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Die Gartenlaube (1859)/Heft 8

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1859
Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 8.   1859.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.       Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Sand.

Historische Novelle von Max Ring.
(Fortsetzung.)

„Ich wünschte, daß Du und Emma an der herrlichen Feier auf der Wartburg Euch hättet betheiligen können,“ fuhr Hagen fort. „So lange ich lebe, werde ich den tiefen, gewaltigen Eindruck nicht vergessen. Es war das heilige Pfingstfest des deutschen Geistes, der über die Jugend dort vom Himmel ausgegossen wurde.“

Mit diesen Worten gelang es ihm, die Besorgnisse des lieben Mädchens zu beschwichtigen, das mit ganzer Seele an ihm hing und in seiner Nähe alle Befürchtungen und den Zwiespalt vergaß, der durch dieses Verhältniß in ihr stilles Leben gekommen war, da sie zwischen dem Vater und dem Geliebten fortwährend schwankte und weder den Einen noch den Anderen aufgeben konnte und wollte. Im Gegensatze zu ihrer schwärmerischen Freundin Emma war Julie eine mehr positive, lebensfrohe und praktische Natur, der es jedoch im entscheidenden Augenblicke an einer bei dem weiblichen Geschlechte seltenen Energie und Charakterstärke nicht fehlte. – Nachdem sie noch einige Zeit in dem befreundeten Hause verweilt, nahm sie Abschied, um zu ihrem Vater zurückzukehren, dessen Hauswesen sie vorstand, da er schon seit mehreren Jahren Wittwer war. Friedrich bot sich ihr natürlich zur Begleitung an, was sie nur nach einigem Widerstreben und unter der Bedingung annahm, daß er sie nur bis an die nächste Straßenecke bringen sollte, weil sie jedes Aufsehen zu vermeiden wünschte.

Beide gingen im eifrigen Gespräche über ihre Zukunft, die sie sich, wie dies Liebende meist zu thun pflegen, in den rosigsten Farben auszumalen nicht müde wurden. In der Dämmerung bemerkten sie nicht, daß ein dunkler Schalten ihnen leise nachfolgte und sie mit lauernden Blicken beobachtete. Als Hagen sich indeß zufällig umwendete, glaubte er, die lange dünne Figur Berthold’s zu erkennen; er rief ihn an.

„Mein Gott!“ mahnte die ängstliche Julie, „was thust Du?“

„Ich rufe Berthold, damit er sieht, wie glücklich ich bin,“ entgegnete Friedrich mit jugendlichem Uebermuth.

„Welche Thorheit, da Du doch weißt, daß er mir früher ernstlich den Hof gemacht hat!“

„Eben deshalb soll er Zeuge sein, daß Du mir den Vorzug gibst.“

„So seid Ihr Männer voll Eitelkeit, die Ihr uns armen Frauen zum Vorwurfe macht. Um einen Nebenbuhler zu kränken, vergißt Du, daß unsere Liebe noch ein Geheimniß bleiben muß.“

„Du hast von Berthold nichts mehr zu fürchten, da er sich mit mir während des Festes vollkommen ausgesöhnt hat. Ich glaube, daß wir uns in seinem Charakter geirrt haben; er scheint mir das beste Herz von der Welt zu haben und gehört mit Leib und Seele der Burschenschaft an, so daß ich an seiner Aufrichtigkeit nicht mehr zweifeln kann.“

„Und ich kann mich,“ erwiderte Julie, mit echt weiblichem Instinct begabt, „eines leisen Schauders nicht erwehren, so oft ich ihn sehe. Mir ist es in seiner Nähe stets zu Muthe, als drohte unserer Liebe von seiner Seite ein schweres Mißgeschick.“

Ehe Friedrich ihr antworten und, wie er beabsichtigte, ihr vermeintliches Vorurtheil widerlegen konnte, war der Gerufene bereits näher getreten und grüßte mit erheuchelter Freundlichkeit. Mit seltener Verstellungskunst wußte er seinen Worten und seinem ganzen Benehmen einen Zutrauen erregenden Anstrich zu geben, so daß sich auch das besorgte Mädchen täuschen ließ und von ihrem Mißtrauen nach und nach zurückkam; um so mehr, da sie, wie die meisten Frauen, im Grunde ihrer Seele ein gewisses Mitleid mit dem verschmähten Liebhaber empfand.

Nachdem er sich mit einer tiefen Verbeugung empfohlen hatte, blieb er noch einen Augenblick stehen und sah dem glücklichen Paare mit seltsamen Blicken nach.

„Noch seid Ihr nicht so weit!“ rief er ihnen grollend nach. „Wenn mein Plan glückt, so wird die stolze Julie nicht Frau Hagen, sondern Zeisig heißen.“

Dieser Gedanke erregte dermaßen seine Heiterkeit, daß er darüber ein kurzes, heiseres Gelächter ausstieß. Dann schaute er sich vorsichtig um und trat in das Haus, wo der Geheimrath Schmalz wohnte. Nachdem er daselbst einige Zeit verweilt, verließ er es mit triumphirendem Gesicht.



IV.
Der Turnvater Jahn.

Einige Monate nach diesen Vorgängen erhielt Hagen einen Brief, worin Sand ihm seine nahe bevorstehende Ankunft in Berlin anzeigte. Da er vor seiner Schwester kein Geheimniß hatte, so ließ er sie das Schreiben des Freundes lesen, wie er dies früher mit allen übrigen Briefen Sand’s schon gethan hatte, so daß sie mit dem Charakter des jungen Mannes, für den sie sich, ohne ihn zu kennen, bereits lebhaft interessirte, hinlänglich bekannt war. Es liegt ein eigenthümlicher Reiz in solch’ einer geheimen Theilnahme an Personen, in deren Ansichten und Grundsätze man früher eingeweiht wird, bevor man ihnen näher tritt. Die Phantasie [106] wird angeregt und hat einen großen Spielraum, den sie mit ihren Bildern und Träumen ausfüllt. Fast mit unerklärlicher Sehnsucht sah daher Emma dem Eintreffen des ihr persönlich fremden und wiederum geistig so nahe stehenden Gastes entgegen. Gerade ihre ideelle Natur mußte sich zu einem Manne hingezogen fühlen, dessen ganzes Streben nach dem Höchsten gerichtet war. – Endlich traf der von den Geschwistern sehnlichst Erwartete ein; seine äußere Erscheinung zerstörte diesmal nicht, wie es häufig zu geschehen pflegt, das von ihm im Voraus entworfene Bild. Sein zurückhaltendes Wesen stimmte zu ihrem sinnigen und tieferen Charakter, sein ernstes, würdiges Benehmen, das nicht ganz zu seiner Jugend zu passen schien, schadete ihm nicht in ihren Augen. Minder günstig war der Eindruck, den Sand auf den schärfer beobachtenden Vater seines Freundes machte. Dem klaren, praktischen Manne war weder die Einseitigkeit des Gastes, noch eine schwärmerische Ueberschwänglichkeit entgangen, die er jedoch auf Rechnung der Jugend zu schreiben geneigt war; obgleich er Friedrich seine offene Meinung und die daran sich knüpfenden Befürchtungen nicht verhehlte, als dieser ihn fragte, wie ihm Sand gefiel.

„Ich will es Dir nicht verschweigen,“ sagte er bei dieser Gelegenheit, „daß Dein neuer Freund mir mancherlei Besorgnisse einflößt, obwohl auch ich seiner ehrenhaften Gesinnung und der Festigkeit seines Charakters die vollste Anerkennung zollen muß. Dagegen glaube ich, an ihm eine geistige Beschränktheit und Einseitigkeit zu bemerken.“

„Ich glaube doch,“ entgegnete der Sohn, „daß es ihm nicht an Talent fehlt.“

„Das meine ich auch nicht damit, obgleich ich eine außerordentliche Begabung nicht an ihm herausfinden kann. Die Reden, welche er vorzubringen weiß, dürfen Dich nicht verblenden, da sie nicht ursprünglich in ihm entstanden sind, sondern mehr in der Luft zu liegen scheinen. Dafür besitzt Dein Freund, wenn ich nicht irre, eine Willenskraft, welche, mit Einsicht, Klarheit und Genie gepaart, das Größte leisten würde. Leider aber fehlen ihm diese Gaben, und es tritt daher ein Mißverhältniß zwischen seiner Energie und seinen übrigen Seelenkräften ein. Auch spreche ich ihn nicht ganz von einem gewissen Ehrgeize und geistigen Hochmuthe frei, der gerade solchen beschränkteren Naturen inne wohnt; wenn ich ihm auch dies Streben nach Auszeichnung nicht als Fehler anrechnen will.“

Hagen bemühte sich, dieses scharfe Urtheil des Vaters zu widerlegen und den Freund zu vertheidigen, obgleich er in seinem Herzen ihm nicht ganz Unrecht zu geben vermochte. Indeß schwächte diese Erkenntniß in keiner Weise die Zuneigung und bald verschwand auch der letzte Rest seiner Bedenken vor dem persönlichen Eindrucke, der seine alte Kraft behauptete. Weit mehr bekümmerte ihn, daß er an dem Freunde eine Zunahme seines früher angedeuteten Trübsinnes zu bemerken glaubte; die ihm eigene melancholische Stimmung trat weit schärfer noch hervor und verleugnete sich selbst in der Gesellschaft Emma’s nicht, in der sich Sand weit mehr zu gefallen schien, als sonst seine Weiberscheu zuließ. Friedrich hielt es für seine Pflicht, eines Tages den Freund um die Ursache seiner Mißstimmung zu befragen.

