Die Gartenlaube (1855)/Heft 43

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1855
Erscheinungsdatum: 1855
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 43. 1855.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle. Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Eine dunkle Vergangenheit.
Novelle von Bernd von Guseck.
(Schluß.)


Dem Dießbach war es bei dieser grenzenlosen Frechheit, als werde er von dem Stich einer giftigen Schlange getroffen, doch ließ er sich von seinem Gefühl nicht überwältigen, sondern fragte mit dem Schein der Verwunderung:

„Meine Mutter? Weiß meine Mutter um Ihre Schicksale?“

„Bitte gehorsamst – erkundigen Sie sich nur nach mir. Ich will nicht vorgreifen.“

„Das Zeugniß meiner Mutter würde allerdings jedes andere aufwiegen,“ sagte Dießbach, konnte aber in diesem Augenblicke doch das Beben seiner Lippen nicht beherrschen, und Staub’s spähendes Auge hatte es gleich bemerkt. Er rieb sich vergnügt die Hände und rief:

„Gnädiger Herr, Ihre Frau Mutter kann mich nicht im Stich lassen, denn was Sie auch von meiner Großmuth und Verschwiegenheit denken mögen, Alles hat seine Grenzen.“

„Was soll das heißen?“ rief Dießbach heftig.

„Daß ich Stargau’s intimster Vertrauter gewesen bin und folglich Ihrer Frau Mama –“

Er konnte nicht vollenden, denn Kuno’s Seelenkraft war endlich erschöpft, der Vulkan, der in seiner Brust getobt hatte, ließ sich nicht länger in seinem Ausbruche hemmen. Alle Selbstbeherrschung in der ungezähmten Leidenschaft verlierend, der in diesem Momente Alles gleichgültig war, wenn er auch Vernichtung über sich und sein Haus heraufbeschwor, faßte er den Elenden, der es wagte, ihm das in’s Angesicht zu sagen, mit nerviger Faust bei der Brust, warf ihn zu Boden, und rief mit donnernder Stimme:

„Das ist Dein letztes Wort, Nichtswürdiger!“

Staub regte sich nicht, er lag auf seinem Gesicht, alle Glieder schlaff gelöst, wie ein Sterbender.

Schon hatte Kuno in seiner blinden Wuth den Fuß gehoben, um ihn schwer auf den Nacken des Elenden zu setzen, als der Anblick seines bewußtlosen Opfers ihn zur Besinnung brachte. Er athmete hoch auf, als wolle er die Felsenlast, die ihm auf der Brust lag, abwälzen, beugte sich schnell über den Gefallenen und wandte ihn um. Staub hatte allerdings von dem Schreck des jähen Anfalls, wie von dem harten Niederwerfen, das Bewußtsein verloren, Blutstropfen entquollen seiner Stirn - aber er schlug eben die Augen wieder auf und heftete sie mit einem trübseligen, angsthaften Blicke auf den, der über ihm stand. Durch und durch eine feige Natur, wo seine Feigheit gewaltsam abgefertigt wurde, war er auf einmal wie verwandelt.

„Lieber gnädiger Herr!“ stammelte er in demüthig bittendem Tone.

Kuno half ihm, ohne ein Wort zu sagen, aufstehen, reichte ihm sein Taschentuch, sich das Blut zu stillen, zog seine Börse und gab ihm, noch immer schweigend, ein funkelndes Goldstück. Es war für Staub die größte Erniedrigung, aber seine Seele war über dergleichen Gefühle längst hinweg. Gebettelt auf allen benachbarten Gutshöfen, wie er schon seit zwei Tagen hatte, war ihm der Anblick des Goldes ein Balsam, der ihn augenblicklich Mißhandlung und Schmerz vergessen ließ, selbst seinen Vortheil, und er konnte nichts thun, als sich in kriechender Weise bedanken.

„Wehe Ihnen,“ sagte Dießbach, „wenn Sie je wieder eine solche Anspielung wagen sollten – gleichviel, gegen wen! Ich will nicht den Unwissenden spielen: ja, Herr, ich kenne die ehrlose Verleumdung, gegen welche sich, wenn sie heimlich die Runde läuft, und nicht offen an das Tageslicht tritt, kein Mensch, auch vom reinsten Charakter, schützen kann. Diese Infamie ist das Werk Ihres alten Herrn und Genossen, und Sie haben sich willig dazu hergegeben, sie zu verbreiten. Danken Sie Gott, daß ich den Moment, der Sie jetzt in meine Hand gab, nicht benutzt habe, den Wurm zu zertreten, der es gewagt hat, sein Gift auf mein Haus zu spritzen. Aber ich schwöre Ihnen, daß keine Entfernung, nicht dreifache Riegel Sie vor der Vernichtung schützen sollen, wenn je wieder auch nur die leiseste Andeutung davon über Ihre Lippen kommt.“

Die furchtbare Drohung, unterstützt durch Kuno’s mächtige Gestalt und die flammende Wetternacht seines Auges, ließ Staub zittern. Er legte betheuernd die Hand auf die Brust.

„Demungeachtet,“ fuhr Dießbach gemäßigter fort, will ich Sie nicht im Elende lassen, da ich Ihnen einmal Hoffnung gemacht habe. Sie können hier in Rinkleben nicht bleiben, aber halten Sie sich in der Stadt noch einige Tage auf, bis Sie von mir gehört haben. Ich werde Sie im goldenen Ringe aufsuchen lassen.“


VII.

Es war spät, als Kuno den Schloßberg erstieg er hatte sein heißes Blut erst noch durch eine weite Wanderung abkühlen, hatte Vieles erwägen und prüfen, alte Pläne verwerfen und neue fassen müssen, ehe er vor das Antlitz seiner Mutter treten konnte: nicht als Sohn, sondern als Richter, zu welchem er sich aufgeworfen hatte. – Sie war nicht daheim, er hörte, daß sie Nachmittag, bald nachdem er weggefahren sei, mit seinem Bruder einen Spaziergang [564] unternommen habe, der nach ihrem Ausbleiben sehr weit ausgedehnt worden sein mußte. Kuno war zufrieden damit, sie heut nicht mehr zu sehen – noch war nicht Alles reif und er konnte so vollenden, was er im Sinne hatte. Er zog sich auf sein Zimmer zurück, ließ sich, als man ihm die Heimkehr der Beiden meldete, bei der Abendmahlzeit mit Unpäßlichkeit entschuldigen, und öffnete auch Guido seine Thüre nicht, als dieser vor Schlafengehen kam, sich nach seinem Befinden zu erkundigen.

„Ich liege schon zu Bett,“ rief er ihm zu, „Mir wird Morgen wieder ganz wohl sein.“

Mit dem frühesten Strahle des Tageslichts verließ er, ein Doppelgewehr über die Schulter geworfen, von seinem Jagdhunde begleitet, die Rinkenburg. Am Thore warf er noch einen Blick nach den Fenstern des Hauptgebäudes, vor denen seines Bruders, der gern lange schlief, waren noch die Windrouleaux herabgezogen; hinter der Gardine des Schlafkabinets seiner Mutter glaubte er aber ihre Gestalt im weißen Nachtkleide zu bemerken: er wußte, daß sie immer sehr früh aufstand.

Hinter der Schloßhöhe gleich, in dem Querthale, das die Reihe der Vorhügel von den ersten Stufen des Gebirges scheidet, führte eine grüne Schlucht mit einem Fußpfade in die Berge hinein. Kuno verfolgte den letzteren, der ziemlich breit ausgetreten war, weil er zu den Blochhauern oben im Tannenhorst ging; von ihm trennten sich aber bald mehrere andere, die zu Hämmern und Hüttenwerken in anderen Theilen des Gebirges führten; es gehörte Sicherheit dazu, sich hier nicht zu verirren, Kuno war aber nie zweifelhaft über die Wahl, und befand sich zuletzt auf einer schmalen Spur, die sich nur, weil sie einst hartgetreten war, durch ihren kürzeren Graswuchs auszeichnete. Wie lange war Kuno diesen Pfad nicht gewandelt und, so schien es wenigstens, kein Mensch sonst!

Immer beschwerlicher wurde der Steig, immer enger und klippenreicher die Schlucht, zuletzt verschwand alles Grün von den Seitenwänden, die nun blos nacktes, zerklüftetes Gestein boten. Endlich war der obere Ausgang erreicht, eine schmale Felsspalte, kaum für einen Mann zu passiren und durch überhängende Blöcke, die dem Einsturz zu drohen schienen, obenein gefährlich. Wenn Kuno sich dachte, daß all diesen Beschwerden und Gefahren einst ein zarter Fuß getrotzt haben sollte, so war das bittere, feindselige Lächeln, das auf seine Lippen trat, wohl erklärlich. Er bückte sich und trat durch das Felsenthor in’s Freie. Vor ihm lag sein Ziel, der Kessel des dunkeln, einsamen Thales, in welchem das Haus mit den drei Erkern lag, das sein Großvater, wie er wußte, für seinen Jagdaufenthalt gebaut und die Eremitage genannt hatte. Hochklopfenden Herzens spähte Kuno nach Zeichen, ob es wirklich bewohnt sei, aber keine Rauchsäule kräuselte sich von seinen drei Schornsteinen in den klaren Morgenhimmel hinauf, kein menschliches Wesen Wesen ließ sich sehen, keine sonstige Spur von Leben bemerken: Alles war still und todt, wie er es noch gestern nicht anders erwartet hätte, ehe Guido mit seinem Abenteuer ihm das Gegentheil bewiesen.

Er näherte sich dem Hause – sein Hund stand und witterte, fing auch zu knurren an, und Kuno begrüßte diese Zeichen schon mit einer wilden Freude. Das kurze Gebell, welches das Thier anschlug, stillte er durch strengen Zuruf und eilte der Thür zu, die allerdings nicht mehr vermauert, sondern mit ziemlich neuem Holz wieder eingehängt war. Doch fand er sie verschlossen; vergebens klopfte und rief er; Niemand gab ihm Antwort, kein Laut regte sich im Innern des Gehöftes; offenbar war es in diesem Augenblicke ganz verlassen.

„Sind sie gewarnt worden?“ blitzte es in Kuno’s Geiste auf, und ein Gedanke ließ ihn beben. Hätte er doch gestern statt des unfruchtbaren Ausfluges nach Sanct-Pankraz seinen Fuß lieber ohne Säumen hierher gelenkt! Wenn aber auch die neuen Bewohner der Eremitage gewarnt waren, so brauchten sie deshalb ihr Asyl nicht auf immer verlassen zu haben, sie waren dem Sturme wahrscheinlich blos ausgewichen und kehrten, wenn sie ihn vorüber glaubten, zurück. Vielleicht beobachteten sie ihn in diesem Moment aus irgend einem sicheren Versteck und hohnlachten, wie er so rathlos vor der verschlossenen Thüre stand. Er hatte aber Geduld und konnte warten. In seiner Waidtasche trug er reichlichen Mundvorrath für sich und seinen Hund. Während er noch auf diesen, der mit halbgespitzten Ohren fortgesetzt witterte, herabsah, setzte das Thier auf einmal wüthend an und ließ sich nicht mehr halten. Kuno eilte ihm nach, da es um die Mauerecke schoß und gleich darauf sich ein grimmiges Doppelgebell hören ließ – er fand seinen Hund im Kampfe mit einem andern, der stark und zottig wie ein Wolf anzusehen war. Schon riß er das Gewehr von der Schulter, um seinen Hund von den Zähnen des stärkern Gegners, der ihn in das Genick gepackt hatte, zu befreien, als ein gellender Pfiff erscholl, der fremde Hund augenblicklich losließ und vor Dießbach ein alter, hagerer Mann stand, den er auf den ersten Blick für den Schäfer Klupsch aus Sanct-Pankraz erkannte.

„Was habt Ihr hier zu suchen?“ fuhr er ihn aufgeregt an.

„Halten zu Gnaden“ – antwortete der Schäfer, vor dem ihm wohlbekannten Herrn den Hut ziehend – „ich habe einen Richtweg genommen –“

„Wißt Ihr nicht, daß ich keinen Weg hier dulde?“

„Es steht keine Tafel draußen,“ antwortete der Schäfer, ohne sich einschüchtern zu lassen.

„Ich weiß aber, was Ihr hier sucht – und Ihr sollt mir’s gleich gestehen. Ihr habt Euren gewesenen Herrn hier aufgesucht – leugnet es nicht, ich weiß, daß er hier wohnt.“

„Nun, wenn Sie es wissen, gnädiger Herr,“ erwiederte der ehrliche Schäfer, der keine Ahnung hatte, daß er nur in eine Falle gegangen war, „warum schimpfen Sie mich denn aus?“

Dießbach bedurfte Zeit, um sich von der Gewalt dieser Gewißheit, die ihm so plötzlich geworden war, nicht übermannen zu lassen: einem Andern, als dem einfachen Alten, der ihm hier gegenüber stand, wäre der Seelenkampf nicht entgangen, den er in diesem Augenblicke bestand. Der Schäfer wartete aber geduldig und beschwichtigte nur immer seinen Hund, der mit glühenden Augen den unausgefochtenen Strauß wieder anzufangen lechzte.

„Ich will nicht,“ sagte Dießbach endlich nur vor Aufregung bebender Stimme, „daß mein Haus zu einer Schmiede böser Anschläge werde – was kann Euch herführen, da Ihr mit Stargau nichts mehr zu theilen habt, wenn er Euch nicht selbst hergerufen hat, um Ränke zu spinnen zum Nachtheil Anderer, die er um das Ihrige gebracht?“

„Sie doch nicht, gnädiger Herr,“ versetzte der Schäfer.

„Mich nicht!“ antwortete Dießbach stolz. „Das versteht sich von selbst. Aber Andere. Was habt Ihr also vor mit ihm? Ich bin im Recht, darnach zu fragen.“

„Das sind Sie, gnädiger Herr,“ sagte der Schäfer, indem er sich die grauen Haare zurückkämmte. „Aber fragen Sie nur Herrn Stargau selber. Ich kann Ihnen weiter nichts sagen.“

„Wann kommt er zurück?“ fragte Kuno rasch.

„Ich weiß gar nichts, bin auch eben gekommen – und habe mich gewundert, daß Niemand zu Hause ist.“

„Nicht einmal die Alte!“ sagte Kuno. „Und das junge Mädchen auch!“

„O!“ versetzte der Schäfer treuherzig. „Der Kleinen bin ich unten begegnet, sie ging mit dem Jungen nur auf der andern Seite der Schlucht und was sie mir zurief, habe ich nicht recht verstanden: aber so viel hörte ich, daß ich bis zum Abend warten soll.“

„Ich kann diese Zusammenkünfte nicht dulden!“ sagte Dießbach. „So lange der Mann sich still und verborgen hielt, konnte man ein Auge zudrücken – nun er sich aber bemerklich macht, soll es nicht heißen, daß ich sein Hehler gewesen bin. Geht also in Gottes Namen nach Hause, Schäfer, ich werde auf ihn warten, und ihm die Wohnung aufkündigen.“

„Ach, gnädiger Herr, das werden Sie doch nicht thun!“ rief der Schäfer. „Wo soll er denn hin?“

„Das ist nicht meine Sache, ich will die Schande nicht mit ihm theilen, wenn er hier von seinen Gläubigern ergriffen wird. Ihr seid nicht zum ersten Male hier.“

„Zum ersten Male, so lange er hier ist, gnädiger Herr!“ betheuerte der Schäfer. „Er schickte mir erst gestern den Jungen, den Fritze.“

„So! und demnach kennt Ihr die Alte, wie Ihr sagt, und auch das junge Mädchen?“

„Ja, die! Die sind ja schon lange hier, ich sage nicht, daß ich noch nimmermehr hier gewesen bin, nur den Herrn Oberamtmann – Herrn Stargau, wollte ich sagen – habe ich hier noch nicht gesehen.“

„Nichts als Winkelzüge!“ entgegnete Dießbach finster. „Geht Eure Wege, rathe ich Euch, und laßt Euch nicht wieder hier betreffen.“

[565] „Schon recht, gnädiger Herr,“ sagte der Schäfer in der bedächtigen und zähen Manier seines Volksstammes. „Sie können mir Ihren Grund und Boden verbieten und ich muß gehen, aber sehen Sie, dort drüben läuft die Gränze, und wenn ich mich auf dem königlichen Revier hinsetze und dort bleibe, so lange ich will, so kann mir das Niemand verwehren. Guten Morgen, gnädiger Herr.“ Er rief seinen Lustig und ging mit langen Schritten in der bezeichneten Richtung davon.

Dießbach biß sich auf die Lippe, verschmähte aber, den Alten aufzuhalten. Stargau hatte also wirklich hier eine geheime Zuflucht gefunden, und die ehemalige Vertraute seiner Mutter war bei ihm, auch das junge Mädchen, von dem er zuerst durch Guido gehört! ein dunkles Räthsel für ihn, vor dessen Lösung er zitterte! Und außerdem noch mehr Menschen, wie es schien, eine ganze Kolonie von Geächteten! Fester umklammerte er den Schaft seines Doppelgewehrs, das er noch immer in der Hand trug, dann riß er sich gewaltsam aus dem unheimlichen Brüten los, in welchem ihn viel böse Geister heimsuchten, warf die Flinte über die Schulter und sah sich nach einem Ruheplatze um, wo er unbemerkt die Heimkehr der entwichenen Bewohner dieser verfehmten Stätte erwarten konnte. Er fand einen solchen hinter dem Felsenthore, nicht allzu weit entfernt. Wenn sie ihn vielleicht aus einem Verstecke belauscht hatten, so mußten sie, da er denselben Weg zurückging, den er gekommen war, an seine Heimkehr glauben – daß er wiederkommen werde, früh oder spät, daß für sie keine bleibende Stätte hier mehr sei, konnten sie freilich wissen, und so blieb nur anzunehmen, daß sie, eiligst aufgescheucht, keine Zeit gehabt, Anstalten für einen gänzlichen Abzug zu treffen und wahrscheinlich den heutigen Abend und die Nacht benutzen würden, um diesen zu bewirken. Versäumte Kuno also diese Gelegenheit, so war sie ihm unwiederbringlich verloren.

