Die Gartenlaube (1854)/Heft 45
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No. 45. | 1854. |
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kennen, wie sie die Namen der Schweizer Edlen, Walther Fürst, Werner von
Stauffache und Arnold von Melchthal kennt. Laßt uns wenigstens gerecht
sein und unsre wackern Landsleute, die freien Bauern Bolko von Barden-
fleth, Thanno von Huntorp, Detmar von Dieke und Andere, die Heerführer
der Stedinger, und diese selbst, der Vergessenheit entreißen.
Ant. v. Halem: Geschichte des Herzogthums Oldenburg.
Der Stedinger Land und Leute.
Zwischen dem Jadebusen, der Weser und der Hunte, im jetzigen Großherzogthum Oldenburg, lag das Stedinger Land, auf Mooren und Geersten, zwischen gewaltigen Dämmen; abgetrotzt dem Meere und Flusse mit starker Hand und eisernem Willen, mit kluger Vorsicht und sicherem Auge; dennoch seit Jahrhunderten bedräuet von den tückischen Elementen und oft noch umarmt bis zum grausen Tode, wenn die Elemente ihre Fesseln sprengten und ihr donnerndes Rauschen über die Trümmern der Menschenwerke, wie ein dämonischer Spott, aus der Tiefe erscholl. Aber immer auch wieder erhoben sich aus Fluthen und Trümmern neues Land, neue Dörfer, neue Dämme, und immer blühender, schöner und fester. – Es mußte ein gewaltiger Menschenschlag sein, der das vermochte. Und wahrlich, er war es auch. Die kühnsten Holländer, die stärksten Friesen, auch wohl Normannen dazu, hatten nach und nach sich hier angebaut, die Plätze der Ertrunkenen und Verschütteten einnehmend, und Derer, die dann geflohen in Todesangst und gebrochenem Muthe.
Sie vermischten sich mit den stark und muthig heimisch Gebliebenen und so mußte das nun ein Geschlecht werden von besonderer Art; der Stamm, der in freudigstem Lebensmuthe fast täglich um dieses Leben kämpfen konnte; Männer, hoch wie ihr Korn, breit wie ihre Dämme, hart von Sinn und Knochen wie ihre Pflugschaaren; den Wolken, Wogen und Wettern ihre Listen ablauschend, klug wie die Füchse, ehrlich und treu wie die Natur, gesund an Herz und Gedanken wie die frisch aufgerissene Scholle ihrer schwarzen Erde, dabei reich wie ihre Felder. Vor Allem aber: es waren freie Männer. Ein Jeder erbgesessener König auf seinem Grunde, nur Unterthan dem Gesetze, das sie selbst sich gegeben hatten, von eigens erkührten Richtern bestellen ließen und sich ihm beugten, als hielte es der König der Könige vor ihren Augen in seiner Hand.
Nur dem deutschen Kaiser hatten sie Zuzug zu halten mit Mann und Schwert, d. h. wenn er darthat, daß er im Rechte war gegen seinen Feind. Nur dem Erzbischof in Bremen gaben sie Zehnten an Vieh und Frucht, als dem Vertreter des Papstes, dem Schutzherrn ihres christlichen Glaubens; doch wählten sie selbst ihre Priester, bauten selbst ihre Kirchen und Schulen, und keines Gewaltigen Macht durfte sich einmischen in der freien Bauern Rathen und Thaten, Gut und Blut. Schon Kaiser Karl der Große hatte solch hohe Gerechtsame den Stedingern gegeben und jeder ihm folgende Kaiser sie feierlich bestätigt. Zuletzt noch erweiterte und befestigte sie der deutsche Kaiser mit dem rothen Bart und die weisen Erzbischöfe von Bremen hatten immerdar des Papstes heiliges Siegel darauf gedrückt.
Aber der Bauern Freiheit sollte ihr Verderben werden. Der wachsenden Macht der oldenburgischen Grafen war sie ein Dorn im Auge, der sollte herausgerissen werden, wenn auch das Auge mit heraus müßte; so hatten sie beschlossen.
Hart an den Grenzen des Stedinger Landes erbaueten sie Lienen und Lichtenberg und setzten darauf Voigte, die immer weiter eingriffen in der Bauern Thun und Lassen, Hab und Gut; ja die oft der Bauern Weiber und Töchter auf sonntäglichen Kirchwegen überfielen, auf die Burgen schleppten und verunehrten. – Und im Bunde mit den oldenburger Grafen gingen die Erzbischöfe von Bremen: der eiserne Hartwich und der übermüthige Gerhardt. [534] Sie forderten mehr und mehr der Gaben und Gerechtsame für sich; ja, sie sandten eigends Priester hin an Stelle der Priester aus Stedinger Blut, vorgebend: diese lehrten nicht mehr das wahre Christenthum.
Die Stedinger knirschten und brüteten in fürchterlicher Stille; es ging durch das Land wie Kohlendampf vom Mailer, und nur noch ein Stoß – dann mußte der Dampf auseinanderschlagen zu fürchterlicher Lohe. So stand es um der Stedinger Land und Leute beim Beginne unserer Geschichte.
Der Beichtpfennig.
Es war im Sommer des Jahres 1231, da zogen die Stedinger Männer mit ihren Frauen und Kindern nach Elsfleth zur Sonntagskirche; aber nicht so frisch und fröhlich und christlich-andächtig, wie sonsten, denn der Priester, der ihnen dort das heilige Abendmahl austheilen sollte, war ihnen gesetzt worden von Bremen aus, und mancherlei Klagen sprachen gegen seine Forderungen, die nicht nach Recht und Brauch. Es war ein stiller Kirchengang. Am Stillsten von Allen war die Margarethe, des Frohnboten Klaus vom Ipenhof Weib. Sie trug schon hoch ein Kind unter dem Herzen und wollte heute den letzten Kirchgang thun vor der schweren Stunde; wollte das Abendmahl nehmen als Stärkung, und als Sicherheit, wenn ihr ein Unglück begegnen sollte. Deshalb auch hatte sie gestern gebeichtet, recht andächtig und offenherzig, aber dem ungeliebten Priester einen kleinen Beichtpfennig gegeben; eben darum so klein, weil der Priester so viel gefordert hatte.
Nun war der Margarethe, sie wußte nicht wie; es schwante ihr ein Unglück. Aber sie sprach kein Wort davon, und als sie in die Kirche kam, wurd’s ihr wieder ruhig und erbaulich zu Sinne. Nun las der Priester die Messe, dann ladete er ein mit schönem, frommem Worte heranzutreten an heiliger Stätte und das Mahl zu empfangen. Da wurd’s dann Allen feierlich still zu Gemüthe und sie kamen heran, den lauten, wuchtigen Schritt dämpfend zum heiligen Rundgang. Feierlicher Gesang klang hernieder, Weihrauchwolken wallten hinauf und alle Herzen schlugen leise und andachtsvoll. Da auf einmal ein fürchterlicher Schrei aus einer Weiberbrust und ein Klingen auf dem steinernen Fußboden.
Der Schrei kam von der Margarethe und das Klingen von dem Pfennige, den sie gestern dem Priester gegeben, den dieser ihr jetzt statt der geweihten Hostie in den Mund gesteckt, und den sie mit jenem Schrei dem Priester in’s Antlitz gespuckt hatte.
Laut rief sie das hin durch die Stille der Kirche. Wie ein Tiger sprang Klaus, ihr Mann, hervor, hin auf den Priester; der floh entsetzt davon.
Jetzt brach der Aufstand fürchterlich los: der heilige Wein floß auf der Erde wie Blut, die Hostien flogen umher wie Flocken, donnernder Racheruf brach sich an den Wänden, die Fenster klirrten, zitterten, fielen zusammen, Kanzel und Altar nach, – und während die Frauen der todtkranken Margarethe Hülfe gaben, stürmten die Männer dem Priester nach, dem die Todesangst Flügel zu geben schien. Die Voigte der Grafenburgen waren mit Reisigen in der Nähe, griffen ihn und führten ihn hin zu den starken Burgen.
Aber das Klingen des Pfennigs schwoll an zu einem fürchterlichen Orkan. Der letzte Stoß war gegeben: der Kohlendampf schlug auseinander zu gewaltiger Lohe. In wenigen Tagen waren die Burgen Trümmer, unter denen der Priester, die Voigte und viele Reisige lagen; kein oldenburger Mann war im weiten Umkreis mehr zu sehen, und nach der bremischen Grenze, zwischen Ockthum und Lintow, erhob sich ein haushoher Steindamm neben einem breiten Graben, eine starke Brücke über die Acht, von wehrhafter Mannschaft stark gehütet. Einmal versuchten es die oldenburger Grafen hier rächend einzudringen, und büßten es mit Tausenden; dann blieben sie zurück, doch nur, um den rechten Augenblick zu erspähen.
Der Erzbischof von Bremen forderte Auslieferung der Mörder seines Priesters, doch vergebens. Da wurden die Stedinger in den Bann gethan; der einzige Priester ihres Stammes mußte dem strengen Gebote seiner Kirche folgen und die Gebannten verlassen. Vor Allen verflucht wurde die entweihte Kirche zu Elsfleth, und die Stedinger selbst sahen sie nur mit Grausen an, und bauten weit von ihr ab ihre Häuser. Sie blieb so verlassen, daß im Winter über das Eis herübergekommene Wölfe ihre Jungen darin warfen, und wenn die Alten dabei heulten, klang das schauerlich hin durch die öde kalte Nacht, schauerlich den Stedingern durch Kopf und Herz. Sie glaubten sich selbst dann zu hören, wie sie einst da geheult hatten in Wuth und Rache. So hat die Kirche noch zwei Jahrhunderte gestanden, da kamen auf einmal die Wogen der Weser, und nahmen das fürchterliche Wahrzeichen der Volkswuth in ihre vernichtenden Arme.
Die Botschaft.
Unter einer riesigen Linde im Dorfe Bardenfleth hielt der Schultheiß Bolko von Bardenfleth sein freies Gericht. Im länglichen Rund saßen 14 Schöffen ihm zur Seite; Alle in kurzen Mänteln und bloßen Hauptes; nur der Schultheiß hatte das schneeweiße Haupt bedeckt und hielt in der braunen Faust den langen weißen Stab seiner Würde, der hier geehrt und gefürchtet wurde, mehr als da außen das Zepter des mächtigen Kaisers. Ein langer Mantel floß von seinen breiten Schultern herab um die mächtigen Glieder, und sein ernster, weiter Blick ging ehrfurchtgebietend von seinen Schöffen hinüber zur Menge, die sich vor dem mit Haselstäben und Schnüren gehegten, Rund des Gerichtsplatzes aufgestellt hatte. Zu seiner Rechten saß der Schöffe Detmar von Dieke, zu seiner Linken der Schöffe Thanno von Huntorp; neben an der Schöffe Enno von Waldhalden; das waren die gewaltigsten, weisesten und klügsten Männer des Stedinger Landes, die aber Alle er selbst an Gewalt, Weisheit und Klugheit überragte. Vor der Schranke stand Klaus vom Ipenhof, der Frohnbote; vor drei Jahren war er Vater geworden; in derselben Nacht, da die Burgen brannten und die Voigte mit dem bremischen Priester zu Tode fielen. Von der Stunde in der Kirche an, hatte er einen furchtbaren Haß geworfen auf Alles was Priester und Adel hieß, und die Leiden seines Weibes, die in Folge jener Stunde sehr schmerzlich geboren hatte, senkten ihm tief in’s Gemüth die Schwüre unversöhnbarer Rache. Aber kalt wie Marmor von außen, gleichgültig, trotzig wie ein abgesägter Eichenstamm, so stand er da vor den Menschen, so stand er jetzt vor der Schranke, so rief er jetzt nach altem Brauch:
„Herr Schultheiß! Draußen stehen zwei Männer, die begehren Recht.“
„Wer ist’s?“
„Pater Hieronymns, dereinst unser Landesmann und Priester, der uns verlassen mußte, als der Bann über uns erging. Ihn sendet der Erzbischof Gerhardt von Bremen.“
„Seltsam, seltsam!“ sprach der Schultheiß, und in sonderbarer Scheu, in einem Gemisch von alter Liebe und neuem Haß, ging dieses „Seltsam“ durch den Kreis der Schöffen und hinüber durch die Menge.
„Der Andere?“ fragte jetzt der Schultheiß.
„Junker Georg von Oldenburg-Schmidtstein, Neffe und Erbe den regierenden Grafen Burkhardt von Oldenburg und von diesem gesendet.“
Die letzten Worte konnte man kaum verstehen, denn so wie der Klaus den ersten Namen gesagt hatte, da war’s auch losgegangen, nah und weit, als wenn man fern das Meer branden hört oder ein Gewitter sich bricht in engen Thalwänden.
„Wollen die von Oldenburg wieder anfangen? Ich dächte, sie hätten genug:“ so rief es hier.
„Seit wir sie bei Himmelskamp trafen, hätten sie doch merken sollen, daß sie uns nichts anhaben können,“ so rief es dort.
„Es ist kein gut Zeichen, wenn die Boten von Adel und Kirche zusammengehen!“ rief’s aus der Mitte.
Der Schultheiß aber winkte Ruhe und sprach dann: „Wir wollen sie hören, ohne Sorge wie ohne Trotz. Frohnbote, führe sie zu uns.“
Der Frohnbote ging fort, während eine schwüle Ruhe entstand und doch Alle neugierig hinschauten, woher die Erwarteten kommen mußten.
[535] Jugend, Schönheit, frischer Lebensmuth im ganzen Wesen: das sind drei vortreffliche Gaben, um die Menschen zu gewinnen. Die hatte nun der Graf Georg in reichem Maaße, und als er damit auftrat, und blitzende Helmzier, leuchtende Waffen, Gold und Seide das Alles noch hoher und schöner erscheinen ließen, da fuhr über die meisten der ernsten Gesichter ein freundlicher Schein. Nun aber kam ein Schatten.
Pater Hieronymus schritt hinter dem Junker her; das sonst so kräftige Gesicht bleich, zerrissen von tiefem Schmerze, den er, fern von der Heimath, um die geächteten Brüder und Söhne still in sich getragen. Die sonst so milden Züge gehärtet von der Pflicht, die ihm die Geliebten verfluchen lassen mußte, die ihm verbot, ihnen die Hand zu reichen und thränenden Auges auszurufen: „O, liebt mich doch, wie ich Euch liebe! Nehmt mich wieder auf, wo ich so gerne sein möchte! Lieber sterben bei Euch, als leben da Außen!“
Die geächteten Männer fühlten wohl im Augenblicke, was den armen Mann so bewege, und da sie ihn doch nicht freundlich anschauen konnten, senkten sie die Augen nieder.
Der junge Graf trat derzeit dicht vor die Schranke und der Schultheiß rief:
„Seid willkommen! Und wo Ihr eine Klage habt, tretet dorthin gegen Mittag. Es ist des Klägers Platz.“
„Ich stehe hier schon gut!“ warf der Graf keck entgegen.
„Mit Nichten!“ rief der Schultheiß ruhig; „wollt Ihr gehört sein, so richtet Euch nach unserem Brauch.“
Der Junker biß sich auf die Lippen, ging mit gleichgültigem Trotz zum angewiesenen Platze und wollte beginnen.
„Verzieht!“ sprach nun der Schultheiß; „das Gericht will sein Recht. Ihr seid die Letzten. Frohnbote thue Deinen Spruch!“
Und Klaus trat vor und rief:
„Ist hier Jemand, der vor Gericht zu schaffen habe, der versehe sich zu dieser Stund, ehe der Schultheiß den Stab niederlege. Solches frage ich einmal! Zweistund! Dreistund! – Herr Schultheiß, es ist keine Sache mehr vorhanden!“ Und er trat zurück.
Der Schultheiß aber stand auf, hob seinen Stab in die Höhe, entblößte einen Augenblick das Haupt und rief mit weithin schallender Stimme: „Ist Niemand in der Landgemeinde Steding, der es verbietet, daß diese Männer ihre Botschaft werben?“ Tiefes Schweigen. Der Schultheiß wandte sich zu den Boten und rief: „Herr Junker – und Ihr, ehrwürdiger Vater, tretet vor.“
Der Junker trat stolzen Schrittes vor, der Pater blieb ein paar Schritte zurück, den sinnend sorgenden Blick halb auf die Menge, halb auf die Gruppe des Gerichts gelenkt.
