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Die Gartenlaube (1859)/Heft 22

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1859
Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[305] No. 22. 1859.

Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Im Busch.
Von Friedrich Gerstäcker.
(Schluß.)

„Und die Provisionen draußen?“ frug Jim Riddle, der unschlüssig die ihm überreichten kleinen Leinwandsäcke in der Hand behielt.

„Die nehme ich auf dem Rückweg mit,“ sagte Mulligan vollkommen kaltblütig, „macht Euch keine Sorge deshalb, Mate, gegessen wird’s und ich weiß, Ihr gebt’s gern, wenn Ihr auch jetzt ein verdammt albernes Gesicht dazu schneidet. Aber eilt Euch ein wenig, ich habe weder Lust noch Zeit, mich hier eine Stunde zu Euch herzusetzen.“

Jim wußte wirklich nicht gleich, was er thun sollte. Draußen lagen die Polizeileute auf der Lauer und hier saß der Bursche bei ihm in der Hütte so behaglich und daheim, als ob er der Stations-Eigenthümer und nur eben einmal auf Besuch, seine Heerden revidiren wolle. Böse durfte er ihn aber auch nicht machen, und wenn er ihn jetzt das Verlangte gab, was that’s? ging er doch dann hinaus, sich die anderen Lebensmittel abzuholen, und mußte dann jedenfalls der Polizei in die Hände fallen – nachher bekam er Alles wieder. Zeit war’s aber in der That, daß dem frechen Gesellen das Handwerk einmal gelegt würde.

Der Buschrähndscher blieb indessen nicht ruhig am Tische sitzen, sondern warf immer dann und wann einmal wieder einen Blick hinaus, ob die Luft noch rein sei, beendete aber nichtsdestoweniger in aller Ruhe seine Mahlzeit und erst, als Jim ihm das Verlangte in die Leinwandbeutel gegeben hatte, sagte er:

„So, dank’ Euch Mate, und zum Beweis, daß ich es gut mit Euch meine, noch eine Warnung. Es sind nämlich von drüben eine Anzahl von Spionen herübergekommen, die sich hier um lauter Sachen bekümmern, die sie nichts angehen. Wenn sie hier zu Euch kommen sollten, versteht Ihr mich, so wißt Ihr nicht, daß ich auf der Welt bin. Soll ich Euch deutlicher sagen, was ich meine?“

„Dank’ Euch, das thut’s,“ entgegnete mürrisch der junge Bursch.

„Es freut mich, daß Ihr so rasch begreift,“ sagte Mulligan. „Ihr seid gefällig gegen mich gewesen, und es wäre mir unangenehm, wenn ich Euch ein Leides thun müßte. Fangen thun sie mich doch nicht, und wenn sie die Insel wieder verlassen haben, sind wir Beide immer noch zusammen.

Er war wieder aufgestanden, steckte das Erhaltene ohne Weiteres vorn in sein Buschhemd, nahm seine Muskete auf und trat in die Thür.

„Merkwürdig schwüle Luft heute,“ sagte er, indem er erst nach dem Himmel hinauf und dann auf den Hutkeeper sah. „Ihr seid auch verdammt still heute, Mate. Ich glaube beinahe, Ihr seid krank, denn Ihr seht käseweiß im Gesicht aus.“

„Ich? – mir fehlt nichts,“ erwiderte der Hutleeper, der um Alles in der Welt den Buschrähndscher nicht mochte merken lassen, was in ihm vorging.

„Ich will Euch was sagen, Mate,“ bemerkte dieser nach einer kleinen Weile, in der er ihn scharf und mißtrauisch beobachtet hatte, „ein kurzer Spaziergang wird Euch gut thun. Wie wär’s, wenn Ihr mich ein Stück begleitetet, nur bis dorthin, wo das Essen liegt?“

„Ich kann die Hütte nicht verlassen,“ rief der junge Bursch, unwillkürlich drehte er sich aber nach dem Buschrähndscher um – hatte dieser Verdacht geschöpft?

John Mulligan fing den Blick auf und fühlte im Nu, daß hier nicht Alles in Ordnung sei. Gewohnt aber, jeder Gefahr kaltblütig zu begegnen, und neu gestärkt von der tüchtigen Mahlzeit, die er gehalten, ließ er sich nichts merken, sondern sagte nur gleichgültig:

„Ich weiß jetzt wahrhaftig gar nicht mehr, welchen Platz ich Euch für die Provisionen bestimmt hatte. Zeigt mir nur die Stelle; die Verantwortlichkeit, Euere Hütte verlassen zu haben, nehm’ ich auf mich.“

„Ihr habt gut auf Euch nehmen,“ brummte Jim.

„Weshalb ist es Euch denn auf einmal so fatal, mit mir zu gehen, he?“ frug da der Buschrähndscher, ihn scharf fixirend.

„Fatal? – gar nicht,“ sagte Jim, anscheinend gleichgültig, denn er durfte den Menschen nicht mißtrauisch machen. „Meinetwegen, wenn Euch ein Gefalle damit geschieht. Aber dann kommt auch, daß ich bald wieder zurück sein kann.“

„Erwartet Ihr Besuch?“

„Ja, den Schäfer und seinen Hund,“ brummte Jim, „das ist der ganze blutige Besuch, den man hier in der Wildniß erwarten kann.“ Und mit den Worten seinen alten Strohhut aufgreifend, schritt er der Thür zu, den Buschrähndscher, wie er es verlangte, zu begleiten.

Jim hatte dabei aber auch seinen eigenen Plan entworfen. Die Sache war zu einer Krisis gediehen, und in wenigen Minuten wußte der Räuber, daß er von ihm verrathen worden. Jetzt galt es deshalb, ihn unschädlich zu machen, und selber von derber Körperkraft, wenn auch John Mulligan im Einzelkampfe vielleicht nicht gewachsen, wollte er jedenfalls das Seinige dazu beitragen, ihn fest zu bekommen. Dicht neben dem Buschrähndscher schritt er deshalb [306] hin, sobald sie den im Hinterhalte liegenden Polizeileuten nahe genug kämen, ihn zu fassen. So lange, bis er Hülfe bekam, wußte er recht gut, daß er ihn halten konnte. John Mulligan hatte aber einmal Verdacht geschöpft und war nicht so leicht überlistet. Wie sie deshalb ein Stück vom Hause fort sich dem Busche näherten, sagte er:

„Wißt Ihr was, Mate, geht Ihr voran. Ihr kennt den Weg besser.“

„Und Ihr mit dem geladenen Gewehre hinterdrein?“ entgegnete der Hutkeeper, dem der Vorschlag nicht im Mindesten gefiel.

„Ich thu’ Euch nichts, habt keine Angst,“ lachte der Buschrähndscher, aber jetzt schon mit vorsichtig gedämpfter Stimme. „Ihr seid ja mein Freund, versteht Ihr, und bis ich nicht Beweise vom Gegentheil erhalte, habt Ihr nichts zu fürchten. – Nun? – wird’s bald?“

Jim Riddle mochte sich nicht widersetzen, denn sie waren noch zu weit von Hülfe entfernt. Mürrisch steckte er deshalb die Hände in die Taschen und schlenderte voraus. Aufmerksam aber spähte er dabei überall umher, ob er noch keinen der ausgelegten Posten erkennen könne – sie mußten jetzt in deren Nähe sein.

John Mulligan gebrauchte indessen ebenfalls seine Augen, denn das ganze Benehmen seines Führers fiel ihm auf. Er konnte aber nirgends etwas Verdächtiges oder Außergewöhnliches erkennen – und doch lag einer der Polizisten jetzt kaum etwa funfzig Schritt von ihm entfernt auf dem Bauche, horchte den nahenden Schritten und wunderte sich, wer in aller Welt von der Richtung her zu ihnen kommen könne.

Jim Riddle sah jetzt den umgestürzten Gumbaum, an dessen Wurzel er den Anführer der Polizei versteckt wußte. Weiter durfte er nicht vor dem geladenen Gewehre des gefährlichen Burschen an die Fremden herangehen, denn wer wußte, ob er ihn nicht gerade aus Wuth und Rache am allerersten niedergeschossen hätte. Er blieb stehen und sich halb trotzig, halb mürrisch gegen den Buschrähndscher wendend, sagte er:

„Da, dort drüben ist der Platz; jetzt könnt Ihr ihn allein finden; überhaupt denk’ ich, daß Ihr im Busche besser Bescheid wißt, wie ich.“

„Das könnte sein, mein Bursche,“ flüsterte der Buschrähndscher, die Worte aber, die er sprach, selber nicht beachtend. Sein Blick hing an einem Gumbusche, der so nicht gewachsen war, wie er da halb umgefallen stand, und dicht daneben lag ein dunkler Fleck, aus dem er ebenfalls nicht klug werden konnte. So nur den Arm gegen den Hutkeeper ausstreckend, ohne sein Auge von dem verdächtigen Gegenstande abzuwenden, fuhr er fort: „Halt, bleibt einen Augenblick hier, Jimmy. Seht einmal, was ist das dort drüben, Camerad?“

Jim Riddle warf einen Blick dort hinüber. Der Buschrähndscher hatte Verdacht geschöpft, und das war vielleicht der letzte ihm gegebene Moment, den Verbrecher zu fassen und sich selbst vor seiner Rache zu schützen.

„Wo?“ fragte er und trat dicht an den Räuber heran.

„Dort drü–“

Er beendete seine Worte nicht, denn Jim, im Triebe der Selbsterhaltung, warf sich auf ihn, ergriff mit der einen Hand die Muskete, mit dem anderen Arme umschlang er den von ihm Abprallenden und stieß dazu ein gellendes Hülfegeschrei aus.

Tolmer hatte indessen von da, wo er lag, die Beiden kommen sehen und ahnte leicht den Zusammenhang, war aber auch nicht im Stande, irgend etwas Anderes zu thun, als still und regungslos liegen zu bleiben. Er wußte recht gut, daß der Buschrähndscher augenblicklich einen Hinterhalt vermuthen würde, so wie er das Geringste sich bewegen sähe, und seine einzige Aussicht auf Erfolg war, ihn so nahe als irgend möglich herankommen zu lassen. Einmal erst nur an den Außenposten vorbei, und er konnte ihnen doch nicht mehr entgehen.

Der schlaue Buschrähndscher ließ sich aber nicht so leicht überlisten, und nur erst der drohende und verzweifelte Angriff des Hutkeeper’s schien alle seine Vorsicht unnütz gemacht zu haben.

Bei dem Hülfeschreien desselben sprangen nämlich die versteckten Polizeisoldaten fast zugleich aus ihrem Hinterhalte in die Höhe. Tolmer selbst lief, was er laufen konnte, der Stelle zu, wo Jim Riddle sich an den Buschrähndscher angeklammert hatte und dieser ihn vergebens von seinen Füßen und auf die Erde zu bringen suchte. Dem Sträfling lag vor allen Dingen daran, sein Gewehr frei zu bekommen, und in der ersten Ueberraschung des Angriffs hatte er nicht einmal die von allen Seiten auftauchenden Feinde bemerkt. Ein einziger Blick auf die herbeispringenden Gestalten genügte aber, ihm die ganze Gefahr seiner Lage zu verrathen, und mit einem wilden Fluge den Hutkeeper mit der Faust gegen die Stirn schlagend, daß dieser halb betäubt in seinem Grifft nachließ, gelang es ihn wenigstens, sich von dem ihn umklammernden Arme für einen Augenblick frei zu machen – aber das Gewehr ließ Jim nicht los.

Wieder führte der Buschrähndscher einen wilden Hieb nach den Schläfen des jungen Burschen, der ihm hätte verderblich werden können. Jim aber verstand genug von der edeln Kunst der „Selbstvertheidigung“, den Schlag zu pariren, und rechts und links sprangen jetzt die Feinde herbei, ihm den Weg nach beiden Seiten abzuschneiden. Er mußte fliehen, und während er die Muskete losließ und Jim, der mit aller Kraft daran zog, hinten überstürzte, sprang der Buschrähndscher schräg ab den nächsten Bäumen zu, die er in wenigen Sätzen erreichte und nun zwischen sich und seinen Verfolgern behielt, um vor ihren Kugeln geschützt zu sein.

„Feuer!“ schrie Tolmer, der für einen erfolgreichen Schrotschuß noch zu weit entfernt war, „Feuer!“

Die Polizeisoldaten hatten bis jetzt nicht schießen dürfen, da sie eben so leicht den Buschrähndscher, wie den Hutkeeper treffen konnten. Jetzt, da sie Beide getrennt sahen, sprangen sie zur Seite, freies Ziel auf den Flüchtigen zu bekommen, und zwei oder drei Kugeln knallten hinter ihm drein. Einmal war es, als ob er getroffen wäre. Er „zeichnete“, wie die Jäger sagen, aber es war nur ein Moment; im nächsten Augenblicke warf er sich in ein dickes Gebüsch, das ihn vollständig verbarg, und alles weitere Suchen dort nach ihm blieb erfolglos. Er war und blieb verschwunden.

Wohl hatte ihn Jim, da er ihm die Waffe entrissen, für den Augenblick unschädlich gemacht, aber wie leicht konnte sich der verwegene Mensch eine andere Flinte verschaffen, und daß er dann an dem armen Teufel von Hutkeeper Rache nehmen würde, war gewiß. Jim Riddle stand auch, wie er das Resultat erfuhr, rathlos und sich hinter im Kopf kratzend neben dem erbeuteten Gewehr und meinte:

„Na ja, da haben wir die Geschichte, gerade wie ich’s mir gedacht. Ich sollt’ Euch die Kastanien aus dem Feuer holen und verbrenne mir die Pfoten dabei, und jetzt sitz’ ich da und kann mich freuen. Gehangen will ich aber werden, wenn ich eine einzige blutige Stunde in dem Neste hier noch allein sitzen bleibe, daß mich der Hallunke eines Morgens an meinem eigenen Feuer über den Haufen schießt, wie ein Opossum, und entweder laßt Ihr mir Wache hier, bis Ihr ihn fest habt, oder ich bin mit von der Partei und fahre nach Adelaide hinüber.“

Jim Riddle beharrte auch auf seinem Vorsatz, und da Tolmer selbst einsah, daß es gut sein würde, die Hütte bewacht zu halten, da Mulligan, wenn sie ihn wirklich nicht fänden, recht gut hierher zurückkommen könne, sich zu rächen, so beschloß er, einen Mann hier zu lassen. Sehr erwünscht kam ihm dabei das Anerbieten des Matrosen, bei dem Hutkeeper auszuhalten, bis sie ihn wieder abholen würden. Der Seemann hatte das Herumkriechen im Busche schon lange satt bekommen und die Ruhe war ihm ganz erwünscht. Durch das Gewehr des Buschrähndschers waren sie auch bewaffnet; Tolmer ließ ihnen Pulver und Blei dazu da und ging dann mit seinem kleinen Trupp ernstlich daran, die Verfolgung des Flüchtlings mit allen Kräften aufzunehmen.

Eine Strecke konnten sie ihn dort, wo er in die Dornen hineingebrochen war, spüren und an den grünen Stachelblättern fanden sie sogar an zwei Stellen ein paar Tropfen Blut, aber nichts weiter. So wie er den mehr offenen Wald erreicht hatte, war auf dem harten Boden kein Eindruck mehr zu erkennen und vergebens suchten sie den Busch bis zur völligen Dunkelheit nach allen Richtungen hin ab.

Todesmüde lagerte die kleine Schaar endlich an einem Wasserloche, das sie mitten in einem Dickicht fanden, und zehrte von den mitgebrachten Provisionen, am nächsten Morgen die Jagd von Neuem aufzunehmen. Aber auch der nächste Tag brachte kein besseres Resultat und Tolmer behielt jetzt nur die Hoffnung, daß sie den Buschrähndscher vielleicht dem anderen Trupp unter Borris in die Hände trieben. Mulligan konnte natürlich nicht wissen, daß er zwei Parteien auf seinen Fersen habe.

Die Leute bekamen den entsetzlichen Busch an dem Tage herzlich [307] satt und Einer oder der Andere versuchte schon die Andeutung, daß der Schooner wahrscheinlich jetzt von Adelaide zurück sein und auf sie warten würde. Tolmer blieb aber unerbittlich und wollte von dem Schooner und einem Aufgeben seines Planes nichts wissen.

Am dritten Tage Morgens passirten sie, einem kleinen Buschpfade folgend, der nach der Küste zuführte, wieder ein Wasserloch, und hier fanden sie die ersten Spuren des flüchtigen Sträflings wieder. Er hatte dort getrunken. Deutlich konnten sie am Rande der Pfütze die Eindrücke seiner Kniee und Hände erkennen, und dicht daneben lag ein kleiner blutbenetzter baumwollener Lappen. Er war also jedenfalls, wenn auch nur leicht, von einer der ihm nachgesandten Kugeln verwundet worden, und wenn sie ihn jetzt ohne Gewehr wieder antrafen, konnte er ihnen kaum mehr entgehen.

