Die Gartenlaube (1859)/Heft 14

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1859
Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[193]

No. 14. 1859.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.

Walt’s Gott!

Es klang den deutschen Rhein herüber
Ein gnädiges Franzosenwort.
Ward auch des Friedens Himmel trüber,
Die deutsche Sonne scheinet fort.

5
Von Istrien zum Nordseestrande,

Von Memel über Mainz hinaus
Zog stolz ein Wort von Haus zu Haus,
Ein Brudergruß von Land zu Lande:
Wir wollen keine fremde Hand

10
Auf deutschem Volk, in deutschem Land!


Nicht ist’s der Italiener Streben
Nach freier Hand am eignen Heerd:
Wir gönnen jedem Volk sein Leben,
Wenn es des Lebens irgend werth;

15
Nicht eines Fürstenhauses Träumen

Von außerdeutscher Ehr’ und Macht:
Noch schläft viel Gold in deutschem Schacht,
Noch gibt’s genug hier fortzuräumen,
Und Heil der deutschen Fürstenhand

20
Die treu sich müht um’s deutsche Land!


Wir hassen aber Diplomaten
Mit glattem Wort voll Hinterlist,
Für deren Selbstsucht Lügenstaaten
Stets Menschheitswohl der Vorwand ist

25
Es ist für solche Pharisäer –

Ob Diplomat, ob Jesuit –
Das deutsche, ehrliche Gemüth
Ein lichterfüllter Gotteseher:
Da blitzt aus deutschem Volk und Land

30
Hell Lutherwort und Blücherhand.


Das deutsche Volk braucht keine Kriege:
Sein Fleiß, der heil’ge Gotteshort,
Führt friedlich es von Sieg zu Siege
Und still die Welt erlösend fort.

35
Doch wollt ihr Krieg – in Völkerkämpfen

Sind wir gestählt! Wir sind bereit!
Was noth uns thut – kein Krieg, kein Streit
Kann dieses Ringen jetzt mehr dämpfen:
Denn einiger geht Volk und Land

40
Hervor aus jeder Prüfungshand.


Drum walt’ es Gott, ihr deutschen Brüder!
Was auch die Zukunft noch verhüllt,
Uns stört es nicht; wir haben wieder
Uns als ein einig Volk gefühlt.

45
Wir werden treu und fest uns wahren

Die deutsche Hand, das deutsche Herz,
Und freudig stolz es allerwärts
Des Erdballs Völkern offenbaren,
Daß warm auf deutschem Volk’ und Land’

50
Noch ruhet Gottes Vaterhand.

 A. K.


Das Testament des Verrückten.
Erzählung von J. D. H. Temme.

Ich war als junger Assessor bei einem Land- und Stadtgerichte angestellt, das also auch einen großen Gerichtsbezirk hatte. Besonders nach einer Seite hin lief dieser wie in einen langen schmalen Aermel aus, dessen äußerstes Ende vom Sitze des Gerichts an fünf Meilen entfernt war. An jenem äußersten Ende lag ein großes Dorf im Gebirge, Tiefendorf geheißen. Der Weg dahin führte auch meilenweit nur durch das Gebirge.

Eines Tages erhielt ich eine schleunige Directorialverfügung, [194] in dem Dorfe Tiefendorf ein gerichtliches Testament aufzunehmen. Ich machte mich mit dem mir als Protokollführer beigegebenen Secretair des Gerichts in einem Wagen sofort auf den Weg. Der Secretair Hommel war ein schon etwas ältliches, kleines, eben so neugieriges, als gern plauderndes Männchen.

Wir hatten kaum die Hochalpen des entsetzlichen Straßenpflasters des kleinen Städtchens, die unseren Wagen und uns in ihm auf- und niederwarfen, daß uns Hören und Sehen verging, hinter uns, als der kleine Secretair eine Unterredung begann, die mich doch bald mehr, als die gewöhnliche Wagenunterhaltung eines neugierigen, plauderhaften Männchens in Anspruch nehmen, die mich sogar spannen sollte.

„Ich bin heute sehr neugierig, Herr Assessor.“

„So, Herr Secretair!“

„Ich bin überhaupt sehr neugierig, wie unser heutiges Geschäft ablaufen wird.“

„Wieso, Herr Secretair?“

„Es wird wohl nicht viel daraus werden. Aber was geht es uns an?“

„Dürfte ich bitten, daß Sie sich deutlicher aussprächen?“

Er rieb sich vergnügt die Hände.

„Ah, ah, Herr Assessor. Ein Verrückter kann kein Testament machen. Aber, wie gesagt, was geht das uns an? Wir reisen hin, bemerken zu Protokoll, daß wir den Testator in keinem dispositionsfähigen Zustande angetroffen hätten, nehmen also ein Testament nicht auf, und haben unsere Diäten und Reisekosten dennoch verdient, und das ist die Hauptsache.“

Es war das so und es ist das auch wohl noch so eine gewöhnliche Subalternenlogik.

„,Wir irren uns doch nicht in der Person, Herr Secretair?“ sagte ich. „Wir sollen das Testament eines Herrn Lohmann in Tiefendorf aufnehmen.“

„Ganz recht, verehrter Herr Assessor. Der Mann war in der französischen Zeit Friedensrichter in Tiefendorf.“

„Und der ist verrückt?“

„Seit Jahren. Das weiß alle Welt.“

„Aber, Herr Secretair, dann kann er kein Testament machen.“

„Ein Verrückter kann kein Testament machen; das Gesetz verbietet es. Ein weises Gesetz, Herr Assessor.“

„Und Sie wissen gewiß, daß der Mann nicht seine Vernunft hat?“

Der kleine Mann sah mich etwas ängstlich an. Er mochte fürchten, ich könne sofort den Wagen umkehren lassen. Dann hätte er doch seine Diäten und Reisekosten nicht verdient.

„Die Leute sagen es wenigstens, Herr Assessor, und dann –“

„Und dann?“

„Ein Verrückter kann ja auch helle Zwischenräume haben. Zumal in der Nähe des Todes ist es eine bekannte Thatsache. Und dann – und dann –“

„Sie haben noch etwas, Herr Secretair?“

Sein Gesicht leuchtete vor Vergnügen.

„Der Herr Assessor werden nur um so mehr Veranlassung haben, durch sorgfältige Fragen festzustellen zu suchen, ob der Testator auch im vollen Besitze seiner Geisteskraft ist.“

„Das Gesetz schreibt das ohnehin vor.“

„Ich meine, durch Fragen so nach allen Seiten hin, nach seinem Leben, seiner Familie, seinem Hauswesen. Ah ha, dann muß er herauskommen, mit manchen Dingen. Sie lächeln, Herr Assessor? Ich versichere Sie, ich sage das nicht aus Neugierde; aber ich bin ein alter Praktikus, der schon seine zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre dient, und der Herr Assessor – nehmen Sie es mir nicht übel – Sie sind zwar ein gelehrter Herr, der seine Sachen gelernt hat, und werden mit der Zeit auch ein tüchtiger Arbeiter werden, aber sie sind noch nicht einmal fünfundzwanzig Jahre alt, und die Erfahrung habe ich also voraus, und da weiß ich, daß man gerade durch solche Fragen nach den Familien-Verhältnissen und Schicksalen der Leute am allerersten und gründlichsten die Ueberzeugung gewinnt, ob ein Mensch seinen vollen Verstand hat oder ob er ihn nicht hat. Und nebenbei erfährt man auch immer etwas. Und bei diesem Friedensrichter Lohmann ist zudem alles so ganz besonders geheimnißvoll, und verrückt ist er nun einmal, ich lasse es mir nicht ausreden – wobei ich indessen nicht gesagt haben will, daß er keine hellen Augenblicke, auch Stunden haben könne, in denen der Mensch sein Testament machen kann. Aber ich frage Sie, geehrter Herr Assessor, warum verbirgt und verschließt der Mann sich und seine Angehörigen und sein Haus so? Und ihren Grund pflegt die Verrücktheit auch zu haben. So ein schweres Verbrechen zum Beispiel, ein Mord oder dergleichen. – Ah, ah, ich bin sehr neugierig. Lassen Sie ihn nur nicht los, Herr Assessor.“

Der kleine, neugierige und plauderhafte Secretair sah mich schon im vollen Inquiriren. Seine Augen leuchteten, als wenn eine ganze Reihe der fürchterlichsten Mordthaten sich vor ihm aufrolle, und seine Diäten und Reisekosten waren ihm auch sicher.

„Ja, ja,“ fuhr er nach einer Pause fort, „ich bin zwar, obwohl ich schon achtzehn Jahre hier bei dem Gericht stehe – ich kam gleich bei seiner Einrichtung hierher, von jenseits der Elbe, ich war Lieutenant in dem kurmärkischen Landwehrregimente gewesen – ja, Herr Assessor sehen Sie mich nur darauf an, Lieutenant und kein zwölf Jahre gedienter Unterofficier, wie man sie jetzt überall herumlaufen sieht. Es war im Jahr 1815, gleich nach den Feldzügen. Und seitdem bin ich immer hier gewesen, und doch bin ich nach dem Tiefendorf in der ganzen Zeit höchstens fünf oder sechs Mal hingekommen. Das hat seinen besonderen Grund, Herr Assessor– der Pater Theodorus – ich erzähle Ihnen nachher von ihm, das heißt, wenn es Sie interessirt. Doch warum sollte es das nicht? Denn Sie sind erst seit wenigen Monaten hier, und es ist Ihnen noch Alles fremd, und ich behaupte immer, ein Beamter, besonders der Richter, muß Land und Leute kennen, wenn er in seinem Amte soll Gutes wirken können. Also von dem Pater Theodorus nachher. Jetzt will ich Ihnen erzählen, wie ich jedes Mal, wenn ich in Tiefendorf war, nicht ohne einen inneren Schauder an dem Hause des vormaligen Friedensrichters Lohmann vorbeikommen konnte, so unheimlich und still lag es da, die Thüren immer fest verschlossen, vor allen Fenstern dicke Läden, im Hause und in der Nähe desselben keine menschliche Figur zu sehen und keine menschliche Stimme zu hören. Und in dem Haus wohnt er nun schon seit beinahe zwanzig Jahren, und kein Mensch hat ihn seitdem gesehen, und gehört hat man nichts von ihm, als daß er verrückt ist. Und mit einer alten Person wohnt er dort, die ein wahrer Teufel, ein wahrer Drache ist, und Gott weiß, mit wem er sonst noch hauset. Denn wie man nie Jemanden aus dem Haus kommen sieht, so hat auch noch nie ein anderer Mensch seinen Fuß hineinsetzen dürfen. – Ah, ah, wir werden heute hineinkommen. Ich bin sehr, sehr neugierig. – Und ich sage noch einmal, die Verrücktheit will ihren Grund haben. Und die Leute sprechen Allerlei. Und in der Franzosenzeit war er da, und auch noch in der Kriegszeit, die darauf folgte. Und eine wilde, gebirgige, von Gott und der Welt abgelegene Gegend ist es. In der Mark hat man keine Ahnung von solchen Bergen. Und dann nehmen Sie folgendes, Herr Assessor:

„Im Jahre 1808 oder 1809 war dieser Lohmann als armer Beamter nach Tiefendorf gekommen, ich glaube, aus dem Elsaß. Er hatte als Friedensrichter an Gehalt und Bureaukosten Alles in Allem des Jahres 1800 Franken, davon kann man keine Reichthümer sammeln; und doch auf einmal, es war im Jahre 1815, kaufte er von der Regierung das ganze Benedictinerkloster in Tiefendorf – die Franzosen hatten es schon ausgehoben – ich erzähle es Ihnen nachher – mit Gebäuden, Aeckern und Waldungen, und er bezahlte alles baar und hatte außerdem noch Geld in Hülle und Fülle. Und nun frage ich Sie, hochgeehrter Herr Assessor, woher hatte der Mann das Geld? Er habe eine große Erbschaft in seiner Heimath gemacht, hieß es; er selbst hatte es unter den Leuten ausgestreut, oder vielmehr sein alter Drache. Aber solche plötzliche große Erbschaften aus der Fremde – man kennt sie. Und ein paar Monate nachher wurde er auf einmal verrückt. Er war wenige Tage vorher in die schöne Priorei eingezogen, die zu dem angekauften Kloster gehört; sie ist wie ein Schloß. Seitdem hat ihn kein Mensch wieder gesehen. Warum muß er sogleich verrückt werden? Und warum mußte er, oder vielmehr der alte Drache Haus und Familie vor aller Welt absperren und in Geheimniß und Dunkel einhüllen? – Sehen Sie, hochgeehrter Herr Assessor, das Alles muß heute noch heraus. Ah, ah, ich bin sehr – Und dann noch Eins, Herr Assessor. Er hat einen Sohn, nur ein Kind. Er ist noch jung, erst vier- oder fünfundzwanzig Jahre alt. Verrückt ist er zwar noch nicht, aber melancholisch, tiefsinnig, menschenscheu ist er schon und die Anlage dazu hat er immer gehabt. Als er vierzehn Jahre alt war, hatten sie ihn auf ein Gymnasium geschickt; aber sie mußten ihn schon nach wenigen Monaten zurückkommen lassen, und seitdem ist er nicht wieder [195] aus dem Dorfe und aus dem Hause gekommen, und wenn nicht der Pater Theodorus, von dem ich Ihnen nachher erzählen werde, und der ein sehr gelehrter Mann ist, sich seiner angenommen hätte, so wäre er ganz wild und roh aufgewachsen, wie ein Stück Holz im Walde. Und nun frage ich wieder: warum mußte der junge Mensch so tiefsinnig und so menschenscheu werden? Muß nicht auch da etwas Besonderes zu Grunde liegen? – Ah, auch das muß heute Abend heraus. – Und neugierig bin ich auch, was für ein Testament er machen wird. Warum macht er überhaupt ein Testament? Er hat ja nur das einzige Kind, das ohnehin sein gesetzlicher Erbe ist, und der alte Drache ist seine Frau nicht, das steht fest; was sie aber sonst ist, das mag Gott wissen. Seine Frau starb kurz nach seiner Ankunft in Tiefendorf, und erst darauf kam die Alte ihm nach. – Ach, wenn er doch nur lichte Zwischenräume in seiner Verrücktheit haben möchte! Solch' ein Testament gibt tiefe Blicke in die Verhältnisse der Menschen und der Familien. – Ah, ich bin sehr neugierig!“

So plauderte und schwatzte der kleine Mann rastlos und machte sich immer mehr neugierig, aber auch mich mit. Ich leugne es nicht, seine Mittheilungen hatten allerlei Gedanken in mir angeregt und die Begierde in mir geweckt, den Mann, die Familie und das Haus, von denen er sprach, näher kennen zu lernen. Von dem Secretair konnte ich nichts weiter erfahren; er hatte alles, was er wußte, ausgeplaudert. Ich selbst hatte früher den Namen des vormaligen Friedensrichters Lohmann in Tiefendorf niemals, ich hatte kaum den Namen Tiefendorf gehört.

Das Gesuch um Aufnahme des Testamentes war durch einen reitenden Boten, der sofort eilig zurückgekehrt war, an das Gericht gebracht. Es war, was nach dem Gesetze genügte, von dem Sohne des Testators in dessen angeblichem Auftrage geschrieben. Es war nur kurz, aber Handschrift und Styl waren gewandt. Ich mußte, gleich dem Secretair, mit Befriedigung meiner Neugierde auf den Abend warten, der uns nach Tiefendorf und in Haus und Gegenwart des Verrückten bringen sollte.

Wir hatten unsere Fahrt um die Mittagszeit angetreten. Tiefendorf war fünf Meilen entfernt, wie ich schon sagte. Der Weg führte, oft sehr mühsam, durch das Gebirge. Vor sieben Uhr Abends konnten wir nicht eintreffen. Wir hatten Spätherbst, und um sechs Uhr fing es schon an zu dunkeln. Es war gegen halb sechs Uhr des Abends, als wir an einer an der Straße gelegenen Schenke anlangten. Wir hatten von da bis nach Tiefendorf noch eine starke Stunde zu fahren. Der Weg ging jetzt tiefer in das Gebirge; er war nicht mehr die große Landstraße; er wurde beschwerlicher. Die Pferde waren schon ermüdet. Der Kutscher wollte ihnen Brod geben und sie ein halbes Stündchen ausruhen lassen. Wir hielten vor der Schenke an.

Als wir nach Verlauf der halben Stunde im Begriff standen, weiter zu fahren, sollte ein kleines Abenteuer uns Gesellschaft bringen. An der Schenke kreuzten sich mehrere Landstraßen. Auf einer kam der gewöhnliche tägliche Postwagen herangefahren. Er hielt vor der Schenke. Nicht blos, damit der Postillon seinen unvermeidlichen Schnaps erhielt. Die Wagenthür öffnete sich zeitgleich, und ein junges Mädchen stieg aus dem Innern. Es war eine hübsche, beinahe schöne Brünette in voller Jugendfrische und Jugendhaftigkeit. Wie die Farbe, so zeigte auch die Bildung ihres Gesichtes etwas Südliches. Ihr Wesen verrieth zugleich Entschlossenheit und Stolz. Ihre Kleidung war die der mittleren Stände. Man konnte sie für eine Kammerjungfer von einem benachbarten adligen Hofe oder für eine Schneiderin oder Modistin aus einer Stadt der Nachbarschaft halten. Nur wollte doch der Stolz ihrer großen schwarzen Augen dazu nicht recht passen.