„Nun redet, Junker!“ sprach der Schultheiß ernst und milde, und der Junker begann:
„Mich sendet mein Oheim, der Graf Burkhardt von Oldenburg und zwei Fragen läßt er Euch stellen. Erstlich: ob Ihr gewillt seid, die Burgen wieder aufzubauen, die Ihr in offenem Aufstand gebrochen. Zum Zweiten: ob Ihr wollt eine Gesandtschaft schicken sammt Eidschwur, daß Ihr für ewige Zeit wollt Unterthan sein genanntem Grafen und allen seinen Nachfolgern im Lehn, also daß Oldenburg bei Euch habe Hochgericht und Heeresmacht, Bann und Mann, Wald und Wege, Wasser und Weide, den Fund unter der Erde und über der Erde, Pflug und Zug und was mehr des Herrn Recht ist?“
Ein dumpfes Murmeln in der Menge ging zuletzt in lautes Gelächter über und der Schultheiß fragte:
„Herr Junker, ist dies Euch Antwort genug?“
Der Junker wollte auffahren, aber des gewaltigen Mannes dräuernder Blick hinüber zur Menge und dann zum Junker selbst, bannte das schon lose gezückte Schwert in die Scheide zurück. Der Schultheiß fuhr fort:
„Die Antwort habt Ihr schon, doch soll kein Tütelchen von der Form fehlen und sollen Euere Klagen vor der Landgemeinde verhandelt werden. Doch, Herr Junker, erlaubt mir zuvor noch die Frage: Was für Gründe hat Euer Ohm, der gestrenge Herr Graf, für seine seltsame Forderung? Redet frei. Ich trage ruhigen Sinn unter meinem weißen Haare und dieser Stab schützt Euch vor jeder Unbill.“
„Noch mehr mein Schwert!“ warf der Junker trotzig ein, doch wurde sein Wesen nun schon ruhiger, sein Ton freundlicher mit denn er sprach. „Für’s Erste bedarf Kaiser und Reich hier eines Schutzes, damit kein Raum zum Angriff da ist, wenn ein Feind in Euern Sümpfen sich festsetzt; wir wollen Euch also schützen.“
Ein höhnisches Gelächter ging bei diesen Worten über alle Gesichter und der Schultheiß meinte: „Herr Junker, seit Jahrhunderten haben wir uns selbst geschützt gegen den fürchterlichsten Feind, – gegen das Wasser. Seit vierzig Jahren haben wir mit Euch gekämpft und keinen Fuß breit Landes habt Ihr errungen. Und Ihr wollt noch von Schutz reden?!“
„Nun, so müßt Ihr doch mit dem Kaiser enger verbunden sein, zu seinem eigenen Schutz und Trutz zu allen Stunden.“
„Sind’s gewesen, Herr Junker, haben’s bewiesen, als der Kaiser Fritz sein Königreich Jerusalem erobern wollte. Sind wir da in hellen Haufen nach Jerusalem gezogen und haben’s ihm erkämpfen helfen, mehr als sein Adel. So hat der Fritz selbst erkannt und bei unserer Kirchweih flattert die Fahne mit dem halben Monde, die unsere Burschen von Jerusalems Mauern wegrissen. Und so wird’s unter uns sein immerdar. Der Stedinger Heerbann wird nimmer mangeln.“
Dem Junker wurde es sonderbar zu Muthe; die einfache und doch so feierliche Art des Mannes, die so einfach angegebenen Thatsachen, deren Vertreter dort standen in schlichter Einfalt und natürlicher Kraft: sie faßten ihn tiefer und schlossen ihm Gedanken auf, die er bis dahin noch nicht geahnet hatte. Aber Gründe müßte er noch bringen; das erheischte sein Amt und seine Ehre, und er fuhr fort:
„Aber wie, wenn unter Euch selbst einmal Hader kommt? Wer soll da richten und vergleichen? Ihr habt keine Gelehrten des Rechts; Einer ist frei wie der Andere; wer versichert Euch, daß Fried und Stille und Recht in Eurem Lande bleibt?“
„Dieser Stab, Junker Georg,“ rief der Schultheiß mit feierlichem Ton; seine Augen glänzten weithin, seine Gestalt schien zu wachsen, indem er fortfuhr: „Seht, das ist das Zepter unseres Rechts, kein Gold und Edelstein daran, aber das Gericht ist durch ihn so heilig, als stände hier ein Engel Gottes mit flammendem, Schwerte. Diese Schranke ist gehegt nur von Haselstäben und dünnen Schnüren, aber noch nie hat Willkür sie gebrochen. Fest stand sie zu allen Zeiten und wird sie stehen, gleich einer Mauer von Erz und Demant.“ Und so stand der Schultheiß jetzt selbst vor dem Grafen und der Schimmer seines weißen Haares, vom Glanz der untergehenden Sonne beleuchtet, erschien ihm fast wie ein Heiligenschein. Verwirrt bis zum tiefsten Gemüthe fragte er nur noch: „Aber was ist bei Euch Recht? Wer weiß da immer wie zu entscheiden ist?“
„Laßt diesen Knaben Euch antworten,“ entgegnete der Schultheiß und winkte einem zehnjährigen Knaben aus der Menge. Der Knabe trat unbefangen vor und der Schultheiß fuhr fort: „Beliebt es Euch, Herr Junker dem Knaben Fragen vorzulegen, wie sie unter Bauersleuten vorkommen können.“
Der Junker sah den Knaben verwundert an, dann kam ein launischer Humor über ihn und er fragte mit ernstem Angesicht: „Was ist Rechtens im Gericht mein Sohn?“
Der Knabe stemmte sich fest in die Hüften, sah den vornehmen Frager unbefangen an und im Tone des aufsagenden Schülers sprach er:
„Es soll der Richter sitzen auf seinem Stuhle wie ein griesgrimmender Löwe, den rechten Fuß über den linken schlagend und wo er aus einer Sache nicht Rechts kann urtheilen, soll er sie überlegen einhundert und dreiundzwanzig Mal.“
„Das muß denn freilich endlich gerecht werden,“ meinte der Junker gutmüthig lächelnd und stellte dem Knaben eine zweite Frage: „Was machst Du, wenn Du ackerst und einen Flurstein umwirfst?“
„So rufe ich den Schöffen und den Widerpart, daß das Gemärke wieder gesetzt werde und deshalb habe ich nichts verbrochen.“
„Und wenn Du etwas findest, was unter oder über der Erde?“
„Die Schöffen haben gewiesen, daß es soll Jahr und Tag beim Schultheiß gehalten werden, bis Jemand kommt, der es begehrt; so aber Niemand Klage hat, soll es getheilt werden, wie der Schultheiß schafft.“
Der Junker that nun noch mehrere Fragen, die der Knabe alle beantwortete, nach dem alten Buchstaben und dem alten Gesetze und der Junker fragte mit seltsamer Befremdung:
[536] „Sonderbar, woher weiß er das Recht?“
„Woher wir’s Alle wissen, Herr Junker;“ antwortete der Schultheiß. „Wie ich hier richte, so steht unser Recht seit vielen Jahren; der Vater lehrt es seinem Sohn und wo wir uns versammeln an der Schranne, da wird’s stets laut gelesen und vor Allem wird gelesen: daß wir freie Bauern sind! Und deshalb – doch die Sonne sinkt, das Gericht muß zu Ende gehen, die Männer Stedingens haben Eure Botschaft vernommen, – Euch soll Antwort werden.“ Der Schultheiß legte nun noch einmal die Fragen des Boten vor und rief dann dem Frohnboten zu, die Stimmen zu sammeln. Währenddem trat der Graf dicht zum Schultheiß heran, bewegt, theilnahmsvoll schilderte er ihm die Gefahr, die über den Häuptern der Stedinger sich zusammenziehe, die täglich wachsende Macht der oldenburgischen Grafen und ihrer Verbündeten; die Macht der Kirche, die Heermacht deutschen Kaisers; doch vergeblich. Der Schultheiß wieß ernst und starr auf das Volk und seinen Stab.
„Was das Volk will, das thut dieser Stab.“
Der Junker versuchte ihn nun zu schrecken: der Schultheiß sei das Haupt der Empörer, ihn würde also auch die fürchterlichste Strafe treffen, doch der Bedrohte meinte: „Mein Haupt steht in Gottes Hand! Falle es, wohin er will. Falle es nur für unser Recht!“
Ehrfurchtsvoll ergriff der Junker des Bauern Hand, er versprach ihm hohe Ehren, Reichthum, den alleinigen Richterstuhl für ihn und seine Erben, doch der Schultheiß meinte:
„Tretet an Euern Platz. Die Umfrage ist geschehen, der Frohnbote kommt.“
In seltsamem Gemisch von Ehrsucht und Zorn, von Liebe und [aus] stolzem Trotze, trat der Junker zurück, während der Frohnbote an die Schranke trat und mit erhobener Stimme rief:
„Auf vorgelegte zwei Fragen haben die Männer des Gaues Steding einmüthig ein Nein zur Antwort gegeben und ist auch nicht ein einziges Ja erfunden worden.“
Der Schultheiß erhob sich, schwenkte seinen Stab und rief: „So schließe ich das Gericht!“
„Verblendete! Unglückliche! Haltet ein, Ihr wißt nicht was Ihr thut!“ rief plötzlich der Junker, getrieben von Mitleid und Sorge, im Gefühle seiner und seiner Verbündeten Macht.
„Ihr habt Euern Bescheid, Herr Junker!“ sprach kurz und ernst der Schultheiß. „Das Gericht ist aus!“ Mit diesen Worten legte er seinen Stab nieder und in der weiten, tiefen Stille hörte man nur den einen Laut, wie der Stab auf den Tisch klopfte.
Nun aber kannte der Junker keinen Halt mehr, er sprang vor, legte die Hand an das Schwert und begann mit lauthindräuendem Tone: „Ihr wollt den Krieg – so habt ihn denn! Und so rufe ich Euch hier Tod und Verder–“ weiter jedoch kam der Junker nicht; die Hand, die das Schwert halb aus der Scheide gezogen, drückte es mechanisch wieder zurück; der Mund mit den dräuenden Worten schloß sich, die Zornesblässe des Gesichtes verwandelte sich in leichtes Roth und die todtblitzenden Augen waren in verklärtem Glanze fest auf ein Mädchen gerichtet, das aus dem nahen Hause trat und rasch nach vorne kommen wollte, aber beim Anblick des Junkers, wie gebannt stehen blieb, leise zitternd die Hand auf das Herz gelegt, über und über roth in jungfräulicher Schaam und die großen, tiefblauen Augen mit Gewalt zu Boden gesenkt.
Es war ein wunderbarer, lebensentscheidender Augenblick für diese beiden jungen Herzen. Es giebt eine Liebe, die zücket urplötzlich durch die Seelen, urplötzlich zündend, um im Zünden zu tödten oder zu erlöschen; es giebt eine andere Liebe, die flammt mit düsterrothem Schein wie ein Nordlicht, sie erhellt ohne zu erwärmen; dann giebt es eine Liebe, die steigt auf wie die Sonne, wie die Sonne hinter den Bergen, allmälig, aber immer schöner und klarer; und wieder giebt es eine Liebe, die ist wie die Sonne des Südens auf dem weiten Ozean: sie ist da, auf einmal; ganz und voll, in höchster Klarheit und blendendstem Glanze. Solch eine Liebe war es, die hier auf einmal aufging in Hoheit und Größe! In derem Glanze der Graf und das Bauernmädchen sich fanden und banden; sich verschmolzen zu Einer Liebe, zu Einem Wesen, Einem Herzen! – Sich fanden, ehe sie es wußten, ahneten, ehe sie wußten was Liebe sei. Aber nur zwei von Allen hatten dies erkannt, wenn auch nicht in voller Bedeutung des Augenblicks, so doch mit tiefem Blick in den geheimen Prozeß, den die Natur hier spielte; der Eine weil er haßte, der Andere weil er liebte.
Der Eine war der Klaus vom Ipenhof, der Andere ein junger Bauer, Kurt vom Bühel. Wie Jener den Junker haßte, so liebte Dieser das Mädchen und mit Einem Blicke hatten sich beide Männer verstanden, mit einem Blicke dämonischer Gluth.
Der Schultheiß aber ging dem Mädchen entgegen und sagte: „Du kommst zu guter Stunde.“ Dann führte er das Mädchen dem Junker zu und nannte sie ihm als seine Tochter Elsbeth. Der Junker schwieg, das Mädchen auch und der Schultheiß sagte: „Der Feind bleibt draußen – der Gast soll mir hoch willkommen sein in meinem Hause. Wollt Ihr des Bauern Haus mit Eurer Gegenwart beehren?“
„Gern, gern!“ rief der Junker.
„So gieb dem Junker nach altem Brauch den Gastkuß, Elsbeth,“ mahnte der Vater; aber das Mädchen floh auf einmal wie ein angeschossenes Reh von dannen und während Alle ihr staunend nachschauten, flüsterten Klaus und Kurt sich zu, mit bebendem Munde und unheimlichen Blicken.
„Ich male keinen Engländer!“ lautete die von patriotischem Hasse eingegebene Antwort des Malers David, als nach dem Einzuge der Verbündeten in Paris der Herzog von Wellington sein Portrait von der Hand des berühmten Künstlers wünschte. Und dieser Haß war nicht etwa nur dem Künstler, war nicht blos dieser oder jener Klasse der Franzosen eigen, nein er nagte am ganzen Volke, und von allen ihren Besiegern wählten sich die Franzosen gerade die Engländer zum bittern Hasse aus. Der Haß zwischen beiden Nationen war übrigens seit vielen Jahrhunderten traditionell geworden, … Waterloo und St. Helena verliehen ihm aber neue Nahrung, und wenn später auch in uns noch nicht zu fern liegender Zeit viel von dem „herzlichen Einverständniß“ zwischen England und Frankreich gesprochen wurde, so dauerte doch die Abneigung der Einen gegen die Andern nicht minder fort.
Erst die jüngste Zeit gewährt uns das außerordentliche Schauspiel einer englisch-französischen Kriegsallianz, des Fraternisirens alter Feinde, wobei es scheint, als sollten alle störenden Erinnerungen früherer Zeiten für immer begraben sein; denn wenn Lord Raglan, der im Jahre 1815 bei Waterloo die Franzosen mitbekämpfte, und mehrere Decennien lang die Feier dieses Siegestages in London nie versäumte, vor einigen Monaten nebst seinen Begleitern enthusiastisch in Paris begrüßt wurde, so müssen die Franzosen allerdings viel vergessen haben. Gewiß muß es aber Vielen von ihnen wie ein Traum vorkommen, daß die englischen Nationalmelodien: „God save the queen“ und: „Rule Britannia“ unter das Repertorium der französischen Militärmusik aufgenommen worden sind.
Heute, wo wir dieses schreiben, haben die Soldaten Englands und Frankreichs bereits gemeinschaftlich die Schlacht an der Alma geschlagen, und betreiben eben jetzt im Verein die Belagerung von Sebastopol, so daß ihr Bündniß auf dem Schlachtfelde geweiht worden. Aus dem glänzenden Reigen ihrer Führer hat aber zugleich auch schon der Tod Einen herausgerissen, Einen der Sechste, die unser heutiges Bild den Lesern vorführt.
Leroy de St. Arnaud stammt aus einer angesehenen Bürgerfamilie zu Paris, wo er auch im Jahre 1801 geboren wurde. Er trat 1816 in die königl. Leibgarde, verließ aber bald darauf den aktiven Dienst und wendete sich erst 1831 der militärischen Laufbahn wieder zu. Nach kurzer Zeit erhielt er das Lieutenantsportepée, zwanzig Jahre später wurde ihm der Marschallrang zu Theil, ein Avancement, so schnell wie es gegenwärtig sonst in keiner andern Armee stattfindet. St. Arnaud durchschritt in der
[537][538] Zwischenzeit alle Stufen der militärischen Hierarchie; er diente dabei wechselsweise auch in der Fremdenlegion, eben so unter dem berühmten Corps der Zuaven, und erntete überhaupt seine Grade und Lorbeern auf den Schlachtfeldern Afrika’s. Im Jahre 1851 kommandirte er eine Division in Paris, wurde bald darauf von Ludwig Napoleon, der damals noch Präsident war, zum Kriegsminister ernannt, und erwies sich in dieser Eigenschaft als Hauptbeförderer des Staatsstreichs vom 2. December 1852, für welche Leistungen ihm auch der Marschallsstab zufiel. Als moralischer Charakter schon vorher wenig geachtet, trug seine damalige Handlungsweise nicht dazu bei, ihn in den Augen rechtlicher Leute zu heben, er blieb indessen als Kriegsminister im Amt, bis beim Ausbruch des Krieges mit Rußland er sich zum Oberbefehlshaber der Armee im Orient zu ernennen lassen wußte. Der Tod, in Folge eines alten Körperleidens, ereilte ihn, als er eben nach monatlanger Unthätigkeit den Angriff auf die Krim begonnen hatte. St. Arnaud war ein tapferer Soldat, mehr läßt sich nicht von ihm sagen.
Nicht so wie St. Arnaud hat der englische Oberbefehlshaber im Orient, James Henry Fitzroy Somerset, Lord Raglan, den größten Theil seines Lebens auf den Schlachtfeldern zugebracht. Geboren 1788, verdankte er seine ersten militärischen Grade nicht dem Verdienste, sondern der Geburt, was ihn jedoch nicht hinderte, sich bald als ausgezeichneten Generalstabsoffizier zu beurkunden, so daß ihn auch Wellington 1809 zu seinem Adjutanten wählte. Während des ganzen Krieges auf der pyrenäischen Halbinsel fungirte er als Sekretär des Generalstabs, wobei er im Felde ebenso tapfer war als im Kriegskabinet umsichtig. Er nahm an allen blutigen Schlachten, Kämpfen und Belagerungen jenes Feldzuges Theil, und avancirte dabei vom Kapitän bis zum Oberstlieutenant (1812). In der Schlacht bei Waterloo (1815) büßte er den rechten Arm durch eine Kanonenkugel ein, worauf er sich aus dem aktiven Kriegsdienste zurückzog, und nach einander mehrere Militärverwaltungsstellen bekleidete. In der Armee fortavancirend, erhielt er nach Wellington’s Tode die Würde eines General-Feldzeugmeisters, und wenn auch in einem langen Zeitraume dem Kriegsleben selbst fremd geworden, scheint bei seiner hohen militärischen Bildung seine Ernennung zum Oberbefehlshaber im Orient doch kein Mißgriff des englischen Ministeriums gewesen zu sein.
An der Seite des Lords Raglan steht der durch seine Tüchtigkeit bekannte General Brown, ein Mann, der wenig aus dem aktiven Kriegsdienst kam und im englischen Hauptquartier dieselbe Rolle spielt, welche dem General Canrobert im französischen zugefallen ist. Brown und Canrobert können daher als die Doppelseele der orientalischen Armee betrachtet werden.