„Was aber, was dann?“ fragte er sich. „Wenn du ihn nun vor dir siehst, den Mörder deiner Ehre? Was gedenkst du zu thun?“ Er hatte sich diese Frage schon mehr als einmal gestellt, ihre Beantwortung aber immer auf das Unbestimmte verwiesen. Heut sah er sich zur Entscheidung gedrängt, er mußte vorher wissen, was er thun wollte, er durfte sich nicht von der Gewalt des Augenblicks treiben lassen - kalt und fest wollte er sein Richteramt, zu dem er sich aufgeworfen hatte, wahrnehmen.

Das war nun bedacht und zur vollen Gestaltung gereift. Eine gewisse Ruhe kehrte in ihm ein, nun er zum Entschlusse gekommen war, er glaubte sich und seiner Ehre, zugleich aber auch seinem Gewissen ein Genüge zu thun, wenn er ihn ausführte.

„Armer Guido!“ sprach er für sich. „Deinen lichten Jugendhimmel muß ich trüben – wie schmerzlich wird es Dir sein, Dein höchstes Ideal in Staub und Graus sinken zu sehen.“

Mit Guido’s Bilde stellte sich zugleich wieder das des unbekannten jungen Mädchens dar, er wußte, daß Nina, wie sich die Kammerfrau seiner Mutter bis in ihr Alter hatte nennen lassen, keine Tochter gehabt, und daß, wenn sie auch nach der Trennung von seiner Mutter noch einmal geheirathet haben sollte, ein Kind dieser Ehe noch nicht erwachsen sein konnte. Wer war also dies junge Mädchen, das sie für ihre Tochter ausgab und das Guido so ähnlich sah? – Stunde auf Stunde verging, Kuno saß geduldig in seinem Hinterhalt; er sah dem Zuge der Wolken nach und folgte dem Sonnenlichte auf den Bergen, zu seinen Füßen schlief der Hund, der zuweilen im Traume jagte. Länger wurden die Schatten, der Herbstwind strich empfindlich kalt durch das Felsenthor, die Sonne verschwand hinter der westlichen Kuppe, und braune Dämmerung wob allmälig ihre Schleier um die Gegend: im dunkeln Thale waltete bald die Nacht.

Jetzt konnte Kuno sicher sein, daß sein Nahen nicht mehr bemerkt werde, daß wohl auch die entwichenen Bewohner der Eremitage zurückgekehrt seien. Er trat in das Felsenthor und sein erster Blick sah unten im Hause ein hell erleuchtetes Fenster. Da lachte eine wilde Freude in ihm auf und er stieg hastig hernieder, so schnell es ihm sein lahmer Fuß irgend erlaubte.

„Entlarven will ich sie ja nur, sie zwingen, ihrer eignen Ehre Genugthnung zu thun!“ sprach er mit bitterer Lust, als er sich seinem Ziele so nahe sah. „Wenn ich ihn in meiner Gewalt habe, dann will ich ihn zu ihren Füßen schleppen und sie zur Anerkennung zwingen, dann aber soll sie es gut machen und mit ihm hinausgehen in die Ferne, wo Niemand uns kennt, die sie geschändet, und hat sie dem Elenden einst ihr Herz geschenkt, soll sie ihm jetzt –“

Da unterbrach ein harter Fall, den er that, seine Gedanken - in der wachsenden Dunkelheit war er mit seinem lahmen Fuße an einem scharfen Steine gestrauchelt, und ehe er sich halten konnte, zu Boden gefallen; er wollte sich aufraffen, sein Auge flog, wie das eines Adlers, der fürchtet, ihm könne die Beute entrinnen, thalwärts: er bemerkte, daß sich noch mehr Fenster in verschiedenen Erkern der Eremitage erleuchteten, dorthin hatte er die gerade Richtung, allerdings die gefährlichste, eingeschlagen. Rasch wollte er aufspringen, da gab das Geröll unter seinen Füßen nach, setzte sich mit wachsender Geschwindigkeit in Bewegung und riß ihn nun gar halsbrechenden Sturzes mit sich in die Tiefe. Laut heulend sprang ihm der Hund nach. All seine wilden Entwürfe waren auf einmal vernichtet.

Bewußtlos lag er unten auf einem Vorsprunge, mehre Klafter hoch über der Sohle des Thalgrundes. Wenige Schritt noch und keine Rettung wäre für ihn gewesen, denn unter dem Vorsprunge starrten zackige Klippen empor, die ihn unfehlbar zerschmettert haben würden. Aber das Geschiebe hatte sich schon vorher in seinem Falle gemäßigt, seine Kraft an einem waagrechten Rasenwalle, der sich um die Thalwand zog, gebrochen, und so blieb der verunglückte Mann, wenn auch schwer verletzt und besinnungslos, doch vor dem Aergsten bewahrt, liegen. Ein Glück, daß auch sein Gewehr sich im Falle nicht entladen und ihn tödtlich verwundet hatte.

In der Eremitage war allerdings wieder Leben erwacht. Ein wirthliches Feuer prasselte in der Küche und die alte Frau, welche wir schon kennen, war geschäftig, eine stark gewürzte Suppe zu kochen, während in der Ecke am Herde der Schäfer Klupsch saß, welcher also, wie er es dem Herrn von Dießbach rundweg erklärt, auf die Rückkehr der Bewohner gewartet hatte und mit mehr Glück, als dieser.

„Wenn wir den morgenden Tag noch für uns haben,“ sagte die Alte, „so ist Alles gewonnen. Heut sind wir sicher, aber morgen müssen wir in aller Frühe fort, denn er giebt so leicht nichts auf, was er sich in den Kopf gesetzt hat, ich kenne ihn schon von Klein auf, er war ein tückischer Junge.“

„Ja, auf Sie mag er einen besondern Zahn gehabt haben,“ versetzte der Schäfer, „da er Ihr doch seinen lahmen Fuß verdankt. Nun, nun, sehen Sie mich nicht so böse an, Sie hat mir’s ja selber gesagt.“

„Konnte man ihn halten? Er biß und schlug ja um sich, wie ein Satan - den konnte der Stärkste nicht auf dem Arme erhalten, es war ein Unglück, daß er gerade auf die Steine fiel und dann einen ungeschickten Chirurgus kriegte.“

„Jemand würde sich auch nicht gegrämt haben, wenn er nicht den Fuß, sondern den Hals gebrochen hätte!“ sagte der Schäfer.

„Meint Er meine gnädige Frau? Sie ist seine Stiefmutter! Wo soll die große Liebe herkommen, wenn der Junge sich immer bös gegen sie benommen hat!“ – Der Schäfer brummte etwas in den Bart.

„Lassen wir die alten Geschichten, ich weiß, Er hat immer etwas gegen meine Herrschaft –“

„Ja, weil sie meinen armen Herrn auf dem Gewissen hat – und wohl noch mehr!“ setzte er murrend hinzu.

Die Alte stieß mit dem Topfe, den sie eben vom Feuer nahm, so ungeschickt an, daß sie beinahe die ganze schon fertige Suppe verschüttet hätte. „Ich wollte Ihm rathen,“ sagte sie mit heiserer Stimme, „Sein Maul zu halten. Was meine Herrschaft mit Seinem Herrn gehabt, das geht Ihm nichts an – Er hat sich oft getraut, drein zu reden, wär’ ich Sein Herr gewesen, ich würde Ihm das gelegt haben. Jetzt ist nichts mehr zu ändern, also beruhige er sich, und wenn der Mond aufgegangen ist, mache Er, daß Er fort kommt und besorge Er den Wagen, wie Ihm aufgetragen ist.“

Der Ton einer hochmüthigen Herrendienerin, welchen die ehemalige Zofe der Frau von Dießbach angenommen hatte, verfing aber gar nicht bei dem alten Schäfer. „Sie spricht sehr einfältig,“ erwiederte er. „Wenn Sie Ihrer Herrschaft so getreulich abgeredet hätte, wie ich meinem armen Herrn, so brauchte er jetzt nicht bei Nacht und Nebel wie ein Dieb davon zu schleichen. Ihrer Frau zu Gefallen thue ich’s nicht, daß ich Helfershelfer bin, aber mein Herr hat mich einmal rufen lassen und ich will nicht, daß es noch mehr Unglück giebt: wir haben so schon genug!“ Er stand auf und sein Hund, der unter der Bank gelegen hatte, sprang gleich hervor, dieselbe beinah umwerfend.

„Erst doch einen Löffel warme Suppe?“ lud ihn die Alte ein.

[566] „Ich danke von Ihr für Alles!“ erwiederte der Schäfer trocken. Die alte Frau konnte kaum mißverstehen, warum er, von ihrer Hand bereitet, nichts annehmen wollte, und sie hätte am Liebsten seine Idee gleich zur Thatsache gemacht. Doch leuchtete sie ihm mit verstellter Freundlichkeit hinaus.

Im Hausflur trat ihm, mit dem Licht in der Hand, ein Mann entgegen, klein und zierlich von Figur, was ihn jünger erscheinen ließ, als er wirklich war, mit einem angenehmen Gesicht, dessen Züge, wenn auch sehr verfallen, etwas Vornehmes hatten. „Hast Du Deinen Hund bei Dir, Klupsch?“ fragte er den Schäfer. „Wahrhaftig, da ist er. Was heult nur draußen so schauerlich? Es ist, als ob ein Todesfall prophezeit würde.“

Der Schäfer horchte an der offenen Hausthüre. Im Thale ließ sich in der That das Geheul eines Hundes hören, es klang in Unterbrechungen, aber so kläglich und auch so wild, daß es Grauen erregen konnte.

„Wollen zusehen, Herr Stargau,“ sagte der Schäfer, der gleich an Dießbach dachte. „Lassen Sie mir eine Laterne anstecken.“

Sein Wunsch war schon erfüllt, das junge blonde Mädchen, Nina’s angebliche Tochter, hatte aus eignem Antriebe bereits die große Stalllaterne angezündet, mit welcher sie, ein Tuch über den Kopf geworfen, erschien.

„Bleib hier, Pauline,“ sagte Stargau – (denn es war wirklich der Vielbesprochene) – mit einem zärtlichen Ausdrucke. „Für Dich ist das nicht.“

„Für mich wohl,“ versetzte das junge Mädchen entschlossen. So schritten alle Drei in das dunkle Thal hinaus, und ein kleiner Bube, der aus irgend einem Winkel im Flur hervorkroch, schloß sich ihnen noch an. Das Geheul des Hundes, von heftigem Gebell unterbrochen, diente ihnen zum Führer.

„Dort oben ist es!“ sagte der Schäfer. „Es muß Einem ein Unglück zugestoßen sein.“

„Hier geht es aber nicht hinauf!“ warnte Pauline. Sie leuchtete vor, und kannte jeden Stein und Strauch so genau, daß sie ihre Begleiter bald auf die Platte des Vorsprungs brachte, wo ihnen Dießbach’s Hund bellend entgegen sprang: der Schäfer hatte den seinigen unterwegs schon an den Strick genommen.

„Wahrhaftig! Ein verunglückter Mensch!“ rief Stargau.

Pauline war vorausgeeilt. Die Laterne auf einen Stein setzend, kniete sie zu dem Gestürzten nieder, der, nach seinem leisen Aechzen zu urtheilen, noch Leben hatte, und in diesem Momente wirklich, wie schon einige Mal das Bewußtsein ihm gleich der Fluth und Ebbe geschwankt, von Neuem die Augen aufschlug. Der volle Lichtschein lag auf Pauline’s lieblichem Antlitz – Kuno zuckte zusammen vor dieser Erscheinung und schloß die Augen wieder, die Besinnung erlosch ihm wie ein Meteor.

„Um Gottes willen! Das ist ja –“ rief Stargau, aber der Schäfer ließ ihn nicht ausreden.

„Stille!“ raunte er ihm zu. „Kein Wort!“ Bleiben Sie im Schatten –“ und er bückte sich, dem Gefallenen zu helfen, nachdem er seinen Hund nachdrücklich beschwichtigt und an den nächsten Baum gebunden hatte.

„Ein paar Gliedmaßen gebrochen – wir müssen ihn hinunter schaffen, dort renke ich ein, was ich kann. Fassen Sie nur das Kopfende an, Herr Stargau – und Sie, Jungfer, leuchten.“

„Klupsch,“ sagte der gewesene Oberamtmann von Saint-Pankraz leise unterwegs – „nun brauchst Du uns keinen Wagen zu morgen zu schaffen. Wir bleiben hier.“



VIII.

Auf der Rinkenburg war Frau von Dießbach nach ihrer Gewohnheit schon wach, noch ehe das Frühroth den Osten säumte. Sie hatte viel schlaflose Nächte, aber eine schlimmere, wie die heutige, glaubte sie noch nicht durchlebt zu haben. Kuno’s Ausbleiben marterte sie. Nach Allem, was vorgegangen war und wie sie den energischen, unversöhnlichen Charakter ihres Stiefsohnes kannte, mußte sie von ihm Schritte fürchten, die zum Aeußersten führen konnten. Wie gern hätte sie gestern Abend nach Guido ausgeschickt, um diese qualvolle Ungewißheit zu beendigen, aber sie hatte seine junge Seele schon genug beschwert und konnte ihm noch nicht Alles sagen. „Schlaf suß, mein Liebling!“ flüsterte sie. „Du armes Kind ahnst nicht, was Dir noch zu tragen bevorsteht.“

Sie hatte sich von der Eremitage, wo sie allerdings mit Guido gewesen war, Botschaft bestellt, sobald diejenigen, denen sie eine neue Freistatt, wenn auch in der Ferne und Fremde bereitet hatte, abgereist sein würden: das sollte nach der Verabredung vor Tagesanbruch gechehen, sie wollte dann auch reisen, wozu sie in der Stille bereits Anstalten getroffen hatte, um Jene unterwegs noch einmal, zum letzten Mal! zu sehen. Der Tag war angebrochen, jetzt mußten sie schon fort sein, und der Bote mit der Meldung davon konnte bald eintreffen. Frau von Dießbach warf ihre Mantille um und ging in das Freie, den herbstlichen Thau und die Morgenkälte nicht achtend. Sie hatte sich nicht getäuscht, dort stieg der Knabe bereits die Schlucht herab und setzte sich in raschen Lauf, sobald er ihrer ansichtig wurde. Welche Kunde ward ihr jetzt! Ein Augenblick hatte Alles umgestaltet. Kuno lag, lebensgefährlich verletzt, in der Eremitage, unter der Pflege und Obhut der Menschen, die er hatte, womöglich, vernichten wollen, von ihm war vor der Hand nichts zu fürchten – und er lag ja lebensgefährlich darnieder, vielleicht raffte ihn der Tod hinweg. – – Die starren Augen der Dame verglasten sich mehr und mehr bei diesen Gedanken, der Knabe stand und sah ihr in das Gesicht, und fing an, sich vor ihr zu fürchten.

„Nein, nein!“ rief sie plötzlich. „Auch das muß noch geschehen. Dann aber dann!“ – Sie hob ihre feine, weiße Hand zum Himmel, der vom Sonnengolde durchleuchtet war. – „Geh, mein Sohn!“ sprach sie jetzt zu dem Knaben. „Ich komme heute nicht, aber morgen gewiß. Sie sollen ihn gut pflegen – es ist doch ein Arzt gerufen worden? Oder wer hat ihn verbunden und für ihn gesorgt?“

„Der Schäfer von Pankraz,“ war die Antwort, und sie befriedigte die bewegte Frau vollkommen. Der Knabe trat den Rückweg in das Gebirge, sie nach dem Schlosse, an, wo sie sich gleich in das Zimmer ihres Sohnes begab, den sie aus einem festen Schlafe weckte.