„Dich scheint,“ sagte er, Sand’s Hand erfassend, „ein geheimer Kummer zu bedrücken. Ich glaube, als Freund auch ein Recht auf Deine Sorgen zu haben.“

„Ich habe,“ antwortete Sand, „durchaus keinen Grund, über mein Schicksal zu klagen. Du weißt, daß meine guten Eltern zwar nicht reich sind, aber sich in guten Verhältnissen befinden, so daß keine materielle Roth mich anficht. Auch lieben sie mich mit einer Innigkeit und Zärtlichkeit, die ich kaum verdiene. Eben so bin ich vollkommen mit meinem einmal erwählten Berufe zufrieden. Ich genieße die Achtung meiner Lehrer und die Liebe meiner Commilitonen in Jena, die mich sogar für das nächste Jahr zum Sprecher und in den Vorstand gewählt haben. Mitten in meinem Glücke aber überschleicht mich ein Gefühl, das ich Dir nicht mit Worten beschreiben kann. Es ist mir zu Muthe, als wäre ich ganz unnütz auf der Welt und müßte eine große That vollführen, um mein Dasein gleichsam zu entschuldigen.“

„Sollte das nicht Hochmuth sein?“ fragte der Freund, durch die Unterhaltung mit seinem Vater aufmerksam gemacht.

„Du thust mir Unrecht, da Niemand seinen Unwerth lebhafter fühlen kann, als ich, zumal seitdem ich in Jena lebe und innerhalb der Burschenschaft solche Männer, wie den herrlichen Follen, den edlen, tief poetischen Binzer[WS 1] und noch viele Andere kennen gelernt habe, denen ich nicht Werth bin, die Schuhriemen aufzulösen. Sie übertreffen mich an Geist und Talent hundertfach, und in ihrer Nähe komme ich mir nur wie ein unwürdiger Knecht vor, dem nur das einzige Verdienst bleibt, daß er aus Opferfähigkeit Keinem und selbst nicht dem Bedeutendsten und Größten unter diesen Männern weicht.“

Bei diesen Worten, welche aus der Tiefe seiner Seele kamen, leuchteten Sand’s Augen in wunderbarem Glanz.

Ein leises Geräusch ließ sich jetzt vernehmen und Emma trat in das Zimmer, um die Freunde zu mahnen, daß es Zeit sei, den Turnvater Jahn zu besuchen, dessen nähere Bekanntschaft zu machen Sand sich längst gewünscht hatte. In Gesellschaft Juliens, die sich ebenfalls eingefunden hatte, traten die Geschwister mit ihrem Gaste ihre Wanderung nach der vor dem Hallischen Thore gelegenen Hasenhaide an, wo sie sicher waren, den alten Freund der Familie mitten unter seinen Zöglingen zu finden. Schon auf dem Wege dahin sahen sie eine Menge von Knaben und Jünglingen in leichten Turnerjacken von ungebleichter Leinwand, welche wie sie nach der Hasenhaide strömten. Dort zwischen Kiefern und Fichten auf einem freien Platze hatte Jahn seine bekannte Turnanstalt errichtet, um die Jugend der Residenz durch körperliche Uebungen aller Art zu einem mannhaften Geschlechte heranzubilden. Aber auch geistig suchte der wackere Lehrer ihre vaterländische Gesinnung zu verbreiten und vor Allem das Selbstgefühl der Nation zu erwecken. Seine Abneigung gegen alles Fremdländische und besonders gegen das Franzosenthum äußerte sich selbst in seiner Sprechweise, die im Streben nach Reinheit und Ausmerzung aller undeutschen Elemente sich in allerlei seltsamen Wortbildungen gefiel. Die Freunde begrüßten ihn und Sand unterließ nicht, sich ihm als einen Gesinnungsgenossen und eifrigen Turner vorzustellen, wodurch er sogleich sein Herz gewann, Jahn mit seinem langen Barte, den großen blauen Augen, den markirten Gesichtszügen war eine durchaus originelle und auffallende Erscheinung. Sein ganzes Wesen war ein wunderliches Gemisch von Derbheit und Schalkhaftigkeit, von Kindlichkeit und Enthusiasmus. Neben den tollsten Einfällen und Behauptungen entfielen seinem Munde in der Unterhaltung oft wahre Goldkörner von Gedanken voll Tiefe und Begeisterung. Bald war er jetzt mit dem ihm in manchen Beziehungen verwandten Sand im eifrigen Gespräche über seine Lieblingsideen, das Turnen und die deutsche Einheit.

„Ich würde mich,“ sagte er in seinem Eifer, „mit tausend Freuden selbst rädern lassen, wenn ich dadurch Deutschland einig machen könnte. Das ist aber nur möglich, wenn erst die ganze „Volkskleinerei“ beseitigt wird. Auch müssen Deutschlands Grenzen wahre Scheiden sein, sonst ist es der ewige Wahlplatz, das ewige Blutfeld aller Weltkriege, das Rüst- und Zeug-, Werbe- und Drillhaus der Welteroberer, ihr Speicher und ihre Kriegsesse, Welthammer und Weltambos für jeden Riesengriff einer Geißel Gottes. Zumal zwischen uns und Frankreich muß als Grenzscheide eine „Hamme“ liegen.“[1]

„Was heißt das?“ fragte Sand, dem das Wort unbekannt war.

„Unter „Hamme“ verstehe ich eine Wildniß. In Altdeutschland ist ein Stamm und Ort um so berühmter gewesen, je größer und undurchdringlicher der Wald sein Gebiet ummarkt hat und die freien Dithmarsen haben ihre Unabhängigkeit gegen die Dänen mit einer kurzen „Hamme“ lange Zeit bewahrt. Peter der Große hat für Rußland ebenfalls eine solche „Hamme“ anlegen wollen, ist aber darüber gestorben. Wenn man durch Kunstfleiß der Natur nachhelfen und die Erde verschönern kann, so läßt sich auch eben so gut eine undurchdringliche Menschenwüste künstlich hervorrufen. Warum nicht zum Wohle des Vaterlandes Marschen vermorasten, Auen einsumpfen, Höhen „verfurten“, Niederungen verbuchen und gewässerte Thäler durch Wall und Mauern zu Seen stauen? – Statt aller Thiergärten im Kleinen wird dann ein großer Erdstrich eine Versammlung des gesammten Thierreichs abgeben. Erst muß man grasfressende Thiere hineintreiben und verwildern lassen; dann Roth- und Schwarzwild, Elennthiere und Auerochsen, zuletzt Raubthiere aller Art. Natürlich dürfen im Bezirk der „Hamme“ keine Gebäude, nur Trümmer bleiben. Wenn die Wildniß wenigstens einen Grad breit ist und gegen das Vaterland hin noch mit einer Doppelreihe von Verwallungen und Dornhecken eingezäunt [107] wird, dann stehe ich dafür, daß kein leichtfüßiger Franzmann mehr die deutsche Grenze überschreiten wird.“

Mit solchen fast komischen Vorschlägen wechselten wieder die klarsten Gedanken und herrlichsten Lehren. Besonders zeigten seine Ansichten über das „Turnen“ von einem reiflichen Nachdenken und seinem gesunden Sinn, womit er diese von ihm hauptsächlich angeregten Leibesübungen betrachtete; obgleich er auch hier das Wahre mit dem Falschen, das Lächerliche mit dem Heiligen und Ernsten in seiner wunderlichen Weise vermischte. Trotzdem war seine durchaus wahre, treue und kernhafte Natur ganz geeignet, ihm die Herzen seiner Hörer zu gewinnen, und selbst die Frauen mochten den ehrlichen Turnvater, ungeachtet seiner derben Scherze, leiden und liebten ihn von ganzem Herzen.