Der englischen wie der französischen Regierung hat unbestritten eine besondere Absicht untergelegen, daß jede von ihnen einen Prinzen von Geblüt, mit einem Commando betraut, der Expeditionsarmee beigab. Englischer Seits wurde hierzu der Herzog von Cambridge, Sohn des ehemaligen Vicekönigs von Hannover und geboren 1819, ausersehen, der in prinzlicher Weise seine Generalsstelle erlangt hat. Von Seiten Frankreichs fiel die Wahl auf den Prinzen Napoleon Bonaparte, den Sohn des ehemaligen westphälischen Königs Jerome. Von den militärischen Fähigkeiten dieses Prinzen, der 1822 zu Triest geboren wurde, weiß man so wenig als von denen des Herzogs von Cambridge. Er stand früher einige Zeit in der würtembergischen Armee (seine Mutter war eine Tochter des Königs Friedrich I. von Würtemberg), führte aber später ein ungebundenes Leben und befand sich meist auf Reisen. Nach der Februarrevolution wählten ihn die Korsen in die verfassunggebende, ebenso in die gesetzgebende Nationalversammlung und er bekannte sich als Volksvertreter zu entschieden social-demokratischen Grundsätzen. Die social-demokratische Partei, mißtrauisch gegen alle Napoleoniden, ließ sich jedoch nicht mit ihm ein, selbst dann nicht, als er, im April 1849, zum Gesandten in Madrid ernannt, plötzlich von diesem Posten zurückgerufen wurde, weil er sich mit offnem bittern Tadel über die Politik seines Vetters, des Präsidenten, ausgesprochen hatte. Nach der Wiederherstellung des Kaiserreichs eventuell zum Thronfolger ernannt, scheint sich der Prinz Napoleon mit dem Kaiser wieder ausgesöhnt zu haben, doch mag sich gleichwohl der Sohn Jerome’s von seinen alten Ansichten noch nicht ganz frei gemacht haben, denn beim Beginn des Feldzugs im Orient sah man wenigstens die ewigen Juden der Revolution zahlreich um ihn geschaart und seine Verbindungen mit den ungarischen, polnischen und italienischen Flüchtlingen veranlaßten endlose Zwistigkeiten zwischen ihm und St. Arnaud, zu deren Beilegung es eines gegen den Prinzen gerichteten, kaiserlichen Machtspruches bedurfte. Der Prinz hat von allen Napoleoniden die größte, ja wirklich eine auffallende Ähnlichkeit mit dem berühmten Kaiser; wie viel er von dessen militärischem Genie besitzt, hatte er noch nicht Gelegenheit darzuthun; als unbestritten geistreich und energisch jedoch hat er sich überall, wo und wie er bisher auftrat, gezeigt.
Als befähigtsten unter den französischen Generalen im Orient dürfen wir den Generallieutenant Canrobert betrachten, dem auch durch den Tod St. Arnaud’s zur Stunde das Oberkommando zugefallen ist. Ein Zögling der Militärschule von St. Cyr steht er jetzt im Alter von 45 Jahren, gehört ebenfalls zu den in Afrika herangebildeten Offizieren und zeichnet sich ebenso sehr durch Kaltblütigkeit und glänzende Tapferkeit als durch seine strategischen Kenntnisse aus. Wie St. Arnaud diente er eine Zeit lang in der Fremdenlegion und später unter den Zuaven. Von seinen zahlreichen glänzenden Waffenthaten (er nahm an fast allen Kämpfen und Expeditionen in Afrika Theil) sei hier nur des Mordgefechts bei Bahl erwähnt, wo er sich mit 150 Mann gegen 3000 Feinde siegreich vertheidigte. Noch mehr zeichnete er sich 1849 aus, wo er seine von der Cholera arg mitgenommenen Zuaven von Aumale aus nach der Zaatscha führen mußte und mit der kranken Mannschaft, der er ein besorgter Pfleger war, die größten Heldenthaten ausführte.
Um seiner strategischen Kenntnisse willen wurde er vorzugsweise dem Marschall St. Arnaud beigegeben, und der Operationsplan in der Krim ist auch fast ausschließlich sein Werk. Die speziell von ihm befehligte Division war es, welche auf dem bekannten entsetzlichen Marsche durch die Dobrudscha mit unsäglichen Leiden zu kämpfen hatte, mit der Ungunst des Klimas und den Verheerungen der Cholera, die ihm dem General, wie damals auf dem Marsche durch die Zaatscha, Gelegenheiten gaben, seine rastlose Fürsorge für die Truppen zu bewahren. Canrobert, seit 1850 General, gehört zu den auserlesenen Günstlingen des Kaisers, dem er zur Zeit des Präsidiums schon als Adjutant diente und diesen Posten erst aufgab als er das Commando einer Division im Orient erhielt. Er ist, wie fast die ganze französische Generalität, klug genug, sich den am Kaiserhofe herrschenden Modeansichten zu fügen. Zu wundern braucht es uns daher nicht, wenn der tapfere General nach der Schlacht an der Alma an die Kaiserin der Franzosen schrieb, daß die ihm von Ihrer Majestät verehrte Medaille der Jungfrau Maria zur unbefleckten Empfängniß ihre Wunderkraft bewährt habe und er inmitten des Kugelregens verschont geblieben sei. Mit einem Wort, der General Canrobert ist ein kluger Mann, bei dem Alles mithelfen muß.
Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende lang waren die Wasser der Alma ruhig durch die schweigenden Berge und Hügelwellen ihrer Ufer gegangen. Heute trug sie noch immer auf ihrem blutigen Rücken zahllose Trümmer von Menschen und Kleidern und Waffen und schien oft erstarrend stillstehen zu wollen über die Scenen, die sich meilenweit um sie streckten. Zuerst kamen wir [539] auf ein Feld niedergemähter Russen, unter denen noch Unzählige die schrecklichsten Lebenszeichen von sich gaben – zwei Tage nach der Schlacht. Die Todten schienen hier trotz ihrer verzerrten Gesichter, ihrer zerschossenen Leiber und abgerissenen Glieder die einzigen Glücklichen. Einer derselben hatte zwischen den Zähnen, die auf einer Seite durch die abgeschossene Backe grinsten, ein grobes Stück schwarzes Brot und in einem leinenen Beutel harte, zerriebene Brocken. Um drei kleine, jetzt kalte und nasse Feldöfen lagen die Todten und Verwundeten am Dichtesten. Englische Soldaten eilten rasch durch und über die Leichen hin, um die noch Lebenden auf Bahren zu laden und zu entfernen: ein edeler Zug, wenn man bedenkt, daß sie unter ihren eigenen niedergemähten Brüdern noch lange nicht mit der Sonderung der Lebendigen von den Todten zu Ende waren. Den Bahren für die Lebendigen folgten die Sammler der Todten, welche, wie sie waren und lagen, ergriffen und in ein einziges Grab gestürzt wurden, das in ihrer Mitte so tief und weit gegraben worden war, daß es nicht weniger als 1230 Leichen aufnahm. Wie viel nahmen die andern Russengräber auf? Wie viel die der Franzosen? Die der Türken? Die der Engländer? Viel, sehr viel, Tausende, aber lange nicht so viel, als die Cholera, im Gefolge der zögernden Diplomatie, niedergewürgt hatte.
Die englischen Gefallenen wurden ebenfalls in große Riesengräber gepackt, nur daß sie etwas regelmäßiger geschichtet wurden. Unser Augenzeuge beschreibt die Scene, wie die Lebenden massenweise mit Bahren umhereilen und unter den durcheinander verrenkten Todten und Verwundeten umhersuchen, wer für die Lazarethschiffe, und wer für das Grab passe, wie sie bald entstellten Leichnamen, bald wimmernden Sterbenden Decken und Tücher von dem Körper ziehen, und durch Fühlen und Rütteln probiren, ob er reif sei für die Riesengruft. Im letztern Falle wird er rasch ergriffen und nach dem unersättlichen Schlunde getragen. Hier wird er wie ein Stück Balken hinuntergelassen, von den Ordnern unten ergriffen und so grade und eng als möglich auf und an die Andern geschichtet, damit er so wenig Platz als möglich einnehme. Hier und da hört man einen Schmerzensruf. Ein Lebender erkennt in dem Todten einen Freund, und schickt ihm einen kurzen Abschiedsgruß in das Massengrab hinab, wo er bald unter den Schichten neuer Leichen, die von allen Seiten herbeiströmen, verschwindet. „Glücklich seid ihr!“ hört man öfter ausrufen, wenn das Jammergeschrei der Verwundeten, die um den Tod oder um Wasser flehen, bis an den Rand des Grabes heranschrillt. Niemand giebt euch den Tod! Ihr müßt liegen bleiben und ihn abwarten. Niemand giebt euch Wasser, die Qual des Durstes, die noch viel entsetzlicher brennt, als eure Wunden, zu mildern. Es fehlt an Wasser. Es fehlt an Lumpen und Charpie und Aerzten und Medizin, die sich anderswo, nur nicht hier, hundertcentnerweise in irgend einem Vorrathskeller befindet; so macht, daß der Tod eure Leiden beendigt, denn die Hülfe, die euch erwartet, ist viel schrecklicher. Im besten Falle werdet ihr auf entsetzliche, stauchende Karren gepackt, drei englische Meilen weit über Stock und Stein nach dem Meere auf’s Schiff gebracht, wo ihr zusammengeschichtet, wie Todte, mit Maden in euren Wunden, endlich in der großen türkischen Kaserne von Scutari ankommt und die herrlichste Labung finden werdet, vorausgesetzt, daß ihr warten könnt, bis die drei Wochen nach der Schlacht in England begonnene Bettelei um Lumpen und Geld abgeschlossen und der Ertrag 1000 Meilen weit „mit Gelegenheit“ angekommen sein wird.
Unser Augenzeuge sagt, daß die Franzosen auf bequemen, bedeckten, in Federn hängenden Wagen, für je zwölf Mann bettenartig eingerichtet, sofort an die wohleingerichteten Orte weiterer Verpflegung entfernt worden seien und bei ihnen überhaupt Alles musterhaft genannt werden müsse im Vergleich zu der englischen Confusion und Verwirrung, zu dem Mangel an allen Vorkehrungen für Verwundete und Kranke. Die große Krim-Expedition und die Schlacht war den englischen Regierern plötzlich octroyirt worden. Nach ihrer Weisheit durften Russen und Engländer nie in feindliche Berührung kommen. Ihre schwere, auferlegte Kriegssteuer sollte friedlichen Zwecken dienen, so daß die besteuerten, patriotischen Engländer erst drei Wochen nach der Schlacht 1000 Meilen weit anfingen, sich unter Leitung der Times-Leitartikel patriotisch und leidenschaftlich mitleidig der Verwundeten privatim anzunehmen. „Hätte man“, fährt unser Augenzeuge fort, „ein paar Tausend Mann von der Marine, die vor Langerweile und Cholera umkamen, gelandet, wie es mehrmals vorgeschlagen worden war, sie hätten freudig Alles gethan, was uns oblag gegen die Tausende von verwundeten und todten Freunden und Feinden. Wir wären dann auch im Stande gewesen, unsern Sieg zu verfolgen und so den Frieden zu beschleunigen. Jetzt blieb unser Sieg zunächst ohne Erfolg, da wir uns in Angst und Arbeit um Todte und Lebende erschöpfen mußten, ohne letzteren in Menschlichkeit und Mitleid gerecht werden zu können.
„Nach langer Weigerung und mit dem größten Widerstreben gab endlich bei Balaklava Admiral Dundas, der erste Commandeur unserer Flotte und der Erste, wie es scheint, in Verachtung von Lorbeeren, so daß er ein intimer Freund der Aberdeen’s bleiben wird, 1000 Marine-Mannschaften zum Landdienste her. Man sah es ihrer begeisterten Riesenkraft, womit sie die schwersten Kanonen auf den Berg hinauf zogen, an, daß sie nach langem, schmachvollem Müßiggange das Glück, jetzt etwas thun zu dürfen, zu würdigen und zu genießen verstanden.“
„Sehr früh verließen wir am 23. September die blutigtriefenden Höhen der Alma. Schon in der Dämmerung fingen die Franzosen an, auf eine effektvolle Weise von den Höhen, die sie genommen hatten, Abschied zu nehmen. Alle Musiker und Tambours waren versammelt und bliesen und schmetterten und wirbelten und schossen Salven dazu so wild und schrill, so jauchzend und leidenschaftlich, daß wir unter unsern Zelten rasch aufsprangen, als gäb’ es eine neue Schlacht zu gewinnen. Auch die Soldaten außen, die um die matten Wachtfeuer herum in der Nacht erstarrt waren, wurden sofort wieder gelenkig und bald marschfertig. Ich werde unter allen den massenhaften Erinnerungen von unbeschreiblichen Gräuelscenen nicht die einfache Thatsache vergessen, wie ein paar unserer Leute einen sterbenden Russen, der zum Feuer heranzukriechen suchte, sanft aufhoben und dicht herantrugen und er seine brechenden Augen aufschlug und einen tiefen, schmerzlichen Dank lächelte. Zu weiterer Fürsorge hatten wir weder Zeit noch Mittel. Die Nebel der Nacht krochen langsam über die Hügel und enthüllten uns neue Scenen des Schreckens und
[540] der Verwüstung, die wir früher noch nicht gesehen, die dunkeln, blitzenden Colonnen der Franzosen vor uns, die sich bildenden Reihen unserer eigenen Regimenter, unter denen so viele jetzt erst ihre Nachbarn vermißten, und in weiterer Ferne unsere Flotte mit ihren geschwollenen Segeln und unendlich langen Dampfwolken. Aber was ist das für eine schwarz gefleckte Stelle in der Ebene vor uns? Eine todte Masse, aus der sich zuweilen Arme und jammernde Rufe erheben, aber immer wieder ohnmächtig versinken und erlöschen. Das ist die Ebene, wo die Russen am Längsten standen und sie am Dichtesten fielen. Mein Gott, sechszig qualvolle Stunden hatten sie gelegen und waren noch zu Hunderten am Leben, ohne daß wir etwas thun konnten, ihnen endlich die Qualen oder wenigstens den Tod zu erleichtern. Siebenhundertundfunfzig Mann blieben hier hilflos auf der Ebene liegen. Zwar hatten die Unsrigen ihre Wunden möglichst verbunden, aber was konnten wir weiter thun, da unsere eigenen Brüder in Massen aus Mangel an Pflege und Unterkommen elendiglich hinstarben? Doch ich darf hier Dr. Thomson vom 44sten Regiment nicht vergessen. Er blieb allein für die 750 verwundeten Feinde unter vielen Todten, die seit der großen Beerdigung von gestern gestorben waren, zurück. General Estcourt sandte außerdem auf Befehl Lord Raglan’s in ein benachbartes Tartarendorf, wo die Einwohner eben zurückgekehrt waren, und ließ ihnen die Aufgabe des Dr. Thomson und ihre Pflicht gegen die Verwundeten erklären und zugleich bitten, daß sie bei etwaigen Ueberfällen von Kosaken den in Schutz nehmen möchten, welcher zur Rettung der Unglücklichen allein in Feindeshand zurückbleibe. [3]
Von acht Uhr an marschirten wir gegen die Katscha, welchen Fluß die Russen ohne Opposition frei gegeben. Bald erfuhren wir, daß sie sich sogar auch hinter den Belbeckfluß zurückgezogen hatten, so daß wir ohne Hinderniß vordrangen, bis wir den weißen Leuchtthurm von Sebastopol hinter den Hügeln hervor und über Steppen und grüne Thäler hinwegschimmern sahen. Um drei Uhr bekamen wir die herrlichen grünen und üppig bewaldeten Ufer der Katscha zu Gesicht. Lord Raglan ritt mit seinem Gefolge weit voraus zum größten Erstaunen eines preußischen Offiziers unter uns, der laut erklärte, daß dies ganz gegen alle Kriegsregeln sei. Allerdings hätten ihn ein paar hundert Mann Kavallerie von uns abschneiden und gefangen nehmen können, aber es schien ihm darauf anzukommen, Verachtung vor den gefürchteten Kosaken zu zeigen. Später zog er sich beim Anblick eines Feindes noch zu rechter Zeit zurück.
Die Katscha ist ein schmales, reißendes Flüßchen mit steilen Ufern wie die Alma. Ihr ganzer silberner Lauf zwischen dem üppigsten Grün war durch niedliche, weiße Häuser und Hütten besternt mit den herrlichsten Obstgärten und Weinbergen, aber nirgends waren Bewohner sichtbar. Das erste Gebäude auf unserm Marsche selbst war ein kaiserliches Posthaus mit einer Säule und dem doppelten Adler. Ein blau- und weißgeringelter Meilenzeiger sagte uns, daß wir noch 10 Meilen (englische, etwas über zwei deutsche) von Sebastopol entfernt waren. Im Posthause war alles ausgeräumt und die Immobilien beschädigt und zerhackt. – Zwischen niedrigen Wänden, über die sich Obstbäume mit reifen Früchten überladen schwer herabneigten – die willkommenste Erquickung für uns in der Hitze, welche der kalten feuchten Nacht gefolgt war, ging unser Marsch weiter, bis wir eine Villa erreichten und Halt machten, um unsere herrlichen Aepfel, Birnen, Aprikosen, Pfirsiche und ungeheuere, würzige Weintrauben in einiger Ruhe zu verzehren. Die Villa, einem Landarzte gehörig, war von den Kosaken auf das Entsetzlichste total ruinirt und verwüstet worden. Eine Veranda, herrlich überwölbt von Rosen, Jasmin und mir unbekannten Blumen, lag voller zerschlagener feiner Meubels. Jede Scheibe war zerbrochen. Die Weinfässer lagen zerschlagen in ihrem Weine. Massen verschiedenen Getreides bedeckten den Boden, die feinsten Glas- und Porcellanwaaren die ganze Küche. Vor der Thür saß nur ein lebendes Wesen, eine zutraulich an heißer Sonne blinkende und schnurrende Katze. Der Anblick des Innern läßt sich nicht leicht schildern. Große Trumeaux zerschmettert und zerschlagen, Betten aufgerissen und die Federn umhergestreut über Ruinen von Sopha’s, Stühlen, Tischen, Fauteuils, Bücherschränken, Bildern und Rahmen, Heiligenbildern, Medizinflaschen, weibliche Handarbeiten, Büchern, Schuhen und Stiefeln! Alles zerrissen, zerschmettert, zerschlagen und chaotisch durcheinander gerissen. Selbst Thüren, Thore und Wände waren zerhackt und zerhauen. Hier sah ich, was Barbarei, was Vandalismus ist. Es ist zwar „kriegswissenschaftlich,“ dem Feinde möglichst alle Nahrungsquellen vor der Nase zu zerstören, aber schwerlich hätten wir Sopha’s, Thüren und Wände eingesteckt. Jetzt glaubte ich es, daß die Einwohner von Odessa für den Fall, daß wir Miene machten, es zu nehmen, Befehl erhalten hatten, die ganze herrliche Stadt der Erde gleich zu machen. Opferte man doch einst Moskau, obgleich dies ein ganz anderer Fall war, nämlich der Fall Napoleon’s, während wir ohne Odessa auf die verschiedenste Weise uns gut überwintern könnten.