„Guido – Dein Bruder hat einen unglücklichen Fall gethan – er liegt gefährlich verletzt in der Eremitage –“

„Was? In der Eremitage und – Dein –“

„Alle sind noch dort!“ unterbrach sie ihn schnell. „Sie pflegen ihn, sie sammeln glühende Kohle auf sein Haupt! Doch wie ungerecht bin ich! Hätte ich zu ihm das Vertrauen haben können, wie zu Dir, hätte ich mein Herz erschlossen – Alles wäre vielleicht anders – mich trifft allein die Schuld.“

„Mama, ich werde mich gleich anziehen und nach der Eremitage eilen.“

„Nein, mein Sohn,“ sagte Frau von Dießbach sanft, „lassen wir den heutigen Tag vorübergehen, wir können dort nichts helfen, nur stören, ich muß mir Alles erst reiflich bedenken.“

„Aber – wenn er Pauline sieht, wird ihm da nicht die Aehnlichkeit mit mir –“

„Nein, nein! Er sieht sie nicht, oder – ohne Bewußtsein. Das Fieber ist jedenfalls eingetreten und die Krisis folgt ihm –“ hier hielt sie inne und sagte dann leiser, mit gepreßter Stimme: „die Alles entscheiden muß!“

Bei diesem Beschlusse blieb es und Guido mußte sich gedulden. Eine Verlegenheit von anderer Seite, auf welche Frau von Dießbach nicht vorbereitet war, überkam sie im Laufe des Tages. Kuno hatte die Bewirthschaftung des Gutes bis in die kleinesten mit einer Selbstständigkeit und Thatkraft geführt, daß er Keinem seiner Leute auch nur die geringste Bestimmung dessen, was geschehen sollte oder zu thun war, ja nicht einmal eine Einsicht in den Betrieb gestattet hatte, so daß nun kein Mensch wußte, woran er war. Man wandete sich mit Anfragen an Frau von Dießbach, welche sie nicht beantworten konnte. Denn sie verstand gar nichts von der Wirthschaft und hatte sich auch bei Lebzeiten ihres Mannes, seinen Wünschen sehr entgegen, gar nicht darum bekümmert, nicht einmal um das eigentliche Hauswesen, die Wirkungssphäre der Frau. Da sie zu Allem, was in dies Fach schlug, weder Geschick, noch Lust, sondern eine entschiedene Abneigung gezeigt hatte, war es ihrem Manne endlich lieber gewesen, das Ganze in Dienstbotenhände zu geben, und so war es geblieben bis auf diesen Tag. Aber die Gutsökonomie hatte er selbst betrieben, wie nach ihm, seinem Vorbilde getreulich folgend, sein ältester Sohn, und weil dessen strenge Leitung nun fehlte, drohte die ganze wohleingerichtete Maschine in Stocken und verderbliche Unordnung zu gerathen. Wie wollte sich aber Frau von Dießbach helfen? Sie hatte keine Verwandten

[567]

Die Versöhnung Friedrichs II. mit seinem Vater.




und in der ganzen Nachbarschaft keinen Freund mehr, der ihr seinen Rath gegeben hätte: Herr Egelmann hatte ganz Recht, Alles hatte sich, seit der furchtbare geheime Verdacht auf ihr ruhte, von der „schrecklichen Frau“, wie sie allgemein in der Gegend hieß, zurückgezogen.

Da kam ihr noch an demselben Tage ein Beistand, auf den sie nicht gerechnet hatte. Der Oberamtmann Siebeling mit Frau und Tochter machte ihr seinen Besuch. Er hatte durch den heimkehrenden Schäfer gehört, welcher Unfall dem Nachbar zugestoßen war und sich durch den dringenden Wunsch seiner Gattin bestimmen lassen, die beschlossene Visite gleich heute auszuführen. Der Eindruck, welchen Frau von Dießbach in ihrer einfachen und ruhigen Erscheinung auf den ehrlichen Mann, dessen offene Seele keine Beobachtungsgabe besaß, machte, war durchaus kein unangenehmer: nach seinen Begriffen konnte sie so nicht sein, wenn dies böse Gerede wahr gewesen wäre, und je mehr sie ihm leid that, desto unwilliger wurde er auf das alte Weib, wie er seinen Egelmann titulirte, dem er der Verläumdung wegen alle Freundschaft, ja allen Verkehr aufkündigte. Mit einer wahren Herzlichkeit bot er der Dame, wenn sie in der Verwaltung ihres Gutes etwa Rath brauche, seinen Beistand an, und dies freundliche Entgegenkommen, dessen sich die Geächtete – sie wußte wohl, daß sie es in der Gesellschaft [568] war! – seit Jahren nicht mehr erfreut hatte, that ihr wohl. Sie nahm sein Erbieten an und fragte ihn gleich über Manches, das ihr heute vergeblich zur Entscheidung vorgelegt worden war, um seine Meinung, die er ihr so praktisch und verständlich sagte, daß sie ihn nicht allein begriff, sondern auch davon Gebrauch machen konnte. Er versprach ihr, von Zeit zu Zeit, bis ihr Sohn wieder hergestellt sein würde, selbst nachzusehen, Beide waren im angelegentlichsten Gespräch, und Frau Siebeling, die auf dem Sopha fast unbeachtet auf und nieder hüpfte, fing an, eifersüchtig zu werden. Da trat Guido ein. Er widmete sich, nachdem er den Oberamtmann begrüßt und von dessen ökonomischer Faust einen zermalmenden Händedruck verschmerzt hatte, ausschließlich den Damen, und wußte sowohl Frau Siebeling’s Herz schnell genug durch seine Artigkeit zu gewinnen, als auch bei der schweigsamen Agnes – schweigsam, weil sie sich ihrer Umgebung entfremdet fühlte! – Saiten anzuschlagen, welche in ihrem Innern lang verstummte Goldklänge weckten und sie in die lebhafteste Unterhaltung über ihre höchsten Interessen: Literatur, Musik, Kunst verwickelten. Ihr Auge strahlte, sie war wie verklärt.

In Siebeling’s Wagen, als sie wieder fortfuhren, brach ein Streit aus. Auf die wohlwollenden Aeußerungen, welche der Oberamtmann über Frau von Dießbach that, hatte es seine Gattin doch nicht lassen können, ihren Gefühlen, die nur augenblicklich durch die angenehme Unterhaltung mit Guido beschwichtigt waren, Worte zu geben.

„Du wirst Dich auch von dem entsetzlichen Weibe bestricken lassen, wie es dem armen Stargau ergangen ist!“ rief sie. „Der hatte nicht einmal Frau und Kind, wie Du, und war also Niemand Rechenschaft schuldig, Du aber –“

„Bist Du unklug geworden?“ entgegnete er laut lachend.

„Ja, lache nur, das ist schon die rechte Höhe, wenn man über seine Frau lachen kann. Ihr Männer seid wie blind, Ihr seht nichts, Ihr merkt nichts. Ich hatte sie gleich weg, so wie ich ihre Augen sah und dann die Wohlgerüche, die sie verbreitete, das war schon reines Gift, und ich werde Gott danken, wenn es mir nichts schadet.“

Er verwies ihr ernsthaft diese Reden, konnte sie aber eines Bessern nicht überzeugen. Sie bat ihn dringend, sein übereiltes Versprechen zurückzunehmen und die Rinkenburg nicht wieder zu besuchen, und ließ nicht ab, bis er zuletzt böse wurde.

„Wenn ich ein Versprechen gebe, so steht das baumfest, und keine Albernheit kann mich dazu bringen, mein Wort zu brechen. Dir habe ich es auch noch nicht gebrochen und werde es nicht brechen. Ob Du Dich nicht schämst vor der Agnes da!“

Agnes hatte mit peinlichen Gefühlen dem Wortwechsel zugehört, der sie aus schönern Gedanken gerissen hatte,

Es war noch früh am andern Morgen, als Guido, den heute Niemand zu wecken gebraucht, schon zum Gange gerüstet vor seiner Mutter erschien. Sie war in einer unruhigen Stimmung, wie sie von innern Kämpfen erregt wird, das konnte selbst ihrem Sohne unterwegs nicht entgehen und er fragte sie darum.

„Ich habe Dir Viel vertraut, mein Kind,“ sagte sie, ohne ihn anzusehen – „Deine Liebe wird sich von mir wenden –“

Mit einer an Leidenschaft grenzenden Heftigkeit unterbrach er sie: „Meine liebe Mama! Und ständest Du vor mir, eine Verbrecherin, ich würde Dich lieben und mit Dir sterben, das schwöre ich Dir!“

„Schwöre nicht, Guido!“ sagte sie bebend, und hatte den Muth nicht mehr, den Strom seiner Betheuerungen zu unterbrechen, die Kraft nicht, ihren Entschluß, den sie kürzlich gefaßt, auszuführen. Gewiß, er sollte Alles wissen, der Schleier, der noch das letzte düstere Geheimniß, das sie ihm vorenthalten, verhüllte, sie wollte ihn mit eigner Hand vor dem Lieblinge ihres Herzens hinwegziehen, aber in diesem Augenblicke vermochte sie es nicht.

So gelangten sie an das Ziel ihrer Wanderung. Man hatte sie aus den Fenstern der Eremitage kommen sehen, und Guido bemerkte zuerst, wer ihnen freudig entgegeneilte: „Da ist Pauline!“ rief er der Mutter zu.

Das junge Mädchen, heute nicht mehr in der landesüblichen Tracht der ärmern Bergbewohnerinnen. sondern im einfachen Kleide der höhern Stände, nahte Frau von Dießbach mit herzlichem Blick und küßte ihr die Hand, diese umarmte sie und Guido schlang seinen Arm um ihre schlanke Taille, während er ihr freundlich guten Morgen bot.

„Was macht der Kranke?“ fragte die Mutter.

„Heute ist er schlimmer – “ antwortete Pauline – „er hat ein heftiges Fieber und phantasirt.“

„Wer bewacht ihn?“ – fragte Frau von Dießbach schnell.

„Der Vater und Nina abwechselnd,“ erwiederte Pauline. „Mir erlaubt es der Vater nicht. Jetzt ist Nina bei ihm. Der Arzt war gestern hier.“

An der Hausthür stand Stargau und trat ihnen nur ein paar Schritte entgegen. Er sah beim Tageslichte noch viel verfallener aus, und seine kleine Figur ungemein dürftig. Mit einer Befangenheit, die er in den Tagen seines Uebermuths nie gekannt hatte, erwiederte er den Gruß der Frau von Dießbach, und neigte sich vor ihrem Sohne, der schon eine merkwürdige Gewalt über sich erlangt hatte, diesem Manne auch nur so zu begegnen. Aber er that es um seiner Mutter willen!

Im Zimmer setzte sich diese, welche von dem Gange mehr angegriffen schien, aks man sonst an ihr gewohnt war, und winkte den Andern, ein Gleiches zu thun. „Was habt Ihr beschlossen?“

„Vorerst abzuwarten –“ sagte Stargau. „Es hat keine Gefahr vor der Hand. Wenn er auch zum Bewußtsein kommt, so muß er doch erkennen, wem er seine Lebensrettung verdankt – und ich sollte meinen, daß ihn das bewegen wird, seine rachsüchtigen Pläne aufzugeben.“ .

„Nicht eher,“ entgegnete Frau von Dießbach, ihren Kopf in die Hand stützend, „als bis er Alles im Zusammenhange weiß, – besser, wenn es ihm niemals verschwiegen geblieben wäre! – Ich will ihn sehen!“ setzte sie rasch hinzu, indem sie aufstand.

„Jetzt?“ rief Stargau. „Jetzt ihm Mittheilungen machen? Das ist ganz unmöglich – er liegt besinnungslos in wilden Phantasien.“

„Dennoch muß ich ihn sehen! Niemand begleite mich: ich will allein sein!“ Sie verließ mit diesen Worten, denen nicht zu widersprechen war, das Zimmer und auch Stargau, dem Guido’s Gegenwart peinlich, schlich bald hinaus. So blieben die beiden jungen Leute, die einander so ähnlich sahen, obgleich Guido mehrere Jahre älter war als Pauline, allein zusammen: sie hatten sich kennen gelernt vor kaum zwei Tagen und waren doch schon so vertraut, so innig gegen einander! Guido’s Abneigung, welche er gegen ihren Vater fühlte – denn Stargau’s Kind war sie und hatte ihn oft genug in Guido’s Beisein Vater genannt – übertrug sich nicht auf sie. Diese Abneigung, natürlich an sich, hatte sich gesteigert, seit er Stargau persönlich kennen gelernt – freilich urtheilte er hier nur nach dem äußeren Eindruck, aber er fragte sich fort und fort: wie ist es möglich, daß dieser Mann die Neigung meiner Mutter gewinnen konnte? – Denn er wußte so weit Alles. Sie hatte sich neben der alten und furchtbaren Buße, die sie trug, diese neue auferlegt: sich vor ihrem Sohne zu demüthigen, ihm ihre Schwäche zu bekennen, ohne alle Entschuldigung, auf die Gefahr hin, sein Herz – ihr letztes, einziges Gut! – zu verlieren. Ohne Entschuldigung hatte sie ihm auf dem Gange gebeichtet, die Mutter dem Sohne! sonst würde er vielleicht anders über jene Möglichkeit, wie Stargau ihr Herz gewinnen konnte, geurtheilt haben. Jetzt war es ihm unerklärbar. Wie oft tritt uns aber ein solches psychologisches Räthsel im Leben entgegen: der geheimnißvolle, nie zu ergründende Ursprung der Liebe spottet aller Erklärungen. Und Frau von Dießbach hatte Stargau geliebt, sie liebte ihn noch, wie kalt auch ihr Aeußeres selbst gegen ihn war und ihr Wille ein unnatürliches Verhältniß gestaltet hatte. Ehe sie mit Guido heute den Rückweg antrat, hatte sie noch ein langes Gespräch unter vier Augen mit ihm, und er küßte ihr beim Abschiede feuchten Blickes die bebende Hand.

„Wenn Kuno nach dem Ausspruche des Arztes ohne Gefahr Alles hören kann, dann an seinem Lager – nicht eher und nirgends anders!“ sagte sie mit einer Festigkeit der Stimme, welcher das Zucken ihrer Lippen widersprach.

„Und – muß ich auf ewig der Hoffnung einer ungetrennten Vereinigung entsagen, da ich doch feierliche Rechte habe?“

„Auf ewig!“ antwortete sie.

„Warum, Anna warum?“ rief er mit schmerzlicher Frage.

„Du wirst es hören!“ wiederholte sie. „An Kuno’s Lager, nicht eher und nirgend anders!“

Mehrere Tage vergingen darüber. Der Wundarzt aus der Stadt, welcher gerufen worden war, hatte gegen den Verband, [569] selbst gegen die Art und Weise, wie die gebrochenen Glieder geschient worden waren, als rohe Empirie eines Schäfers, die nicht den Anforderungen der Chirurgie entsprach, mancherlei Einwendungen erhoben, aber doch nicht gewagt, sie zu ändern, weil er insgeheim deren Zweckmäßigkeit anerkennen mußte; den allgemeinen Zustand zu beurtheilen, gestattete er aber keinem Andern, als sich selbst, und der war gefährlich und mußte gefährlich sein. So schilderte er ihn stets auf der Rinkenburg, wo er nach jedesmaligem Besuche Bericht abstattete. In der Stadt aber übertrieb er die Gefahr noch, und der Oberamtmann Siebeling kam deshalb heftig mit ihm zusammen, denn er wußte es von seinem Schäfer besser, da er ihn noch ein- oder zweimal zur Eremitage geschickt hatte, um sich durch eignen erfahrenen Augenschein von dem Befinden des Kranken zu unterrichten. Er sagte dem wichtig thuenden Manne zur Belustigung aller Frühstücksgäste in der Weinstube seine Meinung so deutsch, daß dieser schon erbost zum nächsten Rechtsanwalt lief, um ihn wegen Injurien zu verklagen.

Siebeling fuhr von hier nach der Rinkenburg, wo er, seinem Versprechen gemäß, die obere Leitung der Wirthschaft übernommen hatte. Seine Frau war bei kälterm Blute darüber beruhigt, besonders da Guido auf seinem prächtigen Pferde, vor Glanz und Schönheit strahlend, wie ein junger Gott, seinen Besuch in Sanct- Pankraz gemacht und sein Benehmen gegen Agnes ihr urplötzlich einige Hoffnung gegeben hatte, daß aus den jungen Leuten „etwas“ werden könnte. Vor ihrem Manne verschwieg sie aber diese Hoffnung aus guten Gründen sehr sorgfältig.

An einem Kreuzwege stellte sich dem Oberamtmann ein fremder, ältlicher Mensch entgegen, der ihn bei Namen grüßte und sich als einen armen Oekonomen ankündigte, der „Schon gut!“ unterbrach ihn Siebeling. „Wenn Sie mich kennen, so kommen Sie auf den Abend zu mir. Ich habe jetzt keine Zeit.“

„Fahren Sie nach der Rinkenburg? Wollen Sie mich mitnehmen? Ich habe auch Oben bei der gnädigen Frau zu thun.“

„Kommen Sie nur erst zu mir!“ sagte Siebeling verdrießlich. „Ihr bringt unsern ganzen Stand als Ökonomen in Mißkredit durch Euer - Fechten, nehmen Sie mir’s nicht übel. Lassen Sie Dießbach’s unmolestirt – ich werde für Sie thun, was ich kann.“

„Aber gerade – dort brauchen sie einen Inspector, da der Herr den Hals gebrochen hat –“

„Wer sagt Ihnen das?“ fuhr Siebeling heftig auf.

„O, das wissen Sie als nächster Nachbar nicht einmal?“ lachte der Fremde. „Dort wird doch Alles geheim gehalten, alte Gewohnheit, gute Ursach! Ich weiß es aber aus zuverlässiger Quelle, komme eben von Ballenstedt, wo mir ein alter Freund und Bekannter –“

„Egelmann?“ schrie Siebeling ganz erhitzt.

„Kennen Sie ihn? Allerdings derselbe. Nehmen Sie mich also getrost mit, ich versuche mein Heil und habe vielleicht bei der gnädigen Frau noch eine ganz besondere Empfehlung.“

„Nun, so steigen Sie auf, in’s Teufels Namen! Nur damit ich Ihnen unterwegs sagen kann, daß Ihnen das alte miserable Weib, der Egelmann, wieder eine niederträchtige Lüge aufgebunden hat. Offeriren Sie sich meinetwegen auch als Inspector, das geht mich nichts an.“ Staub, denn es war Niemand Anderes, hatte gleich bei dem ersten Wort den Wagen flink erklettert und hörte gelassen zu.