So sehr sie das ermuthigte, in ihren Nachforschungen nicht zu ermatten, so sehr fühlte sich Tolmer selber bald gehindert, die Verfolgung mit dem alten Eifer fortzusetzen. Er hatte nämlich am Morgen in einen scharfen Dorn getreten, und wenn er es auch im Anfange nicht besonders achtete, verschlimmerte sich die Wunde durch die Anstrengung und den Staub mit jeder Stunde dermaßen, daß er zuletzt kaum noch von der Stelle konnte.

In dem Pfade, den sie jetzt verfolgten, hatten sie noch mehrmals des Buschrähndschers Fußspur gefunden, und Tolmer hinkte, auf den Arm eines seiner Leute gestützt, mit, so gut er konnte, bis sie endlich in Sicht der Küste kamen und hier eine kleine, ordentlich von Stämmen hergerichtete Hütte, eine Art Blockhaus, fanden. Sie war allerdings nicht bewohnt; Tolmer konnte aber nicht mehr weiter, und wie er von seinen danach ausgeschickten Leuten hörte, daß Mulligan’s Spur hier und da im Sande zu erkennen sei und der Sträfling sich jedenfalls, um den bösen Dornen des Inneren zu entgehen, hierher gewandt habe, seine Flucht desto rascher nach einem entfernteren Theile der Insel fortsetzen zu können, beschloß er, hier ein paar Stunden zu rasten und seine Leute allein nach ihm auszuschicken.

Hatten sie bis Nachmittag um drei Uhr nichts weiter von ihm gefunden, so sollte Einer von ihnen dem Strande folgen, um Borris und die Uebrigen anzutreffen und herbeizuholen, und die Anderen zu ihm zurückkehren.

Die Leute wollten Tolmer mit dem bösen Fuße nicht allein lassen, er schickte sie aber fort. Wasser floß in der Nähe und er konnte die Zeit dann benutzen, seinen Fuß ordentlich auszuwaschen und zu verbinden, – Er hatte sich aber zu viel zugemuthet. Als er in die Hütte trat und seine Decke dort auf ein leeres Bettgestell warf, überkam ihn eine ganz ungewohnte Schwäche; der Kopf schwindelte ihm und er behielt eben noch Zeit, seine Flinte an die Wand zu lehnen und sich auf der Decke auszustrecken – dann vergingen ihm die Sinne und er fiel in einen bewußtlosen Zustand, der mehrere Stunden gedauert haben mußte.

Wie er wieder zu sich kam, stand die Sonne schon hoch am Himmel, und er ging jetzt ernstlich daran, nach seinem Fuß zu sehen und ihn zu verbinden. Dann wollte er sich einen Becher Thee kochen, aber er fühlte sich noch zu matt, legte sich deshalb wieder auf das Lager und sah träumend zu dem Dach der Hütte hinauf, bis ihm die Augenlider zusanken und er in einen leichten, stärkenden Schlaf fiel. Bei seinem Erwachen stand ihm eine Ueberraschung bevor.

Es war ihm, als ob er seinen Namen aussprechen höre, und wie er, die Augen halb geöffnet, unwillkürlich und ohne den Kopf zu wenden, einen Blick nach der Thür warf, erkannte er dort die Gestalt eines Mannes, die den Eingang verdunkelte.

Das Herz hörte ihm auf zu schlagen, aber der nächste Augenblick rief ihn auch schon wieder zu voller Thätigkeit.

„Mr. Tolmer,“ sagte die Stimme, und während er sich jetzt ganz langsam, keinen Schreck zu verrathen, emporrichtete, sah er den Buschrähndscher John Mulligan in der Thür stehen, seine eigene scharf geladene Doppelflinte in der Hand, die Hähne gespannt und die Läufe auf ihn gerichtet. Er hatte leichtsinniger Weise, als er sich wieder auf’s Bett warf, die Waffe neben der Thür stehen lassen, und sein Leben war in diesem Augenblick in den Händen des Verbrechers und hing an dem Druck seines Zeigefingers.

„So, Mulligan,“ sagte Tolmer, mit voller Geistesgegenwart die Gefahr überschauend, in der er sich befand, indem er die Beine von dem Bettgestell herunterließ, ohne jedoch aufzustehen – „haben wir Euch endlich? Den langen Marsch im Busch hättet Ihr Euch und uns ersparen können, denn das Ihr nicht fortkämt, sobald wir nur erst einmal auf Eurer warmen Fährte waren, mußtet Ihr wissen,“

„Ihr habt mich?“ sagte der Flüchtling, indem ein hämisches Lächeln über seine bleichen Züge flog, „wäre nicht übel. Ihr seid in meiner Gewalt, Tolmer, und was hindert mich, mit einem Fingerdruck Euch Alles abzuzahlen, was Ihr mir schon in diesem Leben angethan?“

„Die Furcht vor dem Galgen, Mulligan,“ sagte Tolmer, ohne eine Miene zu verziehen, „obgleich Ihr dem doch schwerlich entlaufen werdet. Aber habt Ihr mich wirklich für so blödsinnig gehalten, Euch ein geladenes Gewehr dort an die Thür zu stellen, und mich in die andere Ecke auf’s Bett zu legen? Die List war plump genug, aber sie ist doch geglückt.“

„Was meint Ihr damit?“ rief der Buschrähndscher, das Gewehr fester packend und einen scheuen Blick zurück über die Schulter werfend.

„Was ich damit meine?“ sagte Tolmer ruhig, indem er ein Bein über das andere legte, „daß Ihr umstellt seid, und ich hier nur auf dieser Pfeife einen einzigen Pfiff zu thun brauche, um meine neun Mann da zu haben. Fort könnt Ihr nicht mehr. Herein haben sie Euch gelassen, hinaus kommt Ihr nicht, und ich hatte mich doch nicht geirrt, als ich mir dachte, Ihr würdet der Lockung nicht widerstehen können, ein Gewehr auf einen schlafenden Menschen anzulegen.“

„Mr. Tolmer,“ sagte Mulligan finster, „Ihr werdet Euch erinnern, daß ich Euch geweckt habe. Es lag in meiner Macht, Euch eine Kugel durch’s Hirn zu schießen.“

„Aus dem leeren Gewehr?“ lachte Tolmer. „Es stecken nur Zündhütchen darauf, daß es besser aussieht. Aber hört mich, Mulligan,“ fuhr er plötzlich, als der Buschrähndscher das Gewehr mißtrauisch betrachtete und nicht übel Lust zu haben schien, den Ladestock herauszuziehen, ernster und mit einem mehr theilnehmenden Ton fort: „Noch sind wir unter uns. So viel ich weiß, ist Euch bis jetzt kein ernsteres Vergehen zur Last gelegt worden, als die gelegentliche Erpressung von Provisionen, die mit der Noth entschuldigt werden kann. Ihr habt noch kein Blut vergossen, und wenn auch wieder eingefangen als Buschrähndscher, steht Eure Sache noch immer nicht so schlimm. Ein oder zwei Jahr geschärfte Ueberwachung ist wahrscheinlich die Strafe, die Ihr bekommen werdet, und ich werde Euch durch meine Aussagen nicht tiefer hineinreiten. Stellt einmal das Gewehr an die Wand; ich mag nicht mit Euch reden, so lange Ihr eine Flinte in der Hand habt, wenn sie auch nicht geladen ist.“

Mulligan sah ihn an und zögerte.

„Soll ich das Zeichen geben?“ frug Tolmer, „daß meine Leute Euch mit der Waffe in der Hand ertappen?“

„Sie haben Recht, Mr. Tolmer,“ sagte der Mann, dem die Ruhe des Polizeioffiziers imponirte. Der, den er vor wenigen Minuten noch in seiner Gewalt geglaubt, mußte wirklich Hülfe in seiner unmittelbaren Nähe haben, er wäre sonst wenigstens vor seinem Erscheinen erschreckt, oder hätte sich in anderer Weise verrathen – und mit den Worten lehnte er das Gewehr an die Wand, Tolmer aber brachte jetzt seine Hand langsam unter den Rock, der Brusttasche zu, wo er ein geladenes Pistol stecken hatte. Jetzt fühlte er sich sicher, denn er war im Stande, dieses zu ziehen und abzudrücken, ehe der Buschrähndscher das Gewehr wieder aufgreifen konnte.

„So – ich sehe, Ihr seid vernünftig,“ sagte er ruhig, ohne jedoch die Waffe hervorzuziehen oder im Mindesten zu verrathen, daß er sich nicht vollkommen sicher fühle, „aber Ihr seht bleich und elend aus, Mulligan. War denn das nun der Mühe werth, daß Ihr Eurer Strafe entsprangt, nur um ein solches Hundeleben im Busch zu führen?“

„Es ist ein Hundeleben,“ knirschte der Mann leise vor sich hin, „und ein Hund möcht’s nicht länger führen. Gehetzt wie ein Dingo[1], von den Cameraden verrathen, fortwährend nur auf der Wacht, das elende Leben in Sicherheit zu bringen. Ich will’s auch nicht länger führen; nehmen Sie mich mit nach der Colonie hinüber; Mr. Tolmer. Ich habe das wilde Treiben satt und übersatt.“

„Jetzt sprecht Ihr wie ein vernünftiger Mensch,“ sagte Tolmer, von seinem Bett aufstehend. Er vergaß fast, daß er einen wunden Fuß hatte, in solcher Aufregung befand er sich, sein Gewehr nur erst wieder einmal in Händen zu haben. Wer stand ihm [308] dafür, daß den Buschrähndscher nicht in der nächsten Minute schon seine Unterwerfung gereute? „Ihr sollt auch unterwegs ordentlich behandelt werden – wenn Ihr mir nämlich versprecht, Euch auch ordentlich zu betragen.“

Er ging dicht zu ihm heran und stand jetzt neben seiner Waffe, ohne sie aber zu berühren. Zeigte er auch nur die geringste Furcht, so wußte er, daß der Mann, mit dem er es hier zu thun hatte, seinen Vortheil rasch genug benutzen würde. Außerdem konnte er nicht einmal hart auf seinen Fuß auftreten, und wäre deshalb in einem Handgemenge augenblicklich unterlegen. Nicht ein Laut rührte sich draußen; seine Leute waren vielleicht noch meilenweit entfernt.

„Aber die – Anderen sind noch draußen im Busch,“ sagte der Sträfling endlich nach einigem Zögern.

„Keiner mehr, Mulligan,“ erwiderte Tolmer ruhig, „wir haben sie Alle.“

Alle?“ rief Mulligan erstaunt aus.

„Alle mit einander – d. h. fünf und den Matrosen, der noch bei Euch war – ich weiß nicht, ob noch mehr im Busch herum liegen.“

„Nicht mehr wie die,“ sagte kopfschüttelnd der Sträfling, „es müßten denn ganz kürzlich frische herüber gekommen sein, die ich noch nicht gesehen hätte.“

„Also habt Ihr mir weiter nichts zu sagen,“ frug jetzt Tolmer, indem er die Pfeife in die Hand nahm, als ob er das Zeichen geben wolle, „und kann ich meine Leute jetzt rufen?“

„Nichts weiter, Mr. Tolmer,“ sagte Mulligan fast demüthig, „aber Sie werden mir bezeugen, daß ich nicht das geringste Böse gegen Sie im Sinne gehabt.“

„Darauf gebe ich Euch mein Wort,“ versprach ihm der Polizeimann, indem er jetzt langsam den Arm nach dem Gewehr ausstreckte und es an sich nahm. Ein Blick auf das Schloß versicherte ihn, daß die Zündhütchen noch darauf und zum Gebrauch bereit seien, und jetzt erst, als er ein paar Schritte von dem Flüchtling sich entfernte und das Gewehr gegen ihn hielt, war es, als ob eine Centnerlast von seinem Herzen gewälzt wäre. Er holte aus voller Brust Athem und sagte dann, während ihn Mulligan erstaunt betrachtete:

„Jetzt seid so gut, Mate, und geht einmal dort in die Ecke des Hauses – dort hinüber, meine ich, ein Stück von der Thür fort.“

Der Buschrähndscher zögerte – eine Ahnung, daß er sich habe überlisten lassen, schien in ihm aufzusteigen.

„Geht dort in die Ecke, John,“ sagte Tolmer, aber mit fester Stimme, „ich möchte Euch nicht gern ein Leides thun, aber ich muß es, wenn Ihr die geringste Bewegung zur Flucht oder zum Widerstande macht.“

„Teufel,“ zischte der Buschrähndscher leise vor sich hin, „so war das Alles nicht wahr, was Ihr mir da gesagt?“

„Kein Wort davon, John,“ lachte Tolmer, das Gewehr fest dabei im Anschlag, „nur das Versprechen, das ich Euch gegeben, halt’ ich. Was ich zu Eueren Gunsten aussagen kann, soll geschehen.“

„Und Ihre Leute?“

„Suchen Euch draußen am Strande oder in den Känguruhdornen, Gott weiß, wo – aber sie kommen hierher zurück, und bis dahin muß ich freilich Posten bei Euch stehen.“

Der Buschrähndscher drehte sich ab, ging in die Ecke, setzte sich auf den Boden nieder und drückte sein Gesicht in Scham und Ingrimm auf die Kniee.

Tolmer dauerte der arme Teufel, und er sagte freundlich:

„Seid guten Muthes, John, die Sache kann noch besser werden, wie Ihr jetzt glaubt. Wenn Ihr Euch vollkommen ruhig verhaltet, bis meine Leute kommen, und nicht den geringsten Widerstand leistet, will ich annehmen, daß Ihr Alles gewußt und Euch mir freiwillig gestellt habt. Ihr werdet verstehen, daß Euch das beim Gouverneur hoch angerechnet würde.“

„Und wollten Sie das wirklich thun, Mr. Tolmer?“ sagte Mulligan, rasch den Kopf hebend.

„Ich habe es Euch freiwillig zugesagt.“

„Dank Ihnen, Sir,“ sagte der Mann aus vollem Herzen, „Menschenkräfte hätten’s auch nicht länger ausgehalten. Seit zwei Tagen habe ich keinen Bissen, einen Trunk Wasser ausgenommen, über die Lippen gebracht, und mit einem Streifschuß an der Schulter, gestern den ganzen Tag im Wundfieber durch die Dornen brechen müssen. Das Gefängniß selber ist eine Wohlthat gegen ein solches Dasein.“

„Aber warum habt Ihr Euch nicht lange wieder gestellt?“

„Die Freiheit,“ stöhnte der Mann, „die Freiheit! Ihr, die Ihr da draußen noch nie hinter den Eisenstäben gesessen, noch nie gehört habt, wie es klingt, wenn die Riegel hinter Einem zugeschoben werden, wißt gar nicht, was es ist, ein freier Mensch zu sein.“

Er sank mit den Worten wieder in seine frühere Stellung zurück, und Tolmer, der sich jetzt ziemlich sicher fühlte, daß er für den Augenblick keinen weiteren Fluchtversuch.von seinem Gefangenen zu fürchten habe, ging an das Bettgestell, nahm das Brod und Fleisch, das er noch dort liegen hatte, und brachte es Mulligan.

Im Anfang wollte er es nicht anrühren; aber nicht lange konnte er es neben sich liegen sehen. Sein kräftiger und jetzt bis zum Tod erschöpfter Körper forderte Nahrung, und wie er nur einmal den ersten Bissen gekostet, schlang er das Uebrige rasch und gierig hinunter.

Eine volle Stunde mußte Tolmer noch warten, ehe die Seinen von ihrem natürlich erfolglosen Streifzug zurückkehrten. Sie hatten aber dabei ihre übrigen Gefährten getroffen, die eben im Begriff gewesen waren, den Schooner, als den ihnen von Tolmer selber bezeichneten Sammelplatz, wieder aufzusuchen.

Borris war übrigens nicht wenig erstaunt, John Mulligan in Tolmer’s Gesellschaft zu finden, und das Unwahrscheinlichste von Allem war ihm, daß sich der Buschrähndscher freiwillig gestellt haben sollte. Tolmer aber erklärte es in Mulligan’s Gegenwart, und als er noch die Wunde des Gefangenen hatte sehen lassen und indessen von der nächsten Station ein Pferd für ihn selber herbeigeholt war, denn mit seinem wunden Fuß hätte er die Strecke nicht mehr marschiren können, setzte sich der kleine Zug in Bewegung.

Ein nach Jim Riddle’s Hütte geschickter Bote holte indessen den Matrosen von dort ab, brachte aber auch Jim mit, der sich selber überzeugen wollte, ob sein „Freund“, der Buschrähndscher, wirklich in sicherem Gewahrsam sei und ihm keinen unverhofften Besuch mehr abstatten könne. Nur unter dieser Bedingung wollte er länger auf Känguruh-Eiland bleiben.