Unsere Leute und Pferde schwelgten in Weintrauben und Getreide, während wir bis Eskel vorgingen und uns in dem Hause eines hohen russischen Offiziers niederließen, so weit dies die Trümmer ehemaliger Herrlichkeit zuließen. Alle Häuser des Dorfes waren auf ähnliche Weise zerstört, wie das beschriebene und immer desto wüthender und gründlicher, je vornehmer sie gewesen waren. Ein merkwürdiger, schon oft bewährter Beleg des tückischen Hasses der Rohen und Verwahrlosten gegen die Bildung – eine Thatsache, ein Zug, der von größerer geschichtlichen Bedeutung ist, als man bisher geglaubt. Wo die Rohheit und Verwahrlosung in einem Volke überwiegt, da herrscht sie und liefert der Despotie Werkzeuge, den Trieb nach menschlicheren Zuständen unter der cultivirten Minorität niederzuhalten. Hier ist der Schlüssel zu manchen scheinbaren Räthseln der Geschichte von Marius bis auf die neueste Zeit. Das hochgebildete Rom, das schöne Griechenland – beide gingen durch die Majorität gewordenen Sklaven unter und zerfielen in Barbarei. Amerika, das der Sklaverei durch Congreßbeschluß neues Terrain verschaffte, hat hier, wenn irgendwo, seine Achillesferse. – Man kann sich und seinen Kindern keinen größeren Dienst erweisen, als die Kultur der Massen zu fördern. Der amerikanische Grundsatz: Man muß das Volk unterrichten und bilden, damit es uns nicht gefährlich werde, ist der einzige gesunde in der Politik, nur daß die Amerikaner (auch die im Norden) durch ihre Brandmarkung jedes Menschen, der noch ein Tröpfchen „Farbe“ an sich hat, diesem Grundsatze und sich selbst ein Grab graben.
Doch wie komme ich auf meinem Marsche gen Sebastopol zu dieser Weisheit? I nun, wir brauchten es nicht zu fürchten und nicht zu erobern, wenn dieser Grundsatz auch in Rußland gälte. Sah ich doch, daß die Barbaren nicht immer das Bild des Kaisers, welches man neben silber- und goldumstickten Heiligen fast in jedem Hause fand, geschont hatten. Die Häuser bestehen fast alle nur aus einem Stockwerk. Was ihnen an Höhe abgeht, sucht man durch Tiefe und Breite zu ersetzen. Jedes steht einzeln malerisch hinter niedrigen Wänden und Obst- und Blumengärten und Bäumen. Fast jedes hat eine schwer mit Wein bedeckte Vorhalle. Die Zimmer waren da, wo die Zerstörung nicht eingedrungen war, überall sehr rein und sorgfältig geweißt. Große Räume daneben mit Weinpressen und Ackerwerkzeugen, Ställen und Schuppen vollenden des Krim-Bauern Haus und Hof.
Nach Uebernachtung an den Ufern der Katscha marschirten die alliirten Truppen am heißen 24. September, einem Sonntage, mit Zurücklassung einer neuen, großen Masse Verwundeter, Kranker und Todter (jedoch ohne einen Feind gesehen zu haben, als weitere Folgen der Schlacht und die Cholera) durch rauhe hügelige Gegenden nach dem Flusse Belbeck und einem Dorfe gleichen Namens bis 3/4 deutsche Meilen nordöstlich von Sebastopol und am 25. vor Sebastopol vorbei bis Balaklava am Meere, ohne jemals vom Feinde behindert zu werden. Spuren der russischen Flucht, Todte, Sterbende, Kleidungsstücke, zerbrochene Waffen, Wagen u. s. w. fand man sehr oft auf dem Marsche. Das Vordringen nach Balaklava, im Angesichte der gefürchteten Festung mit einer dichtgedrängten Armee von Kanonen und Soldaten, wird strategisch als eine der kühnsten Bewegungen, die jemals in einem Kriege vorkamen, bezeichnet. Der Weg nach Balaklava ist ohnehin enge und von allen Seiten von Berg und Wald eingeschlossen, so daß der Feind unendlichen Schaden thun, wo nicht den ganzen Marsch hätte verhindern können, wenn er ihn vermuthet und für möglich gehalten hätte. Durch dichten Wald und zwischen Bergen hindurch schimmerten oft die weißen Häuser von Sebastopol, in dessen Kanonenbereiche oft ganze Abtheilungen hinmarschirten, ohne jemals Bekanntschaft mit deren Tragweite zu machen. Nur ein Mal bekamen die Alliirten ein russisches Corps zu Gesicht, das aber durch einige Rifle-Salven [541] und Cavallerieangriffe bald in die hastigste Flucht geschlagen ward, so daß sie zwei Meilen lang den Weg mit einer großen Menge Bagage, Munition, Kleidungsstücken, Koffern, Juwelen und Thalern baarem Gelde bestreuten. Darunter auch die Equipage Menschikoffs. Die Beute ward unter Leitung von Offizieren möglichst gleich vertheilt und eine große Batterie von Champagner, die man in Bagagewagen entdeckte, durch Rundtrinken entwaffnet. Viele Soldaten handelten und tauschten hernach mit ihren Beuteantheilen.
Am 26. schlief man schon auf den Höhen von Balaklava, mit dem schon im Alterthume berühmten, kleinen, aber tiefen, nur mit Ausnahme eines engen Einganges ringsum von steilen Felsen geschützten Hafen. Von einem Fort oben gaben etwa sechzig Mann „Bürgerwehr von Balaklava,“ einige Schüsse, doch einige Grüße von Schiffen und Rifles hinaufgesandt, bewog sie bald, die Flagge der Ergebung aufzuziehen. Gefragt, weshalb sie in ihrer Position den vergeblichen Versuch gemacht hätten, antworteten sie, daß sie es für ihre Pflicht gehalten, zu feuern, bis sie aufgefordert wurden, sich zu ergeben.
In der Mittagsstunde erschien Lord Raglan mit Stab in der Hauptstraße von Balaklava. Die Einwohner kamen ihm von allen Seiten mit Körben voller Brot und Blumen entgegen und mit Schüsseln voller Salz, Zeichen ihrer Unterwürfigkeit und daß sie gastfreundschaftlich handeln wollten. Er versicherte sie seines Schutzes und ritt hinunter nach dem Hafen, wo bald das erste Dampfschiff und gegen Abend auch das ungeheuere Kriegsschiff Agamemnon „zum größten Aerger des Admiral Dundas“ und zu unserer höchsten Freude erschien, da nun Flotte und Armee vereinigt und die Basis der Operationen Raglan’s gewonnen war.
Gegen Abend ward ein gefangener Russe, von Geburt ein Engländer, Mr. Upton, der Hauptheld an der Construktion der Festungswerke, Wasserleitungen u. s. w. von Sebastopol, vor Lord Raglan gebracht und nach den Geheimnissen der Festung gefragt, aber er verweigerte in dem allerentschiedensten Tone irgend eine Auskunft zu geben, da es ihm als einem Engländer ganz ehrlos erscheine, die Regierung zu verrathen, in deren Dienste er sei. Er wurde zwar nicht wieder frei gelassen, gleichwohl sah Raglan wohl ein, daß er den Gefangenen weder als einen Russen, noch als einen Engländer weiter zwingen kann, ihm die Dienste eines Verräthers zu leisten.
Balaklava sieht auf seinen Höhen gar malerisch aus. Inwendig ist die Stadt aber weiter nichts, als ein armes Fischerdorf griechischer Colonisten. Man sieht nur zwei oder drei erträgliche Häuser, aber desto mehr gutgefüllte Höfe mit Heu und sonstigen willkommenen Artikeln, für welche stets gut bezahlt wird. „Auf unserm Marsche konnten wir nur aus dem einfachen Grunde nicht bezahlen, weil mit Ausnahme einer einzigen Katze nirgends ein lebendiges Wesen in Häusern und Dörfern zu entdecken war.“
Balaklava hat Aussicht, nach Sebastopol einer der bekanntesten Namen zu werden. Es ist jetzt der Brennpunkt der englisch-französisch-türkischen Operationen gegen Sebastopol zu Lande und Wasser und der Schlüssel zum Paradiese. Von Balaklava zieht sich in Sebastopol entgegengesetzter Richtung das berühmte Thal von Baidar hin, welches als das herrlichste Arkadien der Welt schon oft besungen ward. Die schönsten Villa’s verbergen sich reizend zwischen einem Gemisch der üppigsten alten Bäume und der duftigsten Garten- und Blumen-Cultur. Alles grünt und blüht hier im ewigen Sonnenschein und der weichsten, heitersten Luft saftiger, duftiger, farbenglühender, als in irgend einem Theile des endlosen Rußland. Es ist die äußerste, höchste Blüthenkrone des russischen Reichs, das hier von seinen in ewiges Eis gebannten tausendmeiligen Gestaden am Nordpolarmeer gleichsam den Aequator und alle Herrlichkeiten der Tropen erreicht. Die Natur hört hier nie auf, in verschwenderischster Weise stets gleichzeitig zu keimen, zu blühen und reife Früchte zu bieten, die riesigsten Weintrauben, die glühendsten Südfrüchte aller Art in idealer Größe und Vollendung. Bis Alupka, Yalta und selbst Aluchta fährt sie fort, an den Bergen hinauf dem offenen Meere die gesegnetsten, reizendsten Landschaftsbilder zu zeigen. Der Blick und das Herz bedürfen nach den Kriegsbildern solcher Aussichten, die wir freilich auch nicht ohne Besorgniß genießen, daß etwa strategische Rücksichten der „Wissenschaft“ gelegentlich – von Freundes- oder Feindeshand – vandalische Zerstörung dieses Paradieses gebieten mögen.
Es ist eine sehr bekannte Erscheinung, daß sich alle Körper ausdehnen, wenn sie erwärmt werden. Man denke z. B. an das Quecksilber im Thermometer. Ganz besonders auffällig ist diese Erscheinung bei allen luft- und dampfförmigen Stoffen. Sie können um das Mehrfache ihres Raumes, welchen sie bei gewöhnlicher Temperatur einnehmen, ausgedehnt werden, während dies bei den festen und flüssigen Körpern nur wenig oft kaum bemerkbar geschieht. Dies wird natürlich auch bei der atmosphärischen Luft stattfinden. Werden aber gewisse Theile der Atmosphäre durch die Wärme ausgedehnt, so werden sie dadurch leichter als die umgebenden kälteren Theile und müssen folglich in die Höhe zu steigen beginnen. Dieses Aufsteigen der erwärmten Luftmassen hat, wie leicht einzusehen, ein Nachströmen kälterer zur Folge, denn sonst müßte ein leerer Raum sich bilden, und so entsteht jene Luftbewegung, die wir je nach ihrer Stärke Wind oder Sturm nennen.
Ein Beispiel bieten zunächst die beständigen Land- und Seewinde an den Küsten namentlich der heißen Länder. Den Tag über werden von den fast senkrecht auffallenden Sonnenstrahlen die Küstenländer bedeutend erwärmt und kühlen sich während der Nacht wieder sehr ab. Dies wird dadurch noch begünstigt, daß in der Nähe des Aequators Nacht und Tag das ganze Jahr hindurch nahe gleich lang sind. Das Meer behält dagegen immer nahe dieselbe Temperatur, theils weil das Wasser ein schlechter Wärmeleiter ist, d. h. die Wärme schwer annimmt und schwer abgiebt, theils weil das Meerwasser in fortwährender Bewegung begriffen ist, wodurch die erwärmten Theile mit den kälteren immer wieder gemischt werden. Es muß also, nachdem den Tag über der Erdboden und mit ihm die Luft erwärmt worden ist, die letztere in die Höhe zu steigen beginnen, dagegen die kältere Luft über dem Meere nach dem Lande zu strömen, d. h. Seewind entstehen, der gegen Sonnenuntergang am Stärksten wehen wird. In gleicher Weise wird die während der Nacht auf dem Lande abgekühlte Luft, namentlich gegen Sonnenaufgang dem wärmeren Meere zuströmen, d. h. es wird Landwind wehen.
Dieselbe Erscheinung wiederholt sich in größerem Maaßstabe bei den Passatwinden, indem davon die herrschende Windrichtung an allen Theilen der Erdoberfläche mehr oder weniger abhängt. Passatwinde nennt man nämlich die zu beiden Seiten des Aequators (zwischen den sogenannten Wendekreisen) beständig wehenden Ostwinde. Diese Sache erfordert aber deswegen eine etwas umständlichere Betrachtung, weil noch eine andere Ursache thätig ist, welche die anfängliche Richtung des Windes abändert.
Wenn in einem geheizten Zimmer zwei entgegengesetzt liegende und in kalte Räume führende Thüren geöffnet werden, so wird im unteren Theile der Thüren sofort kalte Luft einströmen und nach der Mitte des Zimmers zu ihren Weg nehmen; in den oberen Theilen der Thüren wird dagegen warme Luft hinausströmen, welche von der Mitte der Decke herkommt. Es werden sich sonach in diesem Zimmer folgende Luftströmungen bilden: im unteren Theile zwei nach der Mitte desselben gehende und von den Thüren herkommende Ströme; im oberen Theile zwei nach den Thüren zu gehende von der Mitte der Decke herkommende Ströme; in der Mitte des Zimmers selbst wird ein aufsteigender Luftstrom entstehen. Von diesen Strömen kann man sich leicht durch eine Lichtflamme überzeugen, welche je nach der Richtung des Luftzuges bald nach dieser bald nach jener Seite hingeweht werden wird.
Die Mitte des geheizten Zimmers stelle nun die Region in der Nähe des Aequators vor, die beiden Thüren die Pole der Erde. Man sieht leicht, daß das, was hier im Kleinen stattfand, auf der Erde sich im Großen wiederholen wird. Am Aequator [542] wird die ununterbrochen von den heißen Sonnenstrahlen erwärmte Luft in die Höhe steigen und in den oberen Regionen der Atmosphäre nach beiden Seiten hin d. h. nach den Polen zu abfließen; dagegen wird von den Polen nach dem Aequator kalte Luft zuströmen. Die in den oberen Regionen nach den Polen zu strömende Luft wird sich natürlich nach und nach wieder abkühlen und sich dann auf die Oberfläche der Erde herabsenken. Dieses Herabsinken geschieht in der gemäßigten Zone, also in den Breiten der Erde, zwischen welchen Europa, Nordamerika, der nördliche Theil von Asien, ferner die Südspitze von Amerika und Afrika und ganz Neuholland liegt. Sonach würden in der Nähe des Aequators beständig Winde wehen müssen, welche von den Polen herkommen, während in größerer Entfernung vom Aequator bald Nord- bald Südwinde herrschen würden, je nachdem der eine oder andere Luftstrom gerade über einem bestimmten Theil der Erdoberfläche sich gelagert hätte. Denn da, wie oben gesagt wurde, in der gemäßigten Zone die oberen Luftströme sich auf die Oberfläche der Erde herabsenken, so werden sie sich zwischen die von den Polen kommendcn Ströme lagern.
Die Erfahrung widerspricht aber dieser Theorie, indem in der Nähe des Aequators beständige Ostwinde und in der gemäßigten Zone bald Südwest- bald Nordostwinde die herrschenden sind.
Diese Aenderung der Windrichtung kommt von der Achsendrehung der Erde her.
Um dieses zu erklären, stellen wir im Geiste folgenden Versuch an. Der Leser denke sich die Erdoberfläche vollkommen glatt und fest und nehme einstweilen an, daß sie keine Achsendrehung habe. Wir rollen von irgend einem Punkte des Aequators eine Kugel genau nach einem der beiden Pole. Sehen wir von allen Hindernissen der Bewegung ab, so wird die Kugel nach dem Gesetz der Trägheit die ihr von der Hand mitgetheilte Geschwindigkeit unverändert beibehalten und ohne weiteren Anstoß ununterbrochen in einem Kreise um die Erde laufen, welcher durch die beiden Pole hindurch geht. Ganz anders wird aber die Bewegung der Kugel ausfallen, wenn, wie es wirklich der Fall ist, die Erde sich von Westen nach Osten um eine durch die Pole gehende Achse dreht. Durch diese Achsendrehung erhält nämlich jeder Punkt der Erdoberfläche eine Bewegung nach Osten zu, die aber für die verschiedenen Punkte der Erde je nach ihrer Entfernung vom Pole, verschieden ist. Jeder Punkt der Erdoberfläche beschreibt einen dem Aequator parallelen Kreis (Parallelkreis), der um so kleiner ist, je näher der Punkt dem Pole liegt; dagegen werden alle diese Kreise in derselben Zeit, nämlich in 24 Stunden beschrieben. Der Umfang des Aequators beträgt bekanntlich 5400 Meilen. Ein im Aequator befindlicher Punkt läuft also in 24 Stunden durch einen Kreis von 5400 Meilen Umfang. Ein Punkt, der um 1/3 der ganzen Entfernung des Poles vom Aequator vom Pole entfernt ist (im 60. Grade der geographischen Breite liegt, wie z. B. Petersburg) beschreibt einen Kreis von halb so viel Umfang, nämlich von 2700 Meilen; da nun aber die Zeit dieser Bewegung wieder dieselbe ist, so wird die Geschwindigkeit eines solchen im 60. Grade der Breite liegenden Punktes nur halb so groß sein, als die eines Punktes im Aequator. Jeder auf der Erdoberfläche befindliche Körper nimmt nun Theil an dieser Bewegung und behält sie in Folge des Gesetzes der Trägheit bei, auch wenn er momentan von der Erde getrennt wird. Wenn das nicht so wäre, würde es nicht möglich sein, mit irgend einem Geschoß etwas zu treffen; es würde der Boden unter unseren Füßen wegfahren, wenn wir in die Höhe springen, und wir würden dann auf einem ganz anderen Orte wieder zu stehen kommen. Man sieht leicht, daß unter solchen Umständen alles auf der Erde verwüstet werden müßte.