„So!“ sagte er dann. Für meine Angelegenheiten wäre es besser, wenn er den Hals gebrochen hätte, indessen muß es auch so gehen.“

Er hatte sich auf der Rinkenburg wirklich kaum durch den Oberamtmann, den er darum bat, bei Frau von Dießbach melden lassen, als er bedeutet wurde, eine kurze Weile zu verziehen, er werde sogleich angenommen werden. Siebeling warnte die Dame, sich nicht, ohne daß er die Zeugnisse dieses Herrn Staub gesehen habe, mit ihm einzulassen, und ging dann, in der Wirthschaft nachzusehen, während dieser Zeit wurde Staub in das Zimmer der Frau von Dießbach geführt. Als die Dame ihm, dem abgeschabten Lump, so vornehm und ruhig entgegen trat, überfiel ihn doch eine gewisse Verlegenheit, und die schönen Vorsätze, wie er seinen Vortheil wahrnehmen soll, zerrannen, wie Schnee an der Sonne.

„Es ist mir sehr lieb, Herr Staub,“ begann Frau von Dießbach, ihr Auge fest auf ihn richtend, „sehr lieb, Sie wieder in hiesiger Gegend zu wissen. Ich werde Sie in einer Angelegenheit, die ich Ihnen später nennen werde, um einen Dienst bitten, den Sie mir gewiß gern erweisen werden.“

„Befehlen Sie über mich, gnädige Frau,“ sagte Staub, dem sich eine reiche Aussicht zu eröffnen schien.

„Später, Herr Staub,“ erwiederte sie. „Wissen Sie den jetzigen Aufenthalt Ihres früheren Prinzipals?“

Aha! dachte Staub. Den soll ich ihr ausfindig machen! – „Ich glaube, ihn zu wissen –“ erwiederte er unbedenklich, obgleich es erlogen war. Denn Frau von Dießbach hatte dafür Sorge getragen, daß der Wundarzt aus der Stadt, wenn er die Eremitage besuchte, weder Stargau, noch Paulinen zu Gesicht bekam, überhaupt keine Ahnung von ihrer Anwesenheit erhielt, sonst freilich, da er Stargau von Alters her kannte, wäre letztere bald stadt- und landkundig geworden.

„Wenn das der Fall ist,“ sagte Frau von Dießbach auf die Behauptung des gewesenen Inspectors, „so rechne ich vor der Hand auf Ihre, durch eignes Interesse gebotene Verschwiegenheit. Sie werden übrigens bald von diesem Zwange erlöst werden. Einstweilen erlauben Sie mir, Ihnen eine Erleichterung Ihrer Lage zu gewähren –“ sie reichte ihm eine kleine Summe, welche sie schon bereit gelegt hatte. Er nahm sie ohne Umstände und bedankte sich, von delikater Behandlung dieses Hauptpunktes für ihn im Leben war er längst kein Freund mehr. Nachdem er hierauf angegeben hatte, daß er im goldenen Ringe in der Stadt zu finden sei, wurde er entlassen.

Es verging indessen noch mehr als eine Woche, ehe die Stunde der Erlösung schlug. Auch für Frau von Dießbach war es eine solche, wenn gleich in einem ganz andern, furchtbaren Ernst in sich tragenden Sinne. Sie hatte schon vor Jahren über sich selbst zu Gericht gesessen, den Stab über sich gebrochen, das Urtheil vollstreckt an sich selbst – und was sie jetzt noch zu thun gedachte, war nur der Schlußact, den sie bis hierher in grauenhafter Consequenz verschoben hatte.

Durch den Arzt war ihr die Kunde geworden, daß Kuno außer Gefahr, jeder Leibes- und Seelenbewegung vollkommen gewachsen sei. Guido hatte ihn schon oft in den letzten Tagen besucht, und in einer milden Stimmung gefunden, die nur nach einem Anlaß suchte, um sich in einer Herzensergießung zu äußern, wie man sie bei diesem verschlossenen, starken Charakter noch vor Kurzem für unmöglich gehalten hätte. Aber Guido, von der Mutter dringend gebeten, hatte einen solchen Anlaß geflissentlich vermieden, sich auch nie lange aufgehalten, sondern die wenige Zeit seines bald ablaufenden Urlaubs benutzt, um oft in Sanct-Pankraz zu sein, wo ihn der Oberamtmann schon mit ganz bedenklichen Augen ansah, und seine Frau mehr als einmal anforderte, der Kinderei, wie er es nannte, ein Ende zu machen. Sie war indessen weit entfernt davon, und hoffte ihn mit der Zeit, trotz seiner oft ausgesprochenen Ansichten, für eine Verbindung ihrer Tochter mit dem jungen Offizier zu gewinnen. Er war jedoch keineswegs der Mann, sich zu fügen, das hätte sie wissen sollen.

Kuno lag, halb angekleidet schon, auf seinem Bett, die Sonne schien freundlich durch sein Fenster und beleuchtete die markigen Züge des Ruhenden mit einem ihren strengen Ausdruck mildernden Schimmer. Die Alte hatte ihm die Ankunft seiner Stiefmutter gemeldet: er erwartete sie. Als die Thüre wiederum geöffnet wurde, richtete er sich, auf den gesunden Arm gestützt, halb empor und grüßte die Eintretende, welche in ihrer gewohnten Haltung, sorgfältig gekleidet wie immer, die Schwelle überschritt. Aber sie kam nicht allein, und Kuno’s Brauen zogen sich zusammen: mit ihr erschien Stargau, kamen Guido und Pauline, zuletzt folgte die gewesene Dienerin seiner Mutter. Es war, wie eine Versammlung zu besonderer Feierlichkeit, denn Frau von Dießbach trat allein dem Kranken näher, während sich die Andern im Halbkreise reihten.

„Ich komme zu Dir, mein Kuno,“ begann Frau von Dießbach mit einer tonlosen Stimme, die auch im Fortsprechen wenig Klang gewann, „um von Dir Abschied zu nehmen – von Euch Allen hier! Unterbrecht mich nicht, und wenn ich geendigt habe und hinweg gehe, folge mir Niemand als meine treue Dienerin: es ist mein ernster Wille!“ Sie winkte gebieterisch, als Guido dennoch sprechen wollte, aber sie vermied das Auge ihres Lieblings, dessen flehender Blick ihr die Kraft geraubt haben würde.

Was ich Euch zu sagen habe, ist zermalmend schwer – aber es darf nur kurz sein, denn meine Stunden sind gezählt –“ hier schien ihr ein Moment die Stimme zu versagen, doch überwand sie [570] schnell den Schauder, der ihr durch die Glieder rieselte und fuhr fort: „Wisset, ich bin die Mörderin meines Gatten!“

Vor dieser entsetzlichen Selbstanklage entrang sich jeder Brust der Anwesenden ein banger Schreckenslaut – aber Frau von Dießbach richtete sich höher auf und sprach: „Nicht in dem Sinne, wie es die Welt versteht! Meine Hand, wie mein Wille, ist schuldlos an dem, was mir die allgemeine Stimme der Welt heimlich und vernichtend zur Last gelegt hat – aber dennoch habe ich meinen Gatten getödtet durch Gift im Geiste, bis er es nicht mehr ertragen konnte. Hier, hier auf derselben Stelle, die jetzt mein Fuß entweiht, hat er geendigt – durch eigene Hand! Was ihn so weit getrieben hat, darf ich nicht wiederholen: selbst Dir, mein Guido, habe ich es bekannt, und nur Du allein, Du meine arme unschuldige Pauline, Du ahnst nicht, was Deine Mutter, ehe sie Dir das Leben gab, verschuldet hat. – Doch,“ fuhr sie mit erhöhter Stimme fort, „wenn ich auch dem Manne, dem ich Treue geschworen, und der mich trotz seiner strengen Behandlung mit einer Leidenschaft liebte, welche er durch seinen freiwilligen Tod bekundet hat, wenn ich ihm auch im Herzen meine Treue gebrochen – was die Welt erst einen Treubruch nennt, dessen war ich unschuldig, Gott ist mein Zeuge! Als aber keine Schranke mehr zwischen mir und Demjenigen stand, dem ich trotz meiner Gelübde mein Herz geweiht – “ hier traf ein Blick voll alter Innigkeit auf Stargau, der erschüttert vor ihr hätte auf die Knie sinken und sie um ihre Verzeihung anflehen mögen – „da reichte ich ihm die frei gewordene Hand in heimlicher Ehe, vor Gottes Altar durch kirchlichen Segen verbunden. Ja, Kuno, hier lege ich Dir die Urkunde auf Dein Bett, daß Du die Schande von meinem Haupte nimmst, wenn ich geschieden hin, und einen Zeugen, der unserer Vermählung beigewohnt, habe ich Dir auch bestellt, er wird morgen vor Dir erscheinen. – Wir lebten heimlich verbunden, denn ich hatte den Muth vor der Welt nicht, zu bekennen, was frühere Verläumdung bestätigt haben würde – und als mein zweiter Gatte die Gegend verließ, folgte ich ihm auf weiten Reisen und vergaß im Rausche eines kurzen Glücks Alles, was ihm vorangegangen war. Ueber Deine Geburt vor Allem, meine innige Pauline! Aber – in mir erwachte es bald wieder und mit fürchterlicher Macht des Gewissens wuchs es täglich drohender, vernichtender in mir an, ließ mir kein Ruhe mehr, trieb mich wieder heim zur Stätte, wo ich Gott und dem Gatten meine Gelübde gebrochen, wo ich ihn – gemordet hatte. Mich überraschte es nicht, daß ich der Welt gebrandmarkt erschien, sie hatte ja Recht! Ich legte mir als Buße auf, den Fluch der Mörderin zu tragen – das habe ich gethan bis jetzt – ich trennte mich freiwillig von Mann und Kind – ich erduldete von Dir, Deines Vaters vollkommenem Ebenbilde, jedes Zeichen der Abneigung und des Verdachtes! Was ich sonst noch über mich und mein Leben – sie unterbrach sich selbst, als sie die Hand und das Auge ihrer alten Dienerin voll flehentlicher Beschwörung erhoben sah. „Genug von mir! Vor Kurzem erst, nachdem ich jede Kunde von meinen Entfernten unmöglich gemacht, kehrten sie, meinem Willen entgegen, hierher zurück; dort, mein Gatte, meine Tochter und die treue Frau, welcher ich die Pflege ihrer Jugend überlassen hatte – und nun, Kuno, sage mir, was Du thun willst."

„Mutter, Mutter! Frieden über uns Alle!" rief Kuno.

„Amen!" sagte Frau von Dießbach. – „Lebt denn wohl, ich gehe, einsam zu sterben – denn ich erlebe das heilige Fest der Weihnacht nicht mehr. – Bestürmt mich nicht, stillt Eure Bitten und Thränen, hier ist keine Ungewißheit, keine Wahl: meine Tage sind längst schon gezählt, fragt auch weiter nicht, betet für mich, und laßt mich in Frieden scheiden. Meine Buße wird bald erfüllt sein, mein Segen bleibt Euch zurück! Dir, mein Gemahl, habe ich die Zukunft sichern können, unser Kind lege ich an Deine Brust – Du, meines ersten Gatten Sohn, fluche meinem Andenken nicht! Und, Guido, mein geliebtes Kind, das seinen Vater durch mich verloren und nie gekannt hat – ihre Stimme brach, Guido sank heiß weinend an ihr Herz; sie liebkoste ihn stumm und legte segnend ihre Hände aus sein Haupt. Dann raffte sie ihre Kraft wieder zusammen:

„Frieden über uns Alle!" sagte sie feierlich und wandte sich zum Scheiden.




Die Versöhnung Friedrich II. mit seinem Vater.


Nachdem bereits vor einigen Jahren eine in Text und Illustrationen ausgezeichnete Geschichte Friedrich des Großen von Kugler und Menzel erschienen war, welche überall die Anerkennung fand, die sie mit Recht in Anspruch nehmen konnte, hohen es neuerdings die beiden Verleger, Herr G. Wigand in Leipzig und W. Herz in Berlin unternommen, ein gleiches Unternehmen unter dem Titel: „Friedrich der Große, für das deutsche Volk dargestellt von Ludw. Hahn,“ zu veröffentlichen. Was den Text anlangt, so liegen uns augenblicklich nur zwei Lieferungen vor und läßt sich deshalb über den Werth der Darstellung ein vollgültiges Urtheil noch nicht abgeben, die Illustrationen dagegen, meist von dem bekannten Historienmaler Camphausen in Düsseldorf gezeichnet und von Bürkner in Dresden in Holz geschnitten, sind in der That kleine Meisterstücke, die den beiden genannten Künstlern durchweg zur Ehre gereichen.

Wir sind in den Stand gesetzt, eine dieser Illustrationen: „Die Versöhnung Friedrich II. mit seinem Vater“ unsern Lesern vorzuführen, wobei wir indeß zu berücksichtigen bitten, daß bei der großen Auflage unsers Blattes nicht mit der Vorsicht und Aufmerksamkeit gedruckt werden kann, die nöthig ist, um alle die Schönheiten eines künstlerisch ausführten Holzschnittes wiederzugeben. Der Künstler hat den Augenblick gewählt, in welchem Friedrich der Große beim Vermählungsfest seiner Schwester Wilhelmine, an der Hand der jugendlich schönen und liebenswürdigen Prinzessin zum ersten Male seinem Vater wieder gegenübertritt, der ihn in Folge der schwesterlichen Fürbitte um freundlichen Worten empfing, während Friedrich ernst und kalt blieb. Die Scene, welche am Hof damals alle Anwesende zu Thränen rührte, beschreibt die geistreiche Prinzessin in ihren Memoiren sehr ausführlich und mit vieler Wärme.




Das Stimmorgan bei Mensch und Thier.

Das Stimm- und Singorgan des Menschen heißt der Kehlkopf oder Larynx; es ist zugleich auch der Pförtner und Wächter der Athmung, indem es seine Lage hinter und unter der Mund- und Nasenhöhle am obern Ende der Luftröhre so einnimmt, daß alle Luft, welche in die Lungen hinein gelangt und aus denselben herauskommt, durch dasselbe hindurchströmen muß. Gegen das Eindringen schädlicher Luft und fremder Stoffe sucht sich der Kehlkopf durch Verschließen seiner Oeffnung (der Stimmritze), sowie durch Hustenkitzel und Husten zu schützen. Außen am Halse ist derselbe, zum Theil von der Schilddrüse (deren Anschwellung den Kropf bildet) bedeckt, an einer Hervorragung, die besonders beim männlichen Geschlechte sehr deutlich hervortritt und Adamsapfel genannt wird (als ob dem Adam der Apfelgröps oder Kriebs in der Kehle stecken geblieben wäre), leicht zu erkennen und bei seinen Bewegungen während des Schluckens gut zu fühlen.

Der Kehlkopf besteht aus einem festen, aber elastischen, knorpligen Gerüste, welches aus mehreren, durch Bänder mit einander verbundenen und durch mehrere kleine Muskeln zu bewegenden Knorpeln zusammengesetzt ist; es stellt eine ungleich viereckige, nach oben und unten offene Büchse dar, die in ihrem Innern mit einer sehr gefäß- und nervenreichen Schleimhaut ausgekleidet und von zwei Paar, von vorn nach hinten ausgespannten Strängen, d. s. [571] die Stimmbänder, durchzogen ist. Zwischen den Stimmbändern der rechten und linken Seite, von welchen eine jede ein oberes und ein unteres Stimmband besitzt, bleibt eine schmale Spalte, die Stimmritze, Glottis, welche als Oeffnung des Kehlkopfes nach abwärts in die Luftröhre und Lungen führt, nach aufwärts aber in den Schlundkopf sieht und hier durch den Kehldeckel (Epiglottis) überdeckt und geschlossen, also gegen das Eindringen fremder Körper geschützt werden kann. Der Kehldeckel, eine birnförmige, an der innern Fläche des Kehlkopfs, gleich über den obern Stimmbändern angewachsene Knorpelplatte, ist dicht hinter der Zungenwurzel so angebracht, daß er beim Schlingen (s. Gartenl. 1855 Nr. 38) auf die Stimmritze niedergedrückt wird, während er beim Athmen aufrecht steht. – Von den Kehlkopfsknorpeln ist der bedeutendste der Schildknorpel, welcher den größten Theil der vordern und seitlichen Wand des Kehlkopfs bildet und mit einem Vorsprunge, d. i. der Adamsapfel, in der Mitte des Halses hervorragt. An seiner innern, der Kehlkopfshöhle zugewendeten Fläche, sind die Stimmbänder und über diesen der Kehldeckel angeheftet. Unterhalb des Schildknorpels befindet sich der Ringknorpel, welcher wegen seiner ringförmigen Gestalt ebensowohl zur Bildung der vordern und seitlichen, wie der hintern Wand des Kehlkopfs beiträgt. Seine hintere Hälfte (das Schild oder die Platte) ist weit höher als die vordere (weshalb der Ringknorpel einem Siegelringe gleicht) und steigt an der hintern Kehlkopfswand zwischen den hintern Rändern des Schildknorpels in die Höhe. Auf dem obern Rande dieser Platte sitzen die beiden dreiseitigen, pyramidenförmigen Gießkannenknorpel mit den rundlichen Santorin’schen Knorpelspitzchen und vervollständigen die hintere Kehlkopfswand. Sie sind beweglich an den Ringknorpel angeheftet und dienen den vier Stimmbändern zum Ansatze, so daß diese, je nachdem die Gießkannenknorpel durch Muskeln vor- oder rückwärts, nach außen oder innen bewegt werden, gespannt und erschlafft, einander genähert und von einander entfernt werden können, dadurch aber die Stimmritze zu verengern und zu erweitern ist.