Nachdem sich Jahn mit den Freunden eine kurze Zeit unterhalten, gab er das Zeichen zum Beginn des Turnens, welches eine Menge von Zuschauern nach der Hasenhaide gelockt hatte. Es war in Berlin Mode geworden, den Kampfspielen der rüstigen Jugend vor dem Halleschen Thore beizuwohnen, und besonders schwärmte die Damenwelt der Residenz für diese körperlichen Uebungen. Ueberall herrschte ein heiteres Leben und Treiben; es war ein herrliches und zugleich fröhliches Schauspiel, diese Menge jugendlicher Turner in ihren kleidsam knappen Trachten zu sehen, wie sie im Spiele ihre Kräfte übten, ihre Muskeln stählten und sich zum Kampfe, wenn ein Feind von Neuem dem Vaterlande drohte, vorbereiteten. Das Bewußtsein dessen, was die Turner in den Befreiungskriegen bereits geleistet, und der Gedanke, daß unter dem Spiele ein tieferer Ernst schlummerte, gab ihnen aber ein stolzes Gefühl, das sich zuweilen bis zu einem gewissen rücksichtslosen Trotze steigerte. Auch war nach und nach ein politisches Streben, ein erhöhtes Freiheitsgefühl und die lebendigste Theilnahme an den Tagesfragen unwillkürlich in den Turnern erwacht, welches sich in mannichfacher Weise äußerte und den furchtsamen oder zum Rückschritt geneigten Staatsmännern bereits bedenklich erschien.

Vorläufig aber blühte noch die edle Turnkunst in Berlin und Jahn selbst stand bei dem Staatskanzler Hardenberg in hohem Ansehen, obgleich er durch manche unvorsichtige Aeußerung sich schon viele und einflußreiche Feinde gemacht hatte. Sein kindliches Vertrauen verführte ihn oft dazu, selbst vor unreifen Gymnasiasten sich gehen zu lassen, oder gar Unwürdigen seine geheimsten Gedanken preiszugeben und dadurch sich selbst, so wie seiner guten Sache wesentlich zu schaden. – In diesem Augenblicke aber war Jahn noch an der Spitze seiner Turner, von denen er wie ein Vater verehrt wurde. In seiner Jugendlichkeit, die er sich bis in das späteste Alter bewahrte, stand er der Jugend um so näher, die er zu allen Spielen und Uebungen anführte. Er selbst wetteiferte mit ihnen im Springen, Laufen und Ringen; es war eine Freude, den wackeren Mann mitten in dem Kreise der blühenden Gestalten zu sehen, die er durch Wort und Beispiel anfeuerte. Bald munterte er die Ungeschickteren auf und zeigte ihnen, wie sie es besser machen sollten; bald zügelte er die Uebermüthigen und hielt die Ordnung aufrecht, ohne die wahre Fröhlichkeit zu verscheuchen. Brach ein Streit aus, so wurde er zum Schiedsrichter aufgerufen und seinem Ausspruche fügte sich Jeder willig. War auch die Hasenhaide kein olympisches Gefilde und die Berliner Jugend keine griechische, so erinnerte doch unwillkürlich das ganze Schauspiel an jene schöne Vergangenheit, wo im muthigen Ringen nur in Kampfspielen um den höchsten Preis gestritten wurde.

Auch Sand wurde von dem Anblicke tief ergriffen und er konnte es sich nicht versagen, in das fröhliche Gewühl zu stürzen und selbst daran Theil zu nehmen. Er war ein muthiger und gewandter Turner; jetzt zeigte er seine Geschicklichkeit in gewagten Sprüngen und Sätzen. Mit der großen Stange in der Hand schwang er sich im behenden Lauf über Gräben und Hecken; dann ergriff er das Seil und kletterte bis zur höchsten Spitze des Mastbaumes, der in der Mitte des Platzes stand; auch am Barren und Reck zeigte er seine Gewandtheit und Körperkraft, worin er es Allen und selbst den Vorturnern zuvorthat.

„Das nenn’ ich,“ rief Jahn, „einen echten deutschen Turner, frisch, fromm, frei und fröhlich, wie unser schöner Denkspruch lautet.“

In der That erregte auch Sand durch seinen Muth und seine Geschicklichkeit die Bewunderung aller Zuschauer, welche mehr als einmal ihn, ihren lauten Beifall zujauchzten. Besonders aber gefiel sein männliches und bescheidenes Wesen den Frauen; sie rühmten seine Gestalt, die sich bei solchen Leibesübungen auch am vortheilhaftesten darstellte. – Nur Emma konnte sich eines leisen Aufschrei’s nicht erwehren, als er allzukühn von der schwindelnden Höhe herab die Freunde mit geschwungener Mütze grüßte. Unwillkürlich mußte sie die Augen schließen, weil sie fürchtete, daß er herabstürzen konnte; ihre Phantasie sah ihn bereits mit zerschmetterten Gliedern zu ihren Füßen liegen. Das laute Schlagen ihres Herzens, die Bangigkeit ihres ganzen Wesens verrieth ihr selbst zum ersten Male, daß sie für Sand lebhafter fühlte, als sie sich eingestehen wollte. Julien war ihre Bewegung und der leise Schrei nicht entgangen; weshalb diese auch die Freundin neckte, welche lieblich bis zu dem weißen Hals erröthete. Auch Jahn, dessen Pathenkind sie war, und der sie von Jugend auf kannte, scherzte in seiner derben Weise über die Besorgnisse des Mädchens.

„Töchterchen,“ sagte er lächelnd, „Du brauchst um den schmucken Turner keine Angst zu haben; er wird den Hals nicht brechen. Wenn er fällt, so fällt er höchstens noch einmal in Deine Arme und ich wette darauf, daß Du ihn recht festhalten und nicht mehr loslassen wirst.“

Mit schallendem Gelächter weidete er sich an ihrer Verlegenheit, während Emma abwechselnd bald roth wie eine zart angehauchte Frühlingsrose, bald wieder bleich wie die weiße Lilie wurde, der sie in jeder Hinsicht glich. Nur ein Mensch hatte keine Ahnung von dieser aufblühenden Liebe in dem Herzen der Jungfrau, und dies war Sand selbst. Ein einziger Gedanke erfüllte seine Seele so vollständig und ausschließlich, daß kein zweiter darin Raum finden konnte. Das Wesen der Liebe sollte ihm für immer fremd bleiben. Es war dies eine eigenthümliche Erscheinung seiner Natur, die ihm diese zarte Empfindung für das weibliche Geschlecht versagt zu haben schien; nie hatte Sand ein Mädchen geliebt, so sehr er auch für Freundschaft empfänglich war. In dieser wie in mancher andern Beziehung zeigte sein Charakter einen antiken Anstrich, und erinnerte an die Heldengestalten des Alterthums, denen auch der Sinn für die Liebe abzugehen scheint, je stärker das Gefühl für Freundschaft in ihrem Busen lebt.

In Emma sah Sand nur einzig und allein die Schwester des Freundes, der er sich deshalb mehr näherte, als irgend einem anderen Weibe. Auch fühlte er sich zu ihr hingezogen, da sie mit ihm in seiner Begeisterung für das Vaterland und in seiner Liebe zur Freiheit übereinstimmte. Wie so häufig die Schwestern von Studenten, nahm auch sie den lebendigsten Antheil an dem akademischen Treiben und den jugendlichen Schwärmereien der Burschenwelt. Sie war die Vertraute ihres Bruders; er hatte sie in alle seine Geheimnisse eingeweiht, so daß Sand oft über ihre genaue Kenntniß aller dieser Verhältnisse erstaunte, und deshalb seine gewehrte Zurückhaltung vergaß. Trotz ihrer zarten Weiblichkeit, welche sie in keinem Augenblicke verleugnete, gab es Stunden, wo Sand in ihr nur einen liebenswürdigen Studenten, einen jüngeren Bruder zu erblicken glaubte und demgemäß mit ihr verkehrte.

Diese keimende Neigung erhielt fortwährende Nahrung durch die Lobsprüche, welche ihr Bruder und der von ihr verehrte Jahn ihrem jungen Freunde ertheilten. Sand war bald Jahn’s erklärter Liebling geworden, und der wackere Mann zeichnete ihn bei jeder Gelegenheit aus. Bei der nahen Beziehung, in welcher der Turnvater zu der Familie Hagen und besonders zu Emma stand, mochte ihm vielleicht der Eindruck nicht entgangen sein, den Sand auf das Herz des lieblichen Mädchens hervorgebracht. Die Begeisterung, mit der sie von ihm sprach, ihr Erröthen, wenn Jahn seine scherzhaften Anspielungen und Neckereien vorbrachte, bestärkten ihn nur noch in seiner vorgefaßten Meinung; obgleich Emma mit jungfräulicher Scheu sorgsam ihr Geheimniß vor aller Welt verbarg. Das jugendliche Paar, für das er die lebhafteste Neigung empfand, schien ihm für einander geschaffen, und er beschloß im Stillen, diese Liebe in seinen Schutz zu nehmen.