Gerade der Stelle gegenüber, wo der Schooner, der Polizeimannschaft harrend, vor Anker lag, stieg Tolmer vom Pferde. Sie hatten das Zeichen gegeben, daß das Boot herüber kommen solle, sie abzuholen, und Tolmer, der noch die alten Schüsse in seinem Gewehr stecken hatte, wollte diese herausschießen, es frisch zu laden. Er trat einem dickstämmigen Gumbaum gegenüber – John Mulligan, von vier Polizeileuten bewacht, stand neben ihm – zielte bedächtig und drückte ab. Klapp, versagte das rechte – klapp, das linke Rohr.

Tolmer drehte sich langsam nach John Mulligan um, und Beider Blicke begegneten sich, aber Keiner von ihnen sprach ein Wort. Der Polizeisergeant setzte ruhig frische Zündhütchen auf, drehte sich wieder dem Baume zu und feuerte beide Rohre scharf hintereinander in den alten Gumstamm hinein, daß die Rehposten klappernd darauf schlugen.

Eine Stunde später hatte der Schooner seine sämmtlichen Passagiere an Bord; der Anker wurde gelichtet, und das kleine Fahrzeug segelte mit günstigem Winde nach dem nicht fernen australischen Continent hinüber.




Die Festung Alessandria im Königreich Sardinien.

Alessandria, piemontesische Festung und Hauptstadt der gleichnamigen Provinz des Königreichs Sardinien, am Einfluß der Bormida in den Tanaro in einer sumpfigen Gegend gelegen, ward 1161 von den Cremonensern, Mailändern und Piacentinern gegen Kaiser Friedrich I. erbaut und Anfangs Cäsarea genannt, erhielt aber später, dem Papst Alexander III. zu Ehren, der ein Bisthum dahin verlegte, den jetzigen Namen. Sie zählt 36,000 Einwohner, welche bedeutende Manufacturen in leinenen, wollenen und seidenen Zeugen, Strümpfen und Hüten unterhalten, berühmten Gartenbau und lebhaften Handel betreiben, und hat sehr besuchte Messen. Sie

[309] 

Alessandria.

[310] bildet den Verkehr zwischen Genua, Turin und Mailand. Schon bei der Erbauung zur Festung bestimmt, als Uebergang über den Tanaro und die Bormida und als wichtiger Eingangspunkt mehrerer Straßen in gutem Stand erhalten, war sie oft ein Gegenstand des Kampfes. Sie wurde 1522 vom Herzog Sforza erobert und geplündert, 1657 von den Franzosen unter Conti belagert und 1707 vom Prinzen Eugen nach hartnäckiger Verteidigung eingenommen. Kaiser Joseph I. überließ die Stadt erblich an den Herzog von Savoyen. Seit 1796 gehörte sie den Franzosen und war die Hauptstadt des Departements Marengo. Nach der Schlacht bei Marengo schloß hier der österreichische General Melas mit Bonaparte einen Waffenstillstand, zufolge dessen Oberitalien bis an den Mincio und zwölf Festungen den Franzosen eingeräumt wurden. Nach Unterdrückung der piemontesischen Revolution von 1821 wurde Alessandria mehrere Jahre von den Oesterreichern besetzt, und die sehr starken, von den Franzosen erbauten Festungswerke demolirt, bis auf die sehr feste Citadelle am linken Ufer des Tanaro, den Brückenkopf und die bastionirte Ringmauer.

Nach der Schlacht von Novara am 23. Marz 1849 mußte der Platz für die Dauer des Waffenstillstandes den Oesterreichern als Garantie des Friedens übergeben werden, doch wurde er nach Unterzeichnung desselben wieder zurückgegeben. Die bastionirte Ringmauer besteht aus einer Reihe von zusammenhängenden Bastionen. Eine Bastion besteht aus zwei Facen und zwei Flanken, und die Linie, welche zwei neben einander liegende Bastionen verbindet, nennt man die Courtine, vor welcher das Ravelin liegt, welches ebenfalls aus zwei Facen und zwei Flanken besteht, und zur Deckung der Courtine (Zwischenwall) erbaut ist. Die bastionirte Ringmauer ist von einem breiten, tiefen und mit Wasser gefüllten Graben umgeben, vor welchem das Glacis mit dem gedeckten Wege liegt.

Der Brückenkopf besteht ebenfalls aus mehreren Bastionen mit Graben und Glacis, und innerhalb desselben liegt die Citadelle als ein für sich bestehendes und abgeschlossenes Fort. Außerhalb des Brückenkopfs befinden sich mehrere Redouten und Flèchen (pfeilförmiges Außenwerk), welche unterminirt sind, um diese bei einer Belagerung, wenn sie nicht mehr haltbar sind, zu sprengen und zu zerstören. Diese Manier, Festungen zu erbauen, ist von Vauban unter der Regierung Ludwig XIV. erfunden worden, genügte wohl für die damalige Zeit, aber nicht mehr für die gegenwärtige, wo das Caponnièren-System mit Montalembert’s-Thürmen angewendet wird, nach welchem z. B. die Festung Posen erbaut ist.

Einer solchen bastionirten Ringmauer könnte man blos dadurch eine größere Widerstandsfähigkeit verleihen, wenn man sie mit Forts, die sich gegenseitig flankiren, wie z. B. bei Mainz, umgäbe. Diejenige aber, welche Alessandria umschließt, eignet sich in keiner Weise dazu, eine regelmäßige Belagerung eine Zeit lang auszuhalten, indem der Belagerer in ganz kurzer Zeit aus der zweiten Parallele mittelst gedeckter Laufgräben bis zum Kamme des Glacis vordringen würde, um daselbst die Bresch- und Contre-Batterieen zu errichten und Bresche zu schießen. Ein solches Verfahren dürfte in dem vorliegenden Falle gar nicht nothwendig erscheinen, indem eine hinreichende Anzahl während der Nacht erbauter, mit Wurfgeschützen armirter Batterieen Alessandria nach einem mehrtägigen Bombardement sicher zur Uebergabe nöthigen würde.

Ganz abgesehen davon ist aber Alessandria in dem bevorstehenden Kriege sowohl für die operirende, als für die sich in der Defensive verhaltende Armee von sehr großer Wichtigkeit, indem durch sie die Eisenbahn von Genua nach Turin geht und indem sie am Einflusse der Bormida in den Tanaro liegt und den Vereinigungspunkt mehrerer Hauptstraßen bildet. Ein sehr starker Brückenkopf erhöht ihre Wichtigkeit, die sie auch als Stapelplatz für das Kriegsmaterial hat.

Es liegt außer Zweifel, daß die Franzosen nur Zeit haben gewinnen wollen, um in einer günstigen Jahreszeit ihre ganze Armee über die Alpen marschiren zu lassen. Durch das Einrücken der Oesterreicher in Sardinien sind sie aber gezwungen worden, den größten Theil ihrer Artillerie, Pferde und Mannschaften von Toulon zur See nach Genua überzuführen, was immer viel Zeit erfordert und nie in großen Massen geschehen kann. Hätte sich nur ein österreichisches Corps durch ein mehrtägiges Bombardement in den Besitz von Alessandria gesetzt, so würden sie in hinreichender Stärke nicht allein die zu Genua gelandeten Franzosen an ihrer Vereinigung mit den Sardiniern auf diesem Wege haben hindern, sondern auch Genua in Besitz nehmen können. Die Sardinier und Franzosen wären alsdann genöthigt worden, ihre Stellung aufzugeben, und durch den Marsch der Oesterreicher auf Turin gezwungen worden, eine Schlacht anzunehmen, welche jedenfalls zu Gunsten der Oesterreicher ausgefallen wäre.

Durch die Besetzung der Alpenpässe hätte man dem Einmarsche der Franzosen nach Sardinien Einhalt thun können. Indeß lehnt sich gegenwärtig der rechte Flügel der Oesterreicher an den Lago Maggiore (Langer See) bei Arona[WS 1], und ihre Armee hält die ganze Linie der Sesia bis zu ihrem Einflusse in den Po bei Canale besetzt, wo sie eine Brücke geschlagen und Streifcorps nach Tortona und Boghera entsendet haben, um den Telegraphen und die Eisenbahn zu zerstören. Sie sind demnach in der Front durch die Sesia und in der linken Flanke durch den Po gedeckt.

Es ist nicht denkbar, daß der Kaiser Napoleon die Oesterreicher in der für sie sehr vortheilhaften Frontstellung angreifen wird; vielmehr ist anzunehmen, daß er Alessandria zu seiner Operationsbasis nehmen wird und den Po mit seiner Armee entweder zwischen Canale und Pavia überschreitet, oder unterhalb Pavia, die Richtung direct nach Mailand nehmend, durch welchen Flankenmarsch – und ich glaube ganz bestimmt, daß eine von den beiden Voraussetzungen zutrifft – die Oesterreicher ihre feste Stellung an der Sesia aufgeben müssen. Alessandria ist demnach für die nächstfolgende Zeit ein höchst wichtiger Platz, selbst in dem Falle, wenn eine Armee geschlagen werden sollte.[2]




Löbichau und die Herzogin Dorothea von Kurland.
(Schluß.)

Einer guten Aufnahme in Löbichau konnte fast Jeder versichert sein, welcher mit ästhetischen Intentionen seine Gesellschaftsformen und namentlich das Streben nach glatter Schönheit des mündlichen Ausdrucks wie der körperlichen Haltung verband; ästhetisirende Gesellschaftsgrazie erhob sich unvermerkt zur obersten Forderung an diejenigen, welche eine Stellung in den Kreisen der kurischen Schwestern erringen wollten. So kam neben den wirklichen Vertretern der Aesthetik, Wissenschaft und Kunst allerdings auch viel anspruchsvoller Dilettantismus zur Geltung, und selbst die elegante Abenteurerei wußte nicht selten eine hervorragende Rolle zu spielen. Von einer wirklich productiven Förderung der nationalen Interessen durch die Herzogin Dorothea konnte also nicht gerade die Rede sein; dagegen hatte sie das unbestreitbare Verdienst, den geistigen Kräften ihres Wohnorts einen Sammelpunkt und den verschiedenen Richtungen einen neutralen Boden zu bieten. Außerdem vermittelte sich bei ihr, da ja auch ihr Zusammenhang mit den vornehmen und staatsmächtigen Kreisen fortdauerte, eine gewisse Bekanntschaft dieser mit den Vertretern wenigstens eines Theiles der nationalen Geistesströmungen.

Indessen darf auch keineswegs unerwähnt bleiben, daß die Herzogin früher in Karlsbad mit einer merkwürdigen Consequenz dahin gestrebt und es erreicht hatte, die trennenden Unterschiede, welche die Badegäste in landsmannschaftlichen Coterien auseinanderhielten, durch ihren gesellschaftlichen Einfluß zu verwischen. Die damalige Humanität der Vornehmen war eben mehr kosmopolitischer und gesellschaftlicher, als nationaler Natur. Dieses vermittelnde Streben blieb auch ein charakteristischer Zug des Löbichauer Hofhalts, dessen Gesellschaft eben deshalb auch stets von Vertretern der verschiedensten Nationen gebildet ward.

Goethe sagt einmal in seinen Tages- und Jahresheften, da er vom Karlsbader Aufenthalt spricht: „Die Herzogin von Kurland, immer selbst anmuthig, mit anmuthiger Umgebung, Frau von der Recke, begleitet von Tiedge, und was sich daran schloß, bildeten höchst erfreulich eine herkömmliche Mitte der dortigen Zustände. Man [311] hatte sich so oft gesehen, an derselben Stelle, an denselben Verbindungen, man hatte sich in seiner Art und Weise immer als dieselbigen gefunden; es war, als hätte man viele Jahre mit einander gelebt; man vertraute einander, ohne sich eigentlich zu kennen.“ Mit diesen einfachen Worten ist der Kern des Wesens jener Kreise dargelegt, deren Mittelpunkt die Herzogin, wie in Karlsbad, ebenso in Dresden, Berlin und endlich selbst in Löbichau bildete. Das Zusammentreffen einiger liebenswürdigen Menschen genügt nicht immer, einen interessanten Kreis zu bilden; es müssen auch die Umstände vorhanden sein, um jede Persönlichkeit zur Geltung zu bringen. Diese feingesellschaftliche Kunst, Jeden zur Geltung kommen zu lassen, hatte die Herzogin im höchsten Maße. Es zeigte sich darin die Nachwirkung jener Gesellschaftlichkeit, in welcher sie jung geworden war, und deren eigenthümlichen Reiz das napoleonische Zeitalter mit seinen großen Erschütterungen fast überall beinahe völlig hatte verschwinden lassen. Es war die Kunst, den Anderen sich fühlen zu lassen. Diese Kunst übte nun die Herzogin mit ihren nächsten Umgebungen natürlich mit verdoppeltem Eifer dort, wo sie als gastfreundliche Wirthe auftraten, – in Löbichau.

Der Pariser Friede und der Wiener Congreß waren vorüber, die Männer des Kriegs und der Staatskunst erholten sich von den Aufregungen und Arbeiten der verflossenen Jahre; an den Höfen der regierenden Fürsten war man mit Restauriren aller Sphären des vielfach zerrütteten Lebens zu beschäftigt, um der Geselligkeit einen weiten Spielraum gönnen zu können; auch klaffte mancher politische Gegensatz noch zu offen, brannte manche Wunde noch zu schmerzlich, um eine glatte Oberfläche und ein freundliches Gleichgewicht des geselligen Verkehrs dieser Kreise aufkommen zu lassen. In Löbichau fand man einen neutralen Boden, ohne eine der gewohnten Aeußerlichkeiten vornehmen Lebens zu entbehren; abgesehen von der Anmuth des dort heimischen Kreises, durfte man auch hoffen, manche verloren gegangene geistige Beziehung wieder aufnehmen oder neue interessante Menschen kennen zu lernen.

So war Löbichau in den ersten Friedensjahren eigentlich mehr das Stelldichein der noch nicht wieder in das Geleis ihrer Gewohnheit zurückgekehrten vornehmen Welt, als gerade ein absichtlich gebildeter Sammelpunkt mitteldeutschen Geisteslebens. Aber natürlich ging auch selten ein Mann der Wissenschaft und Kunst vorüber, welcher anderwärts mit der Herzogin, mit Frau von der Recke, mit Tiedge etc. zusammengetroffen war, ohne die Gelegenheit zur Erneuerung oder Fortsetzung der Bekanntschaft zu benutzen. Und Niemand von irgend welcher geistigen Bedeutung verließ das Schloß, ohne zu glauben, daß ihm ganz besondere Aufmerksamkeiten zugewendet worden seien. Dazu trug allerdings die Formenanmuth des ganzen dortigen Wesens das meiste bei; aber sie hätte sich nicht in so leichter und ungezwungener Weise entwickeln können, wenn die Herzogin, abgesehen von ihrer persönlichen Bedeutsamkeit, nicht auch hier in Bezug auf Stand und äußere Lebensstellung ihrer Gäste sich eben so vorurtheilsfrei erhalten hätte, wie sie es ihr ganzes Leben hindurch gewesen war. Jeder war gewissermaßen aller Auszeichnungen theilhaftig, welche der Herrin des Hauses galten, während die wirklich unbegrenzte Gastlichkeit Niemanden empfinden ließ, welche äußere Lebensannehmlichkeiten er jener verdankte, und welche er sich selber schuf. Es läßt sich nicht leugnen, es war etwas „Capua der Geister“ in dem ganzen Leben und Treiben, und unsere heutige nüchtern-praktische Zeit mag vielleicht selbst einen Vorwurf daraus machen, daß in jenen Jahren, da sich alle Kräfte zur Erringung der verheißenen Resultate des Freiheitskampfes hätten vereinigen sollen, hier mancher bedeutend angelegte Mensch zu einem dilettantischen, momentan ergötzlichen, rein gesellschaftlichen Spiel mit seinen Talenten veranlaßt wurde, aus welchem kein Lebensernst erwachsen konnte. Manche Celebritäten selbst, wie u. A. Jean Paul, wurden, von dem Cultus, welcher ihnen hier namentlich durch die Damen des herzoglichen Hofhalts gewidmet wurde, bis zu völliger Selbstvergötterung berauscht. Andere, wie *, wurden durch die Auszeichnung, welche eigentlich blos ihrer schönen Männlichkeit und einer angenehmen Baßstimme galten, in der Selbstbeurtheilung ihrer Begabung irre, traten aus bereits angebahnten Carrieren und geriethen in falsche Lebensstellungen. Man rechnete damals noch nicht so knapp mit der Zeit, man hatte mehr Zeit für behagliches Sichhingeben, man hielt selbst die Gesellschaft nicht blos für eine abzuthuende Pflicht, sondern für einen ebenfalls productiven Theil des Lebens.