Das Stimmorgan. Fig. 1. Der von hinten eröffnete Schlundkopf. a) Zunge. b) Zäpfchen. c) Mandel. d) Vorderer und e) hinterer Gaumenbogen. f) Schlundkopfswand. g) Hintere Nasenhöhlenöffnungen. h) Kehldeckel. i) Eingang in den Kehlkopf. k) Speiseröhre. l) Luftröhre. m) Unterkiefer. – Fig. 2. Das knorplige Kehlkorpfsgerüste von hinten gesehen. a) Zungenbein. b) Kehldeckel. c) Schildknorpel. d) Ringknorpel. e) Gießkannenknorpel. f) die Santorin’schen Knorpelspitzen. g) Luftröhre. – Fig. 3. Kehlkopf, seitlich aufgeschnitten. a) Zungenbein mit dem Kehldeckel dahinter. b) Schildknorpel. c) Ringknorpel. d) Gießkannenknorpel. e) Santorin’sche Knorpelspitze. f) Oberes und g) unteres Stimmband. – Fig. 4. Die Kehlkopfsöffnung von oben gesehen. a) Stimmritze. b) Unteres und c) oberes Stimmband. d) Höhle zwischen den Stimmbändern.

Der Kehlkopf des Mannes ist bedeutend größer und umfangreicher als der des Weibes; beim Kinde ist er sehr unausgebildet, entwickelt sich aber schnell zur Zeit der Pubertät zu seiner Vollendung. Im Alter verknöchern die Knorpel sehr oft, mit Ausnahme des Kehldeckels, und die Kehlkopfshöhle wird weiter. – Die Schleimhaut des Kehlkopfs besitzt eine sehr große Empfindlichkeit, die besonders an der Stimmritze sehr deutlich ist, so daß sich diese bei der geringsten Berührung eines fremden Körpers sogleich krampfhaft zusammenzieht und Reiz zum Husten entsteht. – Die Stimme (von welcher, wie vom Singen in einem spätern Aufsatze gesprochen werden soll) kommt im Kehlkopfe dadurch zu Stande, daß die Luft aus den Lungen mit Kraft durch die Stimmritze getrieben wird und hier die Stimmbänder, besonders die untern, in tönende Schwingungen versetzt. Die Sprache wird aus der Stimme erst durch Mithülfe der oberhalb des Kehlkopfes befindlichen Theile der Mund- und Nasenhöhle gebildet.

Im Thierreiche sind die Stimmwerkzeuge bei den Säugethieren ähnlich wie beim Menschen gebaut, nur sind die Verhältnisse der einzelnen Theile häufig etwas verändert. Bei den Wallfischen, bei welchen man ebensowenig wie bei den Delphinen eine Stimme bemerkt hat, ist der Kehlkopf sehr klein. Beim Brüllaffen finden sich dagegen große Seitenhöhlen an der Kehlkopfshöhle, welche Resonnanzapparate zur Verstärkung der Stimme bilden. – Die Vögel besitzen zwei Kehlköpfe, einen obern und einen untern; im letzteren, welcher am untern Ende der Luftröhre, dicht vor deren Spaltung, schon innerhalb der Brusthöhle, seinen Sitz und eine doppelte Stimmritze hat, wird die Stimme gebildet. Wie sich bei der großen Verschiedenheit der Vogelstimme erwarten läßt, so finden sich im Baue des untern Kehlkopfs die allergrößten Verschiedenheiten bei den einzelnen Gattungen und Arten. In seltenen Fällen fehlt der untere Kehlkopf völlig und dann ist auch keine Stimme vorhanden, wie beim Storche (denn das Klappern erzeugt derselbe mit dem Schnabel), welcher höchstens ein schwaches Zischen von sich giebt. Am zusammengesetztesten ist der mit einem eigenen Singmuskel- und bisweilen auch mit einem Resonnanzapparate versehene untere Kehlkopf bei Singevögeln. Der obere Kehlkopf der Vögel, welcher nur selten einen besondern Kehldeckel besitzt, ist dem menschlichen nicht unähnlich, enthält aber keine Stimmbänder. – Unter den Amphibien besitzen einige ein sehr unvollkommenes Stimmorgan, während sich bei anderen ein dem menschlichen ähnliches vorfindet, das Zischen der Schlangen entsteht wie etwa das Pfeifen beim Menschen, durch Reiben der Luft an den Rändern der engen Ausgangsöffnung des Kehlkopfes. Der Laub- und Grasfrosch hat zur Verstärkung der Stimme Resonnanzapparate in Gestalt zweier dünnhäutiger, sehr ausdehnbarer Blasen am Unterkiefer. – Die Fische, welche alle durch Kiemen athmen, haben kein Stimmorgan und also auch keine Stimme. – Bei den Insekten giebt es in einigen, jedoch sehr seltenen Fällen besondere Stimmapparate, deren Anordnung aber eine ganz andere als bei den Wirbelthieren ist, indem sie nirgends mit den Athmungswerkzeugen in einer ähnlichen Verbindung wie dort stehen. Es sind nämlich ganz einfache Membranen, bloße Theile des äußern Skelettes, welche durch eine besondere, willkürliche Muskelaction in Schwingungen versetzt werden. Es kommen übrigens diese Stimmorgane vorzugsweise und in einigen Gattungen ausschließlich dem Männchen zu. Gewöhnlich entstehen die Geräusche, welche Insekten erzeugen, durch Reibungen von beweglichen und rauhen Körpertheilen (Flügeldecken, Hinterleib) an einander. Das Summen rührt wahrscheinlich nur von der zitternden Bewegung her, in welche die harten, äußern Bedeckungen der Brust durch die Action der Flügelmuskeln gerathen. Einen eigenthümlich klagenden Ton vermag der Todtenkopf hervorzubringen. – Allen übrigen wirbellosen Thieren wie den Arachniden (spinnenartigen Thiere, Krustenthieren, Würmern, Weichthieren oder Mollusken (Kopffüßlern, Schnecken, kopflosen Mollusken), Strahlthieren oder Radiaten (Stachelhäutern, Quallen, Polypen) und Infusionsthieren, fehlt ein Stimmapparat. (Von den Krankheiten des Kehlkopfs und vom Singen später.)
Bock. 
[572]

Im königsberger Hafen.

von Alex. Jung.
Erster Anblick des Hafens. – Die Nußschaalen der Skandinavier. – Ein Holländer. – Das Rülpsen und die Reinlichkeit der Holländer. – Englische Schiffe und Matrosen. – Ein Sonntag auf einem englischen Schiffe. – Amerikanisches Auswandererschiff. – Countess of Durham. – Die Schiffswerft und die Arche Noah eines königsberger Muckers. – Die Kornspeicher.

Das Leben aus dem Lande, in einer kleinen, in einer großen Stadt, jedes hat seine besondern Reize, und gewährt dem Beobachter, zumal wenn er alle Drei gegen einander auszutauschen versteht, reichen Ertrag. Das Land wird uns, ungeachtet der moderne Luxus auch hier schon in prächtigen Villen sich niedergelassen hat, doch immer auch den Urzuständen der Menschheit nahe bringen; die Kleinstädterei vermag uns, außer der behaglichen Einfriedigung in einem mittleren Vollglück, in den ewigen Figuren des Herrn Bürgermeisters und Stadtschreibers nebst Gemahlinnen und sonstigen Honorotionen, nicht wenig Nahrung für unsere Erheiterung, sogar für unsere Lachlust zu gewähren; die große Stadt endlich giebt uns das Weltganze nicht selten in einer Umrahmung, im Spiegel der Nationen, besonders wenn sie eine Hafenstadt ist. Nichts ist im Stande, uns das Schöpferische, die Macht, die alle Wesen verbindet, mehr zu vergegenwärtigen, als das Wasser, da es das Element der Beweglichkeit und Durchsichtigkeit ist.

Ich gestehe, daß in einer so ansehnlichen Stadt wie Königsberg in Preußen, die in sich selbst dem Beobachter stets neue Eindrücke gewährt, mein liebster Spaziergang nach den Schiffen gerichtet ist. Was ich hier zu jeder Tageszeit empfange, führt mich weit über den Continent hinaus, und verbindet mich im Moment mit allen überseeischen Ländern und deren Bewohnern. Der Hafen erstreckt sich, was man selten findet, mitten in die Stadt herein. Kaum daß man noch mit den Binnenländischen verkehrte, von den Ereignissen aus nächster Nachbarschaft Kunde erhielt, kann man auch schon mit Skandinaviern, Holländern, Engländern, Amerikanern, Franzosen Umgang pflegen, und alles was menschlich ist, freilich oft in sehr abweichender Weise, auch an ihnen in Erfahrung bringen.

Man kommt aus einer der imposantesten Straßen der Stadt, durch das sogenannte grüne Thor, auf eine Brücke, welche den Kneiphof mit der Vorstadt verbindet, und wird rechts hin sogleich von einem Anblicke überrascht, dessen sich wenig Orte des Festlandes zu erfreuen haben dürften. Eine neue Stadt, deren Häuser Schiffe sind, erstreckt sich in Straßen, Gassen und Gäßchen, die wieder durch freie Plätze, durch offene Quarré’s, unterbrochen werden, in eine Fernsicht, die bis an den Horizont reicht, und in bläulichen Tinten oder Abends im Sonnengolde magisch verschwimmt. Wir biegen am Ende der Brücke rechts um die Ecke und verfolgen den Prospekt auf dem Bollwerk. Welch’ ein Wimmelleben von Gerüchen, Sprachtönen, Trachten, Hantirungen, Stellungen und Bewegungen aller Art unter In- und Ausländern! Alle Farben des Prisma’s wehen und flattern uns von den Dächern und Spitzen dieser Schiffshäuser und Paläste in Tausenden von Flaggen, Fahnen und Fähnchen lebendig entgegen; sie zeichnen lustig den Verkehr und Handel aller Nationen in die blaue Luft, und wie sie sich von Kähnen und Gondeln bis zu den stattlichsten Kauffahrteifahrern erheben, dann wieder in die Weite hinaus allmälig absenken, könnten sie uns einen prächtigen Regenbogen abzubilden scheinen, der die Versöhnung und den Frieden der Völker signalisirt, welche die Bedingungen des Wohlstandes, des Handels und Wandels sind. Unter all’ diesen Flaggen von Weiß, Roth, Orange, Blau, Grün, ist doch besonders eine, welche auf hellblauem Grunde einen ganzen Sternenreigen vor uns entrollt. Es ist die stolze Flagge eines Amerikaners, der den Ocean durchmessen hat, und mit Recht die Sterne in seinem Banner führt, als die Sphären der Freiheit, die sich im Oceane am Vollständigsten abspiegeln.

Durchmustern wir nun unsere Schiffstadt noch näher, um auch mit den sonstigen Einrichtungen und Charakteren dieser Nationen Bekanntschaft zu machen, so sind es außer den Deutschen, zumal Königsbergern, Memlern, Stettinern und Hamburgern, die an Stattlichkeit und seemännischer Gravität den Ausländern nichts nachgeben, zunächst Dänen, Schweden und Norweger, welche unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. Schon in den verschiedenen Schiffsnamen, die uns in goldenen Schriftzügen meist vom Vordertheil oder auch von den Seiten entgegenglänzen, prägt sich die abweichende Natur der in- und außereuropäischen Völker ab. Vom Borde selbst klingen dann auch sogleich die entsprechenden Zungen und Aussprachen lebendig herüber. Die Sprachen der Skandinavier haben ihren ganz aparten Wohllaut. Es heimelt uns aus ihnen sogleich das germanische Element an, welches hier freilich mit einem gewissen Etwas versetzt ist, das schwer zu deuten sein dürfte. Es ist eine Dehnung und Abplattung des Vokallauts, die uns nach der Strenge und Oede des Nordpols entrückt, aber durch Ausgleichung zwischen Vocal und Consonant unserm Ohr auch wieder angenehm wird. Die Schiffseinrichtungen haben unter diesen Nationen, wie es uns scheint, etwas Knappes, nur auf das Nothwendigste Berechnetes. Die Fahrzeuge sind oft überaus klein, an den Enden viereckt, und es will uns höchst keck bedünken, wie diese Schiffsleute, ungeachtet großer Behendigkeit ihrer selbst, mit solchen Wägelchen, Nußschaalen, sich über die Flüße, auf die Meere hinaus wagen dürfen. Diese Sicherheit und Dreistigkeit giebt ihnen wieder etwas Grandioses, trotz aller Winzigkeit, und wir denken an die kühnen Fahrten der alten Normannen, dieser Araber des Nordens, was Lust, auf Abenteuer auszugehen, und Kühnheit, die Fernen zu durchziehen, betreffen mag.

Einen ganz und gar andern Eindruck machen auf uns die Holländer. Sie sind in ihren Mannschaften wohlgenährt, aber langsam, fast phlegmatisch. Ihre Schiffe sind solid gebaut, von festem, kernigem Holze, massiv, an den Vorder- und Hintertheilen abgerundet, und man möchte sie den festen Käsen verglichen, welche sie mit sich haben. Man muß einen holländischen Kapitain in Mitte seiner Familie und Matrosen auf seinem Schiffe sehen, um sich ganz Niederland in dieser überreinlichen, üppigen Bequemlichkeit und pomadigen Zähigkeit vorzustellen. So ein Holländer macht die Reise nie mit seinen Matrosen allein, sondern er hat die ganze Familie bis auf Kindes Kegel, wieder großen und kleinen Käsen vergleichbar, an Bord, ja auch ein breiter Thierstand, in Hunden, Enten und Hühnern wird mitgeführt, ohne daß die Sauberkeit darunter litte, die bis zum Exceß aufrecht erhalten wird. Eine solche Familie muß man oben auf dem Verdeck, unter zierlichem Zelte, besonders nach dem Mittagsimbisse, in ihrer völligen Ungenirtheit beobachten, um die derbe Naivetät und den Geschmack der niederländischen Maler völlig der Wirklichkeit gemäß zu finden. Da sitzen Mann und Frau nebst Söhnen und Töchtern im Rundkreis und verdauen mit Behaglichkeit, was man sogar hören kann. Sie verführen nämlich öffentlich, ganz im Widerstreit mit dem, was wir unter Anstand und Schicklichkeit verstehen jenen Ton des Aufstoßens, den man Rülpsen zu nennen pflegt, und der da beweist, daß es im Magen nicht ganz richtig ist, oder doch erst richtig zu werden beginnt. So ein Holländer aber, ob Mann oder Weib, denkt sich gar nichts Uebles dabei, und findet das eben so natürlich wie etwa das Seufzen aus Empfindsamkeit oder Aufathmen, um zu leben. Ein hiesiger Arzt versicherte mich, er sei kürzlich auf ein holländisches Schiff gerufen worden, blos um Erleichterung zu gewähren; die Familie habe ihm Unisono theils unabsichtlich, theils künstlich entgegengerülpst; er habe sie im besten Wohlsein gefunden, sie habe nur jenes Aktes wegen ein Mittel der Beschleunigung gewünscht. Die Holländerin, die zum Nachtisch aus freier Hand vielleicht noch einige Waffeln genießt, ist malerisch genug angezogen. Sie ist in der Regel wohlbeleibt von Figur. Die Frauen tragen meist einen schwarzen Anzug, eine Art Jope, welche Kragen und Krägelchen, in der Weise der früheren Schanzeloper, entläßt, und der Gestalt viel Draperie und fremdländische Reize verleiht. Der Kopfputz vor allem ist höchst eigenthümlich. Eine knapp anliegende Haube, mit den zierlichsten Brabanterspitzen geschmückt, wird zu beiden Seiten von großen Goldschilden gehalten, welche wie ein heruntergeschlagenes Diadem weithin funkeln, und, nebst den Gold- und Brillantringen der Finger, der Dame den Ausdruck eines soliden Reichthums gewähren. Diese schwarzgekleidete Damenflora mit goldenen Lichtern, der sich die Männer im schwarzen Frack anschließen, läßt die im Vordergrunde thätigen Matrosen in rothen Blousen um so schärfer hervortreten. Worin besteht aber das Hauptthunm dieser Blousenmänner? Sie entleeren [573] ihre Kübel, um sie schon wieder zu füllen, und gießen das Wasser, wo es nur irgend gießbar ist, über das Schiff weg, daß alles und jedes blitzert und blänkert. Eine solche Reinigungswuth ist beispiellos. Ober- und Unterverdeck, Vorder- und Hintertheil, Herrschaftskajüte und Matrosenkoje, Fenster und Thüren, Boden und Decke werden Tag aus Tag ein gescheuert, durchspült, gebohnt, gewischt und gestriegelt. Es ist aber auch eine Spiegel-Blänke und -Glätte auf einem solchen Schiffe von Niederland wie auf dem Parquet keines Salons. Die hellblauen Wassertonnen, die auf dem Verdecke wohlgereiht stehen, mit rother Umbortung, blicken uns so appetitlich an, als hätte sie der Conditor so eben aus Zucker gearbeitet, und die Kajüte des Kapitains mit ihren Spiegelfenstern, voll Blumentöpfe und mit Alabastervorhängen, gemahnt uns wie ein Brautgemach.