Zu diesem Behufe hatte er sich schon längst vorgenommen, mit Sand, zu dem er nach und nach in ein vertrautes und inniges Verhältniß getreten war, einmal Rücksprache zunehmen. Bei einem Spaziergange mit dem Freunde wußte er geschickt das Gespräch auf die Liebe und die Frauen im Allgemeinen zu lenken.

„Ein treues Weib,“ äußerte er im Laufe der Unterhaltung, „und eigener Heerd sind Goldes werth; das weiß ich aus eigner Erfahrung. Nur die tüchtige Hausfrau wird eine wackere Gattin werden, des Mannes vertrauteste Freundin, und die immer neugeliebte Geheimnißbewahrerin seiner Leiden und Freuden. Die Brave wird des Hauses Allseele sein, jedes Geschäftes Triebfeder. Sie [108] wird nicht viel Redens von sich machen; ihr wird nicht Weihrauchsopfer der Bewunderung den schlichten, deutschen Frauensinn benebeln; sie wird sich nicht zur Gesellschaftsvorsitzerin hinaufdrängen; nicht als oberste Balltummlerin schwärmen; Anbetungsgeschmeiß kann nicht den Boden vor ihren Knieen besudeln; aber ihr Lohn wird unaussprechlich groß sein, nirgends glücklicher als bei ihr wird sich ihr treuer Gemahl fühlen. Solche Gattinnen werden das höchste irdische Glück genießen – Menschenmütter zu sein. Ihnen wird sich die Liebe erneuen, verjüngen, vermehren; sie werden leben, weil sie lieben. In ihren Armen wird der Mann alles Leid vergessen, an ihrem Busen selbst dem Tode zulächeln: denn sie werden dem Manne den Wonnebecher des Lebes reichen, Liebe wird er trinken, und Thatlust in der Liebe und in der Thatlust Unsterblichkeit.“[2]

„Wohl weiß ich,“ entgegnete Sand, „durch meine würdige Mutter, deren Bild mir vor Augen schwebt, welch ein Schatz in dem Frauenherzen verborgen ruht, aber ich darf jetzt nicht an ein solches Glück denken, so lange meine Aufgabe noch nicht gelöst ist. Meine Liebe gehört dem Vaterlande, alle meine Gedanken ihm allein, so daß keine andere Neigung daneben aufkommen kann. Ich fühle, daß ich ihm mein ganzes Leben und Sein schuldig bin; wie kann ich da, ohne eine doppelte Untreue zu begehen, einem Weibe angehören? Eine Frau oder Geliebte würde mich nur hindern, wenn ich früher oder später eine That vollbringen wollte zu Ehren und zu Nutzen des deutschen Volkes. Würden mich nicht die Rücksichten auf sie und meine Familie schwach machen, wo ich meiner ganzen Stärke bedarf? Müßte ich nicht an sie denken, wenn ich mein Leben zum Opfer für die gute Sache bringen wollte?“

„Ein treues Weib wird dem Manne selbst das Schwert in die Hand drücken, wo es gilt, das Vaterland zu vertheidigen.“

„Aber nicht den Dolch, der den Verräther durchbohren soll,“ rief Sand mit schwärmerischem Eifer. „Zeigt mir erst das Weib, das den Mann nicht zurückhalten wird, wenn er das heilige Rächeramt an den Feinden unserer guten Sache übernimmt, die nicht zurückschrecken wird vor dem Anblick des Blutgerüstes, vor dem schimpflichen Tod des Gatten, wenn er zum Verbrecher in den Augen der irdischen Gerechtigkeit“ geworden ist, weil er einem höheren und sittlicheren Gesetze folgen mußte; zeigt mir ein solches Heldenweib in unserer entnervten Zeit, und ich will vor ihr niederknieen und mich von ihr durch einen keuschen Kuß weihen lassen zu der großen That, die ich früher oder später thun muß, wenn der große Augenblick mich fordert.“

Es lag in diesen Worten eine dämonische Kraft, unter deren Einfluß Jahn das angefangene Gespräch wieder fallen ließ. Sein gesunder Geist mochte wohl zu der Erkenntniß gekommen sein, daß eine solch gährende Natur noch nicht geschaffen sei, ein Mädchen glücklich zu machen, bevor sie sich nicht abgeklärt. Die dunkle Rede wurde indeß von ihm weit weniger beachtet, als sie es verdiente, weil in jener Zeit derartige unbestimmte Drohungen trotz ihrer oft düstern und gefährlichen Färbung zu häufig von allen Seiten sich kund gaben, um gerade in dem Munde eines schwärmerischen Jünglings aufzufallen. Jahn selbst hatte mehr als einmal ähnliche Aeußerungen fallen lassen, die ihm freilich später zum Verbrechen angerechnet wurden. Was der ältere und besonnenere Mann gethan, konnte im Munde des jüngeren und aufgeregten Sand um so weniger befremden.

Unterdeß kämpfte in Emma’s Seele fortwährend die Hoffnung mit der Furcht; bald glaubte sie sich von Sand geliebt, wenn er so offen freundlich wie ein Bruder mit ihr sprach, bald aber fühlte sie mit weiblichem Instinct, daß eine unübersteigliche Schranke zwischen ihm und ihr gezogen sei. Zuweilen fürchtete sie, daß sein Herz nicht mehr frei und von einer Nebenbuhlerin bereits eingenommen wäre, aber Sand’s eigene Worte und sein ganzes Wesen beruhigten sie immer von Neuem, indem er jede derartige Anspielung, welche meist von dem Bruder oder Julien ausging, mit Entrüstung zurückwies. Dann überließ sie sich einer stillen Freude; ihre Wangen rötheten sich; ihre Augen glänzten und das reizbare Herz schlug ruhiger. Sie träumte von einer schönen Zukunft, von glücklichen Tagen. – Armes Kind!

V.
Herzog Tus der Achte.

Auf dem Marktplatz in Jena herrschte heute eine ungewöhnliche Bewegung; Gruppen von Studenten in den Farben der Burschenschaft standen oder gingen in lebhafter Aufregung, in ihren Zügen gab sich ein hoher Grad von Entrüstung kund, und ihr Zorn machte sich in lauten Drohungen Luft. Dieser allgemeine Unwille galt dem Theaterdichter Kotzebue, welcher ohnehin durch seine zwar wirksamen, aber meist frivolen Komödien, noch mehr aber durch seinen zweideutigen Charakter sich den Haß der akademischen Jugend zugezogen hatte. Die gegenwärtige feindliche Stimmung gegen ihn galt jedoch weit mehr dem politischen Schriftsteller. – Kotzebue war russischer Staatsrath und ein erklärter Russenfreund; nur zu oft hatte er seine Vorliebe für eine fremde Nation auf Kosten des deutschen Volkes öffentlich bewiesen, und sich über die Begeisterung der Jugend und ihre Vaterlandsliebe in einer Weise lustig gemacht, die ihren Haß hervorrufen mußte. Seine große Eitelkeit war auf das Empfindlichste verletzt worden durch das Strafgericht, von dem eines seiner Bücher bei Gelegenheit des Wartburgfestes ebenfalls betroffen wurde. Seitdem steigerte sich seine Abneigung gegen die deutschen Universitäten und besonders gegen die Burschenschaft, von der jene Beleidigung nach seiner Meinung ausgegangen war, zum wüthenden Hasse. Er ließ es von nun an nicht an beißenden und meist ungerechten Ausfällen gegen die Jugend fehlen, deren reizbares Herz er verwundete und gegen sich empörte. Weit schlimmer jedoch war der Ruf, in dem Kotzebue stand, daß er als geheimer Correspondent und Berichterstatter der russischen Regierung dieser Deutschland verrathe, jede Freiheit athmende Aeußerung dem Cabinete von St. Petersburg zutrage, die unschuldigsten Worte als hochverräterische Umtriebe mißdeute, und so auf indirectem Wege zu Verfolgungen und Unterdrückung des neu erwachten Geistes herausfordere. Dieser Ruf war jetzt zur Gewißheit geworden; durch einen Zufall gerieth eines dieser Bulletins in die Hände des Dr. Lindner, der in der Eile einen Auszug machte und durch die öffentlichen Blätter zur allgemeinen Kenntniß brachte.

Dieses Blatt, voll Angriffe gegen Deutschland und besonders gegen die Burschenschaft und ihre Bestrebungen, wurde heut auf dem Markt in Jena laut vorgelesen. Der Inhalt, worin Kotzebue auf die drohende Gefahr hindeutete und die russische Regierung aufforderte, dagegen einzuschreiten und die deutsche Geistesbildung mit der Knute zu unterdrücken, hatte nothwendiger Weise die größte Entrüstung hervorgerufen.

„Der Spion! Der Verräther!“ schallte es ergrimmt von allen Seiten.