Auf der andern Seite darf jedoch eben so wenig vergessen werden, daß die Herzogin und ihre Umgebungen es sich zur Aufgabe machten, ihre materiellen Mittel in reichlichstem Maße, und ihre tausendfachen Beziehungen in unermüdlicher Hülfsbereitschaft dazu zu benutzen, um tüchtigen und strebsamen Menschen theils die Möglichkeit zu voller Ausbildung, theils passende Wirkungskreise zu verschaffen. Dafür waren nicht etwa blos ästhetische Talente und künstlerische Fertigkeiten maßgebend, sondern auch der Beruf und die Neigung zu strengen Fachwissenschaften. Tiedge, eine durch und durch gebildete und juristisch geschulte Persönlichkeit, von mildester Humanität durchdrungen, that nach dieser Richtung erstaunlich viel nicht blos durch Befürwortung bei den kurischen Schwestern, sondern ebenso aus eigenen knappen Mitteln. Ebenso der Herzogin Leibarzt, Geheimrath Sulzer in Ronneburg, dessen auch Goethe bei seinen Karlsbader Aufenthalten öfters erwähnt. In gleicher Weise konnten auch die bewährten Geschäftsmänner des Löbichauer Hofes und der herzoglichen Angelegenheiten zuverlässig darauf rechnen, bei der Herzogin stets ein offenes Ohr für ihre Anträge und Befürwortungen nach dieser Richtung zu finden. Endlich – so prosaisch es auch klingt – war der herzogliche Hofhalt während der Noth- und Theuerungsjahre, welche bald auf den allgemeinen Frieden folgten, manchem Jünger der schönen Künste ein stets offenstehender Zufluchtsort, welcher ihn vor alltäglichem Mangel bewahrte. Unter der glatten, formenschönen, stets heiteren Oberfläche des Löbichauer Lebens gingen auch schwere, herzzerreißende Schicksale hin. Aber freilich gewahrte die Welt nichts davon.

Es ist hier nicht der Ort, diese Details weiter auszuführen. Allmählich folgte auch das Löbichauer Leben dem Gesetze der Nothwendigkeit. Seine leitenden Mittelpunkte, die Herzogin, Elisa von der Recke, Tiedge wurden älter; aus dem Kranze anmuthiger Mädchengestalten von jüngeren Verwandten, Halbverwandten und Bekannten war allmählich ein bedeutender Theil zum Traualtar und in die Heimath ihrer Gatten entführt worden. Das Schloß wurde leerer, die ernsten Interessen begannen vorzuherrschen, die ehemalige Beweglichkeit des ab- und zufluthenden Gästestromes begann zu stocken. Dazu kam, daß die Herzogin in den letzten Jahren ihres Lebens kränkelte, während Elisa von der Recke sich gleichfalls abweisender gegen die Außenwelt verhielt. Im Frühjahr 1821 starb Anna Dorothea von Kurland in Löbichau, und ein ausgewölbter Rasenhügel mit einem hohen Kreuz auf seinem Gipfel erhebt sich über ihrem Sarge, zu welchem vierundzwanzig Jahre später auch jener ihrer zweiten Tochter, der in Wien (1845) verstorbenen Fürstin Pauline von Hohenzollern, beigestellt ward.

Von den unmittelbaren Blutsverwandten der Herzogin leben blos noch die Herzoginnen von Acarenza-Pignatelli und von Sagan. Selbst von den jüngeren Familiengliedern und den näheren Umgebungen der Herzogin sind auffallend wenige noch am Leben. Die Personen, deren Wirken zum Theil mit Löbichau in Verbindung stand, zum Theil davon ausging, gehören heute ebenfalls dem höheren Alter an und sind weit verstreut, zusammenhanglos geworden. Daran gedenkend ist’s ein eigenthümliches Gefühl, wenn man die Zimmerreihen des Schlosses durchwandert und dort an den vielen Portraits sich in jene hinabgesunkene, ausgestorbene Zeit versetzt. Ist’s doch, als gehörten selbst die Räume nur der Vergangenheit an. Wenigstens hat die neue Benutzung derselben – die Herzogin von Acarenza verweilt gewöhnlich den Sommer über hier – den ursprünglichen napoleonisch-antiken Typus der Einrichtung großentheils unangetastet gelassen. Es hat für unseren heutigen Geschmack, welcher sich in Ueberfüllung der Zimmer mit Meubles und allerlei Zierrath gefällt, beinahe etwas Oedes und Kaltes, jedenfalls etwas Herbes. Dennoch kann man sich auf der anderen Seite einem gewissermaßen imponirenden Eindrucke nicht entziehen; man empfindet selbst bei dieser falschen Classicität der Mode die Ahnung von einem Stück Weltgeschichte, dessen großartiger Beginn durch kleinmüthige Epigonen abgebrochen wurde, ohne sein Ziel erfüllt zu sehen. Und ist es denn anders? Tragen nicht gerade wir Deutschen am schwersten daran?

An Löbichau und sein damaliges Leben hat sich freilich keine geschlossene Fortsetzung oder großartigere Entwickelung knüpfen können; es war ja auch nur eine relativ kleine und kurze, von fremder Erde auf die unsere verpflanzte Episode im damaligen Culturleben. Selbst der passende Geschichtsschreiber fehlt ihr noch,[3] und die letzte Herzogin [312] von Kurland ist bereits im heutigen Geschlechte der Landschaft eine fast sagenhafte Erinnerung. Wäre die Landschaft katholisch, so würde ihr Grabhügel vielleicht schon bald ein Wallfahrtspunkt, ihr Dasein das einer Localheiligen sein. Der Volksmund hat die Erzählungen von ihr in dieser Weise gestaltet. Fast noch mehr aber geschah dies in ihrer Heimath, unter dem kurländischen Adel, nachdem er empfunden hatte, welchen Tausch er gemacht, als er sein Herzogthum der Kaiserin Katharina II. „bedingungslos zu Füßen gelegt.“

In Mitau, der ehemaligen Herzogsresidenz, liegt dicht an der semgallischen Aa ein einsamer, halb verwilderter Garten mit einem ehemals prachtvollen Hause. Zwei majestätische steinerne Löwen bewachen den Eingang, Seitwärts streckt sich ein tiefdunkler Weg in das dichtverwachsene Laubgrün hinein. Je weiter man darin vordringt, desto heller lichtet sich sein Ende, welches ein offenes Tempelgebäude bildet, worunter eine Marmorbüste die wunderschönen Kopfformen und Gesichtszüge der herzoglichen Tochter des Grafen Johann Friedrich Medem darstellt. „Für Anna Charlotte Dorothea, Kurlands Herzogin, Kurlands dankbare Ritterschaft“, lautet in deutscher Uebersetzung die lateinische Inschrift dieses Denkmales, welches der kurländische Adel drei Jahre nach der Herzogin Tod errichtete. Aber heute ist der Grund und Boden, worauf es steht, nicht einmal mehr im Besitze eines Mitgliedes seiner wohlconservirten Ritterschaft. Im Aufstrich ward die „Villa Medem“ nach dem Tode ihres kinderlosen Herrn verkauft und von einem französischen Einwanderer erstanden, welcher mit Ludwig XVIII. von Frankreich gekommen und von diesem geadelt war. Spottend nannten ihn die stolzen eingebornen Freiherrn den „Grafen ohne Vorfahren und Nachkommen.“ Aber wie steht es um die Pietät der geschlechtsstolzen Aristokratie, welche das letzte Denkmal ihrer selbstständigkeitsstolzen Zeit dem Fremdling anheimfallen ließ?




Anna Luise Germaine Necker.

So war der Name eines bedeutenden Kindes, das später als Frau einen berühmten Namen gewonnen: es war die als Schriftstellerin hochgepriesene Frau von Staël-Holstein. Die Zeit ihres Rufes und ihres Glanzes fiel in die erste französische Revolution. Napoleon I., der die Welt zittern machte und bezwang, bis sie ihn überwand, fürchtete die gewandte Feder und die Geistesmacht der Staël-Holstein so sehr, daß er sie aus Frankreich verbannte. Die Zeit der Kindheit und Jugend von Germaine Necker war reich und glücklich, ihr Vater war ein berühmter Staatsmann und ihre Mutter, Tochter eines armen protestantischen Predigers zu Genf, eine hochgebildete Frau. Sie sah eine Menge bedeutender Persönlichkeiten, die alle dem geistig regen Kinde Aufmerksamkeit und Liebe schenkten. Wenn ihr Vater sich von den erdrückenden Staatsgeschäften erholen wollte, so zog er sich mit den Seinen nach seinem Gute Coppet zurück. Coppet liegt am Genfer-See und seine alte Geschichte – Coppet soll schon zur Römerzeit gestanden haben –, sein bewegliches Leben, seine Schifffahrt, sein Weinbau, seine Fischerei regten die Phantasie des Kindes an, so daß der Aufenthalt in Coppet eine Freudenzeit für Germaine Necker war. Aus dem viel bewegten Leben der Frau von Staël hat ein Biograph derselben eine Anekdote aus ihrer Kindheit aufbewahrt. Sie schrieb in ihrem elften Jahre an den berühmten Geschichtsschreiber Gibbon:

„Herr Gibbon!

„Eine wichtige Angelegenheit zwingt mich, Ihnen zu schreiben; nur Ihnen allein kann ich sie sagen; bitte, kommen Sie zu mir.

„Sie wissen, ich bin in Coppet, wo ich den ganzen Sommer wegen meiner Gesundheit bleiben soll.

„Ich bin, Herr Gibbon, in ausgezeichneter Verehrung

Ihre 
Anna Luise Germaine Necker.“

P. S. Ich bitte Sie um Alles, nicht zu glauben, daß es eine Kinderei sei. Ich bin kein Kind mehr; leider hören Sie nur zu oft, daß meine Mutter zu mir sagt: „Tenez-vous droite!“ aber ich bin kein Kind mehr, und es beleidigt mich zu sehr, wenn ich in Ihrer Gegenwart wie ein Kind behandelt werde.“

Einige Tage nach Abfassung dieses Briefes wanderten zwei Männer nach dem schön gelegenen Schlosse des Herrn Necker zu Coppet.

„Ich bin sehr begierig,“ sagte der Eine, „welche wichtige Begebenheit Germaine Ihnen mittheilen will.“

„Eins bemerke ich Ihnen, Necker, daß Ihre Tochter mir nur unter vier Augen ihre Mittheilung machen will.“

„Ich werde kein tyrannischer Vater sein, lieber Gibbon, ich lasse Sie mit meinem Kinde allein, und werde mich gleich von Ihnen trennen, denn ich habe in der Nähe des Schlosses ein Geschäft abzumachen. Haben Sie meiner Frau Germaine’s Brief gezeigt?“

„Gewiß nicht,“ sagte Gibbon, „sie würde vielleicht dem lieben Kinde gezürnt haben.“

„Germaine ist weniger Kind, als sie für ihr Alter sein könnte; sie entzückt mich oft durch ihren scharfen Verstand, durch ihren Witz, durch ihre Lebhaftigkeit. Aber mein Vaterauge sieht vielleicht zu viel –“

„Nein, Necker,“ antwortete Gibbon, „Ihr Kind wird einst eine außerordentliche Frau werden. Welcher Geist, welche Freiheit beseelt sie! nur Ihre Frau will es nicht sehen, sie behandelt sie als Kind.“

„Meine Frau sieht es wohl, aber sie will, daß sie lange in dem Garten der Kindheit bleiben soll; doch der Weg, den sie ihr dafür frei halten will, ist manchmal rauh, und ich suche ihn zu ebnen. Germaine zeigt mir ihr ganzes Herz, und mein Herz hängt an dem ihren. Ihr Geist überwiegt ihren zarten Körper, sie soll die Landluft genießen, darum soll sie den ganzen Sommer in Coppet, das sie so sehr liebt, sein, und ich finde auch, daß ihre Farben frischer geworden sind, seitdem sie hier ist.“

„Da sind wir,“ sagte Gibbon, „was mag sie wollen?“

„Was wird es sein? sie wird etwas aus der Geschichte von Ihnen wissen wollen. Sie kennen ihre Hauptfreude, Puppen von Papier zu machen, Tragödien zu schreiben und sie aufzuführen; ich höre ihr manchmal verstohlen zu und ich versichere Sie, daß jeder ihrer Helden im Geiste seiner Rolle bleibt. Gewiß hat sie einen historischen Grund für irgend ein Stück, und da Sie ein bedeutender Geschichtsforscher sind, so –“

„Nein, Necker,“ sagte Gibbon, „der Styl des Briefes ist zu ernst, die Sache muß wichtig sein.“

„Wenn sie so wichtig ist, wie Germaine’s Spiel in diesem Augenblick – sehen Sie!“

Gibbon sah Germaine einen Kinderwagen ziehen, in welchem ein kleiner Knabe saß. Die lebhafte Bewegung hatte ihre Wangen geröthet, das schöne Haar hing in langen Zöpfen im Nacken herunter, die schwarzen, klugen Augen glänzten voll Leben und Lust.

Herr Necker stand hinter Gibbon, um sich nicht sehen zu lassen, und sagte lächelnd und seufzend: „Gut, Germaine, daß Dich Deine Mutter nicht sieht, jetzt würde der Augenblick sein, um das Dich so demüthigende „Tenez-vous droite!“ zu hören.“

„Ich glaube fast, daß sie mich kommen ließ, um mich mit anzuspannen; ich werde gern mitspielen, ich werde meine fünfzig Jahre vergessen.“

Die Männer trennten sich. Gibbon ging in den Park. Als Germaine ihn kommen sah, blieb sie stehen, ihre Wangen wurden noch röther und sie rief aus:

„Herr Gibbon, wie schäme ich mich, daß Sie mich so finden! Was werden Sie von mir denken nach meinem Brief, in dem ich Sie aufforderte, zu mir zu kommen, weil ich Ernstes mit Ihnen zu besprechen habe?“

„Was ich von Ihnen denken soll? Nur Gutes, Mademoiselle,“ sagte Gibbon, indem er sich achtungsvoll verneigte, „eine solche Bewegung ist der Gesundheit sehr dienlich, und ich selbst würde –“

„Sie scherzen, wie mein Vater,“ sagte die Kleine mit empfindlicher Miene.

„Bitte, glauben Sie mir, ich finde –“

„Nicht doch, necken Sie nicht,“ unterbrach Germaine.

„Wohl, Mademoiselle, ich bin gekommen, um Ihre Befehle zu hören.“

[313] „Hier ist nicht der Ort,“ sagte Germaine, „bitte, folgen Sie mir in das Zimmer.“ Sie wandte sich zu dem kleinen Knaben, den sie gefahren, und sagte: „Ich komme wieder.“

Germaine führte ihren Begleiter in das Zimmer, und als sie sich überzeugt hatte, daß Niemand sie behorchen konnte, setzte sie sich auf ein Sopha und zeigte auf das ihr gegenüberstehende Tabouret, sagend: „Nehmen Sie dort Platz.“

Gibbon setzte sich und biß die Lippen auf einander, um nicht zu lachen. Germaine fuhr mit gesenktem Auge fort:

„Was ich Ihnen zu sagen habe, ist sehr ernst; versprechen Sie mir, nicht zu lachen.“

Gibbon antwortete nicht, aus Furcht, lachen zu müssen. Da Germaine die Augen niedergeschlagen hatte, so sah sie nicht die Kämpfe seiner Lachmuskeln. Sie fuhr fort:

„Sind Sie verheirathet?“

„Nein, noch nicht.“

„Aber, Herr Gibbon, es ist doch nicht Ihre Absicht, Junggeselle zu bleiben?“

„Ich versichere Sie,“ antwortete Gibbon, ganz erstaunt über die Wendung des Gespräches, „daß ich mich noch nicht bestimmt habe.“

„Gott sei Dank!“ rief Germaine, „denn ich habe Absichten auf Sie.“

„Auf mich?“

„Ja, mein Herr, ich habe eine Frau für Sie, oder vielmehr einen Schwiegervater, der Sie bewundert, er wird Sie mit Wonne seinen Sohn nennen und glücklich sein, wenn Sie ihn nie verlassen –“

„Aber man heirathet keinen Schwiegervater, man heirathet eine Frau, die nie den Mann verlassen soll.“

„Die Frau, die Frau!“ rief Germaine, „sie ist nicht die Hauptperson. Wir wollen uns nicht disputiren, das steht fest, es gibt keine Frau ohne einen Schwiegervater, Sie müssen den Einen wie den Andern nehmen. Hören Sie auf mich, aber zuerst versprechen Sie, daß Sie nicht Nein sagen wollen.“

„Ich verspreche –“

„Nein, nicht so schnell, ich bin kein Kind, das man mit einem leichten Versprechen beschwichtigt. Sie sagen mit dem raschen Ja: „Schnell, mein Kind, ich habe keine Zeit“, und dennoch ist meine Sache so ernst, so ernst,“ und das liebe Kind stützte den Kopf in die Hand und sah bedenklich vor sich hin.