Sie sprang leicht aus dem Wagen. Ein Mitreisender reichte ihr ihr Reisegepäck nach. Es bestand aus sehr Wenigem: ein gelbes Taschentuch, in welchem etwas Wäsche und dergleichen eingebunden zu sein schien, das war Alles. Der Conducteur reichte ihr nichts weiter zu. Er bekümmerte sich gar nicht um sie. Sie hatte ihm wohl kein Trinkgeld gegeben. Sie dankte mit einer ernsten und etwas gemessenen Freundlichkeit in den Wagen zurück, dann faßte sie in die Tasche ihres Kleides, trat zu dem Postillon und gab ihm ein Trinkgeld.

„Hier!“

Das mußte damals noch so sein, Es war auch wohl nicht viel, was sie ihm gab. Der Postillon war dennoch dankbar.

„Nach Tiefendorf, Mamsellchen, müssen Sie den Weg hier links nehmen.“

„Ich weiß es.“

„Es ist ein beschwerlicher Weg, Mamsellchen, und es fängt schon an, dunkel zu werden. Aber warten Sie ein Augenblickchen.“

Er hielt nahe bei meinem Wagen, und sah sich meinen Kutscher an.

„Kutscher, komm einmal her.“

Ein Postillon gehört in Preußen zu den Staatsbeamten. Wer ihn in seinem Amte beleidigt, wird wegen Amtsehrenbeleidigung bestraft, eben sowohl, als wenn er einen Minister beleidigt hätte. Auch ein Postillon trägt also obrigkeitliches Element und obrigkeitliches Bewußtsein in sich. Nicht alle Leute wollen das aber zu aller Zeit anerkennen, am wenigsten die Kutscher.

„Herr Postillon,“ rief der Kutscher zurück, „von Dir zu mir ist es just so weit, wie von mir zu Dir.“

„Grober Flegel, wohin fährst Du?“

„Nach Tiefendorf, grober Flegel.“

„Hast Du noch Platz im Wagen?“

„Ich nicht, aber mein Herr vielleicht.“

Aergerte den Postillon zugleich der Mangel an Respect von Seiten eines ordinären Kutschers, oder war es bloße Theilnahme für das hübsche Mädchen, die trotz ihres entschlossenen und stolzen Wesens bei den in ihrem Interesse geführten groben Wechselreden etwas verlegen geworden war – genug, er nahm sich die Mühe, vom Pferde zu steigen und zu mir heranzutreten.

Ich hatte mit dem Secretair gerade in den Wagen steigen wollen, nur jenes Gespräch hatte mich aufgehalten. Ich war dann im Begriff, der Fremden, die unzweifelhaft ebenfalls nach Tiefendorf wollte, einen Platz in meinem Wagen anzubieten.

„Die möchte gerne mit uns fahren,“' flüsterte auch der Secretair Hommel mir zu.

„Sähen Sie es nicht gern?“

„Sehr gern, sehr gern, Herr Assessor. Wir können etwas Neues von ihr hören.“

Ich kam der Bitte, die der Postillon an mich richten wollte, zuvor. „Die Mamsell will nach Tiefendorf, Schwager?“'

„Ja, Herr, und der Weg ist nicht der beste, und man sieht unterwegs keine Menschen und keine Häuser, und finster wird es auch bald.“

„Ihr habt in Allem Recht, braver Schwager.“ Ich ging zu dem Mädchen. „Mamsell, wir fahren nach Tiefendorf; es wird mir ein Vergnügen machen, wenn Sie mit uns fahren wollen.“

„Sie sind sehr gütig, mein Herr. Ich würde Sie doch nicht belästigen?“

„Nicht im Geringsten.“

„So nehme ich mit Dank an.“

Sie hatte auch die wenigen Worte mit dem entschlossenen Wesen gesprochen, das ihre Erscheinung zeigte. Sie warf dem Postillon einen dankenden Blick zu, dann stieg sie mit dem Secretair und mir in unsern Wagen. Der Postwagen fuhr auf der Landstraße weiter; wir fuhren in das tiefere Gebirge hinein.

Der Weg war in der That schlecht, uneben, holperig, einsam und langweilig genug; aber der Secretair Hommel gab sich alle Mühe, ihm mindestens die Langeweile zu nehmen, wenigstens für sich und mich. Schon in der ersten Minute begann er mit unserer neuen Reisegefährtin zu plaudern und sie auszufragen. Sie setzte ihm Geduld, aber auch Gemessenheit entgegen.

„Sie wollen nach Tiefendorf, Mamsell?““

„Ja, mein Herr.“

„Ein schlechter Weg dahin.“

„Ja.“

„Sie kennen ihn also?““

„Ich kenne ihn.“

„Sie haben ihn also schon öfters gemacht?“

„Schon mehrere Male.“

„Ah, Sie sind wohl aus Tiefendorf?“

„Ja.“

„Gebürtig?“

Sie antwortete erst nach kurzem Nachsinnen. „Ja.“

„Und wohnen Sie auch dort?“

„Jetzt nicht mehr.“

„Sind Sie schon lange von da fort?“

„Seit ungefähr einem Jahre.“ [196] „Sie wohnen wohl hier in der Nachbarschaft?“

„Nein.“

Sie sprach das Nein kürzer, augenscheinlich zurückhaltender, als die früheren Antworten.

Die Neugierde des Secretairs ließ sich dadurch nicht zurückhalten; sie war im Gegenteile herausgefordert.

„Ah, ah, darf ich fragen, woher sie denn kommen?“ Sie nannte ohne Zögern eine etwa zehn Meilen entfernte Provinzialstadt.“

„Und dort wohnen Sie?“

„Ja.“

„Bei Ihren Eltern?“

„Nein.“

„Ah, Ihre Eltern wohnen wohl in Tiefendorf, und Sie wollen Sie besuchen?“

„Nein.“

„Hm, hm, werden Sie lange in Tiefendorf bleiben?“

„Ich weiß es nicht.“

Die Antwort wurde geradehin zurückweisend gegeben. Und der arme Secretair hatte noch so viele Fragen auf dem Herzen. Er schwieg einen Augenblick verlegen. Lange schweigen konnte er nicht. Und wissen mußte er Alles, was er wissen wollte, wenn nicht auf geradem Wege, doch auf Umwegen.

„Kennen Sie den Friedensrichter Lohmann in Tiefendorf?“ fragte er.

Es war schon ziemlich dunkel geworden, auch im Wagen. Ich glaubte, dennoch zu bemerken, wie das Mädchen bei der plötzlichen Frage sich verfärbte.

„Gewiß,“ antwortete sie.

Sie suchte das Wort leicht, gleichgültig auszusprechen. Es gelang ihr schlecht. Auch der Secretair gewahrte ihre Verwirrung.

„Ah, ah,“ rief er, sich vergnügt die Hände reibend. Innerlich hörte ich ihn rufen: „Ah, da bin ich sehr neugierig!“ Er war es in hohem Grade.

„Sie wollen wohl zu dem Herrn Lohmann?“ fragte er rasch.

Das Mädchen wurde noch verwirrter. Sie suchte sich augenscheinlich zusammenzunehmen. Diesmal gelang es ihr, wenigstens für den Augenblick.

„Nein, mein Herr, zu ihm nicht,“ antwortete sie kurz und kalt, und nur das Wörtchen „ihm“ betonend.

Der Secretair sah, daß er noch einen anderen Weg einschlagen müsse, wenn er zu seinem Ziel kommen wolle. Er wurde zutraulich. Es lag ja auch in seiner geschwätzigen Natur.

„Sie hätten sonst mit uns bis an das Haus fahren können, liebe Mamsell,“ sagte er.

Auf einmal wurde sie wieder unruhig. Sie warf unwillkürlich einen forschenden Seitenblick auf mich und den Secretair. Das lauernde Auge des Secretairs hatte ihn gesehen.

„Wir haben Geschäfte in dem Hause,“ fuhr er fort, etwas geheimnißvoll.

Sie sah ihn voller an. Es war, als wenn sie eine Frage an ihn hätte. Man bemerkte zum ersten Mal Unentschlossenheit an ihr. Aber sie wandte sich von ihm ab. Daß sie an ihn keine Frage richten wolle, stand bei ihr fest. Ein zweifelhafter Blick suchte mich. Es schien mir zugleich ein besorgter, fast ängstlicher Blick zu sein. Ich hatte Mitleiden mit ihrer Angst. Es war kein Zweifel, daß sie zu dem Lohmann’schen Hause in irgend einer Beziehung stand.

„Der alte Herr Lohmann,“ sagte ich zu ihr, „will sein Testament machen, und wir sind zu diesem Zwecke auf dem Weg zu ihm.“ Sie erschrak.

„Es steht schlimm mit ihm?“ rief sie rasch.

„Ich weiß es nicht, aber ich fürchte es, weil dringend um Eile gebeten wurde.

„Mein Gott!“ sagte sie leise für sich.

Sie war in einer großen Unruhe. Unruhiger als sie war der Secretair. Aber in ihrer Unruhe zeigte sich zugleich Angst, Schmerz und zur Ehre des neugierigen Secretairs muß es gesagt werden, er ehrte den Schmerz.

Um seine brennende Neugierde zu bewältigen, blickte er zum Wagen hinaus. Ich leugne nicht, auch ich war neugierig geworden. Wer war die Fremde? Was wollte sie in Tiefendorf? Ihr stolzes, rasches, entschlossenes Wesen zeigte zugleich eine Sicherheit und sogar Anmuth der Bewegungen, die zu der Kleidung einer Kammerjunger oder Näherin wenig zu passen schienen. Eben so ihre reine, gebildete Aussprache in den allerdings nur wenigen und kurzen Worten, die sie gesprochen hatte. Ferner: in welcher Beziehung stand sie zu der Familie Lohmann? Sie wolle nur nicht gerade zu dem alten Lohmann selbst, hatte ihre Antwort auf die Frage des Secretairs ausgedrückt. Dann ihr auffallendes Erschrecken bei der Nachricht von der schleunigen Aufnahme des Testaments, und ihre noch auffallendere Unruhe seither.

Der Secretair störte mich auf einmal in meinen Gedanken. Er fuhr mit dem Kopf aus dem Wege, in den er hineingeblickt hatte, rasch in den Wagen zurück.

„Herr Assessor, da geht er.“

„Wer?“ fragte ich.

„Ich hatte Ihnen doch von dem Pater Theodorus erzählen wollen.“

„Der geht dort?“

„Er geht vor dem Wagen; wir müssen ihn bald einholen.“

Der Name Pater Theodorus hatte der Fremden neues Erschrecken verursacht. Sie war beinahe von Ihrem Sitze emporgefahren. Auch der Secretair bemerkte es.

„Ah, Mamsell, Sie kennen den Pater Theodorus auch?“

„Ja,“ antwortete sie kurz.

Sie hatte sich wieder gefaßt. Stand sie auch zu dem Pater in einer besonderen Beziehung?

Der Secretair fuhr geschwätzig fort: „So werden Sie mir bestätigen können, was ich dem Herrn Assessor über den Mann erzählen wollte. – In früheren Zeiten war ein großes, reiches Kloster in Tiefendorf; es war ein Benedictinerkloster, nicht wahr. Mamsell?“

„Ja, mein Herr.“

„Dem Kloster gehörte auch das ganze Dorf. In der französischen Zeit wurde das Kloster aufgehoben. Die Mönche zerstreuten sich in alle Welt, nur der Pater Theodorus blieb.“

„Er verwaltete gerade damals die Pfarre im Dorfe,“ fiel die Fremde ein, die sich für die Mittheilungen über den Pater Theodorus zu interessiren schien.

„Ja, ja, so war es, und die Regierung ließ ihn auf der Pfarre, und er ist noch da und, seitdem die andern Klosterherren fort sind, beherrscht er allein die Gemeinde.“

Die Fremde gerieth auch in Eifer für den Pater. „Mein Herr,“ sagte sie lebhaft, „er ist der Vater der Gemeinde, und alle hängen mit Liebe und Vertrauen an ihm.“

„Ja, ja, Herr Assessor, und darum, wie ich Ihnen schon vorhin erzählen wollte, hat das Gericht auch so wenig zu thun in Tiefendorf; der Pater Theodorus weiß alle Händel und Streitigkeiten zwischen den Leuten dort zu schlichten und beizulegen, so daß selbst die Sportelcasse darunter leidet, und wenn nicht hin und wieder ein Testament aufzunehmen wäre, die armen Gerichtsbeamten verdienten an Tiefendorf gar nichts.“

„Dafür segnet ihn Tiefendorf,“ sagte die Fremde.

Der Secretair sagte diesmal nicht sein „ja, ja,“ aber: „hm, hm,“ schüttelte er den Kopf, wie um zu zeigen, daß er den Pater nicht segne, der ihn an den Bauern in Tiefendorf nichts verdienen ließ. Doch fuhr er in seiner Gutmüthigkeit fort:

„Uebrigens soll der Pater Theodorus ein sehr unterrichteter und selbst gelehrter Mann sein, und er ist es, dem der Sohn des alten Lohmann, wie ich Ihnen schon vorhin erzählte, Herr Assessor, es zu verdanken hat, daß er nicht roh und wild, wie ein Stück Holz im Walde, aufgewachsen ist.

Das Mädchen schien, als der Sohn des alten Lohmann genannt wurde, wieder aufmerksam geworden zu sein. Ich hatte indeß nicht Zeit, genauer darauf zu achten.

„Ah, ah,“ sagte der Secretair leise zu mir, „da haben wir gerade den Pater eingeholt. Es ist noch Platz im Wagen. Wollten der Herr Assessor ihn nicht einladen? Wir könnten von ihm manches erfahren, über die Fanmilie Lohmann, auch über das Mädchen hier, die ihn zu kennen scheint, und die also auch er kennen muß.“ Laut setzte er hinzu: „Der brave alte Herr scheint müde zu sein, und wir müssen noch eine halbe Stunde bis zum Dorfe haben.“

„Kennen Sie den Pater?“ fragte ich den Secretair.

„Gewiß, gewiß.“

„So laden Sie ihn ein. Ich werde mich freuen, wenn er uns seine Gesellschaft schenken will.

(Fortsetzung folgt.)
[197]

Eine ernste Stunde.

Aus dem Leben Goethe’s, mitgetheilt und gezeichnet von einem Zeitgenossen des Dichters.

Goethe den Schädel Schiller’s suchend

Einer der interessantesten Momente im Leben unseres großen Dichters Goethe ist unstreitig der, wo er die sterblichen Ueberreste seines Zeitgenossen und Freundes prüft, um sein Votum abzugeben, daß sie echt sind; da es sich darum handelt, die schon vor vielen Jahren bestatteten Gebeine aus einem Wuste von halb verschütteten und durch einander geworfenen Cadavern herauszufinden. Dem geistigen Auge des Dichters vertraute man in diesem schwierigen Geschäfte mehr, als dem lediglich körperlichen des Anatomen und Arztes. Es kam nun noch glücklich hinzu, daß dieser Dichter und Freund zugleich anatomische und osteologische [198] Studien gemacht hatte, und daß das Feld der Naturforschung, auf das er hier geführt wurde, ihm kein fremdes war.

Es war an einem Herbsttage des Jahres 1828, als eine geheimnißvolle Kiste bei eintretender Dämmerung in das Haus Goethe’s getragen wurde. Er stand auf der Schwelle seines Arbeitszimmers, als die Männer die Kiste hereintrugen. Der Inhalt derselben war ein Skelett. In den Tagen der schönen Lebensfreude, des frischesten geistigen Genusses enger Seelenverbrüderung hatte der, der in dieser düstern Gestalt jetzt in das Haus getragen wurde, mit leichten Schritten die gastliche Schwelle des Freundes überschritten. Es war Schiller. Ein Brief des Jenaer Professors der Anatomie enthielt die wenigen Worte: „Hierbei erhalten Ew. Excellenz das vollständige Gerippe bis auf wenige Knöchelchen der Hände und Fußzehen, die wir nicht haben finden können, und die wir durch fremde Glieder nicht haben ersetzen wollen.“ Mit einem stummen Winke befahl Goethe den Trägern, die Kiste vor seinen Arbeitstisch zu setzen. Der Mond schien in’s Zimmer und beleuchtete das zusammengesunkene Brustbein des Gerippes. Goethe warf einen langen und schmerzlichen Blick auf diese Ueberreste, er entsann sich, daß Schiller stets über Engbrüstigkeit geklagt, und der Bau der Knochen schien ihm diese Wahrnehmung zu bestätigen. Der noch lebensvolle, kräftige Mann stand vor dem bleichen, feinen Knochenbau des im Tode Dahingestreckten; der Krieger, der noch die Waffe führte, vor dem, der sie niedergelegt.