Doch wir kehren zurück zu unseren früheren Betrachtungen.
Jene Kugel also, welche vom Aequator nach dem Pole zu abgeht, hat außer der ihr von der Hand mitgetheilten Bewegung noch eine andere nach Osten zu gehende, durch die Achsendrehung der Erde erzeugt, vermöge welcher sie in 24 Stunden 5400 Meilen zurücklegt. Diese Geschwindigkeit behält sie nach dem Gesetze der Trägheit bei. Je weiter sie sich aber nach dem Pole zu bewegt, um so mehr berührt sie Punkte der Erdoberfläche, welche eine kleinere Geschwindigkeit nach Osten zu besitzen. Sie wird also diesen Punkten vorauseilen und immer mehr und mehr von der direct nach dem Pole gehenden Linie abweichen. Eine solche Kugel würde sonach eine ganz merkwürdige Bahn verfolgen und sobald nicht nach dem Pole gelangen; sie würde sich in einer spiralförmigen Bahn um den Pol herumbewegen.
Aehnliches würde stattfinden, wenn man von dem Pole nach dem Aequator eine Kugel rollte. Die Pole sind die einzigen Punkte der Erde, welche an der Achsendrehung derselben nicht theilnehmen. Eine vom Pole auslaufende Kugel hat sonach keine weitere Bewegung, als diejenige, welche ihr anfangs von der Hand mitgetheilt worden ist. Je weiter sie aber vom Pole sich entfernt, um so größer wird die nach Osten gerichtete Geschwindigkeit der Punkte der Erdoberfläche. Da nun die Kugel gar kein Bestreben hat nach Osten hin sich zu bewegen, so werden ihr die Punkte der Erde vorauseilen, sie wird hinter ihnen zurückbleiben, also immer mehr und mehr eine nach Westen gehende Bewegung annehmen, welche endlich in der Nähe des Aequators dem Aequator parallel wird.
Was wir hier über die von unserer Hand geworfene Kugel gesagt haben, gilt nun auch von den nach und von den Polen sich bewegenden Luftmassen. Die Luftmassen, welche über dem Aequator in die Höhe steigen, nehmen Theil an der Achsendrehung der Erde. Sie besitzen nach Osten zu eine Geschwindigkeit von 5400 Meilen in 24 Stunden, welche sie nicht verlieren während ihrer Reise nach den Polen, wohin sie, wie oben gesagt wurde, abfließen müssen. Je weiter also diese Luftmassen vom Aequator sich entfernen, desto mehr werden sie ihre anfängliche Richtung nach den Polen in eine nach Osten sich neigende abändern, dergestalt, daß wir in der gemäßigten Zone, wo diese Luftströme sich wieder anfangen auf den Erdboden zu senken, sie als nach Nordost gehende Winde in der nördlichen Halbkugel und als nach Südost gehende Winde in der südlichen Halbkugel empfinden werden. Da wir nun die Winde nach der Himmelsgegend zu nennen pflegen, woher sie kommen, so würden jene Luftströmungen in der nördlichen Halbkugel Südwest-, in der südlichen Halbkugel Nordwestwinde sein.
Diese Winde nennt man die rückkehrenden Passatwinde, oder den Südwestpassat und den Nordwestpassat.
Ebenso wie wir es oben bei der Kugel gesehen haben, werden nun auch die von den Polen nach dem Aequator hinströmenden Luftmassen ihre Richtung um so mehr gegen Westen hin abändern, je mehr sie sich dem Aequator nähern. In der gemäßigten Zone gehen die Luftströmungen bereits nach Südwest in der nördlichen und nach Nordwest in der südlichen Halbkugel, d. h. es sind in der nördlichen Halbkugel Nordost-, in der südlichen Südostwinde. Diese Winde nennen wir die kommenden Passatwinde oder den Nordostpassat und den Südostpassat. Es müssen, weil die Luft direkt von den Polen herfließt, kalte Winde sein. Je mehr sich aber der Luftstrom dein Aequator nähert, um so mehr geht er in reinen Ostwind über. Zu beiden Seiten des Aequators wehen in der That beständige Ostwinde, welche schlechthin Passatwinde genannt werden.
Zwischen den beiden östlichen Luftströmungen liegt noch eine schmale Zone, in welcher keine beständigen Winde wehen und die deshalb die Zone der Windstillen oder die Region der Calmen heißt. Eigentlich müßte hier auch beständiger Ostwind herrschen, da beide Lustströme sich vereinigen. Allein wie schon oben erinnert worden ist, gerathen hier die Luftmassen in aufsteigende Bewegung, welche so heftig ist, daß dadurch die horizontale Bewegung unmerklich wird. Diese Region wird von Stürmen und Regengüssen sehr häufig heimgesucht.
Wir haben in den vorigen Betrachtungen die Sache so dargestellt, als sei die Zone der Windstillen immer unmittelbar bei dem Aequator, dergestalt, daß der Aequator mitten durch sie hindurch geht; ferner als seien die Zonen der Passatwinde zu beiden Seiten desselben gleich weit von ihm entfernt. Das ist nicht ganz richtig. Diese Zonen verrücken sich vielmehr während eines Jahres periodisch je nach dem Stande der Sonne gegen die Ebene des Aequators. Es ist nämlich nicht das ganze Jahr hindurch am Aequator der heißeste Theil der Erde. Dieser heiße Theil ist jedesmal da, wo die Sonnenstrahlen zur Mittagzeit senkrecht auf die Erde fallen und so kommt es, daß die Zone der Windstillen in der einen Hälfte des Jahres etwas nördlich, in der andern etwas südlich vom Aequator liegt. Außerdem erfährt die Lage dieser Zonen noch eine Abänderung durch die in beiden Halbkugeln (der nördlichen und südlichen) verschiedene Vertheilung von Land und Meer.
In dieser letzten Beziehung ist überhaupt zu bemerken, daß [543] die Regelmäßigkeit dieser Winde durch local oder zeitweilig wirkende Ursachen sehr geändert wird. Ungestört, höchstens einmal durch einen Sturm unterbrochen, wehen sie nur auf den großen Meeren und etwa erst 50 Meilen von den Küsten entfernt. In der Nähe der Küsten werden sie durch die periodisch wechselnden Land- und Seewinde unterbrochen. Die Schiffer erkennen hieraus, ob sie sich in der Nähe des Landes befinden. Innerhalb der großen Continente wird ihre Regelmäßigkeit durch eine Menge von Ursachen gestört, z. B. durch hohe Gebirgsketten, durch die Vegetation und durch den gänzlichen Mangel derselben. Noch größer ist die Störung, welche die kommenden und zurückkehrenden Passatwinde in den Continenten der gemäßigten Zone erleiden. Schon das bringt eine bedeutende Störung hervor, daß hier zwei Strömungen von direkt entgegengesetzter Richtung sich neben einander lagern. Denn wie schon oben erinnert wurde, senken sich die vom Aequator nach den Polen abfließenden Luftmassen, nachdem sie sich in bedeutenden Höhen wieder abgekühlt haben, auf die Erde nieder. Dieses Niedersinken geschieht bereits in der gemäßigten Zone. Hierdurch werden nun die von den Polen kommenden Winde theilweise verdrängt. Wir müssen uns nämlich vorstellen, daß eine Anzahl von großen und breiten Luftströmen entgegengesetzter Richtung in der gemäßigten Zone neben einander fließen und daß sich das ganze System dieser Ströme allmälig verrückt, so daß ein gewisser Ort der Erde bald in diesen bald in jenen Luftstrom gerathen wird. Die Richtung und Dauer dieser Winde wird aber, wie schon erinnert in der gemäßigten Zone durch die Gestaltung der Continente sehr bedeutend abgeändert.
Daß die am Aequator in die Höhe gestiegene Luft wirklich nach den Polen abfließt, in der Zone der Passatwinde also in bedeutender Höhe ein anderer Luftstrom herrschen wird, als an der Erdoberfläche, davon hat man sich durch unmittelbare Beobachtungen überzeugen können. Bisweilen sehen nämlich die Schiffer in der Zone der Passatwinde in bedeutender Höhe Wolken ziehen, welche nach den Polen zu sich bewegen, also nicht von dem an der Meeresoberfläche wohnenden Ostwind getrieben werden können. Noch auffallender beweisen dies vulkanische Ausbrüche, wo die Asche in Gegenden geführt wurde, die der Passatwind nicht erreichen konnte. Dove führt mehrere solcher Fälle an, wovon wir den folgenden mittheilen wollen: „Am 20. Januar 1835 wurde die ganze Landenge von Mittelamerika durch ein den Ausbruch des Coseguina (im Staate Nicaragua begleitendes Erdbeben erschüttert. Am 24. und 25. Januar verdunkelten in Kingston auf Jamaica in einer Entfernung von 800 englischen Meilen dichte Schauer einer Asche die Sonne und dadurch erfuhr man erst, daß die früher gehörten Explosionen nicht von Kanonenschüssen herrührten. Diese Asche konnte nur durch den rückkehrenden Passat herbeigeführt sein, da Jamaica nordöstlich von Nicaragua liegt. Selbst auf den höchsten Spitzen der Andes hat noch nie ein Reisender den oberen Luftstrom erreicht. In der Nähe der Windstillen muß daher sein Abstand vom Meeresspiegel mehr als 20,000 Fuß betragen. Es mußte daher die Explosion ungeheuer gewesen sein, damit die Asche aus dem niedrigen Vulcan Coseguina diese Höhe erreichte.“
Noch eins wollen wir nicht unerwähnt lassen, was vielleicht befremden könnte. Nach den obigen Betrachtungen müßte nämlich der Passatwind eine furchtbare Geschwindigkeit besitzen, eine Geschwindigkeit, welche nahe der der rotirenden Erde im Aequator gleich käme. Denn die von den Polen abfließenden Luftmassen haben gar keine Geschwindigkeit nach Osten, die Erdoberfläche wird ihnen also in der Nähe des Aequators mit ihrer ganzen Geschwindigkeit vorauseilen, wodurch ein eben so geschwinder Ostwind entstehen müßte. Der Passatwind besitzt nun zwar eine bedeutende Geschwindigkeit, doch eine so große, welche der Geschwindigkeit der Erde bei ihrer Achsendrehung im Aequator gleichkäme, würde selbst die Geschwindigkeit des furchtbarsten Sturmes vielmal übertreffen. Ein solcher Wind würde alles zerstören, was in sein Bereich käme. Daß eine solche Geschwindigkeit nicht entstehen kann, ist leicht zu erklären. Die nach dem Aequator zufließenden Luftmassen besitzen erstens schon eine kleine Geschwindigkeit nach Osten zu, indem sie nicht vom Pole selbst, als einem Punkte, herkommen können, sondern vielmehr aus der ziemlich ausgedehnten Polarregion kommen. Zweitens finden sie aber auch auf ihrem Wege nach dem Aequator fortwährenden Widerstand, wie z. B. durch die Reibung an der Erdoberfläche und an anderen entgegengesetzt laufenden Luftmassen. Hierdurch wird der größte Theil ihrer Geschwindigkeit allmälig aufgehoben, oder vielmehr, die Luftmassen fangen allmälig an, der östlichen Bewegung der Erdoberfläche zu folgen. Dasselbe findet bei den rückkehrenden Passatwinden statt.
Die Straße, welche an der Südküste hin und zwischen den Besitzungen der russischen Großen vorbei führt, zieht sich immer mehrere hundert Fuß über dem Meere und mehrere tausend unter den höchsten Zacken der Felsen hin. Ehe man nach dem großartigsten Schlosse eines Privatmannes, Alupka, gelangt, zeigt sich ein höhlenartiger gewaltiger Felsenriß mitten in einer steilen Felsenwand. In ihm, sagt Kohl, soll seit undenklichen Zeiten eine Colonie wilder Bienen hausen, die den ganzen Spalt mit alten und neuen Wachsgehäusen angefüllt hätten. Von unten hinauf zu gelangen ist unmöglich, von oben herunter aber sehr schwer, weil die obern Felsen etwas vorstehen und der Mann, der sich an einem Seile etwa herunter ließe, in einiger Entfernung von der Höhlung mit den Bienenstaaten hängen bleiben würde. Dennoch soll es den Tartaren bisweilen gelingen, hineinzugelangen und sie finden dann reichen Gewinn, weil sie den kostbarsten Honig centnerweise herausschaffen und hinaufwinden lassen. Wie gefährlich aber die Arbeit unter den Millionen erzürnter Bienen sein mag, kann man sich leicht vorstellen. Auch verunglückt einmal ein Waghals und dann haben die Bienen einige Jahre Ruhe, um wiederum Schätze auf Schätze zu häufen, bis dieselben einen neuen Tollkühnen zum Raube verlocken. Ist es im Sommer sehr heiß, so daß die Felsen fast glühend werden, so schmilzt wohl das Wachs in den Bienenbauten und der Honig fließt dann aus der Höhle heraus an den Felsen hinunter.
Alupka selbst ist ein Tartarendorf und ganz in der Nähe desselben, an der zerrissensten Felsenpartie der Küste, wo die Wände steil emporsteigen, und das Gestein im grausigsten Untereinander umhergeworfen ist, an der Stelle, die vielleicht der Krater eines ausgebrannten Vulkans ist, ließ Fürst Woronzow sein vielbewundertes gothisches Schloß aufführen, an welchem man fünfundzwanzig Jahre arbeitete und das weniger als zehn Millionen schwerlich kostet. Der Plan dazu allein soll 60,000 Rubel gekostet haben. Das Schloß steht auf einer Anhöhe, einige hundert Fuß über dem Meere und soll wegen zweier Cypressen dahergebaut worden sein, welche einst Potemkin da pflanzte. Die Kunst hat auf dem unfruchtbaren grauen Boden Wunder gewirkt, und ein deutscher Gärtner die herrlichsten Anlagen da geschaffen, die nur, des beschränkten Raumes wegen, zu klein für das Schloß in so riesigen Verhältnissen sind und überdies hat man jeden Sommer wegen der Trockenheit und Dürre der Gegend unsägliche Mühe, die Blumen frisch und die Bäume grün zu erhalten. Und auch die Aussicht ist der Millionen nicht werth, die auf die Anlagen verwendet worden sind, denn wo man sich auch im Park befinden mag, man sieht nichts als auf der einen Seite das Meer und auf der andern den himmelansteigenden kahlen Felsen mit einigen Gartenanlagen und was noch das Freundlichste ist, das Tartarendörfchen unter hohen alten Nußbäumen mit den Häusern, die hier und da unter den Felsen verstreut sind und der kleinen Moschee, die der Fürst auf einem Felsen erbaut hat.
In weit reizenderer Lage befindet sich, in geringer Entfernung, Marsanda, ein großes Gut Woronzow’s, das einige der schönsten Landschaften der Krim besitzt. Eine hohe Felsenkette in [544] den groteskesten Formen und bis an den Gipfel mit Baum und Busch bekleidet, schützt den Ort vor den kalten Stürmen aus Norden. Vorn liegt weit ausgebreitet das Meer mit zahlreichen Buchten und hohen, schroffen Vorgebirgen, während rechts und links das fruchtbare Thal von Jalta sich ausbreitet, durch welches zahlreiche Bäche fließen, die in Kaskaden von den Bergen herunterstürzen. Unter weiten Getreidefeldern, Weingärten, Weideplätzen finden sich Urwälder von Eichen, Buchen und Kastanien, in welchen wilde Reben und zahllose Schmarotzerpflanzen in Guirlanden sich von Baum zu Baum schlingen.
Garten schließt sich nun an Garten, Weinberg an Weinberg, Villa und Schloß an Schloß und Villa, ein Plätzchen reizender als das andere, dazwischen hier und da ein malerisches Tartarendorf. Hier liegt Miskhor, welches Narischkin gehört, Koreis, eine Besitzung Galizin’s, Nikita, Maharadsch, Gaspra, Oreanda, das Besitzthum der Kaiserin, Klein-Oreanda und Livadia, das dem Grafen Potocki gehört. So schön aber diese Besitzungen sind, so tragen sie doch meist wenig oder gar nichts ein, ja Oreanda, das die Kaiserin[WS 1] einmal im Leben sah, als das Schloß noch nicht dort stand, kostet jährlich über 30,000 Rubel zu unterhalten.
Livadia und Oreanda liegen bereits an der kleinen Bai von Jalta, welche sich ziemlich tief in das Land hineinzieht und durch kleine Thäler da gleichsam fortgesetzt wird. Es ist dies einer der malerischsten Punkte der Krim und die kleine freundliche Stadt Jalta war zum Mittelpunkte des Verkehres hier ausersehen; denn von ihrem Hafen aus fanden die regelmäßigen Dampfbootverbindungen einer Seits mit Odessa, andrer Seits mit Jaffa, Kertsch und dem Azow’schen Meere statt. Der Ort liegt aber auch so vortheilhaft, daß schon in uralten Zeiten eine Stadt da gebaut wurde, die dann in dem Jahrhunderte der Handelsblüte der Krim unter dem Namen Jalita, Ischalita oder Jalty wieder auflebte.