Im stärksten Gegensatze zu diesem Holländer, blank wie ein Haus von Rotterdam mit Klinkern, ist sein Nachbar ein Dreimast von riesiger Größe, der sein schwarzes Bugspriet wie einen plutonischen Scepter weit über ihn hinaus erstreckt. An diesem Engländer ist alles geschwärzt von Steinkohlen, als wär’ er gerade aus dem Pulverrauch einer Seeschlacht oder gar aus der Unterwelt gekommen. Selbst die Segel sind düster angeflogen vom Kohlenstaube, und sehen uns unheimlich an wie jenes Schiff des rückkehrenden Theseus, der vergessen hatte, statt des schwarzen ein weißes Segel aufzustecken. Das Schiff des Engländers und alles auf ihm kündigt uns sogleich an, daß wir es hier mit dem Herrn der Meere zu thun haben. Durch alles und jedes, vom Spiegel bis zum Kiele, vom Hauptmast und dessen Korbe, bis zum kleinsten sauber geflochtenen Tauwerk, zieht sich der rothe Faden des Dauerhaften, des Zweckmäßigen, des Comfortablen. Da waltet nirgend kleinliche Geschäftigkeit, wohl aber Praxis, die reelle Zwecke hat und sie sofort erreicht, Ordnung, die jedem Nagel seine Stelle zuweist, der der Küchenjunge von jedem Scheuerlappen Rede zu stehen hat. Das ganze Schiff, von gewaltiger Ausdehnung, dem man trotz seiner gediegenen Einzelstücke die Leichtigkeit, ja Zierlichkeit seiner Bauart sogleich abmerkt, wird eben so behend bewegt, wie jede Segelstange. Wer könnte widerstehen, stets auf’s Neue die englischen Matrosen zu zeichnen, wie oft sie auch schon gezeichnet worden sind! Das ist eine Menschenklasse sonder Gleichen. Man sollte meinen, das Meer, und keine menschliche Mutter, habe sie geboren, so sehr sind sie mit dem Meere eins. Ewig ruhelos, behend, listig wie die Woge, ist der Matrose Albions im Geschäft; in der Erholung, am Sonntage dagegen, wenn er feiert, versinkt er in ein stummes Brüten wie das Meer, wenn es schweigt. Mit Wenigem ist er begnügt. Seine Ration Salzfleisch, Zwieback und sein bescheidenes Maaß gebrannten Wassers geben ihm ein Aussehen, als schwelgte er nur in Beefsteaks und Porter. In jenen beiden Positionen der Bewegung und der Ruhe muß man ihn sehen, um ihn leibhaft sich vorzustellen. Man muß ihn sehen, wie er, sogar wenn das Schiff fährt, oben im Tauwerk campirt. Diese Takelage eines segelnden Engländers ist ein wahres Labyrinth von Tauen, Stricken und Strickchen. Strickleiter lehnt sich an Leiter, Querleinen laufen dazwischen und werden von Stangen unterbrochen. Kein Seiltänzer fände sich hier zurecht, am Wenigsten wenn er oben angekommen wäre am Mittelmast von oft hundert Fuß Höhe, und nun um sich gebreitet fände dieses Strick- und Maschennetz von tausend und aber tausend Gewinden, und unter ihm die blaue Wassertiefe gähnte. Der englische Matrose dagegen läuft oder vielmehr fliegt durch diese Windungen mit einer Sicherheit und Leichtigkeit wie die Spinne durch ihr Gewebe. Oben angekommen, schaukelt er sich noch eine Weile, wie es scheint, aus purer Lust, nachdem er auf- oder angeknüpft hat, mit zusammengeballtem Körper an der äußersten Spitze des Mastes; er schwebt in der Luft sicher wie in einer Hangematte, und fährt dann eben so behend und wohlgemuth die geflochtenen Treppen wieder hinunter. Aber auch Sonntags in der Ruhe wollten wir ihn oben auf dem Verdeck in Augenschein nehmen.

Ein Sonntag ist auch auf einem englischen Schiffe ein Stillleben, in dem sich keine Maus und kein Bohrwurm regt, noch regen darf. Die Kajüte ist wie ausgestorben. Oben ist alles aufgeräumt, nur der Kohlenstaub liegt auf allem wie sonst, und auch der Sonntag ist mit diesem Sande festlich bestreut. Auch sitzt wohl ein Alter in der Ecke dort und liest in einem Gebetbuch der Hochkirche oder in der Bibel. Nachmittags kauern die Matrosen mit verschränkten Armen ober aufgestützt gruppenweise auf dem Verdeck und stieren gerade vor sich hin über Bord. Nichts sehen sie von dem, was an ihnen auf dem Verdeck und stieren gerade vor sich hin über Bord. Nichts sehen sie von dem, was an ihnen auf dem Bollwerke vorüberwandelt. Wie der Pariser flaniren geht, so flanirt der englische Matrose sitzend, d. h. er ergeht sich in sich, er spaziert in Gedanken in Alt-England. Es ist eine Situation behaglicher Selbstbeschauung, dem Behagen mancher Geschöpfe vergleichbar, wenn sie wiederkäuen. Der englische Matrose käut Tabak wieder, während er so brütet.

Die Mannszucht dürfte nirgend in der Welt strenger ausgeübt werden als auf einem englischen Schiffe, dennoch athmet alles das Gefühl der Selbstständigkeit, Sicherheit und Freiheit. Ist das Haus das unabhängige Reich jedes Engländers, so ist das Schiff das Haus jedes Kapitains, aber auch jedes einzelnen Matrosen. Die Selbstständigkeit, Unabhängigkeit, die Freiheit, die Würde, der Stolz der Nation liegen diesen Leuten nicht blos auf dem Gesichte plastisch ausgeprägt, sie sprechen auch aus ihrer Haltung, ihrem Gange, aus jeder Bewegung. Ein hochherziges, wahrhaft humanes Zugeständniß ist es, daß jeder Mensch ein englisches Schiff betreten darf. Auch sieht man davon zahlreich Gebrauch machen. Den ganzen Tag tummelt es sich auf einem solchen Schiffe, zu dem man auf bequemer Stiege gelangt, von Hoch und Niedrig, Reich und Arm. Weder der Kapitain und der Steuermann, noch irgend ein Matrose oder Schiffsjunge nehmen davon die geringste Notiz, wie Frauen und Männer, unter diesen Offiziere, gemeine Soldaten, Civilbeamte, Studenten, Handwerker, Landleute, Arbeiter alle Räume des Verdecks, des Waarenlagers und der Kajüte durchwandern, alles sich auf’s Genaueste besehen. Wie gesagt, Niemand der Schiffsmannschaft scheint darauf auch nur im Geringsten zu achten, und doch ist sicher ein Auge da, das alles und jedes bemerkt, und es dürfte dem schlecht bekommen, der von so nobler Gestattung auch nur den geringsten Mißbrauch machte. Kurz, man fühlt am Borde eines englischen Schiffes sogleich den freien Boden Englands unter seinen Füßen, die großartigen Institutionen, die weltbewußte Sicherheit einer solchen Nation. – Die englischen Kapitaine geben in ihren Kajüten nicht selten Gastmahle in jenem amerikanischen Riesenstyle ausgeführt, mit dem sie uns Sealsfield in seinen Romanen so appetitlich beschreibt oder in der Weise der noch kürzlich so vielbesprochenen Napier’schen Bankets. Unsere mäkelsüchtigsten Feinschmecker sind entzückt von diesen Plumppuddings ächter Nationalität, dieser ganz aparten Sorte von Austern, diesen Rostbeefs pikantesten Geschmacks, diesen Hummern ohne Gleichen, diesen fremdländischen Weinen voll Feuer und Geist, diesen ausgelassensten Humoren der gastfreundlichsten Wirthe. Aber man muß auch etwas einzunehmen verstehen und etwas seemännische Natur mitbringen, sonst dreht sich der Boden noch Tage lang wie von Seekrankheit unter dem Fuße jedem, der an solchem Mahle Theil genommen hat. Die Gäste erhalten oft die herrlichsten Meermuscheln zum Angebinde, welche, in Silber gefaßt, die Glasschränke unserer Kaufmannsfrauen zu seltener Zierde bereichern.

Ein solch’ eben von uns beschriebenes englisches Segelschiff wird freilich an Gediegenheit des Baues, an ungeheuern Dimensionen, an Eleganz und Pracht der Einrichtung noch übertroffen von jenem gewaltigen Amerikaner, der ihm zu Häupten schaukelt. Auch er ist ein Segler, der diese Segel, wenn er fährt, wie der Condor seine Flügel ausbreitet, daß er damit ein weites Wogenfeld umschattet, jetzt aber hat er sie niedergelassen, und ein ganzem Bataillon Soldaten könnte gemächlich in diesem Zelte seiner Segel hausen. Dieser Amerikaner ist aus New-York und nimmt Auswanderer auf. Europamüde drängen sich massenweise nach diesem Asyle ihrer Wünsche, der Verheißung einer schöneren Welt. Masuren und Litthauer haben sich in ihrer Nationaltracht am Steuer häuslich bereits niedergelassen und verzehren ihr kärgliches Mittagbrot. Ein junger Tischlergeselle mit wohlkultivirtem Bart, aber ärmlichem Anzuge, wehklagt oben auf dem Verdeck, daß er für Ausübung seines Handwerks mitgenommen sein wolle, daß der Kapitain aber nicht barauf einzugehen erkläre. Dieser Kapitain steht so eben am Hintermaste unrührbar, wie eingepflockt. Es ist eine Figur wie aus Erz, wie aus Eisenguß. Der breitgekrämpte Filzhut sitz ihm tief im Nacken, damit der Mann um so besser gerade vor sich hinblicken könne; stechend ist sein Blick, er nimmt etwas auf’s Korn, wohlgenährt ist seit rothes, ernstes Gesicht, die Hände ruhen in den Seitentaschen. Matrosen mit blanken, platten Rundhütchen, von denen lange Bänder wehen, mit starken Backenbärten, die Brust entblößt, winden Taue auf. Eben zieht das [574] preußische Militär mit klingendem Spiel, im Blitz der Muhamedsfahne, unter dem Donner der großen Trommel, dem Schmettern der Hörner, über die Brücke hinüber; Regiment an Regiment, in Staatsuniform, in kerzengerader Haltung. Es ist ein Feuermeer, welches sich oben im Glanz der Sonne, im Wald der Bajonnette, entzündet, und über die unabsehlichen Rotten hinwegwallt, so daß unten die neuen Uniformen, bis auf jeden Knopf beleuchtet werden, und jeder Degengriff widerleuchtet, und die Farbe jeder Säbeltroddel zu erkennen ist. Die Matrosen und Führer aller andern Schiffe, selbst die Engländer, steigen auf die Tonnen, die Pumpen, die Strickleitern und die Masten, um besser ihre Neugierde an der fremden Soldateska zu befriedigen. Sie sind ganz Auge und Ohr. Den amerikanischen Matrosen kümmert das nicht, er arbeitet unbeirrt fort, am Wenigsten aber kümmert es den Kapitain, der mit einer grandiosen Gleichgültigkeit verharrt und seinen Falkenblick drüben nach der Börse schießt, wo er ihn in die offene Mittelthür einbohrt, und Militär Militär sein läßt.

Der Truppenmarsch ist vorüber und die Menge am Ufer drängt sich nach einer andern Stelle des Bollwerks, um den englischen Schraubendampfer zu besichtigen, der vor einigen Tagen angekommen ist und schon Waaren an Bord nimmt. Eine lebendige Zeile von Menschen hat sich gebildet, Männer und Weiber, von einem der Speicher bis in den untersten Schiffsraum. Sie werfen graugrüne, viereckte Tafeln einander zu, die als Dünger des Ackers gebraucht werden. Das Geschäft sieht sich lustig genug an, wie die Reihe entlang die Täfelchen fliegen, gleich wie die Ziegel beim Bau eines Hauses oder die Ledereimer beim Feuerlöschen. Unglaublich schnell kommt die idyllische Waare unten an, und das Schiff sinkt von der steigenden Last von Sekunde zu Sekunde tiefer. Dieser Dampfer ist ein Meister- und Musterstück der Schiffsbaukunst. Leichtgeschwungen, nett herausgearbeitet ist jeder Theil, aus pompösem Eisenblech, von unverwüstlicher Dauer das Ganze. Kein Bohrwurm vermag da einzudringen. Die Woge des Stroms spiegelt sich magisch in dem metallischen Glanze, aus dessen schwarzer Längenbreitung der rothe Schornstein, von seltener Dicke, wie ein Kirchthurm der Industrie und ihres Kultus hervorsteigt. Uns flammt der Name Countess of Durham wie ein gestandenes Feuerwerk aus der schwarzen Nacht des Eisens prächtig entgegen. Die festlich gekleidete Volksmasse, als ginge es hier wirklich zur Kirche, durchwallt die Gänge des Schiffs von hüben und drüben. Der Helm des weißen Kürassiers, und wär’ es ein Gemeiner, wird zufällig vom grünen Schleier der vornehmsten Dame zärtlich umweht, der polnische Jude, mit langer, orientalischer Gewandung, sieht sich neben den modernsten Stutzer placirt, alle treibt dieselbe Augenlust in’s Innere zu gelangen, und die Schraube dieses Meerwunders in Sicht zu nehmen. Der Flug dieses Dampfers auf seiner Reise ist so schnell, daß dagegen das schnellste Segelschiff wie eine Treckschuyte auf dem Schlamme eines holländischen Kanals blos schleicht. – Auch Franzosen, Portugiesen bemerken wir bisweilen in unserm Hafen, nur kommen sie seltener; sie bringen uns in nicht großen Fahrzeugen Weine; die ersten meistens aus Bordeaux. Die Azoren sogar schickten uns vor einiger Zeit einen Sendling, an dessen Borden sich nicht blos kupferrothe, auch schwarze Matrosen befanden.

Blicken wir wieder einmal um uns, wie wir dem Ende des Bollwerks schon nahe gelangen, so gewähren uns beide Ufer des stattlichen Stromes, auf dessen Fläche jenes Schiffslager aufgeschlagen ist, ebenfalls einen höchst mannigfaltigen Anblick. Dort in der Ferne von Nordwest, am jenseitigen Ufer, öffnet eben die berühmte Sternwarte, der der Name Bessel für ewige Zeiten eingravirt ist, ihre Thurmfenster. Sie schlägt, ungeachtet hell die Sonne scheint, ihre Dachluken wie Augen auf (als wäre sie das lebendige Wesen eines andern Planeten), und streckt aus diesen Oeffnungen Instrumente gleich Fühlhörnern hervor, die lüstern nach den goldenen Früchten des Himmels auch bei Tage langen. Näher dem Ufer zu liegt drüben der Hauptplatz für den Ballastauswurf. Das Sprüchwort sagt: Steine, Berge und Bäume entfernter Gegenden kommen nicht zusammen, wohl aber Menschen. Hier jedoch findet eine Ausnahme statt. Hier sehen sich allerdings die Mineralien und besonderen Erdarten der entferntesten Länder gemüthlich vereint, und können Zwiesprache mit einander führen, Vegetabilien mischen sich dazwischen; der Sand der Gironde verkehrt mit dem Kalkfelsen von Northumberland, der Schiefer von Schweden mit dem Rothholzstaube von Brasilien. Die Grabhügel des Sandes gleichen auch hier alle Unterschiede aus.

Weiter rechts kommt unser Schiffswerft. Da brennt und raucht es zu allen Jahreszeiten, da werden die Kiele gehauen, die Bretter gekrümmt, die Balken gerichtet, die Schiffe kalfatert und getheert und von Stapel gelassen. Das ist ein majestätisches Schauspiel, wenn so ein Schiff, für Amerika bestimmt, zum ersten Mal, mit Laubgewinden bekränzt, auf eingeseiften Walzen, unter dem wilden Aufjauchzen der Menge oben auf dem Verdeck, in’s Wasser rollt, zum ersten Male die jungfräuliche Woge berührt, daß diese scheu zurückbebt, und ihm dennoch wieder sehnsüchtig entgegen wallt. Hier war es auch vielleicht, wo der einst so berühmte königsberger Mystiker Schönherr sein Schiff unter dem Zulaufe des Publikums von Stapel ließ, das Schiff, welches er nach jahrelangem Sinnen und Studiren nach dem Modell der Arche Noah’s erbaut hatte, und mit dem er hinaus wollte, vielleicht um die einstige Lage des Paradieses zu entdecken. Aber das herausgekünstelte Schiff blieb am Ararat seiner eigenen Unhehülflichkeit stehen, schon als es in’s Wasser kam, und auch die Fahrt wurde zu Wasser. – Drüben in der Gegend des Licents, wo auch der Platz für die Dampfschiffe ist, wohnte einst der tiefsinnig geniale Johann Georg Hamann, der sich selbst den Magus aus Norden zu nennen pflegte.