Es war eine Stunde ernster Weihe, als Goethe, die Hände, wie er pflegte, auf einander gelegt, in der Stube auf und ab schritt. All die Stunden voll Gespräch und Anregung, da der Todte noch gelebt, kamen ihm in den Sinn, und die erhabene Seele des großen Mannes dachte Unsterbliches. In der Stille gingen die Geister vergangener Zeiten an ihm vorüber: er entsann sich des Tages, wo der Dahingeschiedene zum ersten Mal in seine Lebenskreise getreten, und wie er ihn anfangs kühl aufgenommen, wie aber später Jener ihm immer theurer, immer unentbehrlicher geworden, und wie zuletzt, als er fortgegangen, es ihm gewesen sei, als ginge ein Theil seines eigenen Selbst zu den Schatten. Sein eigenes Tagewerk erschien ihm als dem Abschluß nahe und er, dessen männliche Seele die Schrecken des Todes frühzeitig zu besiegen sich gewöhnt hatte, er beneidete in diesem Augenblicke den Vollendeten, daß er den furchtbaren Moment des Ueberganges hinter sich habe. Auf diesem Gipfel düsterer Empfindungen und träumerischer Gebilde angelangt, nahm er ein Tuch und deckte es über den Todtenschrein, mit der Vorsicht und der Bekümmerniß, wie ein Vater über sein schlummerndes Kind eine Decke breitet. Es lag etwas von unendlich rührender Pietät in diesem Verhüllen des Todten.

Als der neue Kirchhof, rechts von der Straße belegen, die zu dem fürstlichen Lustschlosse Belvedere führt, angelegt wurde, dachte Goethe daran, auch für sich und die Seinen eine Grabstätte zu gründen. Er wollte Schiller mit zu sich haben. Die Baucommission mußte pflichtschuldig den Bauplan zu dieser Grabcapelle dem Großherzog vorlegen, und da war es, daß Karl August die denkwürdigen Worte sprach:

„Wozu ein eigenes Grabgewölbe? Ich will Schiller und Goethe zu mir in meine Gruft nehmen! Sie sollen neben mir ruhen.“

Der Goethe’sche Plan unterblieb also. Sofort nach diesem fürstlichen Ausspruche ging man nun daran, Schiller’s Ueberreste aufzusuchen. Wie schwer dies zu bewerkstelligen war, haben wir schon gesagt. Die Aufgabe war eine fast unlösbare, und ein günstiges Resultat um so unerreichbarer, da gegenüber der Nation, um deren Lieblingsdichter es sich handelte, nicht der mindeste Zweifel aufsteigen durfte, als sei der Todte, der neben dem Herzoge und Goethe lag, nicht Schiller. Ein Juwelier, der die einzelnen Bestandtheile eines kostbaren alten Schmucks zusammenliest und immer noch hier eine Perle, dort ein kleines Ornament vermißt, kann nicht eifriger in dem Trümmerhaufen der Bruchstücke wühlen, als hier zwei Anatomen und drei Aerzte nach den Gebeinen des Dichters suchten. Lange Zeit hielt man ein unechtes Brustgewölbe fest, bis man fand, daß es einem französischen Kriegscommissar gehörte, der, der Himmel weiß wie, in diese Gruft gekommen war, und daß das Herz, das die glühenden Strophen der Freiheitshymnen Tell’s dictirt hatte, nicht in diesem Knochengitter geklopft hatte; ein Schenkelknochen, den man bereits adoptirt hatte, wurde einem alten Kanzleidirector zurückgegeben; die kleine zierliche Hand eines Pagen konnte unmöglich die sein, die den Don Carlos schrieb. Endlich, nach dem Gesetze der Analogie, fand man das Skelett zusammen; ein Zahn nur erregte noch lange einen erschütternden Sturm der Meinungen und Stimmen, indem ein noch lebender Diener des Dichters sich besann, daß dieser Zahn seinem Herrn gefehlt habe. Goethe entschied. Die Proceßacten wurden geschlossen, das alte Gewölbe, wo so viel Confusion geherrscht, wurde geschlossen, die Schläfer darin, die nicht große Dichter waren, ließ man in Ruhe, und ein neuer Sarg, nach einer Zeichnung Goethe’s, in der Form einer Lade, wurde gefertigt, um die Errungenschaft in sich aufzunehmen.

Unser Bild zeigt, wie Goethe, in seinem Studirzimmer stehend, zuerst, ehe noch der Körper zusammengesucht war, sich mit der Auffindung und Feststellung des Schädels beschäftigt, und hierbei die Todtenmaske und die bekannte Dannecker’sche Büste zu Rathe zieht.

Im Jahre 1805 war Schiller gestorben, demnach fast ein Vierteljahrhundert später gelangten seine Gebeine in ihre neue Ruhestätte. Wenige Jahre darauf kam auch Goethe hin. Der Groß-Herzog Karl August war vor ihm gestorben, und ruht, wie er gewünscht, mit seinen beiden Dichterfreunden nun in einer Gruft.




Elektricität als Uhr und Stadtpost.

Heut zu Tage sagen gelehrte und ungelehrte Leute, vielleicht mit richtigem Instinct, daß Dinge und Processe in der Natur, deren Ursachen und Geheimnisse man nicht recht versteht, mit Elektricität zusammenhängen. Man vermuthet die Elektricität überall entweder als Haupt-Agenten oder als Compagnon. Auch im Verkehre der Menschen wird sie immer allgegenwärtiger. Sie telegraphirt mit bekannter Blitzesschnelle über Länder und durch Meere, über unsern Häuptern und unter der Erde dahin und ist immer gleich da, sobald sie abgeschickt wird, nur zuweilen aufgehalten durch die Unbeholfenheit der Menschen oder die jetzt überall herrschende Angst der Mächtigen. Die Königin von England erfuhr im Schlosse Windsor noch in derselben Minute der Geburt ihres Enkels, daß sie zum ersten Male glückliche Großmutter geworden.

Aber diese göttlichen Mercurflügel der Elektricität sind nichts Neues mehr. Neuer und wichtiger ist deren Ausbildung für allerhand kleine Alltagszwecke, die Allen und nicht blos den Mächtigen der Throne und der Börse zu Gute kommen, deren Anwendung für Stellung der Uhren und Localverkehr. Die Zeit wird unter jetzigen Verhältnissen der Ueberladung mit Geschäften und socialen Beziehungen immer kostbarer und wichtiger. Hier wird Pünktlichkeit eine Hauptsache, so daß unsere Uhr auf die Secunde richtig gehen muß. Auch hat jeder anständige Mensch mannichfaltige Verbindungen in seiner Stadt, die oft sehr groß ist, so daß man durch persönliche Beachtung derselben und selbst mit der Stadtpost viel Zeit verlieren kann. Dies hat bereits zur Einrichtung elektrischer Zeit-Kugeln, elektrischer Uhren und zu elektrischen Stadtposten geführt. Erstere beiden thun in London bereits sehr gute Dienste und an Ausführung der letzteren wird eben gearbeitet.

Die erste „Zeit-Kugel“ wurde von Professor Airy, Director der Greenwich-Sternwarte (der durch einen vier Jahre lang fortgesetzten Cyklus der feinsten Experimente unsere Erde gewogen), auf dem Thurme der Sternwarte angebracht. Unten geht die berühmte astronomische Uhr, die durch einen elektrischen Apparat mit einer großen, hohlen Kugel oben hoch über dem Thurmdache in Verbindung steht. Durch die Mitte der Kugel geht eine polirte Stange, an welcher sie leicht auf- und abgleitet. Die Kugel wird durch die Uhr aufgezogen und jeden Tag bis astronomisch Punkt ein Uhr Mittags oben festgehalten. In dem Augenblicke, wo es im Weltall ein Uhr schlägt, reißt ein elektrischer Ruck an dem Hebel, der die Kugel oben hielt, so daß sie nun etwa zwölf Fuß tief niederfällt. Die Kugel, von unten gesehen, steht klar am Himmel und kann bei hellem Wetter und mit hellen Augen viele Meilen ringsum gesehen werden. Dieses Aufpassen und Uhrenstellen alle Mittage! Legionen von Schiffen auf der breiten Themse entlang und in den riesigen Docks mit ein paar Dutzend Wäldern von Masten, jeder wie eine deutsche Mittelstadt groß, und Tausende von Menschen auf dem [199] Lande umher warten jeden Tag auf dieses Zeichen und ziehen ihre Uhren stolz und glücklich, wenn die Differenz seit gestern möglichst klein ausfällt. In der Stadt drin, wo der berühmte Greenwich-Zeitball Collegen hat, die mit ihm in demselben Augenblicke fallen, wiederholen sich jeden Tag dieselben Operationen. Die Elektro-Telegraphen-Compagnie im Strand Londons hat einen solchen über ihrem Dache. Einen viel größeren von Zink, 5½ Fuß im Durchmesser und 150 Fuß über dem Spiegel der Themse, findet man in der City über dem Hause des Chronometermachers French (Cornhill), einen auf dem Nelson-Monumente in Edinburg und viele andere in Hafenstädten. Sie hängen durch Drähte mit dem Zeit-Balle in Greenwich zusammen und fallen durch elektrische Mittheilung überall in demselben Augenblicke, da die Elektrizität für diese Entfernungen gar keine meßbare Zeit braucht. Man kann jede beliebige Zahl solcher Zeitbälle mit dem einen verbinden. Dies ist blos eine mechanische Geldsache. Die Stunde ein Uhr ist natürlich nur willkürlich angenommen. Man könnte auch jede andere wählen. Doch empfiehlt sich diese hohe Mittagszeit als die in der Regel hellste und demnach beste.

Die Zeitbälle werden durch elektrische Uhren regiert. Elektrische Uhren sind nicht, wie Manche glauben, wirkliche Uhrwerke, sondern sehr einfache Hebel, Drähte und Räder, die von der Centraluhr in Greenwich durch elektrische Mittheilung getrieben werden. Eine solche Uhr für das große Publicum findet man vor dem Bureau der Elektrotelegraphen-Compagnie, Strand, London. Sie zeigt Tag und Nacht (illuminirt) die astronomisch richtige Zeit, wie die Normaluhr in Greenwich. Die meisten andern Uhren der Art sind in Bureaux angebracht. Und die fünfzehn Haupt-Eisenbahnhöfe Londons (ohne etwa sechzig Stationen, die noch in das Bereich Londons fallen) reguliren ihre Uhren nach täglich mehrmals von Greenwich aus gegebenen elektro-telegraphischen Mittheilungen. Die richtige Zeit ist hier bis auf die Secunde wichtig, da die unzähligen, den ganzen Tag und die ganze Nacht kommenden und gehenden Eisenbahnzüge im Interesse des immer aus- und einfliegenden Publicums auf jeder Station (auf manchen alle sieben Minuten) immer auf die Secunde ankommen und abgehen.

Aber auch diese stets fliegenden und donnernden Eisenbahnen sind nicht schnell genug für die kostbare Zeit und die in wildem Geschäftseifer durcheinander rasenden Menschen. Vieles und zwar das Wunderbarste der Welt in dieser Sphäre thut die Stadtpost, welche alle zwei Stunden Tausende von Briefen durch die kleine Unendlichkeit von London vertheilt. Aber auf eine Antwort, die man oft augenblicklich haben möchte, muß man doch sechs Stunden warten. Man will also die Elektricität zu einer Stadtpost machen, so daß man augenblicklich nach allen Seiten der Stadt fragen und sofort Antwort erhalten kann. In den amerikanischen Riesenhotels und im englischen Parlamentsgebäude existirt schon etwas Aehnliches. Man klingelt und sendet Botschaften in die verschiedensten Theile des Hauses durch Elektricität. Auch in großen Fabriken correspondirt man schon durch telegraphische Elektricität. In Paris, Brüssel und New-York elektro-telegraphirt man schon über die Häuser hinweg für locale Zwecke. In Berlin hatte der Polizeipräsident von Hinkeldey die ganze Stadt unten mit telegraphischen Drähten durchziehen und sie in einem Mittelpunkte des Spinnennetzes, wo er selber saß, vereinigen lassen, um die ganze Stadt zu behorchen und fortwährend Angst zu schöpfen und Mißtrauen in das königliche Ohr zu flüstern.

Durch London will man ein viel größeres Netz spinnen, aber für nützliche, nicht polizeiliche Zwecke; man will eine elektro-telegraphische Stadtpost anlegen. Der Mittelpunkt fällt in den Mittelpunkt Londons, Charing Croß. Von da sollen sich die Drähte vier Meilen Radius, also acht Meilen im Durchmesser, nach allen Richtungen der Windrose ausspinnen, zunächst in elf Hauptpunkte, deren jeder neun Stationen enthalten soll. Dies gibt etwa hundert Stationen oder elektro-telegraphische Stadtpost-Bureaux. Diese werden so verbunden, daß man von jeder zu jeder Zeit nach jeder Station telegraphiren, dort den Inhalt sofort brieflich an die Adresse schicken, und durch den Briefboten die Antwort schriftlich an die nächste Station und elektro-telegraphisch dahin erhalten kann, von wo man just abblitzen ließ. Zur Noth kann man also an den Drähten, welche unsern Brief an die Adresse fortblitzten, stehen bleiben und nach einigen Minuten schon die Antwort ankommen sehen.

In die Einzelnheiten des wunderbaren Problems, 100 Stationen, vertheilt durch das ungeheure Labyrinth Londons, alle mit einander so zu verbinden, daß von jeder stets nach jeder andern telegraphirt werden kann, gehen wir hier nicht ein, da zu einem Verständniß genaue Localkenntniß gehören würde. Wir erwähnen nur, daß die einzelnen Localstationen nicht alle direct verbunden werden, sondern nur mittelbar durch Haupt- und Centralstationen, so daß mancher elektrische Brief große Umwege machen muß, worauf es aber der Elektrizität bekanntlich gar nicht ankommen kann, da sie eben so schnell um die ganze Erde herumlaufen würde, wie auf einem Umwege von einer Station zur andern. Zeit braucht dieser schnellste aller Boten des Weltalls auf unsern Erdentfernungen überhaupt gar nicht. Man spart also dabei die kostbarste aller modernen Münzen, Zeit, ganz. Nur das Abschreiben und Abschicken durch menschliche Hände und Beine kostet eine Kleinigkeit davon.

Das Netzwerk wird über die Häuser weggesponnen, wie schon viele Eisenbahnen mit ihren oft zwanzigfachen Drähten an ihren Wegen entlang. Unterhalb Londons ist kein Platz mehr. Da verästeln und vernetzen sich schon die Drähte von drei andern Elektro-Telegraphen-Compagnien, außerdem die Gasröhren, die Cloaken aus jedem Hause, auch Eisenbahnen mit ihren Tunnels.

Die Londoner elektro-telegraphische Stadtpost ist für alle Zwecke bestimmt, für welche überhaupt Briefe und Boten gebraucht werden. Man muß dabei bedenken, daß zu einem einzigen Wege, Besuche oder Briefe mit Antwort oft ein ganzer Tag gehört, daß alle Großkaufleute der City weit draußen in den Vorstädten wohnen, 5–10 Meilen von ihren Bureaux, daß überhaupt in London die Entfernungen sehr bedeutend sind und die entferntesten Theile in stets lebendiger Verbindung stehen. Man fragt also z. B. durch die elektrische Stadtpost vielleicht 10 Meilen weit, wo man einen Besuch abstatten will: „Bist Du zu Hause?“ Ist er’s nicht, spart man einen Tag. Der Kaufmann in der City läßt seiner Frau zublitzen: „Ich komme heute nicht zu Tische,“ oder: „Ich bringe einen Freund mit.“ Außerdem Abgang und Ankunft von Eisenbahnen, Botschaften von Gericht zu Gericht, Zeugenvorladung, eben angekommene (160000 jährlich) oder abgeschiedene Weltbürger (ziemlich eben so viel), Feuersignale von einer Brigade zur andern, Hülferuf um ärztlichen Beistand in Krankheitsfällen, polizeiliche Blitze, um abfahrenden Betrügern, Verbrechern aller Art zuvorzukommen, Verbindung der elektro-telegraphischen Botschaften aus den Provinzen und aus andern Ländern, respective Vertheilung derselben an einzelne Interessenten und sonstige tausenderlei Dinge, um welche man jetzt Briefe schreibt, auch tausenderlei andere, um welche man jetzt keine schreibt. Bedürfnisse, die man leichter, schneller und vielleicht auch wohlfeiler befriedigt, wachsen dadurch stets in einem viel größeren Verhältnisse, als diese Erleichterung beträgt – eine alte national-ökonomische Wahrheit!

Die elektro-telegraphische Stadtpost-Compagnie Londons hofft täglich von einem einzigen Bureau aus 10000 Botschaften senden, respective empfangen zu können. Die Kosten für Einrichtung der 100 Stationen sind auf blos 35000 Pfund veranschlagt worden[WS 1]. Damit hofft man jährlich 40000 Pfund einzunehmen. Dies klingt sehr fabelhaft, ist aber nicht unsere Sache. Hier kam es blos darauf an, die Idee der Sache anzugeben, ein Bild von den engeren, alltäglichen und häuslichen Verhältnissen zu entwerfen, welche durch weitere Ausbildung der Elektricitäts-Industrie Flügel bekommen.




Preußische Licht- und Schattenbilder.
Ein Schattenbild.
2. Bischofswerder und Wöllner.