Schönheiten der mannigfaltigsten Art, welche von Manchen über die noch gesetzt werden, unter denen die Villen der vornehmen Russen liegen, geleiten den Wanderer weiter an der Küste hin, am Bärenberge vorüber nach Aluschka, dem Hauptpunkte des Wein- und Obstbaues der Krim, bis nach Sudak, wo die Regierung eine Weinbauschule angelegt hat.
Der wichtigste Ort, in den uns die Weiterreise bringt, ist Kaffa oder Theodosia an einer großen Bai, nach dem Lande zu von einem Amphitheater von Bergen umgeben. An derselben Stelle oder doch in der Nähe stand schon zur Zeit der Griechen eine Stadt Theodosia, die aber in den Stürmen der Völkerwanderung ganz von der Erde verschwand. Erst im dreizehnten Jahrhundert, als die Krim im Besitz der Mongolen war, wurde eine neue Stadt da gebaut, welche man Kapha oder Kaffa nannte, und die unter den betriebsamen Genuesen, die sich da angesiedelt hatten, schnell empor blüthe. Schon nach hundert Jahren hatte Kaffa eine Einwohnerzahl von mehr als 100,000 Seelen und es wurde der Pracht seiner Gebäude wegen das Constantinopel der Krim genannt, ja es scheint der Mutterstadt Genua selbst kaum nachgestanden zu haben. Der einzige noch vorhandene Ueberrest der Größe dieser Stadt unter den Italienern ist ein ziemlich gut erhaltener Wachthurm und Ruinen der Befestigungswerke, denn als die Türken 1474 die Stadt eroberten und plünderten, wurde fast Alles zerstört; 40,000 Einwohner wurden nach Constantinopel gebracht, Glücklichere entflohen und zerstreuten sich in fremde Länder. Im buchstäblichen Sinne flossen Ströme von Blut und viele Schiffe, die mit genuesischem Golde und genuesischen Kostbarkeiten beladen waren, segelten nach Constantinopel. Mit der Vertreibung und Ermordung der Italiener endete auch der Handel der Stadt und was man auch that denselben wieder zu heben, traurige Oede trat an die Stelle des frühern Lebens. Bald sah man nur noch Schafheerden an der Küste, die sich von den Gräsern der Steppe nährten, welche weiter und weiter nach dem Meere zu herabstieg. Als die Krim russisch geworden war, erkannte die neue Regierung rasch die vortheilhafte Lage von Kaffa; sie ließ eine neue Stadt erbauen und bemühte sich sie emporzubringen, bald aber wendete man mehr Sorgfalt auf Kertsch auf der einen und auf Odessa auf der andern Seite. Theodosia ist eine unbedeutende Stadt geblieben und ihr Handel beschränkt sich ausschließlich auf Fische, welche in den benachbarten beiden Meeren im Ueberfluß vorhanden sind.
Von Theodosia aus schwindet die Schönheit der Küste; die Felsen senken sich allmälig zur Steppe herab, die Bäume und Büsche werden seltener und bald sieht man nichts als auf der einen Seite das Wasser und der andern das Grasmeer. Nur hier und da deuten eine Schafheerde und eine Tartarenhütte noch an, daß die Gegend nicht ganz verödet ist. Diese Verödung ist um so auffallender als nach Strabo und selbst nach den Berichten der Genuesen aus dem fünfzehnten Jahrhunderte gerade der Strich zwischen Theodosia und dem Azow’schen Meere Getreide in so großer Menge hervorbrachte, daß man ihn die Getreidekammer der Krim nannte.
Ist man an den Resten der Mauer vorüber, welche sonst die Grenze des Königreiches Bosporus bildete und um das Vorgebirge Thakli herum, so gelangt man in den cimmerischen Bosporus (jetzt Canal von Kertsch), welcher das schwarze Meer mit dem Azow’schen verbindet, und bald in den Hafen von Kertsch selbst, dem alten Pantikapäum, der berühmten Hauptstadt des Helden Mithridates. Die Lage kann für den Handel kaum günstiger sein und die Stadt, die ebenfalls von Rußland neu gebaut ist, ist allerdings auch im Aufblühen begriffen. Die Russen vermieden bei dem Baue der Stadt den Fehler, den sie bei Odessa und andern neuen Städten gemacht haben, in welchen sie die Straßen so breit anlegten, daß die Einwohner sie entweder nicht zu pflastern im Stande sind oder nicht pflastern wollen und deshalb im Winter in tiefem Schmutze waten müssen, im Sommer aber von gewaltigen Staubwolken gepeiniget werden.
Ein hübscher Tempel bezeichnet die Stelle, wo sonst die königliche Residenz der bosporanischen Könige stand und ein noch hübscherer Bau befindet sich auf einer vorstehenden Terrasse, ein Museum, welches die zahlreichen Alterthümer aufnimmt, die man in der Gegend findet. Leider fehlt es der Gegend an Bäumen, ja fast an Vegetation, so daß man von der glänzenden Weiße des Meeres und den weißen Gebäuden fast geblendet wird. Der Mangel an Holz ist in diesem Theile der Krim so groß, daß die Einwohner selbst ihr Feuerholz meilenweit herbei schaffen müssen. Die in dem Museum befindlichen Alterthümer sind bereits ziemlich zahlreich, besonders seit man einige sogenannte Grabhügel, auch den des Mithridates geöffnet hat, welcher sonst im Volke der Goldberg hieß. Man fand darin eine wahrhaft staunenswerthe Menge vergoldeter Bronzevasen und goldener Zierrathen von der vollendetsten Arbeit. Die schönsten hat man freilich nach Petersburg gebracht. Ein anderer Grabhügel, einige Stunden von Kertsch entfernt, in völliger Einöde, wurde später im Beisein des Fürsten Woronzow selbst geöffnet. Man gelangte in eine Tiefe von 30 Fuß und da lagen schwere Steinplatten über dem eigentlichen Grabe. Als es gelungen war die Steine von dem Riesengrabe abzuheben, sah man nichts darin als in der Mitte ein hölzernes Gefäß. In diesem aber befand sich eine goldene Urne in der zierlichsten Form und von der vortrefflichsten Arbeit. In der Urne war nichts als die Asche dessen, den man da beerdigt hatte, vielleicht eines großen Helden und Fürsten. Ein Diener streute sie in Kertsch, wohin man die Vase brachte, auf einen Düngerhaufen. Das ist das Loos des Großen auf der Erde!
Grabhügel ähnlicher Art sieht man in der ganzen Gegend und auf der Halbinsel Taman in unglaublich großer Anzahl; sie alle sind von Riesengröße und sie beweisen, daß das Land einst von einem großen und reichen Volke bewohnt wurde. Ueber die Größe dieser Grabhügel hat sich eine Sage im Lande erhalten, welche sagt: Die Erdhügel wurden von dem Volke freiwillig über den Gräbern aufgethürmt; wenn Einer der großen Krieger starb, stellte man seine Asche in ein Grab und Jeder, der seine Thaten oder Tugenden bewunderte, brachte Erde dahin und schüttete sie auf das Grab.
Außer den Ueberresten der Burg, welche Mithridates auf einem Berge aufführte und die heute noch seinen Namen trägt, finden sich in der Umgegend Spuren von Cimmerium, Akra und Nymphäa nebst den Ruinen des Palastes der Könige von Bosporus. Geht man einige Stunden weiter nach dem Fort Jenikale nahe am Azow’schen Meere, so erblickt man Ueberreste von Orthmion und drüben auf der Halbinsel Taman das was von der einst so glänzenden Stadt Phanagoria übrig ist, unter deren Ruinen man trotz der Neigung der Russen alle Alterthümer zu vernichten, die berühmte Naumachia (Theater zu Seeschlachten) erkennt, welche tausend Schritte im Durchmesser hat. Niemand, welcher jene altberühmte Gegend durchstreift, versäumt es wohl, auf dem Gipfel eines Hügels auszuruhen, welcher heute noch der „Sitz des [545] Mithridates“ heißt und eine weite Aussicht über das Meer und das umliegende Land gewährt, das sonst in Segen blühete und jetzt eine Wüste ist, denn mit Ausnahme der kleinen Stadt Kertsch sieht man nichts als Ruinen und Gräber, nicht einen Baum, kaum Gras genug für einige Schafe, die auf dem verbrannten Steppenboden mühsam ihre kärgliche Nahrung suchen.
Nachdem wir so das Interessanteste und Wichtigste der Krim gesehen, haben wir die Reise durch die Steppe nach Perekop zu machen, welches die Halbinsel mit Rußland verbindet. Was aber ist eigentlich eine Steppe?
Eine Steppe ist weder eine Wüste noch eine Wiese, sondern eine offene, mit hohen Kräutern bedeckte, aber baumlose Gegend. Sie hat eine gewisse Aehnlichkeit mit dem Hochwalde darin, daß mehrere ihrer Gewächse mit geradem Stengel emporwachsen, der sich erst oben in Aeste theilt. Wie im Hochwalde kleineres Gesträuch oder Buschwerk, sogenanntes Unterholz, vorhanden ist, das zwischen den Stämmen wächst und vorzugsweise an den Rändern des Waldes vorkommt, so wachsen in der Steppe kleinere Kräuter von ein und zwei Fuß Höhe unter den großen Pflanzen, die sechs, acht bis zwölf Fuß hoch werden. Eigentliche Gräser kommen in der Steppe selten vor und nur etwa Rispe, Schwingel und Trespe, von Berasung des Steppenbodens ist gar nicht die Rede und bei weniger dichtem Pflanzenwuchse sieht man die kahle Erde. Eines der merkwürdigsten Steppengewächse wird von den Russen Springinsfeld genannt. Es hat hübsche kleine Blumen und verästelt sich vielfach gleich von der Wurzel an, so daß es einen runden dichten Busch bildet. Hat es verblüht, so bricht der Hauptstengel ab und die rundliche Pflanze wird von dem geringsten Winde hin- und hergeführt. Andere kleine ebenfalls vertrocknete Pflanzen hängen sich an sie und es bildet sich allmälig ein Knäuel, der bei stärkerem Winde über die Steppe geführt wird. Das ist die sogenannte Steppenhexe.
In der Zeit der Trockenheit, d. h. etwa sechs Monate im Jahre, sind die Wege durch die Steppe vortrefflich; es findet sich kein Stein, an den sich der Fuß stoßen könnte und der Boden, eine Art Lehm oder Steppenkalk, wird so hart und glatt wie eine Kegelbahn. Gewöhnlich macht man eine Steppenreise zu Pferde, denn wenn an einem Wagen etwas zerbräche, fände man oft meilenweit keine Gelegenheit ihn ausbessern zu lassen und nach Regen würde er bis an die Achsen einsinken. Allein und ohne Führer kann ein Fremder kaum eine solche Reise unternehmen, wenigstens so wenig ohne Compaß wie der Schiffer eine Fahrt auf dem Meere. Eine große Unbequemlichkeit ist ferner der Mangel an gutem Trinkwasser. Entweder, man findet keinen Tropfen oder es ist salzig. Daher auch die Unmöglichkeit, den Boden zu etwas anderem als Schaftriften zu benutzen und alle Versuche, die Steppe zu bebauen, sind fehlgeschlagen. Die deutschen Ansiedler wollen sogar behaupten, das Wasser werde allmälig noch seltener in der Krim und das Klima schlechter, denn es gebe fast nur noch glühend heiße Sommer und lange kalte Winter.
Eine weitere lästige Plage in der Steppe sind Insekten, namentlich eine Fliege, die sich in unglaublichen Mengen findet, vorzüglich gegen Abend in wahren Wolken zeigt und in Ohren, Mund, Nase und Augen dringt. Läßt sich der Fremde durch das Jucken zum Kratzen verleiten, so bildet sich leicht eine Entzündung, welche natürlich die Schmerzen erhöht. In der Nähe von Sümpfen endlich, namentlich bei dem faulen Meere, in der Gegend von Perekop giebt es Wolken von Muskitos, gegen die der Reisende sich nicht einmal durch Feuer schützen kann. Die Tartaren schützen sich gegen dieselben dadurch, daß sie den ganzen Körper mit Oel einreiben oder in einen durch Pech undurchdringlich gemachten Sack kriechen und jede Oeffnung schließen. Diese Plagegeister sind aber nicht die einzigen, denn es findet sich auch der Scorpion, die Tarantel und namentlich eine Art Spinne von gelblicher Farbe, welche Bi heißt, drei Zoll groß wird und deren Biß tödtlich wirkt, wenn der verwundete Theil nicht ausgeschnitten wird. Schlangen und ziemlich groß, sind ebenfalls nicht selten, doch aber ist keine besonders giftige Art unter ihnen.
In den Sitten und der Lebensweise der Tartaren findet sich noch Vieles, was an das Leben der Patriarchen erinnert, wie es uns die Bibel schildert. Ein Tartar muß wie Jakob dem Vater seiner Braut dienen. Das schöne Geschlecht ist Eigenthum der Männer. Der Vater verkauft seine Tochter, der Bruder seine Schwester, denn die Mädchen gelten als Theil des Erbe wie die [546] Heerden und werden wie diese unter die Söhne vertheilt. „Viel Kinder viel Segen“ ist bei den Tartaren ein wahres Wort, aber die Ehen sind nicht recht fruchtbar, und eine Frau bekommt selten mehr als drei Kinder. Deshalb und wegen der Nachlässigkeit, mit welcher die kleinen Kinder behandelt werden, nimmt die Einwohnerzahl trotz der Vielweiberei ab. Masern und Blattern richten große Verheerungen an; von einer wohl bekannten häßlichen Hautkrankheit ist kaum eine Person frei und eine noch schlimmere Krankheit, welche von den russischen Soldaten mitgebracht worden ist, zerstört neben den häufig, fast regelmäßig vorkommenden Wechselfiebern gar viele Gesundheiten.
Wie alle tartarischen Völker scheeren die Tartaren den Kopf, einer alten Sitte entsprechend, denn es geschieht nicht um den Kopf kühl zu halten, da sie stets zwei bis drei Kopfbedeckungen und selbst im Sommer Mützen aus Lammfell oder Pelz tragen. Dagegen wird schönes Haar an den Frauen sehr geschätzt und sie verstehen sich auch vortrefflich auf das Färben desselben, wenn ihnen die natürliche Farbe nicht gefällt. Die Männer tragen in den jüngern Jahren nur einen Schnurrbart, von dem vierzigsten Jahre an aber lassen sie den ganzen Bart wachsen und wer den größten hat, ist der Angesehenste, er erhält sogar in Gesellschaften den Ehrenplatz.
Das Rauchen ist für die Tartaren und zwar für Männer, Frauen und selbst Kinder unerläßlich, ihrer Sprache nach rauchen sie aber den Tabak nicht, sondern sie trinken ihn und dies ist bei ihnen auch der rechte Ausdruck, denn in der größten Hitze zieht der Tartar zur Stillung seines Durstes die Pfeife jedem selbst angenehmen Getränke vor und auch wenn er hungert, steht ihm die beste Nahrung doch dem Tabaksrauche nach. Statt des Wassers trinken sie eine Art Thee. In den Häusern der Reichen bietet man dem eintretenden Fremden zunächst eine Pfeife mit langem Rohr von Kirschbaumholz und einer Spitze von Bernstein oder Elfenbein, dann reicht man ihm Honig, geronnene Milch und Früchte, wie sie die Jahreszeit giebt.
Die Tartaren essen wie andere Orientalen mit den Fingern, unterlassen aber nie vor und nach dem Essen die Hände zu waschen. An den Wänden der Speisezimmer der Reichen hängen sehr reinliche, oft mit Spitzen besetzte Servietten. Das Hausgeräthe ist höchst einfach und besteht aus einem Teppich oder Matte, einem kleinen kaum einen Fuß hohen Tische und einigen hölzernen Gefäßen. Die Kleidung ist eine Mischung der türkischen und armenischen Tracht.
Des Reisens durch die Steppe müde kommt der Wanderer in Perekop an, dem Schlüssel der Halbinsel, welcher sie mit dem festen Lande verbindet und eigentlich nur eine mit wenigen Häusern besetzte Straße mit Befestigungen ist, die nicht viel bedeuten. Doch herrscht ziemlich viel Leben da, weil alles was aus der Krim nach dem festen Lande und von da nach der Krim geht, hier vorüber muß. Die Umgegend sind stinkende Moräste und stehende Wasser, die mit dem Meere in einiger Verbindung stehen und den Siwasch oder das faule Meer bilden, welchen Namen sie schon in der altgriechischeen Zeit hatten.