Aber wir kehren uns nach dem diesseitigen Ufer des Pregels, wo auch außer den Schiffen immer noch viel zu beobachten ist. Da präsentirt sich dort von der Ecke her, in eigenthümlichen Verzierungen der Dachzinne, mit vorspringenden Balkons, das Haus des französischen Consuls. Da rücken Waarenlager vor, deren kolossale Behälter den Fortschritt des modernen Baugeschmacks in Vergleich mit den alten Speichern, die uns unheimlich ansehen, auf’s Erfreulichste bekunden. In dem Bereiche dieser riesigen Faktoreien wütheten zu verschiedenen Zeiten jene maßlosen Feuersbrünste, die man denen von Pera und dem alten Stambul vergleichen könnte, und brachen, wie aufrührerische, rothe Janitscharen sogar in die Vorstadt ein, welchem Unheil die massiven Bauten ein Ende gemacht haben. Näher unserm Standpunkt eröffnen sich Räume, welche dem Leben dieses ganzen Wasserprospekts eine muntere Seitenstaffage geben. Zartweiße Linnen sind ausgebreitet, auf deren reinlicher Fläche die goldenen Früchte der Ceres, Hafer, Gerste, Erbsen, Korn zu immer höher steigenden Bergen aufgeschichtet, gelüftet und gesäubert werden, um sie auf die Schiffe zu bringen. Männer mit Schaufeln werfen die Kornfontaine in die Luft, so daß der goldene Regen schwer wieder herunterströmt und die leichtere Spreu vom Winde hinweggenommen wird. Leuchtet die Sonne in diesen Kornsegen, der geradeswegs vom Himmel zu fallen scheint, so hat man ein Bild des reichsten Erntesegens vor Augen, um welches uns die Winzer des Rheins beneiden könnten. Diese Berge von Korn werden in Säcke gebracht, aber nicht darin gelassen, sondern drüben unmittelbar in die luftigen Kajüten geschüttet, was denn ein zweites höchst anmuthiges Bild veranlaßt.

Es läßt sich aber denken, daß in Mitte eines so mannigfaltigen Lebensverkehrs zwischen Einheimischen und Ausheimischen, wie ihn eine Hafenstadt bietet, und besonders auf dem Tummelplatz der Ausländer selbst, manches vorkommen wird, was dem komischen wie tragischen Interesse reichlichen Stoff gewährt. Sind doch Komik und Tragik, wie es die Wirklichkeit jedes Tages dem Beobachter zu erkennen giebt, auf’s Innigste mit einander verwandt, und es bedürfte nur einer geschickten Feder, um aus solchen Vorgängen die Bühne mit neuen Scenen zu beleben. Auch das bürgerliche Behagen sollte durch den Humor noch um vieles erweitert werden. Der Humor aber weiß es vor Allem, daß dem Reinen alles rein ist, und daß Ironie und alle Uebelstände unseres Erfahrens durch Heiterkeit und weise Nutzanwendung zu überwinden sind. In diesem Sinne theilen wie auch das Folgende mit. Die eine Geschichte bewährt es, daß die Völker der Erde auch unter dem Schutze des Friedens und freien Handels immer noch im Kriege mit einander leben, daß aber auch aus der Zwietracht Ergötzliches zu gewinnen ist. Die andere Begebenheit bringt es uns nahe, daß wir der Gefahr, wo sie uns von allen Seiten umlauert, entgehen können, daß sie uns aber da oft ereilt, wo wir sie am Wenigsten fürchteten, wo wir uns der Sorglosigkeit hingaben.

[575]

Odessa.

1. Cap Langeron.
2. Leuchtthurm und Quarantainebrückenkopf.
3. Quarantainehafen (für Kauffartheischiffe).
4. Lazareth.
5. Quarantaine-Quai u. Batterie.
6. Richelieu-Treppe (Hauptlandungsplatz).
7. Kaiserhafen (für Kriegsschiffe).
8. Brückenschanzen zur Vertheidigung des Hafens.
9. Die Batterie, von welcher die Parlamentairflagge beschossen wurde.
10. Quai und Batterien.
11. Kaserne.
12. Korn- und Salzmagazine.
13. Handels-Quai.
14. Citadelle.
15. Theater.
16. Boulevards.
17. St. Michaelskirche.
18. Richelieu-Platz u. Denkmal.
19. Palast des Gouverneurs.
20. Der Dom.
21. Lutherische Kirche.
22. Börse.
23. Hospital.
24. Zeughaus.
25. Zeughaus-Kapelle.
26. Oeffentliche Gärten.
27. Vorstadt; Wohnungen der Arbeiter im Zeughause.
28. Kavallerie-Kaserne.
29. Kirchhof.
30. Botanischer Garten.

[576]

Eine deutsche Amazone.

Erinnerung aus den Freiheitskriegen.

Wer kennt jetzt noch den Namen Eleonore Prohaska? Wo ist ihr Grab? – Der Name ist verschollen, vergessen, und längst wohl hat der Pflug des Landmannes ihre Gebeine aus dem gemeinsamen Grabe heraufgewühlt, in welchem sie auf dem blutgetränkten Schlachtfelde mit zahlreichen Waffengefährten die letzte Ruhestätte fand. Und dennoch tönte der Name dieses Mädchens lobpreisend, ja mit Bewunderung, in dem Munde vieler noch jetzt lebender Zeitgenossen, dennoch verkündeten ihn einst alle deutschen Zeitungen, dennoch verdiente der Heldenmuth dieses Mädchens wohl, daß wenigstens ein einfaches Grabkreuz ihren Namen vor gänzlicher Vergessenheit bewahrte. Es sei daher dem Schreiber dieser Zeilen, der zufällig mit einzelnen Momenten ihres Lebens, theilweise als Augenzeuge, näher bekannt ist, vergönnt, durch dieses kleine Referat ihr Andenken zu erneuern.

Es war in dem denkwürdigen Jahre 1813. Die Trümmer der in Rußland vernichteten Riesenarmee Napoleon’s hatten, zum großen Theile in dem erbärmlichsten Zustande, Berlin erreicht, und durch ihren Anblick neue Hoffnungen in den Herzen aller Preußen erweckt; der Aufruf des Königs an die waffenfähige Jugend seines Landes war ergangen, da fand sich eines Abends eine kleine Gesellschaft in dem Hause des Rittmeister von A. in Berlin versammelt. Außer der Wirthin, einer liebenswürdigen und geistreichen Frau, noch in der Blüthe der Jahre, und ihrem Sohne, einem Knaben von dreizehn Jahren, waren nur drei Männer zugegen, alle drei aber wohlgeeignet, die Aufmerksamkeit des Beobachters auf sich zu lenken. Der Aelteste von ihnen mochte ein angehender Fünfziger sein; er konnte eher häßlich als schön genannt werden, denn Blatternarben entstellten sein Gesicht, die Nase hatte eine ganz eigenthümliche, beinahe viereckig hervorspringende Spitze, die grünlichen Augen waren klein, das Haar, welches stark grau zu werden begann, hing lang und ohne besondere Pflege bis auf die Schultern herab, die niedrige Stirn beinahe ganz bedeckend; aber die Beweglichkeit und Lebendigkeit, die er bei jedem Worte zeigte, das Feuer, das aus seinen Augen blitzte, verriethen deutlich den geistreichen Mann. Das war Plamann, der Vorsteher einer zahlreich besuchten Erziehungsanstalt, der ersten nach Pestalozzi’s Methode, welche Berlin besaß.

Der, welcher ihm im Alter zunächst stand, und den Vierzigen nahe zu sein schien, war von mittlerer Größe, von kräftigem, gedrungenem Körperbau, breitschultrig, beinahe vierschrötig. Sein ganzes Wesen war nachlässig, fast plump, das Gesicht offen, frei, freundlich, die Rede kurz, barsch, oft abgestoßen; die Stirn bis beinahe zum Scheitel vom Haar entblößt, das eben so wild, doch nicht ganz so lang, wie bei Plamann, in den Rücken und über die Ohren herabfiel. Dieser Mann war Lehrer in dem Institute Plamann’s, und sein Name Jahn, jetzt unter dem Namen des Turnvaters in ganz Deutschland bekannt. Und wohl verdiente er diesen Namen, denn nicht allein, daß er das Turnwesen in ganz Deutschland zuerst in das Leben gerufen hatte, zeigte er sich auch wie ein Vater gegen seine Turner und wurde von ihnen allen wie ein Vater geliebt.

Der Dritte und Jüngste war jedenfalls in seiner äußern Erscheinung der ausgezeichnetste der drei Männer. Groß, kräftig und schön gewachsen, mit edlem, männlichem Gesicht, geziert durch eine hohe Stirn, eine scharf gebogene Nase und große lebhafte Augen, erschien der etwa fünfundzwanzigjährige Mann als ein Bild männlicher Kraft und kriegerischen Muthes. Das war Friesen, ebenfalls Lehrer an dem Institute Plamann’s, und nebst Harnisch Jahn’s kräftigste Stütze bei der Einführung des Turnwesens. In geistiger Beziehung eben so ausgezeichnet, wie in körperlicher, lachte die Zukunft ihm verheißungsvoll entgegen, und gewiß wäre ihm eine glänzende Laufbahn geworden, hätte er nicht bei dem verrätherischen Ueberfalle, durch den das Lützow’sche Freicorps während des Waffenstillstandes heimgesucht wurde, einen allzu frühen Tod gefunden. So ging sein Name beinahe ungenannt und ungekannt unter, allein sein Andenken ist wohl bei vielen der ersten Turner noch nicht erloschen.

Jahn und Friesen trugen die dunkle Uniform des eben errichteten Lützow’schen Freicorps, dem Jahn’s Name allein Tausende kampflustiger Streiter zuführte, und da das Corps täglich dem Befehl zum Aufbrechen entgegensah, hatten die drei Männer, der Einladung folgend, sich hier zu einem kleinen Abschiedsfeste eingefunden, welches Frau von A. auf die Bitten ihres Sohnes den geliebten Lehrern gab.

Das Gespräch drehte sich, wie in jener Zeit ganz natürlich, beinahe ausschließlich um den Aufruf des Königs, um die Hoffnungen, die dadurch in der Brust eines jeden Preußen erweckt worden waren, daß es der Vertreibung der gehaßten Franzmänner gälte, und Jahn und Friesen sprachen mit solchem Feuereifer, daß der junge A. davon ergriffen, sich innig an die Mutter schmiegte, und mit feuchtem Blick und klagender Simme sagte: „Ach, Mutter, weshalb bin ich nicht ein paar Jahre älter, daß ich auch mit gegen die Franzosen ziehen könnte.“

Eben wollte die Mutter ihn mit der Versicherung trösten, daß seine Zeit auch noch kommen würde, da erweckte ein gewaltiger Lärm, der unter ihnen, in der Wohnung des Hauswirths ertönte, ihre Aufmerksamkeit, so wie die ihrer Gäste. Sie vernahmen laute Flüche in französischer Sprache, klagende Töne einer schwachen Männerstimme, und endlich von einer kräftigen weiblichen Stimme ganz deutlich die Worte: „Na warte, Du Hallunke, das werde ich dir anstreichen!“ Dann entstand ein heftiges Gepolter, und schon sprangen Jahn und Friesen nach ihren Säbeln, um hinabzueilen, da wurde es still, dann erschallte lautes Gelächter, und gleich darauf öffnete sich die Thür, und herein stürmte, einen großen Bratspieß in der Hand, die Köchin der Frau von A. Noch immer lachend wischte sie sich mit der Schürze das Blut ab, das in Strömen an ihrem linken Arm herabrann, und sagte endlich auf die Frage ihrer Herrschaft, was es denn eigentlich gegeben habe:

„Einen köstlichen Spaß, gnädige Frau; aber erlauben Sie nur erst, daß ich mir ein Tuch um den Arm binde, denn er Hallunke hat so derb zugestochen, daß ich das Zimmer beschmutzen würde, wenn ich das Blut nicht ein wenig stillte.“

Damit eilte sie hinaus. Verwundert und mit lebhaft angeregter Neugier sahen die Männer ihr nach. Wenige Minuten später trat das Mädchen wieder herein, und nun erzählte sie mit großer Lebhaftigkeit, und die Augen noch immer wie in Kampfbegier flammend:

„Ich ging eben an der offenen Küchenthür unseres Wirthes vorbei, da hörte ich, wie die französische Einquartierung mit ihm zankte und futerte. Ich trat also auf die Schwelle, um zu sehen, ob ich unserem Wirthe vielleicht helfen könnte, da erhob eben der nichtswürdige Franzose die geballte Faust gegen den alten schwachen Mann und würde ihn gewiß geschlagen haben, wäre ich nicht schnell zugesprungen. Ich packte den Franzosen am Arm, warf ihn zurück, stieß den Alten, der am ganzen Leibe heftig zitterte, in seine Stube, schloß diese schnell hinter ihm zu, und ging nun auf den Franzosen los, der mit offenem Munde und wie verdutzt dastand, und gar nicht wußte, wie ihm geschehen war. Ich packte ihn nun bei beiden Armen, drängte ihn gegen den Feuerherd, und drückte ihn rückwärts auf denselben mehrere Male ziemlich unsanft nieder, indem ich bei jedem Knuff sagte: das ist dafür, daß du dich an einem schwachen Greis vergreifen wolltest. – Oben hatte ich ihn so fest gepackt, daß er sich nicht rühren konnte, aber ehe ich’s mir versah, versetzte er mir mit dem Fuß einen solchen Stoß vor den Bauch, daß ich ihn loslassen mußte und einige Schritte zurücktaumelte. Diese Pause benutzte der Spitzbube, zog sein Käsemesser und stieß mich hier in den Arm, daß das Blut nur so spritzte. Aber da wurde ich wild. Na warte, Du Bube, das werde ich dir anstreichen! rief ich ihm zu, ergriff den Bratspieß, der zum Glück dicht neben mir stand, und hieb damit auf den Franzosen los. Der Kerl wollte sich zwar wehren, ab er mit seinem kurzen Käsemesser konnte er mir nicht an den Leib, und meine Hiebe mit dem Bratspieß hagelten so dicht auf ihn nieder, daß er sehr bald die Flucht ergriff und mit lautem Gepolter die Treppe ’runter fiel.“

„Aber Lore,“ sagte die Frau von A. im verweisenden Tone, „wie konntest Du Dich denn auf einen solchen Kampf einlassen? Bedenke doch – ein Mädchen!“

[577] „I, gnädige Frau,“ erwiederte die Köchin lachend, „wozu hat mir denn der Himmel derbe Knochen und gesunde Kräfte gegeben? Ich werde mich doch wohl nicht vor einem solchen Franzosen fürchten sollen? – Ach, wäre ich nur ein Mann!“

„Ein braves Mädchen,“ sagte Jahn und blickte mit dem Ausdruck der Bewunderung auf die hohe, kräftige Gestalt, die in trotziger Haltung dastand, und des Blutes nicht achtete, das durch die Binde um ihren Arm zu sickern begann.

„Du solltest bei uns eintreten, Lore,“ sagte Friesen neckend, „wenn Du so große Lust hast, Dich mit den Franzosen zu messen!“

Das Mädchen schien von einem plötzlichen Gedanken durchzuckt zu werden, warf einen forschenden Blick auf Friesen und auf Jahn, und verließ dann rasch das Zimmer.

Am nächsten Morgen bat Eleonore Prohaska, denn das war der Name der Köchin, die Frau von A. so dringend um ihre augenblickliche Entlassung aus dem Dienst, daß Frau von A. nicht zu wiederstehen vermochte, und ihr den Abschied zusagte, sobald sie eine Stellvertreterin geschafft haben würde; diese aber war für den ziemlich vortheilhaften Dienst noch an demselben Tage gefunden.




Mit dunkel glühendem Gesicht, mit strahlenden Augen, trat einige Tage später der junge A. mit allen Zeichen einer großen Aufregung in das Zimmer seiner Mutter. Ganz gegen seine Gewohnheit legte er seine Schulsachen nicht an ihre gehörige Stelle, sondern schleuderte sie nachlässig in eine Ecke, stürmte auf die Mutter zu, ergriff heftig ihre Hand und sagte, indem er sie mit funkelnden Blicken ansah:

„Denke Dir, Mutter, die Lore ist freiwilliger Jäger geworden!“

„Was? – Woher weißt Du denn das?“ fragte die Mutter verwundert.