Die Grundsätze, welche Friedrich den Großen in seiner Regierungsweise leiteten, waren Bildung, Aufklärung und Toleranz. Unter seiner Herrschaft konnte Jeder nach seiner Façon selig werden; nichts war ihm so verhaßt, als Gewissenszwang und geistige Beschränkung. Sein Nachfolger betrat einen entgegengesetzten Weg; Verdumpfung, Aberglaube und Willkür waren unter seiner Herrschaft an der Tagesordnung. Von Genüssen aller Art erschöpft, ließ er sich von einer frömmelnden Umgebung leiten, an deren Spitze die Minister Bischofswerder und Wöllner standen, die Urheber jenes berüchtigten Religionsedicts vom Jahre 1788, welches mit [200] einem Federstriche die bisherige Freiheit in religiösen Dingen unterdrückte und das Volk in die Barbarei des Mittelalters zu stürzen drohte. Beide Männer gehörten einer geheimen Verbindung an, welche sich im Schooße des Freimaurerordens unter dem Einflusse verkappter Jesuiten und Abenteurer aller Art entwickelt hatte. Schon seit längerer Zeit bestand der Bund der sogenannten Rosenkreuzer, welche sich rühmten, im Besitze geheimnisvoller Kräfte zu sein, Gold machen zu können, das Lebenselixir und andere Wundertincturen aufgefunden zu haben. Durch allerlei mystische Gaukeleien, phantastische Symbole, geheime Weisen und feierliche Eidschwüre verstanden es die Mitglieder dieses Ordens, einen gewissen Nimbus zu verbreiten, schwache Gemüther zu verführen und die Phantasie der leichtgläubigen zu erhitzen. Selbst die Besseren und Gebildeteren in jener Zeit ließen sich von dem Auftreten eines Cagliostro, eines St. Germain zuweilen blenden. Je mehr der zersetzende Verstand sich geltend machte, eine frivole Literatur alles Heilige bezweifelte und zu zerstören suchte, desto empfänglicher wurde die Menge in ihrer Sehnsucht nach einem Höheren für die Geheimnisse einer unbekannten Wunderwelt. Wo der wahre Glaube fehlt, stellt sich der Aberglaube mit seinem finsteren Gefolge ein. Er findet den fruchtbarsten Boden in einer entnervten und sittlich aufgelösten Gesellschaft, wie die des achtzehnten Jahrhunderts war.

Schon als Kronprinz hatte sich der König diesem mystischen Treiben zugeneigt; er erwartete von der Rosenkreuzerei nicht nur Schätze und neue Lebenskraft, sondern auch Kenntniß des menschlichen Herzens. Wie Mirabeau zu verstehen gibt, hatte man ihm vorgespiegelt, daß dem Eingeweihten die geheimsten Gedanken seiner Umgebung erschlossen würden. Diesen Wunsch nährte vor Allen Hans Rudolph von Bischofswerder, ein geborener Sachse. Als ein armer Edelmann trat er in das preußische Heer, nach dem Frieden wurde er in Dresden Kammerherr; später kam er in die Dienste des Herzogs Karl von Kurland, der ein bekannter Anhänger der Rosenkreuzer war. In diesen Verhältnissen lernte er den berüchtigten Schrepfer kennen, einen ehemaligen Leipziger Kellner, der eine bedeutende Rolle als Geisterbeschwörer spielte und zuletzt als Betrüger und Selbstmörder endete. Es war in Dresden, wo der kühne Abenteurer in Gegenwart des Herzogs von Kurland, des Ministers von Wurmb, des Obersten von Fröden, des Barons von Hohenthal, des Kammerherrn von Hopfgarten und unseres Bischofswerder den abgeschiedenen Geist des Chevalier de Saxe erscheinen ließ. Zugleich rühmte sich Schrepfer, im Besitze eines unermeßlichen Schatzes zu sein, den er zum Besten der Gläubigen verwenden wollte. Diese plumpen Lügen fanden bei den hochgestellten Personen wirklich Glauben und es wurde ein Tag angesetzt, wo der Schatz gehoben werden sollte, nachdem Schrepfer bedeutende Summen darauf erhalten hatte. Während der Messe begab er sich in Begleitung von Bischofswerder und Hopfgarten nach dem bei Leipzig gelegenen Rosenthal, wo die mystische Hebung des versprochenen Schatzes auch erfolgen sollte. An dem bezeichneten Orte angelangt, wies Schrepfer seinen Begleitern ihre Plätze an, indem er zu ihnen sagte:

„Rühren Sie sich nicht von der Stelle, bis ich Sie rufen werde; ich gehe jetzt in dieses Gebüsch, wo Sie bald eine wunderbare Erscheinung sehen sollen.“

Sobald er sich entfernt hatte, fiel ein Schuß, den die Herren indeß nicht weiter beachteten. Des Wartens endlich müde, gingen sie in das Gebüsch, wohin sich Schrepfer vor ihnen begeben hatte; sie fanden seine Leiche mit zerschmettertem Gesicht auf dem Boden ausgestreckt; neben ihm lag die Pistole, mit der er sich selbst erschossen hatte. – Bischofswerder soll sich damals, wie behauptet wird, in den Besitz des Apparates und der ganzen Vorrichtung gesetzt haben, womit Schrepfer seine Geisterbeschwörungen bewerkstelligt hatte.

Nach diesem Abenteuer trat er von Neuem in preußische Dienste und machte den bairischen Erbfolgekrieg mit. Bei Gelegenheit eines Sturzes, den der damalige Kronprinz vom Pferde that, war Bischofswerder in seiner Nähe und rettete ihn aus augenscheinlicher Lebensgefahr. Diesem Umstande hatte er seitdem eine Gunst zu verdanken, welche er geschickt zu benutzen und durch die angegebenen Mittel noch zu steigern wußte. Aus einem von Schrepfer Betrogenen war er zum Betrüger geworden, um sich einen unbeschränkten Einfluß auf den schwachen Fürsten zu sichern. Eines Abends, wo der damalige Thronfolger bei seiner Geliebten in Charlottenburg verweilte, erzählt die Gräfin Lichtenau nach einer mündlichen Mittheilung, rief ihn Bischofswerder ab und führte ihn in ein entlegenes Haus, um ihn endlich an der langersehnten Unterhaltung mit den abgeschiedenen Geistern Theil nehmen zu lassen.

Wie geschickte Taschenspieler dem Uneingeweihten ein ganzes Spiel Karten vorhalten mit der Aufforderung, nach seinem Belieben einige zu ziehen, und ihm demungeachtet nur diejenigen in die Hände zu spielen wissen, die sie vorher ausgewählt haben, so überließen es diese Geisterbanner dem Prinzen ebenfalls, diejenigen Abgeschiedenen zu nennen, die er zu sehen verlangte, waren aber im Voraus sicher, daß er von denen, die man ihm vorschlug, nur diejenigen wählen würde, für deren Erscheinung Vorsorge getroffen war. Diesmal war es der römische Kaiser Marc Aurel, der Philosoph Leibnitz und der große Kurfürst. Für diese drei hielt man die Personen und Anzüge in Bereitschaft; man hätte aber auch mit demselben Apparat dem Verlangen nach jeder andern geschichtlichen Größe genügen können. Die Zauberei bestand darin, daß während einer feierlichen Beschwörungsformel und unter den nervenangreifenden Tönen einer Glasharmonika der geforderte Geist im Nebenzimmer sich leibhaftig so vor einem Hohlspiegel aufstellte, daß sein Bild von einem gegenüberstehenden Spiegel aufgefangen, auf dem Milchflor in dem dunklen Zimmer sichtbar wurde, in welchem der geängstigte Prinz sich allein befand. Es war ihm gestattet worden, Fragen an die Abgeschiedenen zu richten, allein er war nicht im Stande, auch nur einen Laut über seine bebenden Lippen zu bringen. Dagegen vernahm er von den heraufbeschworenen Geistern strenge Worte und geheimnißvolle Drohungen, die ihn tief erschüttertem. Mit banger Stimme rief er nach seinen vermeintlichen Freunden; er bat sie inständig, den Zauber zu lösen und ihn von seiner Todesangst zu befreien. Erst nach einigem Zögern trat Bischofswerder in das Zimmer und brachte den erschöpften Prinzen nach Potsdam, wo die eingeweihten Ordensbrüder zu seinem Empfange versammelt waren. Hier mußte er ein ihm vorgesprochenes Gelübde feierlich beschwören, durch das sich Bischofswerder und seine Helfer die unbedingte Herrschaft über den schwachen Geist des zukünftigen Regenten zu verschaffen wußten.

Derartige Gaukeleien wiederholten sich noch öfters bei verschiedenen Gelegenheiten; dabei besaß Bischofswerder eine ungemeine Schlauheit, die er unter einer anscheinenden Biederkeit und Einfachheit versteckte. Er lenkte den König mit solcher Feinheit und so unbemerkbar, daß dieser fortwährend in dem Glauben bleiben konnte, vollkommen selbstständig zu handeln und zu beschließen. Wenn der König über die gesehenen Wunder und Geistererscheinungen doch noch zuweilen einen Zweifel hegte, so hütete sich der gewandte Günstling, ihm zu widersprechen, höchstens äußerte er:

„Ja, es ist sonderbar, meine Vernunft sträubt sich stets gegen diese wunderbaren Erscheinungen, aber ich kann mich doch nicht entbrechen, fortgesetzte Forschungen anzustellen.“

„Da haben Sie Recht,“ pflegte dann der gutmüthige König zu antworten, „wir müssen neue Versuche anstellen.“

So umstrickte ihn Bischofswerder immer mehr und mehr, bis der betrogene Monarch ihm und seinem Gaukelspiel den festesten Glauben schenkte. Jener ließ außerdem stets nur die reinsten Lehren der Tugend und Sittlichkeit in den Unterredungen mit dem König hören; seine Lippen flossen von christlicher Liebe, Enthaltsamkeit und den Grundsätzen der Moral über, was ihn jedoch nicht abhielt, mit den Schwestern seiner Frau in einem anstößigen Verhältniß zu leben. Erst ein während des Kriegs aufgefangener und von dem französischen Nationalconvent veröffentlichter Brief voll zärtlicher Ausdrücke öffnete dem Könige die Augen über das heuchlerische Treiben seines Günstlings; dieser saß indeß so fest, daß selbst ein derartiger Beweis ihn nicht zu stürzen vermochte. Er bekannte seine Schuld und verwies mit frömmelnder Salbung auf die Schwäche des menschlichen Fleisches und die Macht des Versuchers, der selbst die heiligen Männer der Bibel nicht geschont. Ebenso heuchelte er einen hohen Grad von Uneigennützigkeit, nahm aber nichts desto weniger von dem König ansehnliche Güter in dem durch die letzte Theilung von Polen erworbenen Südpreußen geschenkt, die er sich von dem Reichsgrafen von Lüttichau mit 50,000 Ducaten bezahlen ließ.

Ein solcher Mann mußte der natürliche Gegner jeder freieren Richtung sein; er bestärkte den befangenen Monarchen in seinem Vorhaben, die damals auftauchende französische Revolution zu bekämpfen, und veranlaßte ihn zu jenem abenteuerlichen Zuge nach der Champagne, der in so schmachvoller Weise für Preußen und seine Verbündete endete. Bischofswerder, welchen Friedrich der Große wegen seiner grünen Uniform spottweise den „Laubfrosch“ zu nennen pflegte, war der eigentliche Vertreter jener kleinlichen Politik, welche [201] den Staat nach und nach an den Abgrund brachte, die reichen Hülfsquellen desselben erschöpfte, und ihn der allgemeinen Auflösung entgegenführte.

Er fand einen ebenbürtigen Gehülfen in diesem verderblichen Werke an Johann Christoph Wöllner, welcher der Sohn eines lutherischen Predigers in der Nähe von Spandau war. Als Hauslehrer in der Familie des Generals von Itzenplitz knüpfte er ein Verhältniß mit der Tochter desselben an, die er entführte und schließlich heirathete. Durch diese Verbindung gelangte er in den Besitz ansehnlicher Güter; er bildete sich zum praktischen Landwirthe aus. Als solcher wurde er dem Prinzen Heinrich, Bruder Friedrich des Großen, empfohlen und von diesem zum Kammerrathe ernannt. Später unterrichtete er den Kronprinzen in der Staatswirthschaft, worin er sich einige oberflächliche Kenntnisse erworben hatte. Wie Bischofswerder, gehörte er dem Orden der Rosenkreuzer an und verfolgte dieselbe mystische Richtung; unter dem Namen „Chrysophyron“ war er in die Verbindung aufgenommen worden und als theurgischer Schriftsteller aufgetreten.

Durch seine Bekanntschaft mit Bischofswerder und die deutlich ausgesprochene Neigung zu jener pietistischen Frömmelei, welche der König beförderte, gelang es ihm, sich eine hervorragende Stellung zu verschaffen und sich von Stufe zu Stufe emporzuschwingen. Er wurde Geheimer Oberfinanzrath, Intendant der königlichen Bauten und in den Adelsstand erhoben. Kein Mittel war ihm zu schlecht, um zu seinem Ziele zu gelangen; der ehemalige Theologe und Wiederhersteller der preußischen Rechtgläubigkeit kroch in dem Vorzimmer der Lichtenau mit gekrümmtem Rücken und dedicirte der bekannten Maitresse seine Bücher, um sich ihrem Schutze zu empfehlen. So kam es, daß er bald eine fast unbeschränkte Macht gewann und in Berlin allgemein nur „der kleine König“ genannt wurde. Gebildeter und systematischer, als Bischofswerder, trat er als der entschiedene Gegner jener großen Erbschaft auf, welche Friedrich der Große dem preußischen Volke hinterlassen hatte. Wöllner war der erbitterte Feind der Aufklärung und Toleranz, die der Held des Jahrhunderts als die Stützen des protestantischen Staates für ewige Zeiten hingestellt hatte. Diese zu untergraben, mit Gewalt und List zu brechen, betrachtete der Frömmler als die Aufgabe seines Lebens. Er begann seine Wirksamkeit damit, die Werke Friedrich des Großen in keiner anderen Absicht herauszugeben, als das Andenken desselben damit verhaßt zu machen und der neuen Regierung zu schmeicheln. Zu diesem Zwecke ließ er sich die hinterlassenen Papiere des großen Verstorbenen schenken; er verkaufte sie und ließ Alles abdrucken, was die öffentliche Meinung, nach seiner beschränkten Ansicht, verletzen mußte: all’ die kecken Ausfälle auf die theologische Unduldsamkeit, die Spöttereien auf die Geistlichkeit und die nicht immer zu billigenden Sarkasmen, welche sich der Schüler und Freund Voltaire’s zuweilen gegen die Religion selbst erlaubte, die er nur zu oft mit ihren blinden und verkehrten Bekennern verwechselte. Sogar die in vertrauten Briefen hier und da zerstreuten harten Aeußerungen über noch lebende Zeitgenossen, unbedeutende Aufsätze und Gedichte, welche für den intimsten Kreis geschrieben waren, wurden so der Oeffentlichkeit preisgegeben, um den Widerspruch herauszufordern und Angriffe gegen den todten Genius zu veranlassen. Der Erfolg entsprach indeß keineswegs den gehegten Erwartungen, indem gerade das Gegentheil eintrat und die herausgegebenen Schriften Friedrichs nur die Bewunderung für den Unsterblichen vermehrten.

Während Wöllner das Andenken des hohen Geistes zu verdunkeln suchte, strahlte der Stern desselben nur um so heller; die Lüge und Heuchelei selbst wurden gezwungen, der Wahrheit und der echten Größe zu dienen. Erst jetzt sah Wöllner seinen Mißgriff ein; er wollte sogleich den Weiterdruck hindern, aber die Buchhandlung berief sich auf ihren mit ihm selbst abgeschlossenen Vertrag. Wöllner konnte es nicht ändern, doch ließ er aus den gedruckten Exemplaren der Supplemente mehrere Seiten – herausschneiden. Das hinderte indeß keineswegs die weitere Verbreitung, da in Basel sogleich ein Nachdruck erschienen war.

Im Jahre 1788 wurde Wöllner an Stelle des aufgeklärten und freisinnigen Zedlitz zum Minister der geistlichen Angelegenheiten ernannt. Dieser Berufung hatte der Staat jenes berüchtigte Religions-Edict zu verdanken, welches in neuerer Zeit an den bekannten „Regulativen“ gewissermaßen einen Nachtrag erhalten hat. Unter dem Vorgeben, die Freiheit des Gewissens nicht beschränken, nur dem Unglauben und der Sittenlosigkeit entgegentreten zu wollen, wurden die größten Bedrückungen in diesen Ordonnanzen ausgeübt und die schwersten Strafen über Alle verhängt, welche sich diesem Zwange nicht fügen und ihrer besseren Ueberzeugung folgen wollten. Das Edict befahl sämmtlichen Geistlichen und Lehrern der Monarchie, fortan sich streng nach den symbolischen Büchern zu richten.