„Man müßte ihm eine Tracht Prügel zukommen lassen,“ rief ein eifriger Burschenschafter, „und die Entgegnung auf diese Schmähschrift mit blauen Schriftzügen auf seinen Rücken schreiben.“

„Wäre es nicht besser,“ fragte ein Anderer, „in corpore ihm einen Besuch abzustatten und ihm eine ausgesuchte Katzenmusik zu bringen?“

Noch mancher ähnliche Vorschlag wurde von den Anwesenden vorgebracht, ohne jedoch zur Ausführung zu kommen, da Kotzebue nicht mehr wie bisher in dem nahen Weimar wohnte, sondern seinen Wohnsitz nach dem entfernten Mannheim verlegt hatte, wo ihn die Rache seiner Feinde nicht so leicht erreichen konnte. Man trennte sich daher, ohne einen bestimmten Entschluß gefaßt zu haben, und bald war die ganze Angelegenheit von der leicht bewegten und leicht besänftigten Jugend wieder vergessen.

Nur Einer unter den auf dem Markte anwesenden Studenten war mit diesem Ausgange nicht zufrieden, weil ihm das rasche Blut und der leichte Sinn der Menge fehlte. Sand, der in Hagen’s Begleitung erst seit Kurzem in Jena eingetroffen und die Vorlesung des berüchtigten Blattes mit angehört, war nicht so schnell wieder beruhigt. Seine ernste und tiefere Natur wurde den empfangenen Eindruck nicht so bald wieder los, der unbestimmte Thatendrang glaubte ein erreichbares Ziel gefunden zu haben. Durch die chaotische Nacht seiner unklaren Vorstellungen zuckte es wie helle Blitze. Sinnend war er neben dem Freund, der mit Erlaubniß des Vaters jetzt in Jena studirte, in Stillschweigen versenkt, einige Zeit gegangen, als er plötzlich aus seinen Träumen auffuhr und wie mit sich selber redete.

(Schluß folgt.)
[109]
Das Germanische Museum in Nürnberg.
Nr. 2.

Dr. Hans Freiherr von und zu Aufsess.

Wir versprachen am Schluß des Artikels in Nr. 3: „Das Germanische Museum zu Nürnberg“, nähere Mittheilungen über das Leben des hochverdienten Gründers und Leiters des wichtigen Institutes, dessen Schilderung wir gaben. Mögen sie dazu dienen, dem Manne diejenige Anerkennung zu verschaffen, die sein schönes und nationales Streben verdient.

Dr. Hans Freiherr von und zu Aufsess entstammt einem reichsfreiherrlichen Geschlecht, das schon seit vielen Jahrhunderten in der fränkischen Schweiz begütert ist. Den 7. September 1801 erblickte er auf dem in dem Dorfe Aufsess liegenden Stammschlosse der Familie das Licht der Welt. Sein Vater war preußischer Regierungsrath und mit einem Freifräulein von Crailsheim vermählt.

Dadurch, daß die ersten Jugendjahre des Knaben in die Kriegszeit fielen, wurde anfangs seine geistige Erziehung nicht in der Weise geleitet, wie dies wohl außerdem geschehen wäre. Ohne der Obhut eines Lehrers anvertraut zu sein, wuchs Hans von Aufsess zu einem blühenden und kräftigen Knaben heran, der sich, gleich seinen befreundeten Altersgenossen, mehr auf den benachbarten Waldeshöhen und in der freien Natur herumtrieb, als daß er sich in den Zimmern des elterlichen Schlosses aufhielt. Schon damals zeichnete er sich vor seinen Spielcameraden durch eine schnelle Auffassungsgabe und große Willenskraft aus, die sich im späteren Leben zu einer Thatkraft entwickelte, welche nicht leicht vor Hindernissen zurückbebte, wie sie der Ausführung seiner Pläne so oft entgegentraten. Das ungebundene Landleben und der häufige Aufenthalt in der freien Natur hatten auf das Naturell des Knaben so günstig eingewirkt, daß sein lebhafter Geist, dem lange Zeit die Beschäftigung mit Büchern ziemlich fern lag, sich trefflich entwickelte, als er mit dem dreizehnten Jahre der Leitung eines trefflichen Lehrers, des späteren Professors des Staatsrechtes, Dr. Schunk, anvertraut wurde. Der junge Mann holte das bis zum dreizehnten Jahre Versäumte nicht nur bald nach, sondern machte, namentlich in den alten Sprachen und der Geschichte, so überraschende Fortschritte, daß er schon nach kaum zurückgelegtem sechzehnten Jahre in Begleitung seines Lehrers auf die Universität Erlangen als Student übersiedeln konnte. Fünf Jahre widmete er sich hier dem Studium der Rechtswissenschaft, war aber nicht gleich vielen seiner Commilitonen nur auf einseitige Ausbildung bedacht, sondern strebte mit Eifer darnach, seine Kenntnisse in mehreren Zweigen der Wissenschaft, wie namentlich in der Geschichte und Literaturgeschichte, zu bereichern und zu vervollkommnen.

Nachdem er sich in der juristischen Facultät den Doctorgrad erworben hatte, verließ er die Universität, um die praktische Seite der Jurisprudenz an dem Gericht zu Bayreuth und Gräfenberg näher kennen zu lernen. Eine Beamtencarriere zu machen, war keineswegs seine Absicht, wohl aber hielt er es für nothwendig, sich bei Gericht über viele Rechtsfälle zu instruiren, die ihn als großen Gutsbesitzer interessirten, und deren Kenntniß ihm später im praktischen Leben zu statten kommen mußte. Vater und Mutter waren dem jungen von Aufsess schon vor mehreren Jahren durch den Tod entrissen worden, so daß ihm als ältestem Nachkommen die sorgsame Verwaltung der Güter am Herzen lag.

Erforderte auch seine durch übermäßiges Studiren sehr geschwächte Gesundheit besondere Ruhe, so konnte er sich solche doch nicht in der ihm vom Arzt vorgeschriebenen Weise gönnen, da er bei seiner Rückkehr nach Aufsess viel zu ordnen fand.

Seit dem Tode des Vaters war die Verwaltung des umfangreichen Besitzthums nicht in der Weise besorgt worden, wie es der neue Gutsherr wünschen mußte; man verwickelte ihn auch in mehrere Processe, so daß damals viele schwere Sorgen auf seinem Haupte lasteten.

[110] Sobald er sich jedoch körperlich erst ganz wieder erholt hatte, widmete er sich mit der ihm eigenen Kraft und Ausdauer seinem neuen Beruf, sehnte sich aber zugleich nach einem Familienleben, wie er es in früheren Jahren zu Lebzeiten der Eltern in den Räumen seines Schlosses lieb gewonnen hatte. Bald kehrte er auch von einer Reise nach Stuttgart als glücklicher Ehegatte zurück, nachdem er mit Freifräulein Charlotte von Seckendorf ehelich verbunden worden war. Die beiden Eltern wurden durch die Geburt von zwölf Kindern, von denen gegenwärtig noch zehn leben, erfreut und lebten glücklich und zufrieden in ländlicher Abgeschiedenheit auf ihrer Burg.

Einem strebsamen und wissenschaftlich gebildeten Manne, wie Aufsess, konnte es nicht genügen, seine Zeit blos mit der äußeren Verwaltung des Gutes auszufüllen; sobald es sich unter seiner Leitung wieder gehoben hatte und jene Mängel beseitigt waren, die er bei der Uebernahme vorgefunden hatte, setzte er die in früheren Jahren mit Liebe getriebenen juristischen Studien wieder fort und erwarb sich namentlich durch einige gediegene Abhandlungen auf dem Gebiete des Lehn- und Kirchenrechts die Anerkennung der Fachmänner.

War auch Freiherr von Aufsess im Laufe des Tages durch geschäftliche Angelegenheiten in Anspruch genommen, so saß er doch gewiß schon während der frühesten Morgenstunden und Abends beim Scheine der Lampe im Studirzimmer vor seinen Büchern. Die deutsche Rechts- und Adelsgeschichte studirte er mit Gründlichkeit, ordnete sein reichhaltiges Hausarchiv und ließ, nachdem er dasselbe durch Urkunden und Actenauszüge ergänzt hatte, seine Familiengeschichte im Druck erscheinen. Die zu diesem Zwecke in verschiedenen Staats- und Privatarchiven angestellten Forschungen leiteten Aufsess zunächst darauf hin, auch fremde, von ihm mit Schwierigkeit benutzte Quellen nach einem bestimmten System geordnet zu sehen.