„Ich habe Zeit, mein liebes Kind,“ sagte Gibbon. „Sagen Sie, was Sie wollen; ich bin überzeugt, daß Germaine Necker nur verlangt, was Gibbon thun kann.“

„Das versöhnt und ermuthigt mich,“ nahm Germaine das Wort. „So frage ich Sie denn: Herr Gibbon, wollen Sie mich heirathen?“

Gibbon sprang vor Erstaunen vom Sessel auf, er sah das liebliche ernste Kind, das gesenkten Kopfes da saß, an und sagte:

„Sie heirathen? Aber ich kann drei Mal Ihr Vater sein!“

„Was thut das Alter?“ erwiderte Germaine.

„Mich mit Ihnen verheirathen?“ fragte Gibbon von Neuem.

„So verschmähen Sie mich?“ unterbrach ihn Germaine, sich stolz erhebend.

„Nein, Mademoiselle,“ rief Gibbon, indem er sie nöthigte, sich zu setzen, „ich nehme das niedliche, kleine Händchen an, aber ich erlaube mir nur, zu fragen, welcher meiner vorzüglichen Eigenschaften ich diese Ehre verdanke?“

„Wie?“ fragte Germaine.

„Ja, Mademoiselle, sagen Sie mir, ich bitte, ob meine Schönheit Sie reizt?“

„Ich kenne keine häßlichere Person,“ entgegnete Germaine lachend.

„Beleuchten wir meine anderen Eigenschaften. Ist es der Reiz meiner Stimme?“

„Ach nein,“ rief Germaine, „nichts, als Nasenlaute.“

„Ist es die Anmuth meiner Unterhaltung?“ fragte Gibbon wieder.

„Mein Herr,“ sagte Germaine plötzlich ernst, „ich kann Ihren ganzen Reichthum nicht fassen, ich weiß nicht, was es ist, aber wenn Sie sich mit Papa und Mama unterhalten und ich dabei sitze, so –“

„Schlafen Sie ein,“ unterbrach Gibbon.

„O nein, dazu habe ich zu viel savoir-vivre, aber ich langweile mich, ich langweile mich zum Umkommen. Sie sind mir doch nicht böse?“

„Nein, mein liebes Kind, ich freue mich Ihrer Aufrichtigkeit. Aber warum wollen Sie mich heirathen? Ich bin alt, habe eine unmelodische Stimme und bin langweilig.“

„Weil mein Vater Sie liebt, weil Ihre Unterhaltung ihn befriedigt, weil er Sie bewundert, weil er neulich sagte, daß es sein Wunsch wäre, immer in Ihrer Nähe zu sein, und ich denke, daß, wenn ich Ihre Frau würde, es Ihre Pflicht sei, Alles zu thun, was meinem Vater angenehm wäre.“

„Liebliches, Kind,“ sagte Gibbon, ihre Hand küssend, „Sie lieben Ihren Vater so sehr?“

„Ueber Alles,“ rief Germaine, „mehr, als mein Leben. Wie können Sie fragen, ob ich ihn liebe? warum fragen Sie nicht, ob ich athme?“

„Sie sind ein Engel, Germaine,“ und als Herr Necker in das Zimmer trat, sagte er zu ihm: „Sie sind ein beneidenswerther Vater, Sie sind das Idol Ihres Kindes.“

„Höre nicht auf ihn, Vater, er spricht so, weil ich ihn heirathen will.“

„Heirathen?“ rief Herr Necker. „Gibbon, was ist das?“

Und der alte Historiker erzählte mit thränenden Augen wörtlich die eben geschilderte Scene.

„Mein geliebtes Kind,“ sagte Necker, „Du wirst der Stolz meines Alters sein. Aber warum verbargst Du mir Deine Absicht?“

„Weil Du ein solches Opfer nicht von mir angenommen hättest, mein theurer Vater.“

„Also ein Opfer ist es, mich zu heirathen?“ rief Gibbon.

„Ja, mein Herr, es war nur deshalb mein Wille, weil ich meinen Vater so innig liebe.“

„Aber, Germaine, ohne Erlaubniß Deiner Eltern?“

„Germaine ist zehn Jahre alt, wenn sie das Alter erreicht haben wird, in dem sich die Mädchen verheirathen, wird sie den alten Gibbon nicht mehr wollen – ich entsage –“

„Nein, nein,“ sprach Germaine, „ich habe Ihr Wort, Sie heirathen mich und Sie haben dann die Pflicht, immer bei meinem Vater zu sein, ihn immer zu unterhalten, vergessen Sie nicht, daß mein Vater gesagt hat: Wenn doch Gibbon immer bei mir wäre!“

„Hören Sie, Germaine, ich verspreche Ihnen, so oft Ihr Vater will, bei ihm zu sein; will er mich des Nachts, ich komme; will er mich am Morgen, ich bin da; Mittags, ich speise bei ihm; Abends, ich ziehe seine Unterhaltung Allem vor; wenn er will, ich wohne bei ihm; wenn Sie wollen, ich bin sein Schatten mit Fleisch und Bein, und wenn sich damit Alles erfüllt, was Sie wünschen, wollen Sie mich dann auch noch heirathen?“

„Wenn Sie mir dafür Ihr Ehrenwort geben,“ sagte Germaine, „so ist es so besser und ich bin frei.“

„Ich gebe es,“ sagte Gibbon, ihr die Hand reichend.

„Geliebtes Kind,“ rief Necker, „Deine Liebe wollte mir Deine Freiheit opfern –“

„Meine Freiheit! Mein Leben! Ich habe Alles für Dich, mein heißgeliebter Vater, ich habe kein Wort für meine Liebe zu Dir.“

Necker schloß mit Bewegung das heißgeliebte Kind in seine Arme. Gibbon hielt Wort und widmete dem Freunde so oft als möglich seine Stunden. Germaine heirathete 1789 den schwedischen Gesandten Staël-Holstein. Zwei ihrer Romane haben einen bedeutenden Ruf erworben: Corinne und Delphine. Ihre politischen Schriften waren von großem Einflusse auf ihre Zeit. Sie hatte zwei Kinder, von denen die Tochter sich an den Herzog von Broglie verheirathete. Ihr Sohn, Baron August von Staël, begleitete seine Mutter auf allen Reisen. Man rühmt von ihm die Liebe zu seiner Mutter, sein sanftes und frommes Gemüth, das sich bei vielen gemeinnützigen Unternehmungen betheiligt hat. Beide Kinder der Frau von Staël waren mit dem reichen Geiste, dem warmen Gefühle ihrer Mutter ausgestattet.

Germaine de Staël-Holstein starb den 14. Juli 1817.

R. W.



[314]

Zur Kunde des napoleonischen Polizei- und Spionenwesens.

Das napoleonische Spionirwesen hat seines Gleichen nicht in Europa, und sein geheimes Polizeisystem ist nicht nur über ganz Frankreich verbreitet, sondern bezahlt Werkzeuge in allen Ländern Europa’s. Die „Sicherheitsbehörden“ spielen eine Hauptrolle bei der Volksbeglückung. Unter dem Polizeiminister stehen die Präfecten der Departements, so weit deren Polizeigewalt in Rede kommt; diese verfügen über etwa 4000 Polizeicommissarien, 19,000 Stadtsergeanten und die „geheimen Agenten“, deren Zahl zwar, wie die Ereignisse alle Tage zeigen, ungemein groß, aber dem Publicum natürlich nicht genau bekannt ist. In Paris allein sind für diese Spione zunächst zwei Millionen auf das Vertrauensbudget gesetzt worden. Ferner hat der Napoleonismus zu seiner Beglückungstheorie und zur Durchführung seiner „Civilisation“ noch die sogenannten Specialpolicisten nöthig, die Gensd’armerie zu Fuß und Roß, die Eisenbahnpolizei und die Grenzpolizei.

Das Gesetz gegen die Verdächtigen besteht in voller Kraft, und deshalb gibt es unter dem Napoleonismus in Frankreich gar kein Recht und keine Sicherheit der Person mehr; Alles hängt von der Willkür ab. Nicht nur wer angeklagt worden ist, einer geheimen Gesellschaft anzugehören, kann nach Cayenne deportirt werden, sondern auch beliebig ein Jeder, „der anderer Vergehen beschuldigt worden ist.“ Die Präfecten der Departements haben die Gewalt, amnestirte Personen „ohne vorhergegangene Untersuchung wieder zu verbannen“, denn man nimmt an, daß ihr ehemaliger Widerstand gegen den Staatsstreich vom 2. December hinlängliche Gründe für eine abermalige Verbannung an die Hand gebe.

Aus London wird eine interessante Geschichte berichtet. Manche napoleonistische Spione, welche in der englischen Hauptstadt das Thun und Treiben der Flüchtlinge überwachen sollen, haben im Bunde mit eben diesen Flüchtlingen gestanden. Nun, es darf nicht auffallen, daß solche Personen ein doppeltes Spiel treiben; sie möchten sich bei den vermeintlichen Männern der Zukunft das Spiel nicht verderben und sich nützlich erhalten, andererseits aber auch den Sündenlohn für doppelten Verrath sich nicht entgehen lassen. So wurden Ledru Rollin und dessen Anhang lange Zeit von Allem unterrichtet, was der napoleonische Minister Billault beabsichtigte, und sie konnten ihm manchen Plan durchkreuzen. Da aber die geheimen Spione ihrerseits von andern Spionen überwacht werden, so kam Billault hinter den Verrath, welchen mehrere seiner Agenten ausübten. Er lockte sie unter irgend einem Vorwande nach Paris zurück, und ließ sie mit dem ersten Schiffe nach Cayenne bringen, wo sie bald dem gelben Fieber erliegen werden.

Auch die Angeberei, diese abscheuliche und niederträchtige Erscheinung, welche recht eigentlich die verfaulten Zustände despotisch regierter Staaten kennzeichnet, steht in dem napoleonischen Frankreich in voller Blüthe. Aber diese Blüthe verpestet das Land und vergiftet die Menschen. Es gibt in den französischen Städten und insbesondere zu Paris auch eine große Menge freiwilliger Denuncianten, welche sich gelegentlich ein Stück Geld von der Polizei holen, nachdem sie einen beliebigen Menschen als Feind des Napoleonismus angeklagt haben. Es liegt im Wesen der Sache, daß solche Angeber sich wichtig machen; deshalb übertreiben sie harmlose Aeußerungen, die einer verschiedenen Deutung fähig sind, und sie können ihr schmachvolles Gewerbe um so sicherer fortführen, da der verrathene Mensch ihnen niemals gegenüber gestellt wird.

Seit Januar 1858, insbesondere aber seit dem Februar des laufenden Jahres, werden täglich „verdächtige“ Leute aus Frankreich über die Grenze geschafft. Früher waren das zumeist Italiener, jetzt sind es vorzugsweise Deutsche. Jeder gebildete Mann aus unserm Vaterlande, der nach Paris kommt, erhält seinen unsichtbaren Begleiter, der ihn überwacht und bei der geheimen Polizei über ihn berichten muß; den Belgiern geht es nicht besser. Einige napoleonische Polizeigeschichten werden das System erläutern, welches der Retter der Gesellschaft und Heiland der Franzosen nöthig erachtete, um sein Regiment aufrecht zu erhalten.

In der Mitte des Aprilmonats reisete ein auch in der gelehrten Welt bekannter höherer Beamter aus einem Staate Mitteldeutschlands über Köln nach Paris, wo er zwei Tage nach seiner Ankunft bei Anlaß eines Artikels der Kölnischen Zeitung einige harmlose Worte fallen ließ. Am andern Tage wurde er über die Grenze gewiesen! Der Briefwechsel der Deutschen wird von der Polizei streng überwacht, und das schwarze Cabinet hat stets vollauf zu thun.

Der Graf de Nieuwport aus Belgien kam nach Paris, um dort einige Monate zu verweilen. Nachdem er eben im Gasthofe sich eingerichtet, erschien ein „Monsieur“, welcher den Fremden auf den andern Morgen um zehn Uhr nach der Polizeipräfectur bestellte. Auf die Frage, weshalb er persönlich erscheinen solle, entgegnete der Polizeimann:

„Ich weiß es nicht; ich vollziehe nur den Befehl, welchen ich erhalten habe.“

Der Graf sann über die Sache hin und her, und begab sich dann zum Marschall Magnan, den er von Brüssel her kannte, erzählte ihm den Vorfall und erhielt zum Bescheid, daß wohl irgend etwas gegen ihn vorliege; indessen wolle er sich erkundigen. Das geschah, und als der Graf sich wieder beim Marschall einfand, entspann sich folgendes Gespräch:

„Mein liebster Graf, was machen Sie aber auch für Dinge! Und nun wundern Sie sich, daß Sie unter Aufsicht gestellt werden!“

„Was für Dinge? Ich mische mich nicht in französische Politik, und verzehre meine Renten als Lebemann.“

„Ganz wohl, ich habe nichts dagegen. Uebrigens wohnen Sie in Ostende?“

„Freilich, während der Badezeit.“

„Sie sind dort auf den National abonnirt, auf ein radicales Blatt?“

„Allerdings, aber auch auf die Independance, die eine conservative Zeitung ist.“

„Conservativ ist sie in Frankreich, aber nicht in Belgien; denn die Redaction veranstaltet zwei verschiedene Ausgaben, und von Ihnen wird „die andere“ gehalten.“

„Das weiß ich nicht, lieber Marschall.“

„Aber, mein bester Graf, Sie verkehren in Ostende mit Flüchtlingen?“

„Dann und wann spreche ich einen Flüchtling im Cercle, wo ich Zeitungen zu lesen pflege.“

„Sie unterhalten sich mit ihnen über Politik?“

„Manchmal, allerdings.“

„Sie haben einem Flüchtling Geld geborgt?“

„Das war nie der Fall.“

„Bitte um Entschuldigung, lieber Graf, wenn ich Einsprache thue. Sie spielten eines Abends mit dem berüchtigten Flüchtling N. N. Ecarté, und borgten ihm zweihundert Francs.“

„Das ist richtig, ich erinnere mich jetzt, ihm das Geld vorgestreckt zu haben; er zahlte die kleine Summe am andern Tage zurück.“

„Nun, das reicht hin, um unter polizeiliche Ueberwachung gestellt zu werden.“

„Sie machen Scherz, Herr Marschall.“

„Ich mache keinen Scherz, Herr Graf, und gebe Ihnen den guten Rath: Gehen Sie um zehn Uhr auf die Polizei.“

„Um zehn Uhr? Jetzt haben wir ein Viertel nach neun. Unten steht ein Wagen, ich habe noch Zeit genug, in meinen Gasthof und dann sofort nach der Eisenbahn zu fahren. Um elf Uhr geht der Zug nach Belgien ab; ich habe genug an diesem Vorgeschmack des vergnügten Lebens in Paris und lobe mir mein Brüssel.“

Auch der folgende Vorfall ist sehr bezeichnend. Ein sehr gesuchter Pariser Arzt, Dr. Odet, der kein Freund des napoleonischen Despotismus war, sich aber wenig um Politik kümmerte, weil die Praxis ihn von früh bis spät völlig in Anspruch nahm, wurde eines Morgens vom Polizeicommissarius seines Viertels besucht, dessen Tochter er einige Monate vorher vom Tode gerettet hatte. Der Mann war etwas befangen, als er dem Doctor anzeigte, daß er Befehl habe, ihn zu verhaften. Dann traten noch zwei Agenten in’s Zimmer und nahmen Papiere, Bücher, Schlüssel und dergleichen mehr in Beschlag. Er sollte sofort in’s Gefängniß von Mazas abgeführt werden.

Der Arzt machte Vorstellungen: es sei doch ganz unverantwortlich, daß man ihn ohne alle Veranlassung mit Polizei an hellem Tage über die Straße führen wolle; davon möge man Abstand nehmen, weil er sich ohne Weiteres im Zellengefängnisse stellen wolle. Am Ende willigte der Commissarius ein, und der Doctor [315] ging, während einige Polizeileute voraus, andere hinter ihm schritten, doch so, daß dadurch auf der Straße kein Aufsehen erregt wurde. In Mazas wurde er in die „zweite Logenreihe“ geführt und erhielt Zelle Numero Sechzig angewiesen. Nach einigen Tagen fand ein Verhör statt, und nun erfuhr der Arzt sein schweres „Verbrechen“. Die Polizei hatte bei einem Apotheker, der gleichfalls verhaftet worden war, einen Subscriptionsbogen gefunden, welcher zu milden Zwecken aufforderte. Es handelte sich nämlich darum, die blutarme und darbende Wittwe des phantastischen Cabet, des Gründers von Icarien, mit dem Nothwendigsten zu unterstützen. Cabet war ein communistischer Schwärmer, der seine Weltbeglückungsversuche, die freilich alle scheitern mußten, weil sie gegen das Wesen der menschlichen Natur verstießen, in Nordamerika probirt und seine Habe verzettelt hatte. Aber im napoleonischen Frankreich ist es ein Verbrechen, eine hungernde Wittwe zu sättigen, wenn ihr Mann für mißliebig galt.