Für Caviaresser! Prof. Chr. Hansteen, in seiner so eben erschienenen sehr interessanten „Reise nach Sibirien“ beschreibt den Fang des Störs folgendermaßen: Im Uralflusse finden sich eine große Menge Knorpelfische vom Störgeschlecht (Acipenser): der weiße Stör oder Hausen (A. Huso, Russisch Bjeluga), der Sterlet (A. Ruthenus), der gemeine Stör (A. Sturio), und mehrere andere. Die Fische gehen zu Anfang des Jahres aus dem caspischen Meere in den Uralfluß hinauf, um dort ihren Rogen abzusetzen, aus welchem man den bekannten Caviar gewinnt, wie aus ihrer Schwimmblase die sogenannte Hausenblase. Da ihr Fleisch wohlschmeckend ist, so stehen die größeren Arten hoch im Preise, und der Fang dieser Fische bildet die Grundlage zu dem Reichthume der uralischen Kosaken. Es soll Kosaken geben, welche 40,000 Rubel und darüber besitzen. Die Frau des reichen Kosaken trägt, wenn sie im vollen Staate ist, als Kopfbedeckung eine Art Haube in Gestalt eines Helms, welcher auswendig ganz dicht mit großen echten Perlen bedeckt ist, die fast so groß wie Kaffeebohnen sind und einen Werth von fast tausend Rubeln haben. Eine solche Haube wurde uns von dem reichen Kosakenoffizier gezeigt, bei dem wir in Uralsk den 21. und 22. Januar wohnten. Da wir von ihm erfuhren, daß nach einigen Tagen die jährliche Winterfischerei aus dem Flusse in der Nähe des Vorpostens Mergenew stattfinden sollte, so begaben wir uns dorthin. In der Nähe des Orts fanden wir mehrere Kosakenschlitten, beladen mit einer Menge theils kürzerer theils längerer weißer Stäbe, an deren dickerem Ende ein starker und spitziger eiserner Haken, etwa wie ein Schiffshaken, befestigt war. Als wir am 24. des Morgens an der bezeichneten Stelle ankamen, fanden wir ungefähr 4000 Kosaken beisammen, und an dem hohen Ufer des Flusses war eine zwölfpfündige Kanone aufgestellt. Um neun Uhr Vormittags ließ der commandirende Kosakenoffizier einen Signalschuß mit der Kanone abfeuern, zum Zeichen, daß die Fischerei ihren Anfang nehmen sollte. Jetzt stürzten die Kosaken auf den Fluß zu und stellten sich an einem Orte, wo die Fische, wie man wußte, sich sammelten, in vier, etwa drei- bis vierhundert Schritt von einander entfernten Reihen quer über den Fluß auf. Mit eisernen Hacken hieben sie nun in bestimmten, kaum ein paar Ellen abstehenden Entfernungen runde Löcher in das Eis, die etwa einen Fuß im Durchmesser hatten. An jedem Loche standen zwei oder drei Kosaken; und als dies in wenigen Minuten fertig war, so wurde ein Fischhaken in jedes Loch bis etwa einen Fuß vom Grunde hineingesteckt. Da die vielen weißen Stäbe, welche gleichsam vier Zäune quer über den Fluß bilden, dem Fische Schrecken einjagen, so sucht er nach einer von den Seiten zu entfliehen – vielleicht wird er auch von Neugier gelockt und stößt dabei gegen einen oder den andern Haken. Sobald der Kosak diesen Stoß fühlt, bewegt er den Haken auf und ab und dreht den Stab allmälig in den Händen herum, damit die Spitze des Widerhakens den Leib des Fisches treffen kann. Fühlt er, daß der Widerhaken gefaßt hat, so ruft er seine Kameraden zu Hülfe. Diese erweitern das Loch, welches gewöhnlich nicht groß genug ist, um den mächtigen Fisch hindurch zu bringen, mit eisernen Hacken, während er selbst alle seine Kräfte anspannt, den arbeitenden Fisch dicht unter der Fläche des Eises festzuhalten. Hat der Widerhaken den Fisch nahe am Kopfe oder am Schwanze gefaßt, so wird er durch die vereinigten Kräfte von drei Männern heraufgezogen. Hat er sich dagegen an der Mitte des Leibes befestigt, so geht dies nicht an; Derienige, welcher den Fisch hält, führt dann den Stab nach der einen Seite des Loches, worauf ein Gehülfe einen andern Haken an der entgegengesetzten Seite hinabsteckt, um seinen Widerhaken an einer andern Stelle am Leibe des Fisches, näher am Kopfe oder Schwanze desselben, zu befestigen. Wenn dieser fühlt, daß er sicher gefaßt hat, so macht der Erste seinen Haken los, und der Andere führt den Stab gegen die Seite des Loches hin, wo der Erste war; dies wird nun wechselsweise fortgesetzt, bis man endlich dem Kopfe oder Schwanze so nahe gekommen ist, daß der Fisch durch das Loch gezogen werden kann. In weniger als zwei Stunden hatte man nach der Aussage des Offiziers für mehr als 400,000 Rubel Fische gefangen. Viele russische Kaufleute und Kleinhändler hielten mit ihren Schlitten auf dem Eise, kauften die größten Störe und bezahlten sie baar, um, wenn sie die Fuhre voll hatten, augenblicklich nach Moskau oder Petersburg zu fahren. Die Russen halten nämlich den Caviar (auf Russisch „Ikra“, d. h. Rogen) nicht für ganz delikat, wenn er über acht Tage alt ist. Die einzelnen Eier sind von der Größe einer mittelgroßen Erbse, ganz klar und durchsichtig, jedoch mit einem kleinen graulichen halbdurchsichtigen Fleck auf der einen Seite. Der Rogen wird in einen Trog gelegt und ein wenig feines Salz darauf gestreut, worauf er vorsichtig umgerührt wird, doch ohne daß die Eier zerrissen werden, und man kann ihn dann nach einigen Tagen, bisweilen mit etwas feingehackten Zwiebeln, genießen. Er ist sehr wenig gesalzen und so weit angenehmer, als der feinste und fetteste norwegische Häring, weshalb man ihn auf dem Frühstückstisch eines jeden wohlhabenden Russen findet. Der Caviar, welcher zu uns kommt, ist der Rogen von einem anderen kleineren Fisch; die Eier sind nicht größer als Vogeldunst und werden stark gesalzen und gepreßt. Er ist dunkelgrün, gewöhnlich streng und hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem obenbeschriebenen frischen.
Der befehligende Kosaken-Offizier wollte einige von den Kosaken überreden, uns ein paar Fischhaken zu überlassen, um unser Glück zu versuchen, wir lehnten es jedoch ab, von dieser Höflichkeit Gebrauch zu machen. Indessen nahm unser Dolmetscher, Gustav Rosenlund, das Anerbieten an, und war glücklich genug, einen ziemlich großen Stör zu fangen, dessen Werth auf 50 Rubel angeschlagen wurde; doch war er so bescheiden ihn an den Besitzer des Fischhakens gegen ein paar kleinere einzutauschen, die er augenblicklich einem Händler für 25 Rubel verkaufte. Dieser Stör ist kreideweiß unter dem Bauche, und hat daher den Namen Bjeluga oder Weißfisch bekommen. Die größten, die wir sahen, waren sechs bis acht Fuß lang und um den Leib von der Dicke eines Mannes; der Preis eines solchen konnte sich, sagte man auf 200 Rubel belaufen. Derselbe hat eine langzugespitzte Schnauze und ein breites Maul, welches von der Spitze der Schnauze ziemlich entfernt ist. Der Sterlet ist viel kleiner, zwischen 1 und 13/4 Fuß lang, hat ein gelbliches Fleisch, ist fett und sehr wohlschmeckend. Er findet sich auch in den Flüssen, die von dem nördlichen Sibirien in’s Eismeer münden, wie Ob und Jenisei.
Gleich nach Beendigung der Fischerei werden einige der größten Fische ausgewählt und durch eine Deputation von drei Kosaken-Offizieren zum Kaiser nach Petersburg geschickt. In der bei dieser Gelegenheit stattfindenden Audienz wird dem Führer der Deputation ein inwendig vergoldeter silberner Pokal, in Gestalt einer ziemlich weiten flachen Vase auf einem mäßig hohen Fuße, mit Dukaten gefüllt, überreicht. In einem Glasschrank, der einiges Silberzeug enthielt, zeigte uns unser Wirth in Uralsk drei solche Pokale, welche er als Führer solcher Deputationen zu verschiedenen Zeiten erhalten [547] hatte. Das Einzige, was ihm nach seiner Aussage bei diesen Audienzen beschwerlich fiel, war, daß er nach den Regeln der Hofetikette seinen gewöhnlich langen und dicken Bart abrasiren mußte, wodurch er sich auf der winterlichen Heimreise jedesmal Zahnschmerzen zuzog, bis der Bart wieder gewachsen war.
Wüsten-Bilder. Nr. 1. Ein Löwenpaar hatte vor einigen Wochen in der Nähe eines Lagerplatzes an den Grenzen von Algier große Verwüstungen unter den Heerden angerichtet. Die Löwin hatte Junge und diese sollten zuerst geraubt werden. Es ist das ein gefährliches Unternehmen. Sechzig Männer hatten sich versammelt, um das Wagniß auszuführen. Der Plan war verabredet und man wollte aufbrechen. Ein junger Mann von etwa sechszehn Jahren aber sollte nicht Theil nehmen. „Mein Sohn,“ sagte der alte Vater zu ihm, „Du weißt, daß ich nur Dich habe, daß ich betagt bin und vor Kummer sterben würde, wenn Dir ein Unglück begegnete.“
„Bin ich denn nicht ein Mann?“
„Ja, Du bist ein Mann,“ sagte der Vater lächelnd, „und ich bin stolz auf Dich, aber Dein Bruder war auch ein Mann und er mußte im vorigen Jahre hier sterben, ich war da bei ihm und konnte nichts thun, um ihn zu retten. Der Löwe ist schrecklich, mein Sohn, wenn er angreift; das Auge des Menschen kann seinen Blick nicht ertragen, seine Hand zittert, weil das Herz in ihm zu schnell schlägt, und wenn auch trotz dem Beben des Herzens seine Kugel trifft, so tödtet sie nicht, denn der Löwe braucht viele Kugeln, ehe er das Leben läßt.“
„Aber, Vater, wenn ich nicht mit kämpfen darf, warum ließest Du mich mit zur Berathung gehen? Es ist eine Schande für mich allein zurückzukehren.“
„Du solltest erst hören, mein Sohn, und lernen.“
„So bleibe ich wenigstens hier, wenn Ihr weiter zieht; man würde sonst glauben, ich habe Furcht gehabt.“
Der Vater versuchte in anderer Weise den festen Willen des Sohnes zu erschüttern. „Lange schon,“ sagte er, „hast Du Dir ein Pferd gewünscht: morgen kaufe ich Dir eines.“
„Was nützt mir das Pferd,“ antwortete der Jüngling stolz, „wenn man sagt, so bald man mich sieht: schade, daß ein so furchtsamer Mann das schöne Thier reitet?“
„Nun, nebst dem Pferde,“ fuhr der Vater fort, „sollst Du das Mädchen zur Frau haben, nach dem Deine Seele verlangt.“
Diese Zusage erschütterte einen Augenblick den Willen des jungen Mannen, aber nur einen Augenblick; er richtete sich würdevoll auf und antwortete:
„Vater, Du weißt, daß bei uns die Frauen den verachten, der nur nach der Kleidung ein Mann ist. Die, welche ich liebe und die meine Frau sein soll, muß den achten, der alles für sie ist und stolz auf ihn sein. Höre mein letztes Wort, Vater: Wenn Du mir nicht erlaubst, bei dem Unternehmen zu sein, wenn Du mich nöthigest, vor den Augen Aller feig zu erscheinen, so nehme ich nicht nur das Pferd und die Frau nicht an, sondern ich verlasse auch Dein Zelt und wandere hinweg, um meine Schande vor den Augen meinen Stammes zu verbergen.“
Der Vater war besiegt. Der Sohn durfte bleiben.
Die sechszig Männer umstellten das Dickicht, in dem die Löwenhöhle war, schrien mehrmals, und da sie die Löwin nicht erscheinen sahen, drangen sie hinein und holten die zwei jungen Löwen heraus. Dann entfernten sie sich rasch; sie glaubten bereits Sieger zu snn.
Da plötzlich brach die Löwin aus dem Gebüsch heraus, gerade da, wo der alte Mann mit seinem Sohne sich befand. Der Vater war zu Pferd, der Sohn zu Fuß. Sie beachtete den Reiter nicht und kam in weiten Sätzen auf den Jüngling zu.
Er erwartete sie muthig und hielt sein Gewehr schußfertig, doch wollte er sie so nahe als möglich heran kommen lassen, damit die Kugel um so gewaltiger wirke. Endlich drückte er, das Pulver von der Pfanne brannte ab, der Schuß ging nicht los.
Rasch entschlossen warf er das Gewehr von sich, wickelte blitzesschnell den Burnuß um den linken Arm und hielt diesen der Löwin entgegen.
Sie packte ihn und zermalmte ihn mit einem Drucke ihrer Zähne, unterdeß aber faßte der Jüngling, ohne einen Schritt zurückzutreten, ohne einen Klagelaut hören zu lassen, das Pistol, das er unter seinem Burnuß trug, und jagte ihr zwei Kugeln in den Leib, so daß sie seinen Arm loslassen muhte.
Ein anderer der Jäger, war unterdeß herbeigekommen, und die Löwin packte ihn, ehe er schießen konnte, an beiden Achseln, riß ihn nieder und biß ihm ein Stück Fleisch aus der Hüfte.
Jetzt erst kamen Mehrere hinzu und sie machten der Löwin mit Dolchstößen ein Ende.
Der Jüngling, der letzte Sohn seines Vaters, starb nach vierundzwanzigtägigen Schmerzen, aber wohlgemuth, denn der ganze Stamm hatte seinen Muth bewundert.
Reise-Erinnerungen aus Spanien von E. A. Roßmäßler. Eine Schrift muß von dem Standpunkt aus betrachtet werden, den der Verfasser dafür angegeben hat, wenn man billig und gerecht darüber urtheilen will. Unser Reisender sagt in dem Vorwort zu seinem Buche: „Wer darin Beschreibungen von Kathedralen und Schlössern, von Bibliotheken und Gemäldegalerien, von Heeresmacht und Handelsstatistik, von alter und neuer Geschichte sucht – der lege es weg, denn er findet von alledem darin nichts. Wer aber davon etwas wissen möchte, wie es auf einem spanischen Wochenmarkte, in einer schmutzigen Venta, mit einem Worte im spanischen Alltagsleben aussieht; wer die staunenswerthen Kontraste zwischen den spanischen Steppen und Vegas kennen lernen will; wer sich überhaupt gern und lebhaft an die Stelle eines schlichten, mit offenem Auge und Herzen beobachtenden Reisenden versetzt sehen möchte – der wird meine zwei Bändchen nicht ohne einige Unterhaltung lesen.“
Zu der letzteren Art von Lesern bekennt sich der Schreiber dieser Zeilen und ihm hat die Lektüre des Buchs großes Vergnügen gewährt. Der Verfasser versteht die Kunst, uns zum Mitreisenden zu machen. Er beschreibt alles so lebendig, daß man mit ihm friert und schwitzt, fürchtet und hofft, hungrig und müde, satt und gestärkt wird und so anschaulich, als wenn die Gegenden, Straßen, Häuser und Menschen in einem Panoramencyklus vorüberzögen. Dazu sind öfters sehr interessante Betrachtungen eingestreut. So wird nicht blos die Einbildungskraft durch mannigfaltige Bilder belebt, sondern auch der denkende Geist beschäftigt und angeregt. Denn das ist die Wirkung eines geistreichen Buches, daß es den Leser nicht blos zum passiven Genießer, sondern zugleich zum mitschaffenden Denker macht. Obgleich der Verfasser in diesem Werkchen die Resultate seiner Forschungen (nach den Mollusken Spaniens) nicht mittheilt, die er in einem besonderen Buche für die Fachgenossen darlegen wird, so bricht doch die Neigung des Naturforschers oft genug durch, und es werden uns im Vorübergehen artige Kenntnisse aus allen Reichen der Natur gleichsam spielend zugeworfen.
Das Charakteristische eines Landes und seiner Bewohner liegt jetzt weniger in den großen Städten und höheren Gesellschaftskreisen, die sich in Europa wenigstens immer ähnlicher werden, als vielmehr in den kleineren Städten, den Dörfern und den mittlern und niederen Ständen, die von der Kultur nicht so schnell zu erreichen und umzuwandeln sind. Diesen Dingen hat unser Reisender seine Aufmerksamkeit vorzugsweise zugewendet und wir stimmen ihm bei, wenn er anführt, daß der Naturforscher dazu am Besten geeignet und ausgerüstet sei. Auf das Große richten wir unsere Blicke überall, wo es sich zeigt. Das Kleinste würde oft eben so mächtig, ja zuweilen noch mächtiger auf uns wirken, wenn wir es treulich beobachten wollten, und seine versteckten Wunder erfassen könnten. Das Mikroskop hat den Sinn des Naturforschers auf das Kleine gerichtet und sein Auge für die Beobachtung des Verstecktesten geschärft. Für ihn giebt es weder in der Natur noch im Volksleben etwas Unbedeutendes. Daher die Menge von eigenthümlichen Zügen, die Professor Roßmäßler noch in einem Lande entdeckte und zur Kenntniß bringt, das so oft schon beschrieben worden ist. Die schlimmen Eigenschaften, welche der heutige Spanier zeigt, z. B. Trägheit, vor Allem eine übermäßige Goldgier, die alle Gebirge durchwühlt, sind wohl eine Folge der schmähligen Regierung, die dieses Land so lange Zeit heimgesucht hat. Aber es steckt ein tüchtiger Kern in diesem Volke, der ihm nach des Verfassers Beobachtungen eine bessere Zukunft in Aussicht stellt. Zu dieser Hoffnung berechtigt vorzüglich das Gefühl der Menschenwürde, das auch in dem niedrigsten Spanier lebt und von dem Höchsten nicht angetastet werden darf. Der erbärmliche Kastengeist, der sich in unserem philosophischen Deutschland in so schroffen Gegensätzen zeigt, hat in Spanien nie einen fruchtbaren Boden gefunden. Dies beweist die Mischung aller Stände an öffentlichen Orten und die allgemeine Höflichkeit Aller gegen Alle.
Unser Reisender hat eine große Verehrung für die Mauren mit aus Spanien zurückgebracht und in der That, wenn man liest, was jene weisen Chalifen alles für die Kultur den Landes und Volkes gethan, so kann man sich nicht sehr darüber freuen, daß Se. allerhöchste katholische Majestät Ferdinand von Aragonien und Ihre allerchristlichste katholische Majestät, die Königin Isabella von Castilien (welches königliche Ehepaar beiläufig weder Gott noch Menschen Treue und Glauben hielt) die Mauren überwunden und aus Spanien hinausgejagt haben. Wo die christliche Fahne aufgepflanzt wurde, flammten auch die Scheiterhaufen der Inquisition auf.
Das Buch hat außer seinem bleibenden Werthe jetzt noch ein besonders Interesse durch die neuesten politischen Vorgänge in Spanien erhalten. Man gewinnt daraus die Ueberzeugung, daß es auf der Karte Europa’s wieder ein Land mehr giebt, in welchem die Sache der Willkühr für immer verloren ist, welche Anstrengungen sie auch machen mag, sich wieder darin festzusetzen.