In natürlicher Consequenz entwickelte sich hieraus bei ihm die Idee, daß das Material, was er für sich zum Studium ordnete und vorbereitete, anderen Gelehrten ebenfalls dienlich sein könne, und daß ein Austausch dieser geistigen Arbeitsapparate von unvergänglichem Vortheil für spätere Forscher sein müsse. Sein Plan zur Gründung einer großartigen Anstalt, welche das gesammte Quellenmaterial der deutschen Geschichte vereinigen und in Originalen wie Copieen sammeln solle, fand auf diese Weise die erste Anregung. Er erkannte zwar sehr wohl die enormen Schwierigkeiten eines solchen Unternehmens, wurde aber durch die vom König Ludwig an ihn gerichtete Aufforderung zur Gründung eines deutschen Museums ermuthigt, Schritte zur Ausführung dieses Planes zu thun. Daß sich derselbe im Laufe der dreißiger Jahre nicht vollständig realisiren ließ, wurde bereits früher mitgetheilt. Aufsess kehrte nach längerem Aufenthalte von Nürnberg wieder auf sein Gut zurück, lebte mehrfach als Landtagsabgeordneter in München und betheiligte sich außerdem mit Interesse an allen Versammlungen deutscher Geschichtsforscher. Hierdurch trat er mit vielen bedeutenden Persönlichkeiten, von denen er später eine Unterstützung seines Projectes erwarten durfte, in schriftlichen und mündlichen Verkehr.

Waren auch die Bewegungen des Jahres 1848 der Erfüllung seiner Wünsche in jeder Hinsicht entgegen, so schritt er doch sicher, wenn auch langsam, auf der betretenen Bahn vorwärts, um endlich im Jahre 1852 auf der Versammlung zu Dresden das zu erreichen, was er seit 22 Jahren mit Ausdauer angestrebt hatte. Unter dem Vorsitze eines deutschen Fürsten war nunmehr der definitive Beschluß zur Gründung eines Germanischen Museums gefaßt worden. Daß eine solche Anstalt nach vielem Ringen und Kämpfen in’s Leben trat, dazu hatte es eines Mannes, wie Aufsess, bedurft, der, ohne zu den Reichen des Landes zu gehören und trotz einer zahlreichen Familie, Kraft, Zeit und einen beträchtlichen Theil seines Vermögens einer großen Idee geopfert hatte.

Die patriotischen Gefühle, die einen einzelnen Mann gehoben und getragen haben, ein weitgreifendes Unternehmen zum Besten der deutschen Nation in’s Leben zu rufen, sie mußten von Seiten der Fürsten und des Volkes die rechte Würdigung und Unterstützung finden. In wie weit das Germanische Museum solche verdient hat, davon wird sich Jeder am besten überzeugen, der beim Besuche der alten ehrwürdigen Noris seine Schritte auch nach dem Karthäuserkloster lenkt, um hier die Schöpfungen des Museums persönlich in Augenschein zu nehmen.

Freiherr von Aufsess hat noch eine große Aufgabe zu lösen, er hat sie mit Geschick begonnen und wird auch den Bau des Ehrendenkmals der deutschen Nation glücklich weiterführen, wenn ihm ferner die Hülfe zu Theil wird, wie man sie mit Recht von dem deutschen Volke erwarten kann.

Möchten daher recht viele deutsche Stammesgenossen, deren Herzen von patriotischen Gefühlen erfüllt sind, dem Germanischen Museum ein Scherflein zuwenden und dadurch das Bewußtsein gewinnen, wenigstens nach besten Kräften ein Unternehmen gefördert zu haben, das von der Mit- und Nachwelt als ein schönes Zeugniß von Deutschlands geistiger Kraft und Größe anerkannt werden muß. –




Berliner Polizei.

(Fortsetzung.)


III.

„Ich bleibe doch dabei, meine Gemahlin,“ sagte der Baron von Goddentov zu seiner Gemahlin, „daß der Graf Schimmel mir nicht Uhr und Börse gestohlen hat.“

„Wie könnte ein Graf ein Dieb sein, lieber Baron?“

„Richtig, und ich glaube, zu der Ueberzeugung zu gelangen, daß am Ende die Polizei in Berlin nicht klüger ist, als die Berliner Diebe. Wie hätte sonst jener Polizeihauptmann – ? – Aber mein Gott, Verehrteste, was fällt mir da ein?“

„Was fällt Dir ein?“

„Wenn dieser Polizeihauptmann selbst ein Dieb, wenn er doch der Dieb meiner Sachen gewesen wäre!“

„Aber, mein theurer Gemahl, bedenke, alle diese Gensd’armen, Schutzmänner und so weiter gehorchten ihm.“

„Das können lauter verkleidete Spitzbuben gewesen sein.“

„Aber diese Frechheit, mein theurer Baron, wäre zu groß.“

„Ja, ja, eben frech sind die Berliner Diebe! Und ich möchte beinahe darauf schwören! Wir lassen uns kein X für ein U vormachen. Der Mensch war in unserer Nähe. Du selbst warntest mich vor seinen Spitzbubenaugen. Wir waren im dichtesten Gedränge. Alle jene Helfershelfer waren um ihn!“ Er ließ diesen neuen Gedanken nicht fahren. „Ich werde morgen mit dem Polizeipräsidenten darüber sprechen,“ fuhr er fort. „Fahren wir jetzt aus, uns die Stadt zu besehen, ob es denn wirklich der Mühe werth ist, von diesem Berlin so viel Wesen zu machen. Stolpe und Cöslin sind schöne Städte!“

Der Baron und die Baronin von Goddentov waren des Morgens um elf Uhr in Berlin eingetroffen. Sie waren im Gasthofe zur Stadt Rom unter den Linden abgestiegen. Das britische Hotel war damals noch nicht Mode für die Hinterpommern in Berlin. Da sie längere Zeit in der Residenz sich aufhalten wollten, so hatten sie gleich nach ihrer Ankunft einem Commissionair den Auftrag gegeben, ein Quartier für sie zu miethen.

„Nur nicht zu ebener Erde,“ hatte der Baron ihm empfohlen; „denn die Berliner Diebe sind sehr frech und könnten da zu einem einsteigen. Aber auch nicht zwei Treppen hoch; das wäre nicht nobel.“

Der Commissionair hatte ihm ein schönes Quartier, Bel-Etage, am Gensd’armenmarkte besorgt. Der Baron und seine Gemahlin hatten es besichtigt; es hatte ihnen gefallen und sie hatten sofort Besitz davon genommen. Sie waren dann zu dem Gasthofe zurückgekehrt, hatten dem Bedienten und der Kammerjungfer den Befehl ertheilt, die Sachen in das neue Quartier zu schaffen, sich dabei aber ja vor den frechen Berliner Dieben zu hüten, und fuhren nun mit einem Lohnbedienten aus, um sich die Stadt zu besehen.

Der Bediente und die Kammerjungfer schafften die Sachen in das neue Quartier. Sie hatten zwei Droschken dazu nöthig.

Mamsell Justine, die Kammerjungfer, war hager, häßlich, schon einige dreißig Jahre alt, und keifte und commandirte; der Bediente, Monsieur Joachim, hatte grobe Knochen, war fett und träge und gehorchte, aber schläfrig; Alles, wie es in einem Hause von gutem Adel in Hinterpommern sein muß.

[111] „Monsieur Joachim,“ commandirte die Kammerjungfer, „ich fahre in der ersten Droschke und Er wird in der zweiten fahren.“

„Wenn Sie es so meinen, Mamsell Justine.“

„Er hält sich aber immer ganz dicht hinter mir, damit Er auf die Sachen in meiner und in Seiner Droschke achten kann.“

„Ich werde schon aufpassen, Mamsell Justine.“

„Daß Er mir nur ja die Augen offen hat; die Berliner Diebe sind sehr frech.“

„Ah, Mamsell, mir sollte so ein frecher Bursche kommen!“

„Meint Er denn,“ daß ich mich vor solchem Gesindel fürchte?“

Die beiden Droschken fuhren ab. Sie hielten sich, wie Mamsell Justine befohlen hatte, immer dicht hintereinander. Sie erreichten das neue Quartier am Gensd’armenmarkte.

„Monsieur Joachim, helfe Er mir aus dem Wagen – ah, wie hart sitzt man in diesen Berliner Droschken! Na, wenn sie keine weitere Bildung hier haben, von der die gnädige Frau so viel spricht –! – So, Joachim, jetzt trage er die Sachen hinauf; ich werde unterdeß hier Wache halten, damit nichts gestohlen wird.“

Der fette, träge Joachim sah sich mit einigem Schrecken die vielen Koffer, Kisten und Schachteln an, die er hinauftragen sollte.

„Ich allein, Mamsell Justine?“

Mamsell Justine sah fragend die Droschkenkutscher an; diese schüttelten die Köpfe.

„Mamsellken, wir haben Sie hierher gefahren mit Ihrer Bagage da; wir haben unser Geld. Adieu, Mamsellken.“

Sie fuhren ab.