Odet hat längere Zeit in Mazas gesessen; er ist später freigelassen worden; man sagt, daß es seinen Freunden gelungen sei, einige Bureauchefs zu bestechen. Bekanntlich ist in dem Beamtenwesen Frankreichs unter Ludwig Napoleon eine fürchterliche Verderbniß eingerissen und die Bestechung an der Tagesordnung.

Noch pikanter ist die Geschichte des Herrn Flemming, die in englischen Blättern von diesem selbst sehr ausführlich erzählt wurde. Dieser Mann stammt von deutschen Eltern in England, wo er sich zu der Partei der Radicalen hält. Er war kaum ein paar Tage wegen einiger „Geschäftssachen“ in Paris, als ein „Monsieur“ mit dem Auftrage erschien, ihn nach der Polizeipräfectur zu begleiten. Sofort begab er sich dorthin und hatte mit einem Bureauchef folgende Unterhaltung.

„Sie sind nach Paris gekommen, um hier Gelder einzucassiren?“

„Ganz recht. Alte Schulden, die mein Freund Ludwig Napoleon für sich und seine Freunde in London zurückgelassen hat.“

„Das ist eine Verleumdung.“

„Nein, das ist keine Verleumdung. Die Papiere sind beim Notar Cordier, Rue de la Paix, hinterlegt. Herr von Persigny weigerte sich, die Schuld anzuerkennen.“

„Weshalb sind Sie mit Ihren Ansprüchen nicht früher hervorgetreten?“

„Weil ich die schriftlichen Beweise nicht in Händen hatte. Diese sind aber in dem Nachlasse des Capitain Franconville gefunden worden, desselben, der den Louis Napoleon auf seinem Schiffe nach Boulogne führte. Franconville hat sein Geld erhalten, aber diese meine Forderungen sind von meinem Freunde Louis – –“

Kaiser Napoleon dem Dritten – –“

„Meinetwegen denn, vom Kaiser Napoleon dem Dritten deshalb nicht berücksichtigt worden, weil ich ihm nach dem 2. December 1851 die Freundschaft aufkündigte.“

„Weshalb machen Sie Ihre Forderung nicht vor einem englischen Gericht anhängig?“

„Das will ich Ihnen sagen. Ueber Schuldverschreibungen, welche französische Börsenspeculanten betreffen, können nur französische Gerichte entscheiden und zwar mit Zuziehung französischer Zeugen. Die Wechsel Ihres Kaisers Napoleon des Dritten sind ihrer Zeit mit 65 Procent Verlust angebracht worden, und die Deckung – –“

„Genug. Ich werde Sie von zwei Agenten nach Ihrem Hotel begleiten lassen, dort haben Sie Ihre Koffer zu packen und sofort abzureisen. Hier ist Ihr Zwangspaß.“

„Ich protestire gegen diese Willkür; der englische Gesandte –“

„Dafür ist gesorgt. Ihre Geldangelegenheit wird, auf Grundlage Ihrer Papiere, mit Ihrem Notar abgemacht werden. Wenn Sie Scandal verhüten, dann wird sich die Sache schon ausgleichen.“

Der Bureauchef klingelte, und Herr Flemming mußte aus dem napoleonisch beglückten Frankreich sofort abreisen.

Und nun zum Schlusse noch eine erbauliche Geschichte, über welche gleichfalls in England ein Document veröffentlicht worden ist, denn bei dem napoleonischen Preßzwange in Frankreich kann nichts gegen den Retter der Gesellschaft gedruckt werden.

Ein Herr Gartineau war Herausgeber der Zeitung „Le Guetteur“ in der nordfranzösischen Stadt St. Quentin. Diese wollte er dem Präfecten Napoleons nicht verkaufen, sondern gedachte eine gewisse Unabhängigkeit zu behaupten. Seitdem gehörte er zu den Verdächtigen und den „Internirten von 1851“. Er wurde bei Nacht und Nebel aufgehoben und nach Mazas geschafft. Dort eröffnete man ihm 1858, daß er nach Lambessa transportirt werden solle, weil er schon vor sieben Jahren als verdächtig internirt worden sei.

Gartineau wollte von seiner Frau Abschied nehmen und schrieb einen ergreifenden Brief, dessen Schluß lautet: „Bringe das Kind nicht mit; unter den obwaltenden Umständen könnte ich seinen Anblick nicht ertragen.“ Aber er sah weder Kind noch Frau. Durch ein „Versehen“ gelangte der Brief in die Hände der Frau. Sie kam nach Paris und flehte um die Erlaubniß, von ihrem Manne Abschied nehmen zu dürfen. Aber vergeblich; die napoleonische Polizei kennt kein Erbarmen. Sie hielt sich Tag und Nacht in der Nähe des Gefängnisses auf; sie weinte bitterlich und bat, ihren Mann nach Afrika begleiten zu dürfen. Auch ein solcher Trost wurde weder ihr, noch ihm; Gartineau wurde nach Lambessa geschafft, wo er sich noch befindet.[4]

Der Gewaltherrscher, welcher eines solchen Systemes bedarf, hat die Dreistigkeit, sich für einen Vorkämpfer der „Civilisation“ auszugeben und, während Frankreich in entwürdigender Knechtschaft sich befindet und von einem solchen Manne zur Ruhestörung Europa’s sich mißbrauchen läßt, anderen Völkern die „Befreiung“ bringen zu wollen! Kann es einen alberneren Widersinn geben, und hat die Welt eine größere Tollheit gesehen, als jene der thörichten Italiener, die sich an einen solchen Mann hängen, der sie doch nur zur Erreichung seiner selbstsüchtigen und tyrannischen Zwecke ausbeutet?




Alexander von Humboldt’s Tod und Leichenbegängniß.

Der Fürst der Wissenschaft, der erhabene Herrscher von Gottes Gnaden im Reiche der Geister ist nicht mehr.

Alexander von Humboldt starb am 6. Mai 1859.

Neunzig Jahre waren ihm geschenkt, ein seltenes Alter von ungeschwächter Kraft. Die Natur, welche sich in ihm erschaute und durch ihn erfaßte, schien zu zögern, ihr eigenes Meisterwerk und Organ zu zerstören.

Ihm wurde ein ungewöhnliches Glück zu Theil, neidlose Anerkennung seiner Zeitgenossen, Unsterblichkeit, während er noch lebte.

An seiner Leiche trauert die ganze Welt, nicht Länder, sondern [316] Erdtheile. Das Vaterland hilft seiner Familie, fremde Nationen seinem Volke um ihn trauern.

War er auch kein Initiator in der Wissenschaft, wie Newton, kein Entdecker, wie Lavoisier, kein Begründer neuer Systeme, wie Linné und Cuvier, so war er dafür der geistige Brennpunkt, der all’ die vereinzelten Strahlen sammelte, ein Meer der Erkenntniß, in das alle Ströme und Quellen mündeten. Was er von ihnen empfing, gab er ihnen tausendfältig wieder.

In Ihm feierte die deutsche Universalität ihren höchsten Triumph.

Wie Goethe eine Weltliteratur, so schuf Humboldt eine Weltwissenschaft.

Er schlang ein geistiges Band um die fernsten Regionen, einen Freundschaftsbund um die edelsten Geister aller Völker, der vom Osten zum Westen, vom Nordpol bis zum Südpol reichte. Er bildete jene Kette von Forschern und Beobachtern, die durch ihn zu einem gemeinschaftlichen Wirken erst verbunden wurden. Der Mathematiker in seiner einfachen Studirstube, der Astronom auf seiner nächtlichen Sternwarte, der kühne Reisende, welcher die Wüste durchirrte oder mit Lebensgefahr die nie erstiegenen Gipfel der Bergesriesen maß, der Seefahrer auf dem unergründlichen Ocean blickten auf ihn als den Leitstern und die Magnetnadel, welche ihnen den Weg vorzeichnete. Von ihm erhielten sie Inspiration, Lehren, Richtung und in den meisten Fällen geistige und selbst materielle Unterstützung. Sein Auge verfolgte sie auf ihren Bahnen, sein Rath ebnete ihren Pfad, sein Name reichte hin, um sie zu schützen und ihnen das mühevolle Werk zu erleichtern.

Was sie erforscht, erhielt durch ihn erst seine Deutung; was sie gefunden, durch ihn erst seinen Werth und seine Stellung in der Wissenschaft.

Stets behielt er das Ganze im Auge; er blieb der Mittelpunkt jenes großen wissenschaftlichen Kreises, von dem aus diese Radien nach der äußersten Peripherie liefen und wiederkehrten. Durch diese Stellung gelang es ihm, das Zerstreute zu sammeln, das Zerstückelte zu einen, das Chaos zu ordnen, die ohne Plan umhergeworfenen Bausteine zu jenem unsterblichen Tempel zusammenzufügen, den er selbst Kosmos, d. h. Schmuck, nannte.

So wurde der Gelehrte zum Dichter, der ja die in tausend Stücke gebrochene Welt zur Einheit der Idee erheben soll, zum Künstler, der den rohen Stoff durch die schöne Form und die meisterhafte Vollendung der Sprache beherrschte und verklärte.

Aus diesem innigen Verständniß der Natur und aus einer tiefen Weltauffassung entsprang Humboldt’s Liebe zur Menschheit, die im engeren wie im weiteren Kreise herrlich strahlte. Seine Humanität bekundete sich in der regen Theilnahme für den Einzelnen, wie für das ganze Volk.

Im Gegensätze zu den meisten deutschen Gelehrten, welche entweder aus geistigem Dünkel oder aus Bequemlichkeit sich in ihrer Studirstube isoliren, lebte Humboldt seinen Freunden, der Gesellschaft und dem Staate, dessen Entwickelung er mit warmem Herzen verfolgte.

Er war der treueste und gefälligste Freund, aber auch bis zur Selbstverleugnung human gegen jeden Fernerstehenden, bei dem er ein redliches Wissen oder Streben voraussetzen durfte. Die Zahl der jungen Männer, welche ihm Förderung und Unterstützung auf ihrer Laufbahn zu verdanken haben, ist Legion. Niemand ging ungetröstet oder ohne Hülfe von seiner gastlichen Schwelle. Seine Stellung und seinen Einfluß, der sich bis in die höchsten Regionen und zu den fernsten Ländern erstreckte, benutzte er nur, um wohlzuthun.

Sein gesellschaftliches Talent war ohne Gleichen, da er die Gabe der Unterhaltung, verbunden mit dem reichsten Wissen, in einem bewunderungswürdigen Grade besaß. Ihm allein war es verliehen, im fürstlichen Salon, wie im einsamen Zwiegespräch zu bezaubern, gelehrt, und doch nicht pedantisch zu sprechen, klar und liebenswürdig, und doch nicht seicht und oberflächlich zu sein.

Diesem einzigen Talent hatte Humboldt zum Theil seine außerordentliche Stellung zu dem preußischen Königshause zu verdanken.

Er war der Freund und Gesellschafter seines Monarchen, ohne darum minder der Freund seines Volkes zu sein.

Mit der aufrichtigsten Liebe zu dem Könige, mit der treuesten Loyalität verband er das lebendigste Gefühl für Freiheit.

Am Hofe lebend wurde er darum nicht zum Höfling, indem er stets den „Muth der Ueberzeugung“ sich bewahrte. Zu einer Zeit, wo die Rückschrittspartei das Ruder des Staates in ihren Händen hielt, sprach er kühn für die Freiheit der Lehre und Wissenschaft. Er war, wie ein berühmter Universitätslehrer ihn bezeichnete, ein Bollwerk, an dem sich die Wogen der Reaction brachen; seine bloße Existenz eine Bürgschaft für den Fortschritt auf geistigem Gebiete. So lange diese Sonne an dem Himmel der Wissenschaft in Preußen leuchtete, konnte es nicht völlig Nacht werden.

So lebte, wirkte und arbeitete Humboldt für die Welt, wie für sein Vaterland.

Geistig noch frisch, fühlte er jedoch in dem letzten Jahre eine bedeutende Abnahme seiner körperlichen Kraft. Der Unermüdliche und Rüstige klagte jetzt öfters über Schwäche, mit einer Ahnung, die bei ihm fast an Gewißheit grenzte, sprach er von der Nähe seines Todes und daß er das Jahr 1860 nicht mehr erleben würde. Schon seit dem October des vergangenen Jahres litt Humboldt an einem bedenklichen Lungenkatarrh, der ihn jedoch nicht hinderte, mit rastloser Thätigkeit seine gewohnten Arbeiten zu vollenden. Erst am 21. April dieses Jahres steigerte sich das Uebel zu einer solchen Höhe, daß er sich gezwungen sah, das Bett zu hüten. Die herbeigerufenen Aerzte hielten zwar die Krankheit an sich nicht für gefährlich, wohl aber den immer mehr zunehmenden Schwächezustand. Die Gefahr, in welcher der hochgeehrte Greis schwebte, erregte sogleich die allgemeinste Theilnahme. Wie bei dem Erkranken eines mächtigen Herrschers wurden von dem Augenblicke an, wo sich das Leiden verschlimmerte, Bulletins über sein Befinden durch die öffentlichen Blätter und Zeitungen täglich ausgegeben. Aber weder die sorgfältigste Pflege, noch die Kunst der vorzüglichsten Aerzte vermochte den befürchteten Ausgang abzuwenden. Bis zum letzten Augenblicke bei voller Besinnung, hatte die Schwäche dermaßen zugenommen, daß er am Morgen seines Sterbetages die Sprache verlor. An dem Nachmittage des 6. Mai um 2 Uhr 32 Minuten hatte Humboldt zu leben aufgehört. Er starb in der Armen seiner nächsten Anverwandten, umgeben von seiner Dienerschaft. Der selbst schwer erkrankte Kammerdiener Seiffert konnte nicht zugegen sein, um seinem Herrn im letzten Augenblicke beizustehen.

Sogleich wurde die Nachricht von Humboldt’s Tode dem Prinz-Regenten auf seinen ausdrücklichen Befehl überbracht. Schon während der Krankheit hatte es der hohe Fürst an den rührendsten Beweisen seiner Theilnahme nicht fehlen lassen, indem er dem verehrten Patienten noch wenige Tage vor seinem Ende einen längeren Besuch abstattete und die liebenswürdigsten Worte voll Trost und Hoffnung an ihn richtete. Auf die erhaltene Trauerkunde eilte jetzt der Regent nach dem Sterbezimmer, jenem einfachen Schlafgemache, worin der größte Gelehrte seiner Zeit so eben seinen unsterblichen Geist ausgehaucht hatte. Vor dem schlichten Bettgestell aus Fichtenholz neigte der Fürst demüthig sein Haupt, tief ergriffen von dem gewaltigen Eindrucke.

Die irdische Majestät beugte sich vor der Majestät des Todes; das Herrscherthum brachte seinen Zoll dem Könige der Geister dar, auf dessen bleiche Stirn die unsichtbare Krone der Unsterblichkeit, die Glorie der Wissenschaft bereits sich strahlend herniedergelassen hatte.

Es war dies ein historischer Moment, die geschichtliche Anerkennung, daß Preußen jetzt wie immer im Schutze und in der Achtung der Wissenschaft seinen Beruf und seine Größe findet.

Am nächsten Tage wurde die Leiche in den einfachen Sarg gelegt und in dem bekannten Bibliothekzimmer Humboldt’s, umgeben von Palmen und tropischen Gewächsen, unter denen der Lebende einst so gern gewandelt, öffentlich ausgestellt. Der Andrang des Publicums aus allen Ständen war ein großer; Jeder beeilte sich, noch einmal die verehrten Züge zu sehen und der Erinnerung einzuprägen.

Es war ein ergreifender Anblick.

Mit ehrfurchtsvollem Schauer betrat die Menge jene geheiligten Räume, welche der größte Genius der Gegenwart so lange Zeit bewohnt. Zwei Diener hielten die Todtenwacht und erzählten unter Thränen, wie geduldig der Verblichene seine Leiden bis zum letzten Augenblicke ertragen. Sein Tod war so sanft, wie das Einschlafen eines Kindes, ohne jeden schmerzlichen Kampf.

Ein unaussprechlicher Friede ruhte auf den ausdrucksvollen Zügen, welche die Hand der Verwesung zwar schon berührt hatte, aber noch nicht auszulöschen im Stande gewesen war.