„Man habe,“ lautet der Befehl, „schon seit längerer Zeit schmerzlich bemerkt, wie viele Geistliche des protestantischen Bekenntnisses sich eine zügellose Freiheit in Beziehung auf die Dogmen ihres Glaubens herausnehmen, indem sie die Grundwahrheiten der christlichen Religion im Allgemeinen leugnen und in ihren Predigten einen modischen Ton anstimmen, der dem Geiste des wahren Christenthumes widerspricht und die Pfeiler desselben zu erschüttern droht. Man erröthet nicht, die elenden Irrthümer der Socinianer, Deisten und Naturalisten zu befördern und diese im Namen der Aufklärung mit eben so großer Frechheit als Thorheit dem Volke zu empfehlen. Der König wolle innere Ueberzeugung nicht zwingen, ja selbst bekannte Neuerer nicht aus ihrem Amte treiben, aber Jeder solle von nun an dem einmal hergebrachten Kirchenglauben und den feststehenden Normen getreu lehren oder, im Falle der Uebertretung, mit Entsetzung vom Amte und noch härter gestraft werden.“

Zugleich wurde den Consistorien befohlen, die ihnen übergebene Geistlichkeit streng zu überwachen und bei der geringsten Abweichung von den bestehenden Glaubenslehren sofort Anzeige zu machen. Eben so ordnete das Edict an, die Lehrstühle an den Universitäten und Gymnasien nur mit strenggläubigen Candidaten zu besetzen und alle Neuerer auszuschließen oder sogleich zu entfernen. Allen Unterthanen wurde ein religiöses Leben anempfohlen und versprochen, bei jeder Gelegenheit den Gläubigen den Vorzug zu geben, weil die Ungläubigen schlechte Unterthanen sein müßten und niemals treue Staatsdiener werden könnten. Die Sonntagsfeier wurde streng gehandhabt, der geistliche Stand mit besonderen Privilegien bedacht und jede Beleidigung desselben als ein schweres Verbrechen angesehn.

Ein Ausbruch allgemeiner Entrüstung begrüßte dieses Religions-Edict, welches unwillkürlich an die Bestrebungen einer gewissen kirchlichen Partei in unserer heutigen Zeit erinnert. Die bedeutendsten Stimmen erhoben sich gegen einen Gewissenszwang, der seit der Herrschaft Friedrich des Großen in Preußen nicht mehr für möglich gehalten wurde. Es entspann sich ein erbitterter Kampf zwischen den Finsterlingen und den Freunden der Aufklärung, an deren Spitze der Buchhändler Nicolai, der Freund und Gesinnungsgenosse eines Lessing, stand. In der von ihm herausgegebenen „Allgemeinen Deutschen Bibliothek“, einer weit verbreiteten kritischen Zeitschrift, traten Nicolai und mehrere ihm gleichgesinnte Schriftsteller mit den Waffen des gesunden Menschenverstandes und einer mitunter allerdings trivialen Satire gegen das pietistische Treiben der neuen Dunkelmänner auf. Der Kampf, welcher in unseren Tagen in den „Hallischen Jahrbüchern“ gegen die Reactionsgelüste der sogenannten Romantiker auf dem politischen und kirchlichen Gebiete geführt wurde, war nur eine Wiederholung und Fortsetzung jener Wöllner’schen Periode geistiger Unterdrückung und Knechtschaft. Dieselben Mittel wurden schon damals angewendet, um die Stimmen der Freiheit und der Vernunft zum Schweigen zu bringen.

Durch ein königliches Decret wurden wegen der überhand nehmenden Schreibfreiheit alle im Inland erscheinenden Schriften einer vorläufigen Censur unterworfen. Wöllner selbst hatte die geeigneten Männer für dieses Amt bestellt; trotzdem vermochte er nicht, die öffentliche Meinung zu ersticken, die sich immer von Neuem Luft machte. So las der Minister am Schlusse einer so eben in Berlin unter dem Titel „Allgemeine Zustände“ erschienenen Flugschrift die Worte: „Wehe dem Lande, dessen Minister Esel sind!“ In höchster Entrüstung ließ er den Censor zu sich bescheiden, las ihm die Stelle vor und rief voll Zorn:

„Hab’ ich Sie deshalb angestellt, daß Sie dergleichen zum Druck verstatten?“

„Befehlen Excellenz vielleicht,“ entgegnete der Censor, „daß ich anstatt „Wehe“ drucken lassen sollte: „Wohl dem Lande, dessen Minister Esel sind!“?“

Indeß wurde die „Allgemeine Bibliothek“ durch das ministerielle Verbot gezwungen, von Berlin nach Kiel überzusiedeln, wie ungefähr fünfzig Jahre später die „Hallischen Jahrbücher“ von Halle nach Leipzig auswandern mußten.

Einen eben so ehrenvollen Widerstand gegen diese Wöllner’schen [202] Verfinsterungs-Pläne leistete das damalige Ober-Consistorium, an dessen Spitze die drei berühmten Geistlichen Teller, Zöllner und Gedicke standen. Diese würdigen, durch Gelehrsamkeit und Charakter gleich ausgezeichneten Theologen wurzelten in dem Boden jenes wahren Protestantismus, der die Welt aus den drückenden Banden der mittelalterlichen Sclaverei befreit und für immer die Fackel der wissenschaftlichen Bildung in Deutschland und besonders in Preußen entzündet hatte. Bei ihrer bekannten Frömmigkeit durfte selbst ein Wöllner es nicht wagen, sie von ihrem Amte zu entfernen; er beschränkte sich nur darauf, ihre Wirksamkeit zu lähmen und die Grenzen ihrer Thätigkeit enger zu stecken, indem er ihnen eine geistliche Examinations-Commission zur Seite setzte, die an Strenge und Beschränktheit mit der berüchtigten Inquisition wetteiferte. Zu diesem Glaubenstribunal wurde zunächst der Prediger Hermes aus Breslau berufen, der wider die Aufklärung bereits noch bei Lebzeiten Friedrichs des Großen geeifert hatte, den Untergang des neuen Sodom und Gomorrha, womit er Potsdam und Berlin meinte, in mystischen Worten prophezeihend und das nahe bevorstehende Reich Gottes nach dem Tode des toleranten Königs verkündigend.

Diesem Zeloten stand sein Schwiegersohn Oswald würdig zur Seite, ein bankerotter Kaufmann und Geisterseher. Er rühmte sich, mit dem Heiland in persönlichem Verkehre zu stehen, auf einsamen Spaziergängen dem Erlöser begegnet zu sein, der ihn erleuchtet und ihm die Gabe verliehen habe, in die Zukunft zu schauen und in die Ferne zu wirken. Er stand mit einer der damals auftauchenden Somnambulen in Verbindung, deren vermeintliche Weissagungen er verbreitete. Nicht viel besser waren die übrigen Mitglieder dieser geistlichen Examinations-Commission beschaffen, zu denen die Prediger Woltersdorf und Silberschlag an der Dreifaltigkeitskirche in Berlin und ein früherer Rosenkreuzer Hilmer zählten. – Eine besonders noch erwähnenswerthe und charakteristische Erscheinung in dem Kreise dieser Pietisten war Wöllner’s Factotum, der Geheime Secretair Mayr, von dem Dorow in seinen Denkwürdigkeiten folgendes psychologisch interessante Bild entwirft:

„Mayr, welcher als Lagerbruder und Geisterbeschwörer eine große Rolle spielte, besaß eine auffallende, unheimlich schleichende, scheu und sorgsam um sich spürende Persönlichkeit. Ein kleiner, krummer Mann, schielend, glatzköpfig, schwache Kinderbeinchen, auf denen ein breiter Rumpf und ein ausgedehnter Schädel ruhten, die Stirn hoch gewölbt, vielfach von feinem, blauem Geäder durchzogen. Sein Staatsanzug war beim Besuch der Freimaurerlogen höchst sonderbar: Schuhe mit großen blitzenden Schnallen, schwarzseidene Strümpfe, schwarzatlasne Beinkleider und Weste und ein orangenfarbener Leibrock mit großen, mit schwarzem Tuch überzogenen Knöpfen besetzt. Einstens erschien er in großer Gesellschaft mit einem umgehängten langen weißen Laken, an dem er oben rund umher kleine schwarze Katzenschwänze angeheftet hatte, einem Herzogsmantel ähnlich. Er versicherte: „Das ist das Costüm, in welchem ich oben bei Gott erscheinen und es auch beibehalten werde.“

„Es war ihm grausenhafter Ernst! Er selbst war das seltsamste Gemisch von Vernunft und Wahnsinn, Herzensgüte und Bosheit, Tiefsinn und Gemeinheit. Ein Gesicht aus der Apokalypse verwirklichen wollend, verschlang er den größten Theil eines Bibelexemplars, trug aber statt der gehofften Erleuchtung ein hitziges Fieber mit Wahnsinnssymptomen davon. Er fiel später durch das Nachsinnen über das Geheimniß der Trinität in Geistesverrückung, schoß mit Pistolen von der Kanzel und verwundete wirklich einen bei seiner Predigt eingeschlafenen Mann, auf den er mit den Worten schoß: „Dich will ich wecken.“ – Endlich fiel er in völlige Raserei und wurde in einer Privat-Anstalt in Ketten gelegt, doch schon nach einigen Monaten als hergestellt wieder entlassen. Als Dorow einst mit Mayr an diesem Hause vorüberging, sagte dieser: „Da liegt meine Buß- und Marterkammer, da hab’ ich gelitten und bin oft blutig gepeitscht worden; mir ist schon recht geschehen; ich habe gegen den gefrevelt und in dessen Gestalt Komödie gespielt, darin betrogen in der Gestalt dessen, der für uns Alle gelitten hat und gestorben ist.“

Nach Dorow ist es mehr als wahrscheinlich, daß Mayr bei den famosen Geisterbeschwörungen die Person des Heilands selber dargestellt hat. „Mayr selbst faßte den Glauben ganz sinnlich auf; beim Abendmahl wollte er wirklich Blut und Fleisch hervorbringen, alle Culten mischte er unter einander; an einem Tage hörte er oft des Morgens die Messe, auf seinem Angesichte liegend, predigte dann in der protestantischen[WS 2] Kirche, ertheilte die Communion und endete den Tag mit Besuch der Mennoniten, der Herrnhutergemeinde, der Synagoge oder der Freimaurerloge. Seine stets festgehaltene Ansicht ließ ihn die Welt als einen fortwährenden Kampf der Finsterniß mit dem Lichte erscheinen. Sein Streben war nicht nur auf geistige Erkenntniß, sondern auf den wirklichen Stein der Weisen gerichtet; er gehörte einer Gesellschaft von Adepten an, zugleich Betrogener und Betrüger. In seinen lichten Augenblicken zeigt er viel Geist, geniale Lichtblitze, denen er den vertrauten Umgang eines Kant, Hippel, Hamann und des Dichters Werner verdankte, der ihm in manchen Stücken später ähnlich wurde.“

Mit Hülfe seiner Examinations-Commission suchte Wöllner jede freie Regung auf dem Gebiet der Religion zu ersticken. Ein vollständiges Spionirsystem wurde in dem ganzen Lande hergestellt, eine doppelte Conduitenliste geführt, worin die Strenggläubigen und die sogenannten Neuerer namentlich bezeichnet wurden, um letztere bei nicht erfolgter Besserung dem weltlichen Arme zur wohlverdienten Cassation und Strafe zu übergeben. Jeder Candidat, der sich um eine Pfarre oder ein Schulamt bewarb, mußte noch ein besonderes Glaubensbekenntniß schriftlich ablegen. Zu diesem Behufe verfaßte der eben so unwissende als frömmelnde Hermes ein eigenes Examinationsschema in einem von groben Schnitzern und grammatikalischen Fehlern wimmelnden, lateinischen Schriftchen, das von den gelehrten und bibelfesten Männern wie Spalding, Teller und Zöllner in seiner ganzen Erbärmlichkeit dargestellt und beurtheilt wurde. Es blieb den unwissenden Urhebern dieses Machwerks nichts übrig, als beschämt ihr eigenes Buch zurückzukaufen und eine von den gröbsten Sprachfehlern gereinigte neue Ausgabe drucken zu lassen. Nicht besser erging es den von diesen Obscuranten empfohlenen Gesangbüchern und Katechismen; sie wurden mit gerechtem Widerwillen und Mißtrauen aufgenommen. Gegen die beabsichtigte Einführung eines allgemeinen Landeskatechismus hatte der reformirte Prediger Gebhard in Berlin ein Bedenken veröffentlicht, dem der Oberconsistorialrath Zöllner als vorgesetzter Censor die Druckerlaubniß ertheilt hatte. Kaum war die kleine Schrift erschienen, als sie der Minister Wöllner mit Beschlag belegen ließ. Der Verleger, Buchhändler Unger, verklagte hierauf Zöllner wegen Schadenersatz in der offenen Absicht, die Maßregeln des Ministers vor der öffentlichen Meinung lächerlich zu machen, und die bekannte strenge Gerechtigkeit des Berliner Kammergerichts, vor dessen Unparteilichkeit sich Friedrich der Große mehr als einmal gebeugt hatte, im glänzendsten Lichte zu zeigen. Das Kammergericht, dieses Bollwerk des höchsten Rechtssiegs im preußischen Staate, entsprach vollkommen den von ihm gehegten Erwartungen. Seine unparteiische Entscheidung lautete zu Gunsten des verklagten Censors, der mit Fug und Recht einer von dem Minister erst nachträglich verbotenen Schrift die Druckerlaubniß ertheilt habe.

In den Entscheidungsgründen wurde offen ausgesprochen, „daß der Censor die der Regierung schuldige Ehrfurcht nur verletzen würde, wenn er angenommen hätte, sie wolle lieber den einmal angenommenen Vorsatz blindlings verfolgen, als besseren Gründen Gehör geben.“ – Es nützte Wöllner nichts, daß er, dem Ausspruche des Kammergerichts trotzend, eine königliche Cabinetsordre zu seinen Gunsten erwirkte. Die verbotene Schrift wurde, wie gewöhnlich, nur desto mehr gekauft und eifriger gelesen.

Noch größeres Aufsehen erregte der Proceß gegen den Prediger Schulz zu Gielsdorf in der Mittelmark. Schulz war ein origineller, durchaus fester Charakter, der von der Kanzel herab eine geläuterte Moral predigte und gegen die hohle Andächtelei der gesammten Pietistenzunft zu Felde zog. Dies wurde ihm jedoch noch weit eher verziehen, als daß er die geistliche Perrücke abgelegt und mit dem militairischen Zopfe, dem Symbole des alten Preußenthums, vertauscht hatte. In Wöllner’s Augen war diese kühne Neuerung das größte Verbrechen gegen die christliche Religion selbst; es wurde gegen Schulz auf gehässige und keineswegs begründete Denunciation der fiscalische Proceß erhoben. Auch bei dieser Gelegenheit bewährte das Kammergericht seine berühmte Unabhängigkeit, und sprach den Prediger von der gegen ihn erhobenen Anklage frei, nachdem es ein zu Gunsten des Schulz lautendes Gutachten des berühmten Theologen Teller und die günstigen Zeugnisse seiner Gemeinde angehört. Durch einen königlichen Machtspruch wurde jedoch der arme Landprediger seiner Stelle entsetzt, den Zopf aber ließ er sich darum nicht nehmen; er trug ihn als ein Ehrenzeichen seiner Festigkeit und Gesinnungstreue. Mit dem Zopfe ließ er sich begraben, aber als „der Zopfschulz“ lebt sein Name in der preußischen Geschichte [203] fort, da er den Zopf zu Ehren brachte und, um mit einem jüngeren Dichter zu reden, „ein ganzer Mann an diesem Zopfe hing.“

Der Wöllner’sche Verfolgungsgeist beschränkte sich indeß nicht blos auf einfache Geistliche; er erstreckte sich auch auf einen Mann wie Kant, den größten Philosophen seiner Zeit oder vielmehr aller Zeiten. Neben seinen tiefen Studien verschmähte dieser berühmte Denker nicht, den Vorgängen und Ereignissen in seiner Nähe Aufmerksamkeit zu schenken und die Tagesereignisse in einer ihm sonst nicht gewöhnlichen populären Weise öffentlich in würdevoller Weise zu besprechen. So hatte er eine Abhandlung unter dem Titel: „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ in Königsberg erscheinen lassen, worin er Betrachtungen über den Unterschied der wahren Religion von dem Pfaffenthum anstellte. Dieser Aufsatz, welcher die Grundsätze eines höheren Rationalismus für ewige Zeiten feststellt, und mit bewunderungswürdiger Schärfe und Klarheit gegen die Uebergriffe der Pietisten und Frömmler zu Felde zieht, erregte Wöllner’s höchstes Mißfallen und einen lauten Aufschrei der ganzen Heuchlerzunft. In einem besonderen Rescripte mußte der schwache König dem großen Philosophen sein Mißfallen zu erkennen geben.

„Wir haben Uns,“ heißt es in diesem merkwürdigen Actenstücke, „von Euch eines Besseren versehen, da Ihr selbst einsehen müßt, wie unverantwortlich Ihr dadurch gegen Eure Pflicht als Lehrer der Jugend und gegen Unsere, Euch sehr wohl bekannten, landesväterlichen Absichten handelt. Wir verlangen des ehesten Eure gewissenhafte Verantwortung und gewärtigen Uns von Euch, bei Vermeidung Unserer höchsten Ungnade, daß Ihr Euch künftighin dergleichen nicht mehr werdet zu Schulden kommen lassen, sondern vielmehr, Eurer Pflicht gemäß, Euer Ansehen und Talent dazu anwenden, daß Unsere landesväterliche Intention je mehr und mehr erreicht werde, widrigenfalls Ihr Euch, bei fortgesetzter Renitenz, unfehlbar unangenehmer Verfügung zu gewärtigen habt.“

Nur das Ansehen, welches Kant genoß, und die Rücksicht auf die Universität, die dem großen Philosophen ihre Blüthe zu verdanken hatte, schützte diesen vor der Absetzung.