Die französische Kaiserin Eugenie bestätigt in einer sehr kostbaren Weise, was wir neulich über die jetzige Mode in Paris mitgetheilt haben. Durch ihre Art zu leben, zu wohnen und sich zu kleiden, hat sie unter der höhern Bevölkerung eine wahre Wuth für Glanz, Farbenpracht und Neues hervorgerufen. Sie hat sich mit den reichsten und phantastischsten Ornamenten umgeben. Daß eine junge schöne Frau, zumal wenn sie zufällig Kaiserin geworden, einen guten Theil ihrer Aufmerksamkeit auf Schmuck und Zier verwendet und ihre Schönheit in Gold und Juwelen faßt, ist natürlich, wenigstens weiblich natürlich. Die eleganten Gewänder mit den ätherischen Spitzen und den tausendsonnigen Diamanten gelten nun einmal als Verschönerungsmittel der Schönen, obgleich auch hier Alles von dem Geschmacke und weiser Beschränkung und Form, nicht von der Fülle und Kostbarkeit abhängt. Die unzählige Masse goldener Buchstaben in allen Läden von Paris, welche von allen Seiten den Vorübergehenden verkündigen, daß die Allergnädigste Kaiserin Eugenie, Majestät, sie mit ihrem Besuche in den Himmel erhoben, daß sie hier Seide, dort Sammet, dort Spitzen, dort Kashmirs, dort Blumen, dort Juwelen, dort Schuhe u. s. w. gekauft habe, beweist hinreichend, daß sie nicht nur ein guter Kunde, sondern auch politisch ist, da sie sich auf diese Weise in allen Straßen goldene Denkmäler ihrer Popularität unter der Bourgeoisie[WS 2] setzt, welche durch das plötzliche Abhandenkommen des „Bürgerkönigs“ Louis Philippe sehr zu verlieren glaubte. – Außer ihrer Leidenschaft für kostbare und phantastische Toilette nährt sie noch die stärkste Passion für kostbare, exquisite Equipagen, die wundervollsten arabischen Pferde und Ponies (eine kleine Equipage mit letzteren bespannt fährt sie selbst und nicht selten allein), die sonderbarsten Kunstwerke von Meubles, lange Reihen von Boudoirs und deren Ausstattung zu Feen-Palästen.
[548] Ein Zimmer, genannt: „Zauber der Nacht,“ ist ganz mit bernsteinfarbigem Atlas tapezirt, die Decke ein Wolkenhimmel von Spitzen; ein anderes, ringsum rother Damast mit goldenen Simsen, hat den Zweck, darin Chokolade zu trinken; ein drittes, genannt: „Glück des Tages,“ hat die kostbarsten Tapeten von himmelblauer Seide und Alles, was von Holz sein würde, besteht aus solidem Silber; Fensterrahmen, Thüren, Simse u. s. w. in den wunderbarsten Formen gegossen, geprägt und gemeiselt. Dieses alle Feenpaläste übertreffende Zimmer zeigt sich aber gleichwohl als das Tückischste: Blau und Silber geben allen Ornamenten der Person und den Haut-Teints eine Färbung, die sehr an’s Vergängliche und Sterbliche erinnert. Der Künstler oder die Künstlerin mögen Chevreul’s Farbenwissenschaft nicht studirt haben. Oder liegt in diesem kostbarsten Zimmer, welches seinen eigenen Glanz leichenfarbig überhaucht, eine Mahnung der Geschichte? Das silberne, himmelblaue Zimmer ist dicht am „bonheur du jour.“ – Ein tiefer Sinn liegt oft im kindlichen Spiel. Napoleon, der jetzt mächtiger, wie sein Onkel, in Frankreich, in Italien, in der Türkei, in Griechenland triumphirende Positionen einnimmt und nachdem er England vor zwei Jahren in panischen Schrecken versetzt hatte, nun auch Rußland bedroht, mag in dem silbernen Zimmer mit seiner schönen Frau einen Ersatz des Mannes finden, der hinter den Triumphwagen römischer Eroberer stand und sein „memento mori!“ rief: Bedenke, daß Du sterben mußt.
Nachricht von dem Ende Franklin’s. Von Franklin, dem seit zehn Jahren Vermißten, hat man jetzt endlich Nachrichten, welche John Rae, der Führer einer Expedition in die Polargegenden, überbracht hat. Trotz aller Mühe der englischen Regierung sowohl als Lady Franklin, hatte man bekanntlich nur die Bai gefunden, wo Franklin den Winter 1845-1846 zugebracht. Rae berichtet nun, in Pelly-Bay hätten ihm[WS 3] die Esquimeaux mitgetheilt, im Westen, nicht weit von einem großen Flusse, seien eine Anzahl Blaßgesichter verhungert und auf weitere Nachforschungen hätte er Folgendes erfahren: Im Frühling 1850 hatten einige Esquimeaux etwa vierzig Weiße in der Nähe der Insel King Williams-Land beim Jagen getroffen, welche, wie sie erfuhren, ihre Schiffe im Eise verloren gehabt. Alle, außer einem Offiziere, waren sehr abgemagert. Sie kauften den Eingebornen einen Seehund ab und wanderten dann mit einem Boote, das sie fortzogen, weiter. Nicht lange darauf fand man auf dem Festlande die todten Körper von etwa dreißig Personen und auf einer nahen Insel fünf desgleichen. Einige, wahrscheinlich die ersten Opfer, waren begraben, andere lagen unter einem Zelte und dem Boote, das umgekehrt war, um einigen Schutz zu gewähren, andere lagen zerstreut umher. Auf der Insel wurde auch Einer gefunden, den man für einen Offizier hielt; an der Schulter hing ein Fernrohr und eine doppelläufige Flinte lag ganz in der Nähe. Nach dem Zustande der Verstümmelung der Leichen und dem, wan sich in den Kesseln befunden, ist es wohl außer Zweifel, daß die Unglücklichen in die schreckliche Nothwendigkeit gekommen waren, einander zu essen. Ueberfluß aber an Munition, Compassen, Fernröhren und dergleichen scheinen sie gehabt zu haben. Von den verschiedenen Gegenständen, welche die Esquimeaux an sich gebracht hatten und unter denen sich viele silberne Löffel und Gabeln mit Wappen, auch ein rundes Silberstück mit dem eingegrabenen Namen Franklin’s befanden, hat Rae möglichst viel angekauft und aus Allem ersieht man, daß kein Zweifel mehr möglich ist.
Balzac’s Sommerleben. Wie weit man’s in Luxus und Kunst bringen kann, sofern Mittel und Geschmack nicht fehlen, beweist der französische, populäre Vielschreiber Balzac. Er schilderte seine Art zu leben, um sich die Julihitze vom Halse zu halten, folgendermaßen: „Vier Diener machen fortwährend Wind in meinen Zimmern (und er auch) und zwar so viel, daß sie Meereswogen in die Höhe treiben würden, wenn sich das Meer bis zu ihnen verirren sollte. Mein Wein steht in Schnee und Eis bis zu dem Augenblicke, wenn ich ihn trinke. Die Hälfte meines Juli bringe ich im Bade zu, die andere Hälfte sitze ich halb in meinem künstlich umstürmten Sopha, halb in einer Orangenbaumgrotte, welche durch einen Springbrunnen gekühlt wird. Ich wage mich nur im bedeckten Wagen über die Straße. Andere Leute begnügen sich, an Blumen zu riechen, ich habe eine Methode erfunden, sie zu essen und zu trinken. Mein Zimmer schwimmt in Blumen-Aromen stärker als das glückliche Arcadien. Ich verschwende Rosen- und Gasmin-Essenz wie Wasser. Während meine Nachbarsleute sich die Hitze durch solides Essen noch unerträglicher machen, lebe ich fast blos von Geflügel, das mit Zucker gemästet ward. Dazu nippe ich Früchte und Gelees. Mein Haus ist nicht so elegant und kostbar, als Fontainebleau, aber mein Wäldchen hinter demselben, durch welches kein Sonnenstrahl dringen kann, ist mir und meinen schwachen Augen viel lieber, auch deshalb, weil in diesem duftigen Halbdunkel erträglich schöne Damen sehr schön erscheinen. Die Bäume meines Parkes sind von der Wurzel bis in die Gipfel mit starkem Laubwerk geschmückt und strotzen von Turteltauben, Fasanen und anderen schönen befittigten Wesen. Wo ich gehe und stehe, trete ich auf Tulpen und Anemonen.“ – Deutsche Schriftsteller, selbst die glücklichsten treten nicht so ununterbrochen auf Blumen, im Gegentheil werden auch sie getreten. Von den Dichtern unter Dächern am wackeligen Tisch, im Sommer stets bei zehn Grad höherer Temperatur, als draußen in der Sonne, im Winter den Pfeifenkopf zwischen die Knieen nehmend, um die schwache Wirkung des Ofens zu unterstützen, kann man hier gar nicht reden. Balzac ist kein Dichter, sondern nur ein sehr geschickter, fleißiger Fabrikherr von Roman- u. s. w. Arbeitern und er geht mit Königen, mit denen, nach dem Gesange einen deutschen Dichters, nur der Dichter gehen soll und sogar aus dem Grunde, weil Beide – „auf der Menschheit Höhen stehn.“
Stecknadeln und Stahlfedern. Die gemeine, verächtlich behandelte Stecknadel ist gleichwohl eins der größten Wunder unseres industriellen Zeitalters. Die Stecknadelfabrik liefert 12,000 Artikel für etwa einen Thaler, zu deren jedem der Fleiß und das Geschick von 14 Arbeitern nöthig waren. Ein Mann schneidet den Draht zu 220,000 bis 240,000 Stecknadeln täglich. Ein Anderer macht in derselben eben so viel Köpfe. Ein Kind bringt bis 36,000 Nadeln täglich auf’s Papier. Die neuern, zum Aufstecken gebrauchten Maschinen übertreffen Handarbeit um beinahe 100 Prozent. In England allein werden täglich im Durchschnitt 15 Millionen Stecknadeln verbraucht, was noch sehr ökonomisch ist, da hierbei nicht täglich jeder eine verlieren darf. Eben so großartig im Kleinen ist die Fabrikation und die Consumtion von Stahlfedern. Die gewöhnlichste Stahlfeder muß durch wenigstens sechzehn besondere Prozesse passiren, ehe sie gebraucht werden kann, feinere Sorten von verschiedenen bessern und edeln Metallen und Compositionen gehen nicht selten durch die Hände von 20 bis 30 Arbeitern. Der Preis und die Arten von Metallfedern sind fast eben so ungeheuer geworden, als die Menge den Verbrauchs. Eine englische Fabrik, durchaus noch nicht die größte, fabrizirt wöchentlich 40,000 Stuck. Die Preise variiren von sechs Pfennigen bis zwei Thaler und darüber für’s Dutzend.
Ersatz der Kartoffel. Im Museum der Naturgeschichte zu Paris hat man einer aus China eingeführten Pflanze, botanisch Dioscorea Japonica genannt, viel Aufmerksamkeit geschenkt und bereits gefunden, daß sie die jetzt so leicht krank werdende Kartoffel auf die glänzendste Weise zu ersetzen im Stande sei. Die Knollen halten die größte Winterkälte aus, ohne nach dem Aufthauen zu faulen oder sich sonst „erfroren“ zu zeigen. Das „Mehl“ darin soll nahrhafter sein, als die nur spärlich mit eigentlichem Nahrungsstoff versehene Kartoffel und besser schmecken. Dabei wird sie leicht sehr groß. In Paris zeigte man eine Knolle von drei Fuß Länge und eine andere, welche drei Pfund wog, so daß sich also später gar oft eine ganze Familie an einer einzigen dieser neuen Kartoffeln würde satt essen können.
Bei Julius Meißner in Leipzig ist erschienen:
Gesellschaft Jesu.
von
G. Julius.
3 starke Bände mit vielen Stahlstichen. Preis 4 Thlr.
Den zahlreichen Subscribenten auf dieses Werk wird es eine angenehme Nachricht sein, daß dasselbe nunmehr vollständig erschienen und die noch fehlenden Hefte durch jede Buchhandlung bezogen werden können.
Für den Theil des Publikums, welchem die „Geschichte der Jesuiten von Julius“ noch nicht bekannt sein sollte, bemerken wir, daß dieselbe nicht mit den gewöhnlichen populären Heftwerken auf eine Stufe zu stellen, sondern ein von der Kritik wegen seiner gründlichen Studien und edlen Unparteilichkeit überall anerkanntes, vorzügliches Geschichtswerk ist, welches allen Freunden der Geschichte, einerlei welcher Parteifärbung, auf’s Beste empfohlen werden kann.
- ↑ Es war im schönen Wein- und Friedensjahr 1842, als wir im Rheinischen Dichter-Verein, „der Maikäfer“, Gottfried Kinkel’s ersten dramatischen Versuch: „Die Stedinger“, mit vertheilten Rollen lasen. Die hohe Dichterkraft darin empfanden wir Alle; ebenso, daß Stoff und Stück nicht eigentlich dramatisch seien. Ein Epos oder eine Erzählung schien uns damals schon als dem Stoffe angemessener. Nach Jahren führte mich mein Weg nach Oldenburg; das Manuskript des Kinkel’schen Werkes noch in Händen, studirte ich an gründlichster und nächster Quelle die Geschichte des Großherzogthums und damit die Geschichte der Stedinger. Dann besuchte ich die Schauplätze der Begebenheit im Stedinger Lande selbst, und meine Erzählung wurde dort schon fertig bis auf’s Niederschreiben, was jetzt erst geschah. So verdanke ich sie eigentlich Kinkel und seinem ersten Drama was zu bekennen mir als schöne Pflicht erscheint. Der Verfasser.
- ↑ Als Freunde der Humanität haben wir das Recht und die Pflicht, die Kinder der Zeit christlicher und menschlicher zu taufen, als die Herren, welche durch politische und kriegswissenschaftliche Bildung in der Wahl ihrer Ausdrücke und Gedanken censirt und beschränkt sind. So nennen wir die glorreiche Schlacht an der Alma vom 20. September dieses Jahres, worin die alliirten Westmächte mit 8–9000 Verwundeten und vielleicht doppelt oder dreifach so viel Todten siegten, nicht blos eine Niederlage für Rußland, sondern für die ganze, stolze Civilisation unsers Jahrhunderts. Die wirkliche Bildung ist Ehrlichkeit und ehrenhafte That mit Verstand, Muth, Ueberlegung, Berechnung und Menschlichkeit. Der jetzige Krieg mit seiner Menschenvertilgung im Großen, dabei am Wenigsten durch feiges Geschoß, sondern durch Fieber des Müssigganges, Cholera und beispiellos barbarische Vernachlässigung der Kranken und Verwundeten, ist eine Folge der Heuchelei, der Lüge und Feigheit, des Zögernn, unsinnigen Vertrauens und unsinnigen Mißtrauens, die faule, aufgeplatzte Frucht eines über Europa hin künstlich verzweigten Giftbaumes, der in den Jahren nach den „Freiheitskriegen,“ besonders 1815, gepflanzt ward. Alle Contrahenten und Mitschuldige dieses Krieges halfen graben und pflanzen und pflegten den Baum und oculirten ihm mit diplomatischer Weisheit noch besondere Keime ein und freuten sich, wenn sie trieben und gediehen. Der Hauptkunstgärtner an dieser Pflanze war die englische Politik (die Niemand mit dem englischen Volke und den tapfern, unglücklichen Opfern dieser jetzigen Metzgerarbeit verwechseln wird), war diese Aberdeen’sche Richtung, die jetzt altersschwach, pfiffig und verlegen über „das freieste, gebildetste, größte, reichste Volk der Erde“ regiert und sich gewissenszitternd und verwirrt gerade in den Krieg tiefer hineingetrieben sieht, welchen man durch den Baum „des europäischen Gleichgewichts“ und dessen diplomatische Pflege durch vierzig Friedensjahre hindurch abzuhalten und unmöglich zu machen wähnte.
Unwillig und unwillkürlich, vertrauend auf schwebende Friedensunterhandlungen und ihnen mißtrauend, war die Diplomatie mit ihren Soldaten endlich bis Varna fortgestoßen worden. Der „heilige“ Krieg des „Rechts“ gegen „Unrecht,“ der „westlichen Civilisation“ gegen „asiatische Barbarei,“ die „Begeisterung“ für den Frieden und die heiligsten Interessen der Bildung lag hier gefesselt im Schmutze und Müßiggange. Und der allmächtige Adler, der mit unsichtbaren Schwingen fortwährend über die Menschheit hinkreist und sich auf jede Stelle gierig niederstürzt, wo sich Aas versammelt – die Cholera – raffte hier die Soldaten tausendweise hinweg, ohne daß sie sich wehren durften. Aber die Cholera wiegelte die auf, welche sie nicht niederwürgen konnte. Die Soldaten wurden rebellisch, die Disciplin begann sich zu lösen. Man schrie lauter und lauter: Lasset uns als Vertheidiger der Civilisation, als brave Soldaten, lieber im Kampfe sterben. Wir wollen nicht als müßige, gebundene Opfer der Diplomatie und Cholera hier wehrlos tausendweise verenden. So übernahm die Cholera das Ober-Commando über die Vertheidiger westlicher Civilisation und führte sie auf die Halbinsel Krim hinüber. „Sebastopol“ war das Zauberwort, welches den Geist der Rebellen bannte und vertrieb. Die Expedition, die Landung, das Vordringen bis zur Alma, die entsetzliche, wüthende Schlacht hier sind für die Herren der Kriegswissenschaften großartige Erscheinungen. Wir unsererseits kommen zwei Tage nach der Schlacht, am 22. September Morgens, zur Stelle und sehen uns hier vermittelst eines Augenzeugen die große Niederlage unserer ganzen europäischen Civilisation als Menschen an. Die Redaktion.
- ↑ Dr. Thomson ist in Folge seiner Anstrengungen gestorben.