskirche – 1848 und 1849 in Frankfurt – mißrieth, weil die Regierungen nicht mitwirkten. Das Werk der Union – 1850 in Erfurt – mißrieth, weil das Volk nicht mitwirkte. Das Werk von Berlin, 1867 bis 1871, gerieth, weil die Regierungen und das Volk Hand in Hand gingen bei dem Klange der siegreichen deutschen Waffen. Das Parlament ist von Frankfurt und Erfurt nach Berlin gegangen, und da wird es bleiben.

Wenn der Meistersinger des alten Reichstagssitzes Nürnberg das Alles erlebt hätte, so würde er ein Lobgedicht auf Berlin, den neuen Reichstagssitz, gemacht und es geschlossen haben mit den Reimen:

„Daß Nutz und Frommen draus erwachs,
Das wünscht aus Nürenberg Hans Sachs.“





  1. Von Verona, im Jahre 967, geht der Reichstag, unter den sächsischen Kaisern, nach Goslar, Magdeburg, Quedlinburg, Dornburg. In Goslar saß er in dreiundzwanzig verschiedenen Jahren in sächsischen sowohl als in fränkischen Zeiten. Unter den Königen und Kaisern fränkischen Stammes (vom Jahre 1024 bis 1137) hat der Reichstag seine Versammlung 1030 in Speyer, 1036 in Augsburg, 1044 in Costnitz (jetzt Constanz), 1048 in Ulm, 1074 in Worms, 1122 abermals in Worms und 1125 in Regensburg gehalten. Während der Hohenstaufenzeit und des großen Interregnums (1137 bis 1272) finden wir den Reichstag 1157 in Worms, 1166 in Würzburg, 1209 in Augsburg und in Würzburg, 1220 in Frankfurt am Main, 1235 in Mainz, 1236 wieder in Frankfurt, 1269 in Worms. In der Zeit von dem Ende des großen Interregnums bis zur Entwickelung der reformatorischen Ideen in Reich und Kirche, also in der Periode von 1272 bis 1493, saß der Reichstag 1278 in Mainz, 1281 in Nürnberg, 1291 in Speyer, 1293 in Köln, 1295 in Nürnberg, 1309 wieder in Speyer, 1314 in Mainz, 1323 in Nürnberg, 1333 in Eßlingen, 1356 in Nürnberg und Metz – (hier entstand die Goldene Bulle Kaiser Karl’s IV., die in ihrem ersten Theile eine Erweiterung, Formulirung und Anerkennung der Rechte der Kurfürsten auf Kosten der übrigen Reichsstände enthält, im zweiten Theile aber hauptsächlich ein Ceremonienbuch ist, welches uns an das moderne preußische Ceremonienbuch des Grafen Stillfried von Alcantara erinnert) –, 1379 in Oppenheim, 1383 in Nürnberg, 1389 in Eger, 1398 in Frankfurt am Main, 1422 in Nürnberg, 1423 in Frunkfurt, 1431 in Nürnberg, 1435 in Frankfurt, 1437 in Eger, 1438 in Nürnberg, 1441 in Mainz, 1442 in Frankfurt, 1457 daselbst, 1466 in Nördlingen und Ulm, 1467 in Nürnberg, 1471 in Regensburg, 1474 in Augsburg, 1480 und 1481 in Nürnberg, 1486 in Frankfurt, 1487 in Nürnberg. Die Reichstage in Worms, 1495, sowie in Lindau und Worms, 1497, gehören schon der Regierung des Kaisers Maximilian I. (1493 bis 1519) an. Ich werde ihrer im zweiten Capitel gedenken. Ich beschränke mich hier auf diese Aufzählung, welche, wie gesagt, eine vollständige nicht ist.