„Weil ich sie selbst gesehen und gesprochen habe,“ erwiederte der Jüngling. „Höre nur! Ich ging eben über den Schloßplatz, da begegnete mir ein Lützow’scher Jäger, der mir dadurch auffiel, daß er eine schwarze Binde über der Stirn hatte. Ich sah ihn neugierig an, da erkannte ich zu meinem größten Staunen unsere Lore. Sie hatte mich nicht bemerkt, denn als ich ganz verwundert ausrief: I, Lore, was ist denn das?“ da erschrak sie heftig. Anfangs wollte sie den Kopf abwenden und so thun, als kennte sie mich nicht, aber gleich darauf besann sie sich anders, ergriff meine Hand und sagte halblaut, indem sie scheue Blicke auf die Vorübergehenden warf: „„Lieber junger Herr, verrathen Sie mich nicht, denn bis jetzt weiß Niemand, daß ich ein Mädchen bin. – Ja, sehen Sie, als neulich Abend Herr Friesen zu mir sagte, ich sollte bei den Lützowern eintreten, da konnte ich der Versuchung nicht wiederstehen. Ich nahm, wie Sie wissen, bei Ihrer Frau Mutter den Abschied, verschaffte mir Mannskleider, meldete mich bei dem Vater Jahn, und wurde von ihm für seine eigene Compagnie angenommen. So bin ich also jetzt freiwilliger Jäger, und ich denke, die Lore Prohaska wird der Compagnie, in der sie dient, keine Schande machen und den Franzmännern zeigen, daß auch die deutschen Mädchen ein Herz im Busen haben. Sehen Sie, wenn Sie nun verrathen wollten, daß ich ein Mädchen bin, und ich müßte die Uniform wieder ablegen, dann machten Sie mich sehr unglücklich!““

„Ich versprach ihr natürlich, gegen Jedermann zu schweigen, nur gegen Dich nicht, und fragte sie dann, weshalb sie denn die Binde über der Stirn trüge. „„Ich bekam vorgestern Abend im Bierhause Händel mit einem andern Jäger und,“ sagte sie lachend, „„wir griffen zu den Hirschfängern, und hieben uns ein Bischen herum. Dabei bekam ich einen kleinen Ritz auf der Stirn, den ich mit einem Streiche über meines Gegners Arm bezahlte, dann versöhnten wir uns unter den Lobsprüchen der Kameraden, und noch bevor wir an den Feind kommen, sind wir Beide ganz hergestellt.““ Dann schüttelte sie mir die Hand und eilte fort.“

„Je nun,“ sagte die Frau von A., „mich wundert das eigentlich von der Lore nicht so sehr, auch ist sie derb und kräftig genug, um die Muskete zu tragen.“

„Aber sie ist doch immer nur ein Mädchen,“ entgegnete der junge A. „Und wenn sie mit zu Felde ziehen kann, dann kann ich, ein Mann, es doch gewiß noch viel eher. Du wirst es mir also jetzt auch erlauben, Soldat zu werden, nicht wahr, meine gute Mutter? Ich müßte mich ja sonst vor der Lore schämen, daß sie mehr Muth hätte, als ich, und das darfst Du doch nicht zugeben!“

Frau von A. suchte dem Knaben diesen Gedanken auszureden, aber er bat und schmeichelte so lange, er rühmte seine durch das Turnen gestärkte Kraft und Ausdauer so sehr, daß sie endlich nachzugeben gezwungen war, und versprach, seinen Wünschen nicht länger zu widerstreben, wenn der eben abwesende Vater seine Einwilligung geben würde. Diese erfolgte in der That nach einiger Zeit, da sich dem Rittmeister von A. eine günstige Gelegenheit bot, seinen Sohn in seiner Nähe unter eigener Aufsicht zu behalten, ohne daß derselbe dem gewöhnlichen Dienst und dessen Strapazen ausgesetzt war. Schon nach wenigen Wochen sah sich der junge A. mit der ersehnten Uniform bekleidet, und wurde als Ordonnanz in das Hauptquartier commandirt, auf dem Commandantur-Büreau desselben beschäftigt.




Die Schlacht an der Görde (in Mecklenburg) hatte sich entsponnen. Unter den gemischten Corps, über welche der Generallieutenant Graf Walmoden-Gimborn das oberste Commando führte, befand sich neben Russen, Schweden, dem mecklenburgischen Kontingente, der englisch-deutschen und russisch-deutschen Legion, auch ein Theil des Lützow’schen Freicorps, und dieses hatte einen besonders harten Stand, gegenüber den Franzosen, die ein kleines Gebüsch besetzt hielten, welches eine sanft ansteigende Anhöhe krönte, und ihnen eine sehr vortheilhafte Position bot. Die Lützow’sche Infanterie, zu der auch die Compagnie des Turnvaters Jahn gehörte, erhielt endlich den gemessenen Befehl, die Franzosen aus diesem Gehölze zu vertreiben. Mehrere zu diesem Zwecke unternommene Angriffe wurden zurückgeschlagen, da kam der an dieser Stelle commandirende Offizier zu der Ueberzeugung, es würde leichter sein, den Feind durch Tirailleure zu vertreiben, als durch einen geschlossenen Angriff, wie man bisher versuchte. Jahn rief sogleich Freiwillige aus seiner Compagnie auf, um mit denselben unter seiner eigenen Führung in das Gehölz einzudringen, und einer der Ersten, welche aus dem Gliede traten, dem Rufe des geliebten Hauptmanns zu folgen, war Lorenz Prohasky, der sich schon bei mehreren Gelegenheiten durch seinen Muth rühmlichst ausgezeichnet hatte. Die Kette der Tirailleure wurde gebildet, und drang unter fortwährendem Feuern, jedoch im Sturmschritt, gegen das Gehölz vor, aus welchem den Tapfern ein mörderischer Kugelregen entgegen gesendet wurde. Viele der Lützower fielen; Andere wurden verwundet, und einer der Ersten unter diesen war Lorenz Prohasky, der einen Schuß in den Arm bekam. Doch ohne der ziemlich bedeutenden Wunde zu achten, verband er sie flüchtig mit seinem Taschentuche, und eilte, die Kameraden einzuholen, die er eben noch zeitig genug erreichte, um in das allgemeine Hurrah einzustimmen, unter dem sie mit gefälltem Bayonnet in das Gehölz eindrangen. Nur wenige Schritte noch war Prohasky von den Büschen entfernt, da sahen die zurückgebliebenen und außer Schußweite stehenden Kameraden, wie er plötzlich in die Knie brach, dann sich mit gewaltiger Anstrengung erhob und, das Gewehr als Stütze benutzend, zurückwankte, die linke Hand gegen den Unterleib gepreßt. Nur mühsam schleppte er sich fort, und als der Offizier, welcher die Compagnie Jahn’s commandirte, dies sah, gebot er zwei Jägern, die Büchsen abzugeben, und dem Verwundeten entgegen zu eilen, um ihn zurück zu führen. Doch noch ehe sie ihn erreichten, brach er zusammen und sie waren genöthigt, ihn zu seiner Compagnie zu tragen. Hier wurde er hinter der Fronte niedergelegt, und sogleich eilte ein Chirurgus herbei, seine Wunde zu untersuchen.

„Ein Weib,“ rief er verwundert, und voll Staunen drängten sich die Zunächststehenden herbei, die Heldin zu sehen, die der ganzen Compagnie durch die unerschrockendste Todesverachtung vorgeleuchtet hatte.

„Ja, ein Mädchen,“ sagte die Verwundete mit mattem Lächeln; „nicht Lorenz Prohasky, sondern Leonore Prohaska, aber deshalb hoffentlich kein schlechterer Soldat.“

„Ach, Herr Geheimerath,“ rief sie dann plötzlich mit dem Ausdrucke der Freude einem Manne zu, der zu Pferde neben dem Kreise halten blieb, dessen Mittelpunkt Leonore Prohaska bildete und voll Teilnahme fragte, was es hier gäbe. „Sie sendet Gott, denn wenn ich noch zu retten bin, so werden Sie mich retten!“

Der Angeredete, der Generalstabsarzt der Armee, Geheimerath Dr. Kohlrausch[1], hatte kaum vernommen, daß es sich hier um einen schwer Verwundeten handle, in dem man noch dazu ein [578] Frauenzimmer entdeckt hatte, als er auch schon vom Pferde sprang, den Wunsch der Prohaska zu erfüllen. Während er die Wunde sorgfältig untersuchte, sagte sie mit matter Stimme: „Nicht wahr, das dachten Sie nicht, als Sie mich als Köchin in dem Hause der Frau von A., wo Sie Hausarzt waren, sahen, daß Sie mich so wiederfinden würden?“

Verwundert blickte der Generalstabsarzt sie an und sagte dann, sie erkennend: „Wie, Lore, Du bist es?“

„Ja wohl, doch sagen Sie mir offen, – muß ich sterben?“

„Wenn Du noch etwas zu wünschen oder anzuordnen hast, so thue es bald,“ sagte er, und schüttelte Ihr gerührt die Hand. „Rettung ist nicht möglich und Dein Tod nahe.“

„Ich danke Ihnen für Ihre Aufrichtigkeit,“ sagte sie mit trübem Lächeln. „Meine Angelegenheiten sind geordnet, denn ich besitze Nichts, und habe Niemanden auf der Welt, der eine Thräne um mich vergießen wird!“

Sie irrte, denn das Auge manches der sie umstehenden Kameraden wurde feucht, als sie jetzt betend die Hände faltete und während des Gebetes schmerzlos hinüberschlummerte.

v. A.     

Der hühnerologische Verein in Görlitz.

Der hühnerologische? – Ist das Ernst oder Scherz?

Ich glaube es gern, daß meinen Lesern bei Lesung dieses Wortes sich das Primanerherz im Leibe herumdreht, denn es ist mir selbst ja nicht besser ergangen. Eben so gut könnte man ja die zoologischen und conchyliologischen Sammlungen in thierologische und schneckologische umwandeln; und was würde unser großer Ornitholog Fr. Naumann sagen, wenn wir ihn als den größten Vogelologen Deutschlands begrüßen wollten!

Nichts destoweniger hat es mit dem hühnerologischen Verein zu Görlitz seine Richtigkeit und nicht minder seine Wichtigkeit; und der letzteren wegen, will ich den Lesern der Gartenlaube von dem am 12. October stattgehabten großen Ausstellungsfeste so wie von dem Zwecke des Vereines kurz berichten.

Am genannten Tage befand ich mich unter den von allen Seiten in Görlitz Zusammenströmenden, und je näher ich dem Held’schen Garten kam, desto vollstimmiger tönte mir das Concert krähender Stimmen in die Ohren, in allen Stufen der Heiserkeit bis zum völligen Versagen des kühn und glockenrein begonnenen Kikeriki. In langer Gallerie mit Blumengewinden und Laubwerk geschmückt, erblickte ich eine Hühnermenagerie, wie sie mir noch nicht zu Gesicht gekommen war. In ähnlicher Weise, wie in den großen wandernden Menagerien befanden sich die edeln Thiere in kleinen Abtheilungen, deren Scheidewände freilich nicht eichene Bohlen zu sein brauchten und deren Gitterwerk aus schlichtem Bindfaden bestand. Eine angehängte Tafel gab den Namen der Rasse, des Vaterlandes und des Ausstellers an. Anfangs konnte ich mit Bequemlichkeit die lange Reihe der gallischen Vögel mustern, aber bald verdrängte mich das zunehmende Wogen der Schaulustigen. Ich wandte mich zu einem großen Zelte, in welchem eine große Menge numerirte Körbe stand, deren jeder drei bis sechs Hühner enthielt, welche an die Mitglieder des Vereins verloost werden sollten. Die vortreffliche Stadtkapelle von Görlitz löste von Zeit zu Zeit die befiederte ab, ohne es jedoch hindern zu können, daß die berechtigsten aller Anwesenden ihr krähendes ceterum censeo immer und immer wieder weit hinschallend darein mischten. Das Girren einiger Tauben und das melancholische Glucksen zweier Perlhühner, welche nebst einigen Exemplaren einer neuen Kaninchen-Rasse durch ihre Anwesenheit die Qualität als Hühner prätendirten, bemühte sich, in das Einerlei des hühnerologischen Concerts einige Abwechselung zu bringen.

Die Namen der Hühnerrassen fand ich nicht weniger abenteuerlich und verschiedenartig als ihre Inhaber. Die Tscherkessen, rabenschwarze Kerle wiesen sich als nahe Verwandte, gewissermaßen als schärfere Rassen-Ausprägung der Spanier. Die schlanken, schneeweißen Pariser wagte ich nur verstohlen anzusehen, damit man nicht meine, ich beliebäugele sie als gallische Hähne. Brabanter, Bantam’s, Elephanten, Creve-Coeur und vor allen die riesigen Cochinchina’s fesselten abwechselnd meine Aufmerksamkeit. Und wie viel schöner und stattlicher noch würden sie alle gewesen sein, hätten sie nicht in der Mauser gelegen. In der Legezeit, wo der Vogel sein prangendes „Hochzeitkleid“ trägt, wie es die Wissenschaft nennt, ließ sich die Ausstellung natürlich nicht anstellen. Dennoch machte die Ausstellung auf meinen unhühnerologischen Verstand einen großen Eindruck, und ich fing an, mein widerstrebendes Sprachorgan an das Wort hühnerologisch zu gewöhnen. Ich lernte begreifen, daß die Gründer, deren einer mich zu bekehren und zu belehren trachtete, kein runderes und glatteres Wort zur Bezeichnung des Vereinszweckes hätten wählen können. Der Kopf des Wortmonstrums deutet die heitere Praxis, der Schwanz die ernste Theorie an. Also ich söhnte mich immer mehr mit der Hühnerologie aus. Ich begriff auch den b.* Herrn Professor, welcher seinen Beitritt zum Vereine von einer gründlichen Sprachreinigung des Vereins-Namens abhängig gemacht hatte; denn da ich selbst einer bin, so mußte ich doch meinen Herrn Collegen begreifen.

Das vor den Schauvögeln sich herumdrehende Publikum fing bald an zu kritisiren. Zuletzt vereinigte sich das Urtheil dahin, daß den schwarzen Cochinchina’s des Herrn Oettel, des Präsidenten des Vereins, unzweifelhaft der Preis zuzuerkennen sei. Der Hahn hatte drei Weiber bei sich, von denen das eine ein Bild hühnerologischer Cochinchina-Schönheit war. Hohe knochige Beine, oben in ungeheuere Pluderhosen gehüllt, der Schwanz in einen fast wolligen runden Federklumpen aufgelöst, der mit jenen zusammen die kurzen kleinen Flügel beinahe ganz versteckte. So muß eine solche Schönheit aussehen.

Kurz, wohin ich sah, erblickte ich den Gedanken des Huhns hundertfältig verschieden verkörpert, und hatte als specifischer Leipziger nur zu bedauern, daß nicht auch „Hühner mit Allerlei“ ausgestellt war, um der Kritik die Krone aufsetzen zu können. Selbst die Eier fehlten, was ich hier für spätere Ausstellungen dem unermüdlichen Präsidenten zur Nachachtung gesagt haben will. Wie viel übrigens hinsichtlich der Eier vom Verein noch geleistet werden wird, dafür spricht wahrhaft prophetisch der Wunsch eines geehrten auswärtigen Mitgliedes, welchem leider die bis jetzt erst erreichte Stufe des Vereins noch nicht zu genügen vermochte: der Wunsch, man möge ihm drei Cochinchina-Eier schicken, nämlich zu einem Hahne und zwei Hühnern! – Ein thätiges Mitglied aus der Schwester-Sechsstadt Löbau sprach die zuversichtliche Hoffnung aus, daß es dem Vereine in nicht zu ferner Zeit gelingen werde, die Hühnereier so groß zu erzielen, daß sechs Menschen von einem – essen könnten, wenn sie auch nicht vollständig davon satt werden sollten. In stummer Bewunderung der Leistungen des noch so jungen Vereins konnte ich nicht umhin, dieser Hoffnung beizupflichten.

Da ich als Nichtmitglied kein Interesse an der Verloosung hatte, so gehörte ich nicht zu den Belagernden der zwei Waisenknaben, beneidete aber nachher die mit ihrem „Hahn im Korbe“ Davoneilenden.

Abends betheiligte ich mich desto mehr an dem hühnerologischen Festessen. Die Pietät des Vorstandes hatte dafür gesorgt, daß dabei kein Kanibalismus herrsche; denn der wäre es doch gewesen, wenn dabei Hühnergerichte aufgetragen worden wären.

Zum ersten Male fanden bei diesem Festmahle die Hühnerologinnen Zutritt, welchem Umstande man es zuschrieb, daß diesmal nicht die tolle Laune der Trinksprüche waltete, als sonst wohl. Die Festcantate erschien daher auch diesmal bei Tische in einer „modificirten Ausgabe.“ Gedicht und Musik ist eigens für solche feierliche Festmahle des hühnerologischen Vereins gemacht; es ist das hohe Lied des Vereins. Gesangsparthien werden von Musiksoli’s unterbrochen, durch welche das Leben des Huhnes vom Auslaufen aus dem Ei, ja vom Brechen der Eischale an dargestellt wird. Von wahrhaft tragikomischer Wirkung ist die „Trauer-Elegie der Kapaune und Poularden.“ Die Musik schloß mit einem „Hahn-Solo“, welchem die vox humana mit einem hundertstimmigen „Chor sämmtlicher Hähne“ die Krone aufsetzte.

Ich zweifle nicht, daß es manchen meiner Leser und Leserinnen etwas abenteuerlich ob meiner Erzählung im Kopfe summen wird. Es kann nicht anders sein.

Dennoch ist an der Sache mehr Ernst als Scherz, obgleich von letzterem gerade so viel, um ersteren zu würzen. Darum ist der hühnerologische Verein durchaus ein unbezopfter. Seine Wirksamkeit erstreckt sich über alle europäischen Länder, ja seine 600 weit übersteigende Mitgliederzahl ist auch jenseits der Meere vertheilt. Er verkehrt durch Versendung und Bezug von Eiern und Hühnern bis in das Inselmeer des stillen Oceans, und erwartete jetzt gerade eine Zusendung von der molukkischen Insel Ceram.

In den Dörfern um Görlitz lief mir der Glaube an die Wirksamkeit des Vereins in veredelten Hühnerrassen auf jedem Bauergehöfte entgegen.

Darum, Ihr Herren Gelehrten, laßt Euch nur die vox hybrida Hühnerologie gefallen! Ist das Wort auch ein Bastard, so habe ich in Görlitz die Bastard-Eier von der Cochinchina- und Brabanter-Race fabelhaft groß und sehr wohlschmeckend gefunden. Immer größer werdende Hühnereier bieten einen nahrhaften Ersatz für die immer kleiner werdenden Brote.

Wer von den 32,000 Abonnenten der Gartenlaube Vergnügen an der Hühnerzucht und jetzt von dem hühnerologischen Vereine das erste Wort gehört hat, der wende sich nur dreist mit seinem hühnerologischen Anliegen an den verdienstvollen Präsidenten des Vereins, Herrn Kaufmann Oettel in Görlitz, und bald werden seinem Hühnerhofe und seinem Mittagstische ungeahnte Vortheile zuwachsen. R.     



  1. Er starb als sehr geachteter Arzt, und, irren wir nicht, als Director der Charitée, in Berlin.