Ungeachtet solcher Maßregeln gerieth das Wöllner’sche Religions-Edict und die von ihm eingesetzte Examinations-Commission in die tiefste Verachtung; die öffentliche Meinung erklärte sich entschieden gegen Beide. Der Geist der wissenschaftlichen Aufklärung und Toleranz, den Friedrich der Große für Preußen heraufbeschworen, ließ sich nicht mehr bannen. Nach dem Tode des Königs erhielt Wöllner seinen Abschied, und mit ihm stürzte sein System der Verfinsterung. Zwar fehlte es ihm bis in die neueste Zeit nicht an Nachfolgern: die pietistische Partei suchte immer wieder ihren verlorenen Einfluß zurück zu gewinnen, was ihr auch hier und da in gewissen Kreisen gelang; aber der gesunde Sinn des ganzen Volkes hat sich stets offen und kräftig gegen die Bestrebungen dieser „neuen Dunkelmänner“ erklärt und mit richtigem Instinct sie zurückgewiesen. Das von seinem protestantischen Bewußtsein getragene Preußen ist kein günstiger Boden für Religions-Edicte und die ihnen ähnliche Regulative. Das einmal entzündete Licht der Wissenschaft und Bildung strahlt hell genug, um die zuweilen noch aufsteigenden Wolken des Pietismus zu verspotten. Die Sonne des großen Friedrich bricht, wie wir erst neuerlich vom preußischen Ministertisch gehört, immer wieder in ungetrübtem Glanze hervor.

Max Ring.




Wanderungen im südlichen Rußland.
Von Dr. Wilhelm Hamm.
3. Jagdfahrten.

Es war schon ziemlich spät des Abends, als wir, der frischen Kühle nach fast unerträglicher Tageshitze uns erfreuend, im traulichen Gespräch auf der Gartenterrasse des Herrenhauses von Baratofka saßen. Plötzlich drang aus nicht zu großer Ferne ein entsetzlicher Ton durch die Stille der Nacht, langgezogen, rauh, heiser und doch laut, markdurchschütternd. Unwillkürlich fuhr ich auf, in demselben Augenblicke rannten die beiden großen Windhunde, welche zu unsern Füßen gelegen, mit heftigem Gebell davon, gleichzeitig erklang von allen Seiten das disharmonische Geläute der vielen Hunde des Gutes und Dorfes.

„Was war das?“ fragte ich mit einiger Spannung.

„Nichts,“ entgegnete der Gutsbesitzer, mein Freund, indem er sich eine frische Papyros kunstgerecht drehte, „es war ein Wolf.“

„Wie, die Raubthiere wagen sich so nahe an die Gehöfte, und zwar jetzt, mitten im Sommer, wo sie keine Noth haben?“

„Sie thun dies nur, wenn man ihnen die Jungen genommen hat,“ sagte der Freund.

„Und Sie haben einer Wölfin die Jungen genommen, und sie sind hier und ich kann sie sehen?“

„Gern und im Augenblick. Sergei!“ Der Reitknecht entfernte sich rasch nach den Ställen.

Das Concert, dessen Beginn wir so eben vernommen, dauerte fort, aber in weiterer Entfernung. Ich ward vom Eifer der Jagd ergriffen, bat um eine Flinte und Begleitung.

„Ihre Mühe würde ganz vergeblich sein,“ bemerkte Herr v. G, „schon weicht der Wolf von den ihm nachbelfernden Hunden zurück, und wird in dieser Nacht nicht wiederkommen. Ueberdies ist es bei uns, die wir zu den echten Sportsmen zählen, nicht einmal Sitte, dem feigen Räuber mit der Flinte entgegen zu treten.“

„Aber wie denn?“

„Man fängt ihn einfach mit der Hand.“

Ich lächelte achselzuckend, denn ich glaubte an einen Scherz.

„Es ist mein voller Ernst,“ sprach mein Freund, „und mehr noch, ich verspreche Ihnen den Augenschein; Sie sollen eine Wolfshetze mit ansehen, ja dabei mitwirken, wenn Sie anders nicht vor einem kleinen Kirchthurmrennen zurückschrecken.“

In diesem Augenblick trat Sergei in das Zimmer, in welches wir uns mittlerweile aus dem Garten begeben hatten, und hielt in jeder Hand ein Wölflein an der Nackenhaut, wie man auch die jungen Hunde trägt, ein drittes brachte ein Knabe nach. Es waren allerliebste Thiere; etwa sechs bis acht Wochen alt, hatten sie die Größe von Hunden desselben Alters, sahen aber weit mehr kleinen Füchsen ähnlich, besonders in dem klugen Gesicht mit der spitzen, glänzend schwarzen Schnauze; die aufgerichtet abstehenden löffelförmigen Ohren erschienen unverhältnißmäßig groß; das Fell war dicht behaart und glatt, hellbrauner Färbung. Man hätte die kleinen Räuberkinder wahrhaft lieb gewinnen können, so hübsch, zutraulich und ehrlich sahen sie aus; sie ließen mit sich machen, was man wollte, und spielten im Stall artig mit ihren Milchbrüdern, jungen Jagdhunden, deren Mutter die wilden Findlinge unbedenklich sofort an Kindesstatt für die ersäuften eigenen Sprößlinge angenommen hatte. Aber alle Liebenswürdigkeit schien Verstellung, denn von Zeit zu Zeit schoß aus den runden, großen, schwarzen Augen der Wölfchen ein so falscher, grimmiger Blick, daß man in diesem all die schlummernde Blutgier und Erbarmungslosigkeit ihrer Race zu lesen glaubte. Wenn man sie auf den Schooß nahm oder an dem Licht hin und her drehte, dachten sie nicht einmal daran, ihre schon ganz respectabeln spitzen Zähnchen zu zeigen; kaum aber waren sie auf den Fußboden gesetzt, so verkrochen sie sich in die finstersten Winkel, und es hielt schwer, sie wieder hervorzukriegen; besonders einen, der sich dermaßen zwischen Wand und Pult eingeklemmt hatte, daß es ihm selber fast unmöglich gewesen wäre, sich wieder zu befreien. Natürlich regte der Anblick der Gefangenen meine Jagdlust noch mehr an, und ungeduldig fragte ich: „Wann? Wie?“ Aber ich ward bedeutet, daß zu einer Wolfshetze mancherlei Vorkehrungen nothwendig seien, daß man vor Allem das Versteck des Feindes aufspüren müsse, wozu die erforderlichen Schritte noch an demselben Abend ernstlich besprochen wurden. Damit mußte ich mich denn vorläufig begnügen, obgleich ich am liebsten gleich auf der Stelle geritten wäre; zur Entschädigung wurden mir aber inzwischen andere Jägerfreuden in Aussicht gestellt.

Am nächsten Morgen machten wir eine Fahrt durch die Felder. Endlos dehnte sich der gelbe Weizen, der mit schweren, vollen Aehren nickte, der Roggen auf mannshohen Halmen, die bärtige Gerste, der Hafer mit seinen zitternden Rispen und die dunkelgrüne Leinsaat, welche aussah, wie ein hochgeschorener Teppich. Nicht weit, und es zeigte sich eine räthselhafte Erscheinung. Aus der Mitte eines reifen Weizenfeldes reckte sich bei unserem Nahen eine Menge dunkler Gegenstände hervor, gleich Pfählen, aber sie bewegten, drehten, duckten und entfernten sich. Noch war ich meiner Sache nur halb gewiß, da rauschte es, und mit schmetterndem Flügelschlag [204] brauste eine große Heerde prächtiger Trappen dahin und senkte sich, vollkommen in Sicht, ein paar tausend Schritte weiter. Und jetzt hoben sich überall, nah und fern, die spitzen, lauschenden Köpfe der stattlichen Vögel über die Halme empor, viele Hunderte konnte man mit einem Rundblick gewahren. Gerechter St. Hubertus, und ich hatte keine Büchse! Vor ungeduldiger Aufregung vermochte ich kaum im Wagen sitzen zu bleiben. Ich gedachte der Trappenjagd im lieben Vaterland, wie man da lange vor Sonnenaufgang hinaus und Viertelstunden lang geduldig wie ein Fuchs zwischen Saaten und Kartoffelzeilen dahin kriechen muß, um das überaus scheue und seltene Hochwild, das in Deutschland von Jahr zu Jahr mehr verschwindet, zu beschleichen, und wie doch am Ende alle Mühe, alle Anstrengung vergeblich ist. Hier war es anders, die Thiere schienen vorsichtig, aber wenig scheu, oft ließen sie den Wagen bis auf zwanzig Schritte herankommen, ehe sie aufflogen. Es ist ein weit verbreiteter Irrthum, daß die Trappe eines Anlaufs bedürfe, ehe sie sich zum Flug zu erheben vermöchte; ich habe hundertmal gesehen, wie sie sich, erschreckt, augenblicklich in die Luft wirft, und diese sehr kräftig und rasch durchschneidet. Die Zahl der in den Saaten hausenden Trappen war eine außerordentliche und es ist bei ihrer Größe und Schwere leicht begreiflich, welchen ungemeinen Schaden sie thun. So sehr man dies auch einsieht, so ist man doch eines Theils daran gewöhnt, andern Theils spendet die Natur hier ihre Gaben in so reicher Fülle, daß man sich nicht die Mühe gibt, dem Uebel eifrig Einhalt zu thun.

Also ein Paradies für Jäger! Wäre es uns doch beinahe gelungen, eine junge Trappgans lebendig zu fangen. Dicht vor den Pferden lief das verwirrte, tölpische Ding quer über den Weg,

„Fangt sie!“ rief mein Begleiter, der die Zügel führte; mit einem Satz war ich vom Wagen, der uns zur Seite reitende Verwalter vom Pferde, und wir hätten sie ganz gewiß erhascht – denn sie hatte noch einen Monat Zeit bis zur vollkommenen Flugfertigkeit – aber der schöne Weizen dauerte uns denn doch zu sehr, als daß wir nicht bald, trotz der nachgerufenen Anfeuerung des Besitzers, von der athemkostenden Hetze abgelassen hatten. Aber kaum zurückgekehrt, ging es an die Auswahl einer Flinte unter den vorhandenen, sehr übel behandelten Waffen des Landsitzes; dann mußte sie geputzt, probirt, Schrot zusammengesucht und Patronen gemacht werden, denn eine Trappe wollte und mußte ich schießen. Daheim war mir’s, trotz öfterer Versuche, niemals gelungen.

Der nächste Tag war ein Sonntag. Frühzeitig am Morgen schon machte ich mich ganz allein, ohne Jemand ein Wort zu sagen; weil ich große Begleitung fürchtete, auf den Weg hinaus in die Steppe. Es war ein prachtvoller, aber heißer Tag, zu Allem eher geeignet, wie zu einem Pürschgang, Allein der erwachte Jagdeifer ließ mich Alles vergessen, selbst, daß ich auf’s Gerathewohl in die weite Oede wanderte, wo kein Markzeichen vor dem Verirren schützt. Die Entfernung bis zu den Getreidefeldern, wo ich mein edles Wild vermuthen konnte, war groß; ziemlich ermüdet und von der Sonnengluth gedrückt, erreichte ich endlich das Revier. Der Weizen war zum großen Theil abgebracht und stand in Mandeln. Vorsichtig schlich ich von einer zur andern, um das Terrain zu recognosciren, Plötzlich gewahrte ich die Trappen. Etwa tausend Schritte feldein äßte sich eine große Heerde, sorglos, als wisse sie, daß heut ein Tag des Friedens sei, zwischen den aufgethürmten Getreidehaufen. Vor allen Dingen suchte ich jetzt das plötzlich eingetretene Fieber, das sich mit hämmerndem Herzklopfen bemerkbar machte, zu bewältigen; es gelang mir nicht ganz, obgleich ich ein ziemlich versuchter Jäger bin. Alsdann begann ich das Anschleichen, den Wind brauchte ich nicht zu berücksichtigen, denn die Luft war vollkommen still. An der Erde hinkriechend, jeden höheren Stoppelbusch, jede vergessene Distel als Deckung benutzend, unbeweglich, so lange ich die Hälse der Trappen verdächtig emporgereckt wähnte, schob ich mich von Mandel zu Mandel. Langsam aber sicher rückte ich dem Wilde näher, die peinigende Ungeduld mit Mühe bezähmend. So war ich vielleicht auf hundert Schritte hinzugekommen, mit äußerster Behutsamkeit spähte ich hinter meinem Versteck hervor nach den stattlichen Vögeln, bis zu welchen die kurzen Rohre meiner Doppelflinte nicht reichten –, denn ich will es gestehen, daß ich, allem Waidmannsbrauch entgegen, Schrot führte und nicht die edle Kugel, die solchem Wild gebührt. Die Trappen gingen träg und anscheinend arglos hin und her, zuweilen ein Korn vom Boden aufpickend, dann wieder die Köpfe hoch emporstreckend, um zu sichern; ein gutes Geschick schien sie auf ihrer Promenade meinem Stand entgegen zu führen. Ein alter, gravitätischer Hahn mit gewaltigem Schnurrbart à la Haynau schritt dem Volke voran; er war ihm nicht blos Führer, sondern auch Wächter. Eben, als ich wiederum nur mit dem halben Auge vorlugte, um die noch übrige Entfernung prüfend zu messen, blieb er plötzlich stehen – offenbar sah oder witterte der erfahrene Schelm etwas Ungehöriges. Und richtig, ich war verrathen – denn plötzlich breitete das ganze Geschwader, wie auf ein gegebenes Zeichen, die Fittige aus, und dahin flohen die scheuen Vögel und ließen mir ein ärgerliches Nachsehen. Was half es, daß ich sie in nicht großer Weite wieder einfallen sah? Zwar versuchte ich, indem ich einen Haken schlug, ein abermaliges Beschleichen, aber es mißlang noch weit schneller, als das erste; denn einmal erschreckt, ist die Trappe das vorsichtigste Wild, welches es gibt, und auch dem geduldigsten Schützen wird es dann nicht mehr gelingen sie zu berücken.

Schwer verdrossen, wanderte ich einer anderen Richtung der Steppe zu. Die Sonne brannte nunmehr scheitelrecht herab und mit jedem Schritte stieg die Schale der Jagdlust höher gegenüber derjenigen der Erinnerung an das kühle Gemach und den köstlichen Trunk des eisgekühlten Quaß, die mich erwarteten. Ich wandte mich zur Rückkehr; da kam quer über die Ebene daher ein einzelner Bauernwagen heran, gerade auf mich zu. Es war Sergei, der getreue Tabunschtschik (Roßhirt), welchen sein Gebieter nachgesandt hatte, um feurige Kohlen auf des Flüchtlings schon hinreichend glühendes Haupt zu sammeln, indem er mir das einzige Mittel zu einer wirklich erfolgreichen Jagd bot. Ich schwang mich auf den Strohsitz des schmalen Gefährts hinter den bärtigen Lenker, der mir, mehr durch Zeichen, als durch Worte, verständlich machte, daß ich mich nunmehr gänzlich seiner Discretion zu überlassen habe, in einem weiten Bogen führte er mich darauf durch die Steppe in eine andere Abtheilung der Getreidefelder, wo die Früchte noch auf ihrem Halme standen. Ehe wir den Rand derselben erreichten, bedeutete mich Sergei, abzusteigen und hinter der langsam fahrenden, von einem kleinen Klepper gezogenen Teljäga herzuschreiten. So kamen wir auf den schmalen Weg, welcher die einzelnen Weizenäcker von einander scheidet; die Flinte hatte ich vor mir auf den Wagen gelegt, der blos zur Brusthöhe reichte. Schon ehe ich selbst des erhofften Wildes ansichtig ward, gab die plötzliche Aufregung meines Führers mir davon deutlicher Kunde, als mir lieb war. Nicht eine Minute mehr konnte er ruhig sitzen bleiben, alle Augenblicke fuhr er herum, riß den Mund auf, kniff die Augen zu und machte so lächerliche Grimassen, daß ich kaum an mich zu halten vermochte; all mein zorniges Nicken und Faustdrohen war vergeblich; begütigend duckte er sich nur nieder, um im nächsten Augenblicke abermals herumzufahren und von Neuem Fratzen zu ziehen. Aber ich sah nicht mehr nach ihm, denn dort erschien das Wild. Ueber den Halmen reckten sich die bekannten Köpfe empor, und zwar auf beiden Seiten des Weges, weithin im Getreide vertheilt; ein Volk von wenigstens sechzig Stück Trappen ging hier auf der Aeßung. Der Wagen aber schien keinen besonderen Eindruck auf sie zu machen, denn nachdem sie ihn neugierig betrachtet, duckten sich da und dort die Köpfe wiederum nieder, um fortzufahren in der unterbrochenen Beschäftigung.

Die Flinte hatte ich schußfertig in der Hand – da plötzlich schlug es mir zur Rechten mit lautem Schall die Luft, ein starker Hahn stieg keine dreißig Schritte von mir auf – aber er sank auch eben so rasch wieder. Ich hatte einen glücklichen Schuß gethan, freudig erregt sprang ich der prächtigen Beute zu, während weit und breit die Schaaren der Räuber, auf so unerwartete Weise aus ihrem Reviere geschreckt, in großen Flügen enteilten. Der erlegte Vogel war ein ausgewachsener junger Hahn, gegen dreißig Pfund schwer, mit glänzendem, schwarz gewässert rostbraunem Gefieder auf dem Rücken, Hals, Kopf und Brust hellgrau, die Ständer fast armstark, überaus kräftig, die unten weißen, an der Spitze dunkelbraunen Schwungfedern hatten fingerdicke Kiele. Mit Hülfe Sergei’s, der sich wie närrisch gebehrdete und einen Kriegstanz um das erlegte Wild halten zu wollen schien, hob ich die Beute auf den Wagen, und vollkommen befriedigt traten wir den Rückweg an. Hierbei will ich zu erwähnen nicht unterlassen, daß das in Deutschland allgemein verbreitete Vorurtheil von der Ungenießbarkeit des Trappenfleisches – es sei denn einige Tage in der Erde vergraben gewesen – von den Russen nicht getheilt wird, und ich habe mich genugsam davon zu überzeugen Gelegenheit gehabt, daß es einen sehr schmackhaften, vortrefflichen Wildbraten abgibt, welcher dem des Auerhahns weit vorzuziehen ist. Allerdings legt man es gern

[205] 

Wolfshetze in der Steppe.