Auf Befehl des Prinz-Regenten hatte der Oberhofmarschall Baron von Stillfried das Programm der Leichenfeier, wie dies sonst nur beim Ableben eines gekrönten Hauptes gebräuchlich ist,

[317]

Der Prinz-Regent von Preußen am Sterbelager
Alexander von Humboldt’s.

[318] entworfen und durch die Zeitungen veröffentlicht. Darnach sollte die Leiche zunächst nach dem Dome gebracht, daselbst eingesegnet und dann nach dem Erbbegräbnisse der Familie Humboldt in dem ihr zugehörigen Gute Tegel geführt werden.

Schon am frühen Morgen des festgesetzten Tages, Dienstag, den 10. Mai, verkündigte das Strömen der Bevölkerung ein ungewöhnliches Schauspiel. Vor dem Trauerhause in der Oranienburgerstraße, längs der großen Friedrichsstraße und den Linden bis zum Dome bildete die Menge ein dichtes Spalier, welches in schweigender Ehrfurcht den Leichenzug des großen Todten Stunden lang erwartete. Man sah es den meisten Gesichtern an, daß nicht Neugierde, sondern wahre Theilnahme Alle beseelte. Trotz des großen Gedränges fand nicht die geringste Störung statt; die Zuschauer beobachteten die würdigste Haltung. Die meisten Läden waren geschlossen, und aus vielen Häusern wehten große schwarze Trauerfahnen.

Um halb neun Uhr ertönten die Glocken der Kirchen, und der Zug setzte sich in Bewegung. Derselbe wurde von der Dienerschaft des Verewigten und der ganzen Humboldt’schen Familie eröffnet; hierauf folgte die Deputation der Studirenden mit ihren Marschällen, welche weiße Stäbe mit Trauerflören trugen. Ihnen schlossen sich die Lehrer sämmtlicher Schulen und wissenschaftlicher Anstalten an. Eine gedämpfte Trauermusik stimmte den Choral: „Jesus meine Zuversicht“ an. Dem Sarge voran ging die Geistlichkeit, vertreten durch die freisinnigen Prediger Sydow und Jonas, an ihrer Spitze der Generalsuperintendent Dr. Hoffmann.

Jetzt kam der Leichenwagen, gezogen von den Pferden des königlichen Marstalls, zu beiden Seiten desselben gingen die Hoflakaien in ihrer prachtvollen Staatsuniform und sechzehn Palmenträger, die Palme des Friedens in ihren Händen schwingend.

Beim Anblicke des Sarges grüßte das ganze Volk mit entblößtem Haupte die sterblichen Ueberreste des Unsterblichen. Auch die Augen der Männer wurden feucht; denn Jeder fühlte tief den unersetzlichen Verlust für die Wissenschaft, den zunächst seine Vaterstadt und mit ihr die ganze Welt erlitten.

Dem Leichenwagen zunächst wurden die Insignien des schwarzen Adlerordens und anderer Auszeichnungen, die dem Verewigten zu Theil geworden, von den Grafen Fürstenberg-Steinheim, Dönhoff und Baron von Zedlitz auf rothsammtenen Kissen nachgetragen. Hierauf folgten die leidtragenden Familienglieder, an ihrer Spitze der General von Hedemann, der Neffe des Verstorbenen.

In unabsehbarem Zuge schloß sich jetzt das Staatsministerium, die Generalität und die höchsten Chargen des Hofes an, darunter die Generäle von Wrangel und Graf von der Gröben. Durch zahlreiche Deputationen waren die beiden Häuser des Landtages vertreten, denen sich aus eigenem Antriebe eine Menge von Abgeordneten zugesellt hatten. In ihrer mittelalterlichen Tracht schritten die Professoren der Universität, geführt von dem Rector Dove und den vier Decanen. Eben so zahlreich hatte sich die Akademie der Wissenschaften und Künste eingefunden, Männer von einem Weltruhm, welche jetzt dem Ersten unter Seinesgleichen in tiefer Trauer folgten.

Der Magistrat der Stadt, deren Ehrenbürger Humboldt war, betheiligte sich ebenfalls durch eine Deputation, unter der sich der Stadtverordnete Fürst Radziwill befand. Die Aeltesten der hiesigen Kaufmannschaft, die Gerichtsbehörden, mehrere Vereine und Körperschaften, unzählige Privatpersonen, welche Freundschaft, Verehrung und innere Theilnahme herbeigeführt, kurz die gesammte Intelligenz und Bildung nicht allein von Berlin, sondern der preußischen Monarchie trauerte um Humboldt. So bewegte sich der unübersehbare Zug langsam und feierlich, mitten durch die ehrfurchtsvolle Menge, nach dem Dom, wo ihn an der eigens dazu errichteten Estrade der Regent und die sämmtlichen Prinzen und Prinzessinnen des königlichen Hauses erwarteten. Sobald der Sarg sichtbar wurde, begrüßte der Fürst und die fürstlichen Personen mit entblößtem Haupte die Leiche. Zugleich stimmten die hier vereinigten Gesangvereine der Residenz den ersten Vers des Liedes an: „Im Arm der Liebe ruht sich’s wohl, wohl auch im Schooß der Erde.“ Mächtig und ergreifend klang die schöne Melodie, von hundert Sängern gesungen, während Fürst und Volk in stummer Andacht tief ergriffen lauschten.

Sobald die herrlichen Töne verklungen, wurde der Sarg in die Kirche getragen. Hier vor dem Altar, um den ein grüner Hain von Blatt- und Nadelpflanzen, Palmen und exotischen Gewächsen plötzlich entstanden war, ruhte der Sarkophag auf einer Erhöhung, vor der der Regent und die Prinzen Platz nahmen, während zu beiden Seiten sich die höchsten Hofchargen aufstellten, die Leidtragenden aber zunächst dem Fürsten blieben.

Jetzt begann die Trauer-Liturgie, die der General-Superintendent Dr. Hoffmann mit den Worten intonirte: „Selig sind die Todten, die im Herrn sterben.“ Die sich anschließende Rede desselben Geistlichen gab nur allgemeine Umrisse von dem Leben und Wirken des großen Verstorbenen. Der Redner verweilte besonders bei seinen menschlich edlen Eigenschaften, seinem Wohlthätigkeitssinn, von dem er rühmte: „Im Verborgenen folgen ihm viele Thränen nach. Mit den Thaten der Liebe ging der Verewigte meist stille Wege und liebte es nicht, daß man davon die hüllende Decke wegzog. Ich bin ihm begegnet auf diesen stillen Wegen und kenne sie. Noch besser aber kennt sie Der, welcher auch den Trunk Wasser nicht vergißt. Das aber wissen Viele, wie er aufstrebenden Kräften in der Wissenschaft die Bahnen zu ebnen bemüht war, und mit unermüdlicher Güte Einfluß und äußere Mittel dafür verwandte, wie er neidlos, was Andere forschten, nicht nur anerkannte, sondern zur Geltung brachte.“

Ein solches Zeugniß aus dem Munde des Priesters dürfte vor Gott mehr gelten und lauter sprechen, als jene gläubige Frömmigkeit, welche der Redner, wenn auch nur leise andeutend und mit christlicher Liebe entschuldigend, an Humboldt zu vermissen glaubte.

Nach der Beendigung des Trauergottesdienstes blieb der Sarg bis zu seiner Beerdigung in Tegel hier im Dome aufgestellt. Am nächsten Tage erfolgte daselbst die Bestattung in Gegenwart der Familie und vieler nähern Freunde.

Durch den herrlichen Park, der jetzt im schönsten Frühlingsschmucke prangt, wurde die Leiche von Männern der Gemeinde Tegel zu dem Erbbegräbniß getragen, und unter frommen Gebeten und Thränen eingesenkt.

Dort ruht der große Todte an der Seite seines berühmten Bruders Wilhelm von Humboldt in der Gruft, über der sich das Bild der Hoffnung von Thorwaldsen’s Meisterhand erhebt.

Sein Andenken ist unvergänglich und sein Name wird leben, so lange Wissenschaft und Bildung auf Erden lebt. –

Max Ring.




Der Geister-König
im sechsten Jahrzehend des neunzehnten Jahrhunderts.[5]

Mitten unter den Blüthen und Früchten des Materialismus und Realismus unserer Tage werden wir nicht selten von den üppigsten Auswüchsen idealer, phantastischer Gebilde und Einbildungen überrascht. Das Klopfgeisterthum tanzte mit Tischen und Köpfen durch die gebildete Welt und erfreut sich noch heute eines blühenden Cultus, nur daß die Geister in ihren Offenbarungen seitdem ungeheuere Fortschritte gemacht haben.

„Die ich rief, die Geister,
Werd’ ich nun nicht los.“

wie der Goethe’sche Zauberer-Lehrling jammert. In Amerika gibt’s Tausende von Geistergläubigen (media) und unmittelbaren Geistersehern und mehrere Dutzend Zeitschriften als Organe dieser neuen „Religion“. Auch England ist nicht arm an Schülern und Jüngern, sogar unter praktischen Aerzten. In Paris gibt’s eine ganze noble Gesellschaft mit dem Baron Guildenstubbé an der Spitze, welche sich directe Briefe von Verstorbenen aller Zeiten und Zonen schreiben lassen. Der Engländer Blake, jetzt auch in Paris, portraitirt Todte, die er sich expreß citirt, damit sie ihm sitzen.

[319] Einer der berühmtesten Geisterbesessenen, der in Amerika, England, Frankreich und sogar im wissenschaftlichen Deutschland Könige und Fürsten in Erstaunen setzte, hat eben seine fabelhaft-romantische Carrière durch eine enorm reiche Heirath geschlossen, wenigstens soll er erklärt haben, daß er nun das Geistergeschäft aufgeben und mit seiner schönen, enorm reichen Russin in irdischem Frieden leben wolle. Der in Europa und beinahe in allen fünf Welttheilen berühmte Mann der Geister ist ein sehr dummer, blasser, blonder Schotte, dem man mit prosaischen Augen niemals etwas Anderes von Eigenthümlichkeit ansah, als sehr ausgebildetes Siechthum. Es ist Mr. Daniel Hume, geboren im März 1833 in der Nähe Edinburgs, also im nordischen, nüchternen, schlauen Schottland. Er wanderte 1842 mit seinen Eltern nach Amerika aus, wo er im neunten Jahre schon als Lehrling im Städtchen Norwich (Connecticut) untergebracht ward. Als Lehrjunge zu schwächlich wurde er das Wunder des Kaisers Napoleon, der willkommene Gast europäischer Höfe und der noch unenträthselte Cagliostro dieses glorreichen Jahrzehends, das nichts von Geistern wissen, sondern Alles als Sauerstoff, Stickstoff, Kohlenstoff, Käsestoff und dergleichen begreifen will.

Im siebzehnten Jahre greisenschwach, halb verhungert und verwaist, wußte er nicht, wie er’s anfangen sollte, um zu leben. Da hörte er von der Aufregung in den oberen und Mittelklassen Amerika’s, die von einer neuen Offenbarung aus der Geister- und übernatürlichen Welt quoll. Am Tollsten war’s 1850 in Springfield (Massachusetts). Auch hatten viele der Neugläubigen Geld. Hume schleppte sich zu ihnen und bat um Anstellung als Geisterbeschwörer, was man „Medium“ nannte, da er die Gabe besitze, verborgene übernatürliche Kräfte und Geister zu zwingen, daß sie sich irdisch kundgeben und auf Fragen antworten, so gut sie’s eben ohne Mund und Sprachwerkzeuge vermögen. Hume erklärte zugleich, daß er stets von Geistern umgeben sei und zwar schon seit seiner Kindheit. Sie hätten ihm Spielzeug, das fortgekollert war und das er in seiner Schwäche nicht selbst holen konnte, immer bereitwillig wieder herbeigeschafft.

Das Wunderkind, von Geistern umgeben, ward mit Enthusiasmus unter die neuen Gläubigen und von einem Mitgliede, Elmer, in Kost und Wohnung genommen. Hier blieb er ein Jahr und that nichts, als Wunder. Der „Springfield Republican“ sagte:

„In dem Hause des Herrn Elmer setzten sich oft solide, schwere Männer auf große Tische, mit welchen sie durch die spirituelle Gewalt des jungen Hume in die Luft gehoben und im luftigen Ritt umhergetragen wurden. Unter den Gläubigen war auch Andreau, der Schriftsetzer, der mit eigenen Händen eine Geschichte der Wunderthaten des kränklichen Hume setzte, druckte und verkaufte. Darin heißt es unter Anderem, daß er, der Setzer, in der Gegenwart Hume’s öfters von unsichtbaren Händen berührt worden sei, Glocken und Klingeln laut und Meubles unruhig geworden, wie bei einem Erdbeben.“

Doch besser noch kam’s in New-York, wo Hume Medicin studiren und Homöopath werden wollte. Doch die Geister vergönnten ihm wenig Muße dazu. Ein Herr F. J. Worth machte erst unlängst in einer New-Yorker Zeitung etwas von seinen Erlebnissen mit Hume bekannt.

„Im November 1854,“ erzählt er, „bat ich Hume, mir zu erlauben, daß ich eine oder zwei Stunden neben ihm im Bette liegen möge, um zu sehen, ob die Wunderdinge, die dann um ihn her vorgingen, sich bestätigen würden. Er hatte nichts dagegen. Blos Stiefeln und Rock ausziehend legte ich mich also neben ihm unter die Decke, nachdem ich Thüre und Fenster fest verschlossen und mich überzeugt hatte, daß nichts Lebendes außer uns im Zimmer sei. Kaum war das Licht ausgelöscht, so hörte ich Gepoche um mich herum, auf dem Boden, an den Wänden, am Bettbrete, auf dem Pfühl – kurz, überall. Die Schläge stiegen vom leichtesten Getappe bis zu starken, wiederhallenden Stößen an die Wände und auf den Boden. Ich that manche Fragen und erhielt verständliche Antworten vermöge dieser Schläge. Auch sah ich im Zimmer umher nebelichte und dunkele, unregelmäßige Schatten schweben und wandernde, wallende Lichter. Bald fühlte ich zarte, weiche Berührungen auf dem Kopfe, wie von Menschenhand. Eine sehr kalte, feuchte Berührung kam von der Hand der verstorbenen Mutter Hume’s, wie ich durch Klopf-Antworten auf meine Frage erfuhr. Eine andere unsichtbare Hand strich meinen Bart und zog daran, dann schloß sie meine Augen und klopfte die Antworten meiner Fragen auf die Lider. Ein anderer Geist ging auf dem Deckbette auf und ab, und die Füße drückten sich dabei ein, wie die eines Kindes. Hernach legte er sich mit dem vollen Gewichte eines Kindes darauf. Endlich wünschte er mir durch sanftes Getappe gute Nacht. Das Ganze dauerte etwa eine halbe Stunde, während welcher Zeit Hume ganz zugedeckt und still lag, ohne irgend eine andere Bewegung, als die des Athmens.“

So viel Werth’s von Mr. Worth. Aber weiter und noch besser. Gegen zunehmendes Siechthum erhielt Mr. Hume als Mittel – England. So kam er im April 1855 nach London und wohnte in Cox’ Hotel, Jermynstreet, umsonst, wie ihm die Gläubigen in Amerika die Reisemittel gaben. Er erhielt viele Besuche, und nach den damaligen Zeitungsartikeln zu schließen, war Jeder mit den dort erlebten Wundern zufrieden. Mr. J. S. Rymer, Advocat in Ealing bei London, schenkte ihm besonderes Studium und schrieb eine Broschüre darüber. Darin erzählt er uns, daß nach manchen Wundern tischrückender und tischfliegender Art, Harmonikaspiel von unsichtbaren Händen u. s. w. eines Abends Folgendes vorkam: „Der Tisch stand noch am Fenster in der Dämmerung. Meine zweite Tochter ward von einer unsichtbaren Hand berührt. Töne wurden vernommen, auch ein Accordion ließ sich von selbst hören. Aus Klopftönen auf den Tisch ward uns buchstabirt: „Some will shew you their hands to-night.“ (Einige werden euch ihre Hände zeigen heute Abend.) Der Tisch fing nun an, sich mehrere Male zu heben. Jetzt wurde eine Hand über dem Tische sichtbar, die von einer der anwesenden Damen eine Brosche wegnahm, und sie mehreren Personen nach einander hinhielt. Nun erschienen mehrere Hände und Arme auf dem Tische, zum Gebete gefaltet oder aufwärts zeigend. Nicht blos Arme und Hände haben wir verschiedene Male gesehen, sondern sie auch gefühlt und sie ganz substantiell gedrückt.“

So steht’s gedruckt in Rymer’s Broschüre. Viele werden dagegen rebelliren, aber nur still, es kommt noch mehr.