Auf dem Gensd’armenmarkte hatten an einer Straßenecke zwei Menschen gestanden, ein Mann in den dreißiger und ein Bursche von etwa achtzehn Jahren. Aber der Mann sah verlebt aus, wie ein Sechziger, und der Bursche so unreif, als wenn er kaum funfzehn Jahre zählte. Ihre Röcke waren abgeschabt; ihre Stellung und Mienen waren die der Trägheit. Nur ihre verschleierten Blicke flogen rastlos, als wenn sie fortwährend etwas suchten, auf dem weiten Platze hin und her.

Berliner Eckensteher waren sie nicht. Diese Species der Berliner Bildung war damals schon ausgegangen. Wer mit anderen Sorten der Berliner Intelligenz vertraut war, wäre auch über ihren Stand nicht lange zweifelhaft gewesen. Die verschleierten Augen hatten mit ihren lebhaften Blicken bemerkt, was sich vor dem neuen Quartiere des Barons von Goddentov begab. Mit einem gegenseitigen leisen Zunicken verfügten sie sich hin.

„Madame, können wir Ihnen nicht helfen?“ sagte der jüngere Bursch sehr höflich zu Mamsell Justine.

„Ah, ah, Madame!“ sagte Mamsell Justine für sich. „Das ist ein höflicher junger Mensch. – Wird es Ihm wirklich allein zu schwer, Monsieur Joachim?“ fragte sie den Bedienten.

„Man ist doch angegriffen von der Reise, Mamsell Justine.“

Der ältere der beiden Männer hatte schon einen Koffer auf seine Schultern geladen; er hatte sich gar den schwersten ausgesucht. Dem Monsieur Joachim lachte das Herz im Leibe. – „Wohin?“ fragte ihn der Mann.

Aber Monsieur Joachim war doch auch ein vorsichtiger Mann.

„Mamsell Justine,“ flüsterte er in das Ohr der Kammerjungfer, „ich denke, wir accordiren vorher mit den Menschen, damit sie uns nicht später überfordern.“

Mamsell Justine sah die Richtigkeit dieser Bemerkung ein. Sie wandte sich an die beiden Männer. „Wie viel bekommt Ihr, wenn Ihr die Sachen hinauftragen helft?“ fragte sie.

„Wie hoch geht es, Madame?“

„Eine Treppe.“

„Zwanzig Silbergroschen wäre wohl nicht zu viel, Madame.“

„Zwanzig Silbergroschen!“ rief die Kammerjungfer entsetzt.

„Für den Mann, Madämken.“

„Madämken! Er ist ein Flegel.“

„Zusammen denn einen Thaler, liebe Madame,“ sagte höflich der jüngere Mensch.

„Noch keinen halben Thaler,“ rief die Mamsell.

„Na, zwanzig Silbergroschen denn, liebe Madame!“

Monsieur Joachim warf der Mamsell einen Wink zu.

„Nun, so sei es,“ sagte sie. „Aber es ist ein Sündengeld. Für zwanzig Silbergroschen hat man in Hinterpommern vier solche Burschen drei Tage lang im Tagelohn.“

„Das ist in Hinterpommern auch, Madämken!“ sagte der ältere Mensch.

„Was will Er mit Seinem „auch in Hinterpommern“?“ fuhr Mamsell Justine auf.

Der Bediente aber sagte: „Für die zwanzig Silbergroschen müßt Ihr aber die Sachen allein tragen.“

„Ganz allein, Herr, das versteht sich.“

Aber der junge Bursche hatte noch ein Bedenken.

„Beste Madame, wären Sie nicht von der Güte, das Geld uns vorauszugeben?“

Mamsell Justine wurde trotz der Höflichkeit des jungen Menschen dunkelroth vor Zorn.

„Seht einer die Frechheit!“ rief sie, auf’s Höchste aufgebracht.

„Wir haben es so nöthig, beste Madame.“

„Aber zum Donner–, gehe ich Euch denn mit dem Gelde durch?“

„Das gewiß nicht, liebe Madame. Aber es arbeitet sich besser, wenn man schon etwas in den Taschen fühlt.“

Monsieur Joachim warf der Mamsell einen bittenden Blick zu. Sie zahlte keifend den Manschen zehn Silbergroschen aus.

„Es ist eine Schande. Nun tragt schnell, ohne weitere Umstände.“

„Sie sollen mit uns zufrieden sein, Madämken. Also eine Treppe?“

„Monsieur Joachim,“ sagte Justine, „Er ginge wohl dem Menschen nach?“

Aber der träge Diener war auch dazu zu träge. „Ich bleibe doch lieber zu Ihrem Schutze hier, Mamsell Justine.“

Auch der jüngere Bursch belud sich. Er hatte sich den zweiten schweren Koffer ausgesucht. Er war flink damit die Treppe hinauf, seinem älteren Begleiter nach. Joachim machte es sich bequem, indem er sich auf eine Kiste setzte. Dann stellte er Betrachtungen an.

„Was das Volk hier mager ist, Mamsell Justine.“

„Aber doch flink!“

„Ich glaube, die bekommen hier nicht halb so viel zu essen, wie bei uns in Hinterpommern.“

„Und arbeiten doch das Doppelte.“

„Meinen Sie, Mamsell Justine?“

„Gewiß meine ich das, und Er sollte sich nur ein Muster daran nehmen, Er, Monsieur Joachim. Sitzt Er da und rührt keinen Knochen, und die beiden Menschen kommen nicht wieder –“

„Ich wundere mich auch darüber, Mamsell Justine. Sie waren so flink hinauf, und herunter – zurück kommen sie nicht. Es ist curios.“

Ein Dienstmädchen kam aus dem Innern des Hauses zu ihnen.

„Ah, Sie lassen wohl die Sachen hinaufbringen?“

Mamsell Justine war einmal am Keifen. „Sind die Dienstmägde in Berlin so neugierig?“

Aber das Mädchen war ein Berliner „Mädchen für Alles“, sie hatte also auch auf Alles eine Antwort. „Sehe einer die alte magere Schachtel!“

Mamsell Justine wurde wüthend, „Ich eine Schachtel?“ rief sie. „Ich alt?“

„Meinetwegen können Sie auch eine junge Meerkatze sein.“

„Ei, Sie freche Person!“

„Na, hören Sie ’mal, ein so grobes Maul brauchen Sie auch nicht zu haben, wenn man mit gutem Herzen zu Ihnen kommt. Was haben Sie denn da für ein paar verdächtige Menschen mit den Sachen hinaufgeschickt?“

„Das ginge Sie, naseweise Person, wohl etwas an?“

„Aber es geht Sie wohl nichts an, daß die beiden Menschen über Hals über Hopf mit Ihren zwei Koffern von oben her die Hintertreppe hinuntergerannt sind und jetzt schon längst in der Taubenstraße und über alle Berge sein werden? Ich wollte sie aufhalten, aber der Eine stieß mich auf die Seite, daß mir noch die Knochen wehe thun, und da liefen sie alle Beide an mir vorüber.“

Das war ein Donnerschlag, wenigstens für Mamsell Justine. Monsieur Joachim blieb noch sehr gleichgültig auf seiner Kiste sitzen.

„Es wird so schlimm nicht sein,“ sagte er, „Die werden ihren halben Lohn nicht im Stiche lassen.“

„Na, wenn das kein Hinterpommer ist!“ bemerkte das Dienstmädchen.

[112] Mamsell Justine aber rief wüthend: „Wird Er bald Beine bekommen, Er fauler Schlingel! Im Augenblicke folge Er mir, den beiden Menschen nachzusetzen. Himmel, Himmel! Beide Koffer weg! Mit den besten Sachen der Herrschaft! Das ist mein Tod! Diese Berliner Diebe! Diese Berliner Diebe!“

Sie rannte in das Haus, die Treppe hinauf. Und auch der träge Monsieur Joachim hatte Beine bekommen; er folgte ihr. Um die Sachen, die noch vor dem Hause lagen, bekümmerten sie sich in Wuth, Schreck und Eile nicht. Aber die Berliner „Mädchen für Alles“ haben auch für Alles ein gefühlvolles Herz.

„Ich muß ihnen doch wohl die Sachen hier verwahren, bis sie wiederkommen,“ sagte das Dienstmädchen für sich, „sonst werden die ihnen auch noch gestohlen.“ Und sie setzte sich zu den übrig gebliebenen Kisten und Schachteln des Herrn Baron und der Frau Baronin von Goddentov und hütete sie.




Ein Parvenu des vorigen Jahrhunderts.

Von Ludwig Storch.
(Schluß.)