[206] in Essig, gesäuerte Milch oder in Quaß, ehe es an den Spieß kommt.

Unsere Heimfahrt führte an einem jener künstlichen, durch Aufdämmung gebildeten Teiche vorüber, in welchen das Winterwasser sich sammelt, den Heerden der Steppe zur Tränke. Er war rings mit hohem Schilf umkränzt, nur da und dort waren tiefe Pfade von den Weidethieren bis zum Wasserspiegel hindurchgebrochen. Wir scheuchten eine Kette Krickenten auf, aber die kleinen schwarzen Streckhälse waren schon weit, ehe ich auf dem Wagen fertig wurde. Auch ein paar Spießenten rauschten empor; zwar knallte ich hinter den bei uns ziemlich seltenen Wanderern drein, aber leider vergeblich. Der Jagdeifer war ohnedies erstickt in der fabelhaften Gluth des Himmels, der über uns lag, wie ein Brennspiegel, die Zunge klebte mir am Gaumen, ich wollte vom Wagen springen und vom schlammigen Wasser des Teiches schöpfen, allein Sergei litt es nicht, indem er mich auf wenige Schritte vertröstete. In der That enteilte er nicht lange darauf plötzlich und kam nach kurzem Verzug wieder, schwer beladen mit einer Last, die er im Schooße seines Kittels oder Hemdes – das Kleidungsstück ist Beides – herbeischleppte. Es waren Gurken, welche unterhalb des Teiches, der zur Bewässerung diente, in weiten Feldern angepflanzt standen. Sie sind eine Lieblingsspeise der Russen, und zwar roh, höchstens geschält, aber nicht immer, und mit etwas Salz; so findet man sie selbst auf den besten Tafeln. Dem Beispiel meines Begleiters folgend, machte ich mich rasch daran, rohe Gurken zu verspeisen, zum ersten Male in meinem Leben; sie löschten trefflich den Durst, und obgleich ich gewiß ein halbes Dutzend davon zu mir nahm, fühlte ich keinerlei Beschwerde darnach. Sergei hatte freilich durch mehrmalige auffallende Bewegung der Hand zum Munde und mit schmachtend nach dem Himmel gerichteten Augen, während seine Lippen das magische Wörtlein „Wodka“ murmelten, deutlich zu verstehen gegeben, was zu solcher Kost gehöre, allein ich konnte dem Guten nicht helfen. Uebrigens brachte er, denn es war ja Sonntag und jedem Tage muß sein Recht werden, die Entbehrung reichlich wieder ein, wie ich mich am lichten Abend überzeugen konnte, als ich ihn im Stalle zwischen den Pferden liegend fand, die anscheinend an diese Vertraulichkeit durchaus gewöhnt waren und sie respectirten.

Das Glück der ersten Jagdfahrt bewährte sich nicht auf den folgenden. Es war gerade, als hätten sich die Trappen meilenweit in der ganzen Umgegend die drohende Gefahr und die List des Menschen mitgetheilt; denn fernerhin ließ niemals wieder ein Volk den Wagen bis zur Schußweite herankommen. Die Vorsicht und Scheu dieser großen Vögel mußte ich bewundern, so sehr ich mich darüber auch ärgerte. Der Ersatz war, dem Quantum und der Jagdfreude nach, ein ziemlich geringer; der tägliche Gegenstand der Suche waren Wachteln, deren die Steppenfelder unzählige Mengen bergen und welche in der Erntezeit außerordentlich fett sind. Dazu braucht man einen guten Hund; der, welcher mir zu Gebote stand, war gut, aber nur für sich; er dachte nicht anders, als der Jäger mache sich seinetwegen alle die Mühe, und spielte daher den angenehmen Wirth, der jeden Braten anschneidet, ehe ihn der Gast erhält. Seufzend oder fluchend, je nachdem, dachte ich manchmal sehnsüchtig an die gute Diana daheim und an ihre wohlgerathene Tochter Cora, der es im alten Sachsenlande gelungen war, was man nur in Amerika noch möglich glaubt, nämlich vor dem letzten Bieber zu stehen. –

(Schluß folgt.)




Winke für Eltern über die Geistesschwäche kleiner Kinder.

Erkennung und Behandlung der ersten Spuren der Geistesschwäche.
Von Auguste Herz.[1]

Das geistige Thätigsein des Menschen ist, wie bekannt, innerhalb unseres Körpers einem bestimmten Organe, dem Gehirne, übertragen. Es muß nun aber diese Tätigkeit des Gehirns mit Hülfe von Eindrücken und Empfindungen, zumal von der Außenwelt her durch die Sinne, ganz allmählich entwickelt werden. Krankhafte Zustände des Gehirns, sowie der Sinnes- und Empfindungsorgane können beim Kinde diese Entwicklung aufhalten, verzögern oder auch ganz und gar verhindern. Aber nicht immer scheinen derartige Zustände an der mangelhaften oder verzögerten Geistesthätigkeit schuld zu sein, bisweilen hängt sie wohl auch von unvollständigen, unzureichenden und falsch geleiteten Eindrücken auf die (vielleicht zu schwachen, weniger reizbaren) Sinnes- und Empfindungsorgane, und durch diese auf das (möglicher Weise etwas träge) Gehirn des Kindes ab. In solchen Fällen bleibt das Kind in seiner geistigen Ausbildung in der Art zurück, daß es erst weit später und unvollkommener die verschiedenen Zeichen des allmählichen und immer mehr zunehmenden Erwachens des Geistes an sich gewahren läßt.

Um nun einer solchen in Folge mangelhafter Erregung des Gehirns entstehenden Geistesschwäche gehörig erfolgreich entgegentreten zu können, ist ihr baldiges Erkennen durchaus erforderlich, und ebenso die Erregung der Sinne und des Gehirns durch passende Eindrücke. Man muß deshalb auf das Gebahren des Kindes in seiner ersten Lebenszeit gehörig aufmerksam sein und stets darnach forschen, ob die Geistesäußerungen desselben der Altersstufe, auf welcher es steht, entsprechen oder nicht. Um dies zu können, muß sich natürlich eine Mutter über die naturgemäße geistige und körperliche Entwicklung und über die richtige Pflege des Geistes und Körpers des Kindes gehörig unterrichten (s. Gartenl. 1854. Nr. 51 und 1855. Nr. 9.). Es ist in der Regel ganz falsch, wenn Eltern glauben, daß ihr geistesschwaches Kind vorher geistig ganz gesund und nun plötzlich erkrankt sei; sie haben früher das Kind nur nicht aufmerksam genug beobachtet oder sie hatten eben keine Kenntniß von den Erscheinungen beim naturgemäßen Entwicklungsgange des Geistes. Möchte es mir gelingen, durch einige Beispiele die Aufmerksamkeit der Eltern, besonders der Mütter, auf diesen Gegenstand zu ziehen, damit von diesen in Zeiten der Geistesschwäche ihrer Kinder vorgebeugt werden könne.

In einer Familie führte man mir ein 41/2jähriges Mädchen vor. Das Kind (Lieschen) war seinem Alter angemessen groß, von gesundem, ebenmäßigem und kräftigem Körperbau[WS 3] und in ruhigen Momenten von ganz angenehmem Gesichtsausdrucke. Nur der Ausdruck des Auges sprach von geistiger Armuth und Störung, die denn auch durch völlige Sprachlosigkeit sich zu erkennen gab. Eine Unruhe, die fast an Raserei grenzte, trieb das Kind pfeilschnell[WS 4] im Zimmer umher, ließ es Tische, Stühle und Commoden erklimmen, und nur von Zeit zu Zeit machte sich ein kurzer Moment der Ermüdung geltend, in welchem das Kind sich auf den Fußboden legte, und sichtlich nach kühlen Stellen suchte, an welche es die heiße Stirn fest andrückte. Alle Bewegungen aber wurden von ihm entweder mit wildem, schallendem Gelächter oder mit trällerndem Gesange begleitet. Oft geschah es bei diesem ruhelosen Treiben, daß das Kind heftig sich stieß oder auch fiel, doch kein Laut verrieth Schmerz oder sonst Bewußtwerden oder Beachtung des Geschehenen, ja der Vater des Kindes versicherte mir sogar, daß es einmal mit bloßen Füßen durch ein Gewächshausfenster getreten sei, sich bedeutend verletzt habe, doch ohne Schmerz zu äußern mit blutenden Füßen im sandigen Boden weiter gelaufen sei. Wie vergeblich auch alle Bemühungen schienen, des Kindes Aufmerksamkeit auf seine Umgebung zu lenken, so gab es doch auch selbst für diese umnachtete Seele ein Mittel, eine Sprache, welche Eindruck zu machen im Stande war, und dieses Eine war die Musik. Ein einziger Accord auf dem Pianoforte angeschlagen, verscheuchte die Aufregung und Unruhe des Mädchens. Still setzte es sich dann neben das Instrument, und erst die Töne mit rhythmischen Bewegungen des Kopfes begleitend, dann sogar leise, bald immer lauter die Töne nachahmend, kam Ruhe und Frieden über das kleine unglückliche Wesen. Doch kaum, daß der letzte Ton verklungen war, so stellten die alte Unruhe und das zwecklose Umhertreiben sich wieder ein. Weitere Beobachtungen machte ich an diesem Kinde bei meinem ersten Besuche nicht, sondern folgte dem Vater in ein anderes Zimmer, und machte hier die Bekanntschaft des 21/2jährigen Bruders des eben verlassenen Mädchens.

Die Sorgen der Eltern um dieses Kind waren weit geringer, sie bezeichneten mir den Kleinen nur als körperlich leidend; ich aber erkannte doch sofort, daß auch hier, wie bei der Schwester, Blödsinn sich vorbereitete. Der Knabe, bleich und schwächlich, saß am [207] Erdboden, nicht achtend auf das Spielwerk, das ihn umgab, sondern dicht vor den Augen hielt er die kleinen schwachen Händchen erhoben, und erfreute sich sichtlich an den Bewegungen der ausgespreizten Fingerchen. Auf meine Frage an die Eltern, ob der Knabe oft so, wie eben jetzt, mit seinen Händchen spiele, ward mir der traurige Bescheid, daß dies fast die einzige Beschäftigung desselben sei. – Da nun das gleichmäßige Hin- und Herbewegen der Händchen vor den Augen bei einem gesunden, natürlich sich entwickelnden Kinde ungefähr im dritten Lebensmonate wahrgenommen wird, so mußten sich die Geisteskräfte bei diesem 2½ jährigen Kinde noch auf einem Standpunkte bewegen, auf welchem ein gesundes Kind schon im ersten Vierteljahre seines Lebens steht. Es beweist dies, daß das betreffende Kind, wenn es auch körperlich vorgeschritten, doch in seiner geistigen Entwicklung mindestens um zwei Jahr zurückgeblieben war.

Zuletzt wurde mir auch das dritte und jüngste Kind der Familie, ein Knabe von drei Monaten gezeigt. Das Kind war für sein Alter groß und stark, auch waren seine Bewegungen natürlich und kräftig.

„So wie Sie das Kind hier erblicken,“ sagte der bekümmerte Vater, „war unser Lieschen in demselben Alter auch, und es bleibt mir ein ungelöstes Räthsel, wie so plötzlich das Unglück gekommen sei.“

„Ob es wohl in Wirklichkeit so plötzlich gekommen?“ fragte ich damals schon mich selbst, und mußte mir diese Frage mit Nein beantworten. Erschien doch auch heute dem Vater sein jüngstes Kind als gesund, während mir das Auge desselben etwas ganz Anderes sagte. – Die Augen des Kleinen waren groß und schön zu nennen, aber sie hatten einen eigenthümlichen Ausdruck, den ich nicht das erste Mal sah, und der mir, so oft ich ihn beobachtete, immer der Verräther einer sich entwickelnden Gehirnschwäche war. – Wenn solche Kinder einen Gegenstand mit ihren Augen erfassen wollen, blicken sie (ich vermag es nicht anders zu beschreiben), gewissermaßen erst in den zwischen dem Gegenstande und ihrem Auge liegenden leeren Raum, wobei sie den Kopf in nickender Bewegung, als wollten sie ihn dem Gegenstande näher bringen, nach vorn neigen. So erreichen sie mühevoll nach und nach erst, was ein gesundes Kind mit Blitzesschnelle erfaßt. Und eben so langsam und fast eben so schwerfällig sehen wir den Blick eines solchen Kindes von dem Erfaßten zurückkehren.

Wenn uns, wie bei diesen drei Kindern, Erscheinungen einer mangelhaften Sinnes- und Geistesentwickelung an einem Kinde vorkommen, so muß der naturgemäße Entwickelungsgang, wie er an jedem gesunden und richtig geleiteten Kinde beobachtet wird, für uns den Maßstab zur Beurtheilung und Anleitung zur Behandlung jener abnormen Erscheinungen abgeben. Ich fragte mich deshalb beim Beginne der Behandlung der erwähnten Kinder: wie zeigt sich das Sinnesleben zuerst bei dem 4½jährigen Kinde im Vergleich zu seinem Alter?

Der Geschmacksinn war vorherrschend, ja, er zeigte sich entartet, insofern, als das Kind unnatürlich viel zu essen vermochte und bei dem Essen selbst eine thierische Hast an den Tag legte. Der Gefühlssinn war, wie aus den angeführten Beispielen der Unempfindlichkeit beim Fallen und Stoßen ersichtlich, kaum mangelhaft entwickelt. – Der Gesichtssinn, obwohl in der natürlichen Folge der Entwickelung der nächste, zeigte sich doch viel weniger thätig, als der Gehörsinn. Diese Erscheinungen zusammengenommen, stellte sich die Gesammtsumme der Sinnesthätigkeit bei diesem Mädchen nicht größer dar, als die, welche an einem sechs Wochen allen Kinde beobachtet wird. Der Entwickelungsgang eines gesunden Kindes, als Richtschnur für die Behandlung des vorliegenden Falles genommen, gab mir nun Folgendes an die Hand. Zunächst mußte das Gefühl des Kindes besser erregt werden. Diese Absicht erreichte ich durch tägliche kalte Abreibungen, die ich gleich des Morgens nach dem Erwachen vornehmen ließ. – Ferner mußte der Geschmackssinn und der mit ihm zusammenhängende Nahrungstrieb auf sein natürliches Maß zurückgeführt, d. h. beschränkt werden. Hier ging ich zunächst vom Entwöhnen aus, indem ich zuerst die Umgebung des Kindes anwies, diesem nur die Nahrungsmittel sehen zu lassen, die zur Befriedigung seiner Bedürfnisse wirklich bestimmt waren; dann aber wurde auch die Nahrung des Kindes selbst so viel als möglich vereinfacht, um durch Mannichfaltigkeit den Geschmackssinn nicht zu reizen. Anlangend die Pflege der höheren Sinne, des Gesichts und Gehörs, so war hier für mich die Erscheinung an gesunden Kindern maßgebend, daß, sobald mit nur einigem Bewußtsein Eindrücke auf Augen und Ohr wahrgenommen werden, diese Sinne, in ihrer Thätigkeit sich gegenseitig unterstützen, verbinden und ergänzen. Das Kind wird da mit den Augen dem Orte sich zuwenden, von woher ein Eindruck auf das Ohr geschah, so, wenn eine Thüre mit Geräusch sich öffnet oder schließt, wenn ein Gegenstand zu Boden fällt etc. Ich mußte daher zu Schärfung der Aufmerksamkeit des Gesichtssinnes ein Mittel suchen, durch welches auch das schon empfängliche Gehör angesprochen wurde. Das Kind hatte Wohlgefallen an Musik gezeigt. Hier knüpfte ich an, indem ich eine Spieldose vor den Augen des Kindes aufzog und sie ihm dann ans Ohr hielt. Die Wirkung blieb nicht aus. Fest hielt es das Ohr an’s Kästchen gedrückt, als aber das Stück zu Ende war und die Spieldose schwieg, sprang es in gewohnter Hast durch’s Zimmer. Ein öfteres Wiederholen dieses Spieles hatte in kurzer Zeit zur Folge, daß des Kindes Interesse für dieses Spiel wuchs und nun auch das Auge dem Ohre folgte. Das Kind betrachtete nicht nur mit Aufmerksamkeit die Dose, es suchte auch darnach, wenn ich dieselbe irgend wo versteckt spielen ließ, und kam endlich ganz von selbst zu der überraschenden Schlußfolgerung, daß der Schlüssel, mit dem ich das Spielwerk aufzog, und die Dose selbst zusammen gehörten; als ich im Gespräche mit den Eltern war, brachte mir die Kleine Dose und Schlüssel, nahm meine Hand und gab mir in ausdrucksvoller Gebehrde ihren Wunsch zu erkennen, daß ich ihr die Dose aufziehen möchte.