Hume begab sich mit Mitteln von Rymer und dessen Sohn im Juli nach Paris, von da mit einigen Amerikanern nach Florenz, wo er während des Winters die englischen Bewohner dieser Stadt mit Maulsperre des Staunens versah. Hier ging eine Revolution in ihm vor sich: die amerikanischen Geistermanifestationen erschienen ihm zu irreligiös und die Doctrinen der katholischen Kirche, welche das Wunder, „des Glaubens liebstes Kind“, unter ihre Dogmen aufgenommen hat, geeigneter und günstiger für seine eigene mysteriöse Begabung. So ging er zur katholischen Kirche über. Aber deren Geistliche verdammten seinen Umgang mit Geistern, die ihn denn auch, nach seiner öffentlichen Erklärung, ganz verließen. Ein polnischer Adeliger nahm sich des von Geistern und Geld Verlassenen an und brachte ihn zurück nach Paris, wo er mehrere Monate krank und geisterlos zubrachte. Plötzlich, im Februar 1857, kehrten die Geister in voller Kraft und Menge zurück, die seinen Namen und seine Person in die höchsten Cirkel einführten, selbst in die des Hofes des „Kaiserthums, das der Friede ist.“ Während des Frühjahrs waren er und seine Geister das herrschende Salongespräch. Vor dem Kaiser, der Kaiserin und wenigen Auserwählten wiederholte er die Wunder, wie wir sie andeuteten. Man wunderte sich beinahe des Todes, nur der Majestät vom 2. December 1852 wird nachgerühmt, daß er sich durchaus nicht im Geringsten gewundert habe. Er glaube nicht an die Geister, soll er gesagt haben, wenn ihn nicht eine unsichtbare Hand auf die Schulter klopfe. Sofort bekam er unsichtbare, aber sehr derbe Püffe, sagt man. Und wenn wir das nicht glauben, unsere Ammen und Großtanten thun’s gewiß. Tische vom schwersten Gewicht flogen in dem hohen Saale des Kaiserpaares in der Luft. Einmal versteckte die Kaiserin nach spanischer Manier ihr Taschentuch unter ein Strumpfband und ließ durch Hume die Geister fragen, wo es sei. Sofort fühlte sie kalte Hände an der Wade, die es herauszogen und in die Luft fliegen ließen. Das geht über Bosco. Drei Herren spielten ihm einmal einen Streich und baten, daß er den Sokrates und Friedrich den Großen erscheinen lassen möge. Beide erschienen, ohne daß Hume wußte, wie’s zuging, obgleich er versprochen hatte, sie zu citiren. Auf sein Geheiß erklärten denn auch die beiden Geister, daß sie wirkliche Menschen in der Verkleidung der beiden Beschworenen seien.

Napoleon, selbst in dem Glauben an einen Dämon, begünstigte ihn sehr und gab ihm Geld, im Sommer 1857 Amerika wieder zu besuchen, um seine Schwester zu holen und sie von der [320] Kaiserin erziehen zu lassen. Nach seiner Rückkehr im September rief ihn der Telegraph nach Fontainebleau, wo ihn Napoleon dem König von Baiern vorstellte. Bald darauf finden wir ihn in Baden-Baden in vertrautem Umgange mit dem Könige von Würtemberg und anderen hohen Personen. Nachher riefen ihn die Geister nach Rom, wo er sofort einem Freunde begegnete, dem die Geister gesagt, daß er käme, und er ihn in eine hohe, adelige russische Familie einführen solle, die des Grafen Kuscheleff. Nach drei Wochen heirathete er dessen Schwester. Die Heiraths-Ceremonie fand am 1. August vorigen Jahres in Petersburg statt. Der Kaiser ließ sich dabei durch zwei Adjutanten vertreten und dem Mr. Hume einen Diamantring verehren. Alexander Dumas, der famose Schriftsteller, war von dem Grafen expreß zur Hochzeit nach Petersburg citirt worden, um bei der Hochzeit als Stallmeister zu fungiren.

Mr. Hume hatte bei der Hochzeit versprochen, daß er blos seiner schönen Frau leben und den Umgang mit Geisten aufgeben wolle. Sonach war, wie in einem Romane, mit der Hochzeit Alles zu Ende. Wir haben aber bereits erfahren, daß der Mann der Geister auf dringenden Wunsch der russischen Kaiserfamilie wieder Tische und Geister beunruhigt habe. Somit wäre seine Laufbahn noch nicht beendet. Jedenfalls hat die Welt noch eine Verpflichtung gegen ihn zu erfüllen und, wenn sie kann, zu ermitteln, ob Hume zu den Cagliostro’s oder Bosco’s zu rechnen sei, oder mit ihm eine neue Species der Wundermänner beginne.




Blätter und Blüthen.

Der kamtschatkische Hund. Das schätzbarste Hausthier auf Kamtschatka ist unstreitig der Hund, der für den dauerhaftesten und geschwindesten in ganz Sibirien gehalten wird. Er hat Aehnlichkeit mit dem Wolfshund unserer Schäfer, und ist mit langem, dichtem, gewöhnlich rothfahlem oder gelblichweißem Haare bedeckt. Die kurzen, aufrechtstehenden Ohren geben ihm ein munteres Aussehen. Er ernährt sich von lauter Fischen; vom Frühling bis in den späten Herbst bekümmert man sich nicht im Geringsten um ihn, sondern er geht überall frei herum und lauert den ganzen Tag an den Flüssen auf Fische, die er sehr behende zu fangen weiß. Wenn er Fische genug hat, so frißt er, wie der Bär, nur allein die Köpfe. Im October sammelt Jeder seine Hunde, bindet sie an den Pfeilern der Balaganen an, und läßt sie weidlich hungern, damit sie sich von dem Fett entledigen, zum Laufen fertiger und nicht engbrüstig werden mögen; und alsdann geht mit dem ersten Schnee ihre Noth an, so daß man sie Tag und Nacht durch ein gräßliches Geheul ihr Elend beklagen hört. Es ist dieses die Straßenmusik Petropawlowsks. Ihre Winterkost besteht aus stinkenden oder verschimmelten, an der Luft getrockneten Fischen. Mit letzteren füttert man sie auf der Reise des Morgens, um ihnen mehr Kraft zu geben; erstere bekommen sie Abends, wie Steller sagt, zur Ergötzung. Unterwegs gibt man ihnen nichts, und wenn sie auch zehn Stunden laufen sollten.

Man kann sich nicht genug über ihre Stärke verwundern. Gewöhnlich spannt man nur fünf Hunde an einen Schlitten; diese ziehen drei erwachsene Menschen mit sechzig Pfund Gepäck behende fort. Leicht beladen, legt ein solches Hundespann in schlimmen Wegen und tiefem Schnee 30 bis 40 Werste des Tages zurück, in guten Wegen 80 bis 140. Das Pferd wird niemals den Hund als Zugthier verdrängen können, wegen des allzutiefen Schnees, über welchen die Hunde hinlaufen, während ein Pferd bis an den Leib einfällt, so wie auch wegen der vielen steilen Gebirge und der zahlreichen Flüsse und Quellen, die entweder gar nicht zufrieren, oder doch wenigstens nicht so hart, daß sie ein Pferd tragen könnten. Wegen der schrecklichen und öfteren Sturmwinde hat man auch niemals oder selten einen gebahnten Weg zu hoffen. Uebrigens ist das Reisen mit Hunden eben so gefahrvoll als beschwerlich. Statt der Peitschen bedient man sich dabei des Oschtols, eines krummen, mit eisernen Ringen versehenen Stockes. Das durch Schütteln hervorgebrachte Geklingel gibt dem Leithund die nöthigen Zeichen. Wenn das Gespann sich zu sehr der Faulheit hingibt, so wirft man den Oschtol darunter, um es aus seiner Trägheit aufzurütteln. Dann muß aber der Reisende geschickt genug sein, den Oschtol im Vorbeirennen wieder aufzugreifen. Außer dem Ziehen sind die Hunde gute Wegweiser, und wissen sich auch in dem größten Sturm, wo man kein Auge aufmachen kann, zurecht zu finden; sind die Schneegestöber so stark, daß man liegen bleiben muß, wie es sehr oft geschieht, so erwärmen und erhalten sie ihren Herrn, liegen neben ihm Stunden lang ruhig und stille, so daß er unter dem Schnee sich um nichts zu bekümmern hat, als daß er nicht allzutief vergraben und erstickt werde. Auch hat man immer die sicherste Nachricht von dem herannahenden Ungewitter durch die Hunde. Denn wenn diese beim Rasten Gruben in den Schnee graben und sich hinein legen, so kann man mit voller Gewißheit einen Sturm erwarten.

Die Schlittenhunde werden sehr frühzeitig zu ihrem künftigen Dienste abgerichtet. Sobald sie sehen, werden sie sammt der Mutter in eine tiefe Grube gelegt, so daß sie weder Menschen noch Thiere zu sehen bekommen. Wenn sie von der Hündin abgewöhnt sind, legt man sie abermals in eine andere Grube, bis sie erwachsen. Nach einem halben Jahre spannt man sie mit andern gelernten Hunden an den Schlitten, und fährt mit ihnen einen kurzen Weg; weil sie nun hund- und menschenscheu sind, so laufen sie aus allen Kräften. Sobald sie wieder nach Hause kommen, müssen sie wieder in die Grube, so lange und so viel, bis sie von nichts Anderm wissen, des Ziehens gewohnt worden und eine weite Reise verrichtet haben. Erst nachdem sie vollständig ausstudirt, genießen sie ihre hündische Sommerfreiheit. Diese harte Erziehung versauert ihren ganzen Charakter. Sie bleiben zeitlebens menschenscheu, unfriedlich, bekümmern sich nicht im Geringsten um ihres Herrn Güter, sind sehr furchtsam und melancholisch und sehen sich beständig aus Mißtrauen um, sie mögen thun, was sie wollen. Sie haben nicht die geringste Liebe für ihren Herrn, sondern suchen ihn allezeit um den Hals zu bringen. Welch ein Contrast mit dem treuen Pudel oder mit dem freundlichen Schooßhündchen!




Kleiner Briefkasten.

Sch. in Ebg. – S. in J. – R. in M. – E. T. in L. Wir danken Ihnen für Ihre Mittheilung. Bereits von anderer Seite waren wir darauf aufmerksam gemacht worden, daß der als Originalartikel uns eingesandte Beitrag: „Die erste Waffenthat“ nichts als die Bearbeitung einer Mérimé’schen Skizze sei, die bereits vor 10–12 Jahren erschienen ist. Wir sind getäuscht worden, und gestehen dies ganz offen.

Abonnent in Dß. Auf Stylübungen dieser Art haben wir keine Antwort.

M. v. L. in Triest. Die Gartenlaube wird regelmäßig Freitags expedirt, und bitten wir bei der betreffenden Buchhandlung oder Postanstalt zu reklamiren.

M. in Wien. Ueber die österreichische Unterrichtsfrage und speciell über den Unterricht auf den Gymnasien finden Sie in der so eben in Leipzig bei L. Boß erschienenen Broschüre: „Die Gymnasien Oesterreichs und die Jesuiten“ die beste Auskunft. Die von Ihnen gestellten Anfragen sind darin allerdings nicht einer besonderen Erörterung unterzogen, dagegen erfahren Sie daraus in authentischer Weise, daß der Ordensgeneral Pater Beckx auf eine vom Unterrichtsminister an ihn gerichtete Anfrage, „ob die Gesellschaft Jesu in der Lage sei, bei Entwickelung ihrer Thätigkeit im Gymnasial-Unterrichte sich in jeder Beziehung nach den in den österreichischen Staaten bestehenden Vorschriften zu benehmen“, entschieden verneinend geantwortet hat. Der Ordensgeneral beruft sich auf die zuerkannte Gewährleistung der „der Gesellschaft eigenthümlichen Ordens- und Studienverfassung“, nach welcher allerdings der Orden keine Verpflichtung hat, den staatlichen Einrichtungen in Unterrichtssachen sich zu fügen. In dem Schreiben des Generals an den Minister wird ausdrücklich die im sechzehnten Jahrhundert geschaffene Ratio studiorum als die einzig mögliche Norm bezeichnet, an deren unabänderlichen Grundsätzen der Orden festhalte und festhalten müsse. – Hinsichtlich Ihrer sonstigen Fragen müssen wir Sie einfach auf unsere frühere Erklärung[WS 2] hinweisen, nach welcher kirchliche Fragen als nicht in den Bereich der Gartenlaube gehörend bezeichnet werden.

B. in B. Portraits von Persönlichkeiten des Krieges werden wir bringen, sobald sich die Wichtigkeit derselben herausgestellt hat. Die jetzige zufällige Stellung Einzelner kann für uns nicht maßgebend sein, da nicht unter jedem Marschalls- oder General-Lieutenantshut ein Kriegsheld steckt. Also abwarten!

K. in R. Sie sind um eine Erfahrung reicher und um einen Freund ärmer geworden. Uns ist diese Erscheinung nichts Neues! Es gibt viele Menschen, die es nicht vertragen können, daß ein neues jüngeres Geschlecht sie überholt und aus einer Stellung drängt, die sie lange Jahre inne hatten. Es gilt dies namentlich von einigen unserer Altliberalen. So ehrlich sie’s mit der guten Sache meinen und so tüchtig sie dafür gewirkt, so wenig können sie es vergessen, daß sie einst an der Spitze der Bewegung standen und jetzt durch eine jüngere, aber weitergehende Phalanx verdrängt werden, die nicht mehr jedes ihrer Worte als Orakel hinnimmt. Das für Andere fast unbemerkbare Sinken in der öffentlichen Meinung schmerzt und erbittert sie und drängt sie im Aerger oft zum Aufgeben von Principien, für die sie die Thätigkeit eines ganzen Lebens geopfert haben.


Im Verlage des Magazins für Literatur in Leipzig erschien und ist in allen Buchhandlungen des In- und Auslandes zu haben:

Neue Auflage

der
Palmen des Friedens.
Eine Mitgabe auf des Lebens Pilgerreise
von Ferdinand Stolle.

In prachtvoller Ausstattung. – Eleg. in Goldschnitt geb. 1½ Thaler.

Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.


  1. Dingo: der australische wilde Hund oder Wolf.
  2. Wir geben diesen vorläufigen Bericht in der Erwartung, daß unsere Originalberichte aus Italien und der italienisch-schweizer Grenze in den nächsten Tagen eintreffen.      D. Red.
  3. Seit einigen Wochen nicht mehr. Sternberg ließ so eben einen dreibändigen biographischen Roman: „Dorothea von Kurland“ (bei Stollmann) erscheinen.      D. Red.
  4. Auch wir können ein Beispiel napoleonischer Polizeiwirthschaft mittheilen. Ein uns bekannter deutscher Arzt, der seit einer Reihe von Jahren Frankreich bewohnt, in Paris ansässig und Mitglied der französischen Nationalgarde war, dabei seine Praxis meist nur in den ersten Häusern von Paris hatte und in stetem Verkehr mit allen wissenschaftlichen Celebritäten des sogenannten Centralpunktes europäischer Intelligenz war, erhielt vor circa zwei Monaten plötzlich den ministeriellen Befehl, Frankreich zu verlassen, da er ein „höchst staatsgefährliches Subject“ und nicht länger in den Grenzen des Kaiserreichs zu dulden sei. Obwohl sich unser Landsmann niemals um Politik bekümmert und in staatsgefährlichen Dingen überhaupt ein ganz reines Gewissen hatte, so war einem so bestimmt ausgesprochenen Befehle gegenüber doch jede Protestation vergeblich, und achtundvierzig Stunden später befand er sich bereits in London. Erst später erfuhr er den Grund seiner Ausweisung. Als leidenschaftlicher Schachspieler hatte er in der letzten Zeit vielfach mit dort auf Urlaub lebenden österreichischen Officieren, guten Schachspielern, verkehrt und dabei auch die Kunst des Rösselsprunges cultivirt, deren Resultate er dann seinen außer Paris und in Deutschland wohnenden Freunden brieflich in Ziffern mittheilte. Die heillose Furcht der Regierung vor Verschwörungen und politischen Umtrieben sah in diesen Ziffern geheime staatsgefährliche Mittheilungen, zumal der Schreiber viel mit österreichischen Officieren verkehrte, und ohne weiter zu untersuchen, decretirte sie die Ausweisung des unschuldigen Schachspielers. Und der Moniteur hat die Frechheit, der ganzen civilisirten Welt in’s Gesicht zu rufen: „Unser Land wird der Welt noch zeigen, daß es nicht entartet ist.“      D. Redact.
  5. In der nächsten Nummer werden wir von kundiger Feder einen erschöpfenden Artikel über „die neuen Hexenmeister und Geisterbeschwörer“ bringen, auf den wir unsere Leser im Voraus aufmerksam machen.      D. Redact.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Arona, Vorlage: Arone
  2. Vorlage: Erkärung