Hatte nun unsere Kleine auch einen recht glücklichen Anfang gemacht, auf die eben beschriebene Entwickelungsstufe sich zu erheben, so waren die Lebensäußerungen der höheren Sinne doch noch nicht beständig genug, und es bedurfte lang fortgesetzter und mannichfaltiger Anregung, um das einmal Erreichte zu befestigen. Die Mittel, welche hier einzeln in Anwendung kamen, waren immer nur dieselben, welche bei natürlicher Entwickelung von liebenden Müttern und Pflegerinnen spielweise in Anwendung gebracht werden und hier anzuführen kaum nöthig sind.

Zwischen dem vierten und fünften Lebensmonate ist das gesunde Kind in seiner Entwickelung zum Selbstbewußtsein in der Regel bereits so weit vorgeschritten, daß es sich selbst als Einzelwesen erkennt und auf seinen Namen hört. – Lieschen stand dieser Entwickelungsstufe noch fern, d. h. sie hörte noch nicht auf ihren Namen. Viele Versuche, dieses Verständniß in ihr zu erwecken, waren bereits gescheitert, bis endlich ein weiterer Versuch das gewünschte Ziel mich richtig erreichen ließ. Eines Morgens reichte ich dem Kinde als Frühstück ein Stück Brod mit Salz und wanderte dann mit ihr in Begleitung des Vaters einem einsamen Wäldchen zu. An dem erwählten Orte angelangt, forderte ich den Vater des Kindes auf, sich ein Versteck zu suchen, von wo er mich und das Kind zwar sehen, doch von Letzterem nicht wahrgenommen werden könnte. Ich selbst wählte mir, dem Kinde näher, als der Vater, ein gleiches Versteck. Der weite Weg hatte die Kleine sichtlich ermüdet und bald legte sie sich, die Einsamkeit nicht achtend, an den Boden nieder und entschlummerte schnell. Eine Stunde wohl mochte sie so gelegen haben, als sie erwachte und mit sichtlicher Verwunderung über die fremde Umgebung sich umblickte. – Bald wurde sie unruhig und der Durst, eine Folge des genossenen Salzbrodes, mochte sich wohl geltend machen. Immer unruhiger und bewegter ward ihr Wesen, fragend und suchend der Ausdruck ihrer Augen. Ihre im Hause immer unstäten, zwecklosen Bewegungen wurden hier natürlicher, je peinlicher sie ihre Lage, namentlich den Durst, fühlen mochte. Suchend streiften ihre Augen von Ort zu Ort mit einem Ausdrucke, der volles Bewußtsein ihres Bedürfnisses zeigte. Als so die Unruhe und das Gefühl der Hilflosigkeit den beabsichtigten Höhepunkt erreicht hatte, ließ ich von meinem Versteck aus die heitere Melodie eines Liedes erklingen, das in des Kindes Seele lebte und das sie oft zu Hause mit heller Stimme gesungen hatte. Die bekannten Klänge brachten einen mächtigen Eindruck auf das Gemüth der Kleinen hervor. Ihre unruhigen Bewegungen hörten auf, still lauschte sie dem Liede und leise hörte ich sie in meinen Gesang mit einstimmen. – Als aber das Lied verklungen war und ihr Auge vergeblich nach einem Menschen umherblickte, setzte sie sich plötzlich nieder und war in der Art und Weise, wie sich jetzt ihr Schmerz zeigte, wie umgewandelt. Ganz in der Art, wie ein noch sprachunfähiges Kind seine Seelenstimmungen durch unarticulirte Laute zu erkennen gibt, so grollte und zankte das kleine ohnmächtige Geschöpf. Jetzt, auf einen von mir gegebenen Wink trat der Vater in des Kindes Nähe und rief ihr wiederholt mit freundlichen Worten die Frage zu: „Wo ist mein gutes Lieschen?“ Das Kind lauschte aufmerksam auf den Ruf, erhob sich dann und suchte jetzt mit ruhigem, bewußtem [208] Blick den Sprecher und eilte bald mit dem sichtlichen Ausdrucke des Erkennens in die Arme des erfreuten Vaters.

Ich machte hier, wie vor- und nachher oft, die höchst erfreuliche Erfahrung, daß, wenn es uns nur einmal gelungen ist, durch unsere Bemühungen wie durch einen elektrischen Schlag auf die schwache, kranke Stelle im Organismus belebend und erregend einzuwirken, die weitere Entfaltung und Entwickelung sich wie von selbst macht. Die Natur, einmal nach überwundenem Widerstände in die richtige Bahn eingewiesen, wird hier, wie in vielen anderen Fällen, ihr eigener Arzt und Lehrer. Lieschen erkannte binnen kurzer Zeit nicht nur sich selbst, sondern Vater und Mutter, wie ihre ganze nähere Umgebung.

Aber auch für Hebungen höherer Art, welche die Erweckung der intellektuellen Fähigkeiten zum Zwecke hatten, zeigte sich das Kind von jetzt ab empfänglich. Bon solchen Uebungen sei eines Beispiels gedacht.

Ich gab der Kleinen ein Becken mit Wasser, eine Flasche mit sehr engem Halse, einen Trichter und ein Töpfchen zum Füllen der Flasche. Mit unermüdlichem Eifer füllte und leerte Lieschen die Flasche und füllte sie wieder. Da nahm ich ihr denn bald die Flasche, bald den Trichter oder das Töpfchen weg, um ihr so die Unentbehrlichen des einen wie des anderb Gegenstandes, so wie den Zweck eines jeden recht anschaulich zu machen. Das hatte zur Folge, daß sie selbst binnen Kurzem alles zu diesen, Spiel Nöthige so genau kannte, daß sie die Gegenstände sich auch unter vielen andern Dingen selbst hervorzusuchen und herbeizuschaffen verstand. – Oder ich schloß die Dinge vor ihren Augen weg, und ließ nun längere Zeit vergehen, ehe ich das Spiel wieder in Anregung brachte. Später dann fragte ich sie, indem ich ihr durch Vorzeigen des Beckens das Spiel selbst wieder in Erinnerung brachte, nach den noch fehlenden Gegenständen, und auch hier hatte ich die Freude, zu sehen, daß die Erinnerungskraft des Kindes sich thätig erwies, denn sie wußte nach kurzem Besinnen mich an den richtigen Ort zu führen, wo die Sachen verschlossen, holte das Nöthige heraus, und führte das einmal Erlernte und Verstandene richtig wieder aus. Fasse ich, was hier von meiner Behandlung des ältesten dieser drei Kinder gesagt worden, in Absicht auf den Erfolg zusammen, so hatte ich durch sorgfältige Leitung die Kleine im Verlauf eines halben Jahres vom Standpunkt eines achtwöchentlichen zu dem Standpunkt der Sinnes- und Seelenfähigkeiten eines zweijährigen Kindes erhoben. Und worin hatte mein Streben bestanden? Einfach darin, daß ich das Kind nicht nach seinem wirklichen Alter, sondern nach dem der an ihm wahrnehmbaren Entwickelungsstufe erfaßt hatte und demgemäß behandelte. Auf ähnliche Weise wurden auch die andern beiden Kinder, und zwar mit glücklichem Erfolge, behandelt.




Blätter und Blüthen.

Das Intelligenz und Anfrage-Bureau für Deutschland in London. Der persönliche und Warenverkehr zwischen Deutschland und England, besonders London, hat einen ungeheuren Umfang und Werth erreicht und steigt immer noch. Aber London ist auch reich an Bankrotteurs, Schwindlern und professionellen Betrügern, die lediglich von deutscher Leichtgläubigkeit oder mindestens Unkenntniß der Londoner Verhältnisse leben, Es sind hier Hunderte von Deutschen bekannt, die blos von deutschen Waaren leben, die sie nie bezahlen. Welche Flüche und Thränen redlicher deutscher Producenten und Fabrikanten hängen daran! Welche Aergernisse redlicher deutscher und englischer Kaufleute und Agenten hier!

Ein deutscher Schwindler in London verschreibt sich Waaren aus Deutschland und verweist für seine Respectabilität auf renommirte Bankier- und Kaufmannshäuser, an deren Namen er vielleicht nur einen Buchstaben im Vornamen ändert. Der deutsche Fabrikant, welcher recht sicher gehen will, läßt sich erkundigen. Der Freund oder der Brief, durch welchen er Erkundigungen einzieht, findet wirklich unter der gegebenen Adresse ein Kaufmanns-Bureau mit dem renommirten (unmerklich veränderten) Namen, ein Bureau, in welchem die Helfershelfer des Schwindlers mit alten (als Maculatur gekauften) ehrwürdig aussehenden Kaufmannsbüchern sitzen. Wer sich nun bei ihnen nach dem Schwindler, der in Deutschland Waaren bestellte, erkundigt, erfährt mit scheinbarer Gewissenhaftigkeit und Genauigkeit aus den alten Büchern, daß er an dem und dem Datum 500, ein andermal 800, später 1500, zuletzt über 2000 Pfund richtig am Verfalltage gezahlt, und einer der achtbarsten und reichsten Kaufleute sei. Auch haben manche Schwindler der größeren Sicherheit wegen noch zwei, drei andere scheinbar renommirte Geschäftshäuser als Garantieen für ihre Ehrenhaftigkeit. So kommt die bestellte Waare bald an. Manche deutsche Fabrikanten und Engros-Kaufleute schicken nicht selten auf guten Glauben. Die Waaren werden natürlich nie bezahlt und hier unter dem Preise, oft zu wahren Spottpreisen verschleudert, so daß ehrliche Häuser, welche dieselbe Waare importiren und bezahlen, nicht damit concurriren können.

Just dies letztere schreiende Uebel hat die hiesigen ehrlichen Agenten und Importeurs deutscher Waaren bewogen, dem neuen Intelligenz- und Anfrage-Bureau, welches diesem Drachen des Betrugs den Kopf zertreten will, alle ihre Hülfe und Unterstützung zu garantiren. So ist es ihnen bereits gelungen, den Unternehmern dieses Bureau’s ein Abonnement auf die geheime City-Zeitung, das „schwarze Journal“, zu verschaffen. Wer dies jede Woche in die Hände bekommt, kennt von da an jedes Schwindler-, jedes unsichere, jedes sichere und zuverlässige Geschäft.

Das schwarze City-Journal ist das großartigste, kostspieligste, geheimnißvollste journalistische Unternehmen von ausschließlich großen, berühmten und geschäftlich durchweg absolut ehrenvollen Bankier- und Kaufmanns-Häusern zu ihrer eigenen Sicherheit gegen Schwindler und Betrüger. Abonnent kann ein Geschäftsmann nur werden, wenn er, von mindestens sechs Abonnenten empfohlen, nach einer besonderen Prüfung für gut befunden ward, einen bedeutenden Jahresbeitrag zahlt und keinen anderen Leser zuläßt. Das schwarze Journal gibt aus einem besonderen Bureau der feinsten Kenner, welche Alles wissen und in den Kern jedes geschäftlichen und Wechselunternehmens dringen, wöchentlich einen genauen Bericht von allen neuen Geschäften und den Operationen unsicherer oder sicher betrügerischer Geschäfte.

Es ist klar, daß mit solchen Mitteln eine ziemlich klare Einsicht in die Geheimnisse des Weltmarktes in der City von London erreicht und erhalten wird und ein Bureau, das sich’s zur geschäftlichen Aufgabe macht, auf alle Arten von Aufragen geschäftlicher Art ehrliche und sichere Auskunft zu geben, mit diesen Mitteln schon allein im Stande ist, den deutschen Markt in London zu reinigen und den deutschen Lieferanten unzählige Verluste, Täuschungen und Thränen zu sparen. Es wird dann nicht mehr vorkommen, daß z. B. ein Schwindler aus dem Oesterreichischen, der hier eine Londoner deutsche Zeitung herausgibt, seine Rechnungen und seine Ausschweifungen mit deutschen Büchern, Würsten, eingemachten Früchten u. s. w. bezahlt und immer wieder neue Waaren von neuen Gläubigern bekommt. Doch von den fabelhaften Arten, wie die Deutschen hier betrogen werden, können wir hier keine Belege im Einzelnen geben. Die Meisten, die nicht selbst betrogen wurden, könnten’s kaum glauben.

Wir haben blos auf den einen und hauptsächlichsten Zweck des Intelligenz- und Anfrage-Bureau’s aufmerksam gemacht. Der Umfang seiner Zwecke ist in Kürze folgender: 1) Auskunft über Existenz und Solidität Londoner Geschäftshäuser. – 2) Ermittelungen über Verwerthung deutscher Producte und Waaren in London und auf dem Weltmärkte überhaupt. – 3) Nachweis guter Agenten. – 4) Anweisung, Personen und Firmen, die sich ihren Verbindlichkeiten entzogen, auszufinden oder gerichtlich zu verfolgen. – 5) Rath und Schutz für Reisende, die London besuchen wollen: Besorgung von Wohnungen, Empfangnahme auf Dampfschiffen und Eisenbahnen (wo die Meisten sofort furchtbar betrogen oder mindestens irre geführt werden), Besorgung von Führern durch die Sehenswürdigkeiten Londons u. s. w. – 6) Besorgung von Stellen für deutsche Lehrer, Gouvernanten, Kaufmannsdiener, Handwerker, die oft auf’s Gerathewohl und unter falschen Vorspiegelungen herüberkommen und nicht selten durch das schmerzlichste Fegefeuer laufen, manchmal auch ganz darin umkommen müssen. – Das Bureau wird unter der Firma: „E. Juch and Co.“ geführt und ist vorläufig, bis zur Einrichtung eines definitiven Geschäftslocals, „48 Clifton street, Finbury square, London“. Schriftliche Anfragen und Aufträge müssen natürlich frankirt eingesandt werden. Auch in Bezug auf Auswanderung stehen dem Bureau tüchtige Kenntnisse und Mittel zu Gebote. Das Unternehmen wird sich für die Deutschen in London, wie für die in Deutschland, als große Wohlthat erweisen.




Zur Zeitkunde. Das Bedürfniß, sich über Wesen und Geschichte des Mannes zu unterrichten, der sich als Befreier Italiens aufdrängte und deutsche Regierungen und Nationen in Moniteurartikeln wie Schulbuben herunterkanzelte, tritt jetzt mit jedem Tage mehr hervor. Wir können zu diesem Zwecke ein jüngst in Leipzig bei Hirzel erschienenes Buch: „Geschichte Frankreichs von 1814–1852 von L. v. Rochau“ sehr empfehlen Der Verfasser vereinigt mit den gründlichsten Studien eine sehr anziehende frische Darstellungsweise, und wie präcis und gedrängt er zu schreiben versteht, mag nur ein Passus beweisen, den wir willkürlich aus dem 2. Bande wählen:

Am 20. Decbr. 1848 wurde das Ergebniß der Volkswahl in der Nationalversammlung feierlich verkündigt. Hierauf erklärte Cavaignac im eignen Namen und im Namen des Ministeriums die Abdankung der bisherigen Regierung. Alsdann erfolgte die Ausrufung Ludwig Bonaparte’s zum Präsidenten der Republik, vom heutigen Tage an bis zum zweiten Sonntage des Mai 1852, und die Beeidigung desselben. Der Vorsitzende der Nationalversammlung, Armand Marrast, sprach die in der Verfassung vorgeschriebene Eidesformel: „Im Angesichte Gottes und des französischen Volkes schwöre ich, der einen und untheilbaren demokratischen Republik treu zu bleiben, und alle Pflichten, welche mir durch die Verfassung auferlegt worden sind, zu erfüllen,“ und Ludwig Bonaparte leistete den ihm vorgelegeen Eid mit den Worten: „ich schwöre es.“ Marrast fügte hinzu: „Wir nehmen Gott und Menschen zu Zeugen des geleisteten Schwurs.“

Der neue Präsident bat jetzt um das Wort und hielt eine Anrede an die Nationalversammlung, welche folgendermaßen begann: „Die Stimme der Nation und der Eid, den ich eben geleistet, zeichnen mir mein künftiges Verfahren vor. Meine Pflichten sind mir vorgeschrieben, und ich werde sie als Ehrenmann erfüllen. Ich werde als Feinde des Vaterlandes alle diejenigen betrachten, welche darauf ausgehen, durch ungesetzliche Mittel abzuändern, was Frankreich angeordnet. Zwischen mir und Ihnen, Bürger Abgeordnete, kann es keine Meinungsverschiedenheiten geben. Unser Wille und unsre Wünsche sind die nämlichen. Ich will, wie Sie, die Staatsgesellschaft wieder auf ihren Grundlagen sicher stellen, die demokratischen Einrichtungen befestigen, und Alles aufbieten, um die Leiden des hochherzigen und einsichtigen Volkes zu lindern, welches mir einen so glänzenden Beweis seines Vertrauens gegeben hat“ u. s. w.


Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Unsere geehrte Mitarbeiterin steht bekanntlich einer „Heilanstalt für geisteskranke Kinder“ (in Meißen) vor und hat also hinlänglich Gelegenheit, Erfahrungen zu sammeln.      D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: werden
  2. Vorlage: potestantischen
  3. Vorlage: Köperbau
  4. Vorlage: pfeischnell