Der Scharfblick des Königs Friedrich Wilhelm I. von Preußen begriff leicht, daß Gotter, so weit dessen Lebensweise auch von der Einfachheit und Frugalität entfernt schien, welche dieser Monarch zur Grundlage seines Lebens gemacht hatte, nichts destoweniger ein sehr geschickter und brauchbarer Mann sei, ein Mann, welchen die größten Fürsten aufsuchen und in ihr Interesse zu ziehen sich angelegen sein lassen müßten. Der König fing damit an, unsern Gotter mit dem Orden der Großmuth zu schmücken, dann, im Frühling 1726, ließ er eine schmeichelhafte Einladung an den Hof von Berlin an ihn ergehen. Zu gleicher Zeit eröffnete der König dem Herzoge von Gotha den Wunsch, den Baron von Gotter bei sich zu sehen, und dieser erhielt von seinem Hofe die Erlaubniß zur Reise nach der königlich preußischen Residenzstadt. Hier gefiel der feine Weltmann dem einfachen Monarchen so ungemein wohl, daß er kurze Zeit nach seiner Ankunft durch Cabinetsordre zum Staatsrath mit Sitz und Stimme und mit einem Gehalte von tausend Thalern (für damalige Zeit eine hohe Summe) ohne eine bestimmte Verpflichtung ernannt wurde. Damit noch nicht genug, erhielt er auch die Anwartschaft auf das erste erledigte Canonicat in Halberstadt, und wurde im folgenden Jahre von dem ihm so gnädig gesinnten Könige mit dem schwarzen Adlerorden decorirt. Nichts liefert einen schlagenderen Beweis von dem eigenthümlichen, alle Herzen gewinnenden Zauber in Gotter’s Wesen, als diese überschwengliche Gnade des sittenstrengen und leichtfüßigen Hofleuten nichts weniger als wohlgesinnten Königs. Welch ein ausgezeichneter und liebenswürdiger Mensch mußte dieser Parvenu sein, daß er einen so ernsten und eigensinnigen Charakter, wie Friedrich Wilhelm I., in so hohem Grade und so leicht und schnell für sich zu gewinnen vermochte!

Diese neuen glänzenden Bande lösten aber merkwürdiger Weise die alten nicht sogleich, mit welchen Gotter’s dankbares Herz an seinen gnädigen Landesherrn gefesselt war; denn nach Wien zurückgekehrt, blieb er auch als preußischer Staatsbeamter in seiner zeitherigen Stellung zum gothaischen Hofe, ja er wurde 1731 sogar zum Comitalgesandten des Herzogs beim Reichstage ernannt, ohne daß er genöthigt gewesen wäre, seinen Aufenthalt in Wien aufzugeben.

Die durch den Tod des Herzogs Friedrich II. am gothaischen Hofe verursachten Veränderungen bestimmten Gotter, auf die ihn dort bindenden Aemter Verzicht zu leisten, um endlich den ihm so schmeichelhaften Avancen des Königs von Preußen ungetheilt zu entsprechen. Aber indem er den Herren wechselte, wechselte er seine Function nicht; er blieb königl. preuß. Gesandter am kaiserl. Hofe und erhielt die Erlaubniß, auch die Angelegenheiten des Herzogs von Würtemberg am kaiserl. Hofe besorgen zu dürfen, wie er früher die des Markgrafen von Bayreuth besorgt hatte. In dieser Eigenschaft empfing Gotter die kaiserliche Investitur des Herzogthums Stettin für den König, seinen Herrn, und die der Reichslehen des Herzogs von Würtemberg.

In dieser glänzenden Stellung blieb der Baron Gotter bis zu Ende des Jahres 1736.

Ueber zwanzig Jahre hatte der verwöhnte Sohn des Glückes alle Freuden und Seligkeiten des fröhlichen Wiens durchgeschwelgt, hatten die Götter des Olymp in der Kaiserburg alle ihre heitern Gaben aus dem Füllhorn der Gunst und der Gnade über sein Haupt ausgeschüttet; auch ihm schlug die Stunde, wo er ihrer überdrüssig wurde und sich mit Gleichgültigkeit von ihnen abwandte. Viel Schönes hatten ihm seine Göttinnen geschenkt und gewährt: ewige Jugend hatten sie ihm nicht geben können, sich selbst nicht; auch sie waren alt geworden. Er sehnte sich fort vom Schauplatz seiner Siege und wünschte nichts mehr, als seinen zurückgeschobenen Triumphwagen zur Reisekutsche umzuwandeln, die ihn in die Einsamkeit des Landlebens führen sollte. Er war satt der glücklichen Erfolge, müde der an ihn verschwendeten Gunst, und er hegte mit dem von ihm so hochverehrten Horaz nur noch den Wunsch, „daß er ein Landgut hätte, wo ein Garten und dem Wohnhaus nah eine Quelle und ein Gehölz darüber.“ Und er kaufte in der Nähe seiner Vaterstadt Gotha das an der Gera, wenn sie von Arnstadt herabkommt, gelegene freundliche Gut Molsdorf, wo einer seiner Väter einst Pfarrer gewesen war.

Von diesem Tage an lag er dem Könige, seinem Herrn, mit so inständigen Bitten ob, ihm die ersehnte Ruhe auf diesem Landsitze zu vergönnen, daß der Monarch, durch seine Dienste zu sehr zufrieden gestellt, um sie nicht auf freundliche Weise zu vergelten, ihm die erbetene Abberufung und Erlaubniß, in Molsdorf zu leben, mit einer anständigen Pension bewilligte und ihm den Charakter eines bevollmächtigten Gesandten des obersächsischen Kreises verlieh. Seit drei Jahren schon gehörte ihm das durch ihn so berühmt gewordene Landgut im Herzogthum Gotha, als er, dem geräuschvollen Wien entronnen, in die Stille desselben trat, um sich ganz den Süßigkeiten der Ruhe hinzugeben, und er betrieb nun das bereits begonnene Werk mit begeistertem Eifer, Molsdorf in den reizenden Musensitz eines modernen Epikureers umzuschaffen.

Nichts legt ein schöneres Zeugniß von Gotters im Grunde doch edler Natur ab, die von dem geistlosen, des sittlichen Gehalts entbehrenden bunten Schaumleben am Wiener Hofe zuletzt angeekelt, ihre Sehnsucht nach bessern Genüssen zum unabweisbaren Bedürfniß wachsen sah, als daß er sich in Molsdorf den stillen Freuden der Natur und einer geregelten nützlichen Thätigkeit hingab. Aber es gab noch einen dritten Grund, der ihn veranlaßt hatte, das Landgut in seinem thüringischen Vaterlande zu erwerben, und der ihn nun dorthin zog, und vielleicht war dieser der stärkste. Er, der in der Dame der höhern Gesellschaft eben nur – das Weib kennen gelernt hatte, wurde in seiner Vaterstadt von der höchsten Ehrfurcht und sittlichen Ergebenheit für ein hochgestelltes Frauenpaar von der reinsten Tugend, von der höchsten Intelligenz, vom tiefsten Gefühl und vom feinsten Lebensverständniß so mächtig ergriffen, daß ihn sein bewunderndes und anbetendes Herz in den Zauberkreis jener erhabenen Huldinnen stellte. Und in der That hat er erst hier sein reinstes und schönstes Glück gefunden. So wahr ist es und wird es ewig bleiben, daß in edlen Menschennaturen, wenn sie auch vom bunten süßduftenden Tand der Sinnlichkeit überschüttet sind, von den Strahlen der Geistessonne getroffen, das Verlangen nach übersinnlichen Genüssen geweckt wird, steigt und sie endlich dem reinen, die höchsten Wonnen gewährenden Cultus des Geistes zuführt. Dieses kleine Schloß in Molsdorf sollte durch den üppigen Zögling des üppigen Kaiserhofes ein Tempel dieses Cultus werden.

Wahrlich, Gotter gab sich in Molsdorf nicht der trägen Ruhe eines Sybariten hin! Aber ebenso wenig fiel ihm ein, den Stoiker zu spielen; er lebte nur den echten und wahren Grundsätzen seines Meisters Epikur treuer: er suchte das höchste Lebensgut in jener geistigen Genugthuung, welche aus der Freiheit der Seele von Unruhe und Schmerz entspringt, und die sie allein aus den reinen Genüssen des Geistes durch Natur, Schönheit, Kunst und Wissenschaft erringt. Das von ihm umgebaute Schloß, der von ihm angelegte [113] große Garten wurde von seinem feinen Kunstsinne auf’s Reizendste ausgeschmückt; er häufte auf dieses kleine Stück Erde alle Gaben und Mittel eines raffinirten Lebensgenusses in der edelsten Bedeutung, wie ihn das achtzehnte Jahrhundert in den ambraduftenden Kreisen der höhern Gesellschaft feinster Blüthe zur Erscheinung brachte. Der stets siegreiche Held in Cupido’s heitern Schlachten, der seine Siegestrophäen über schöne und zärtliche Herzen nicht zusammenzählen konnte, wurde nun von den keuschen Strahlen jenes unvergleichlichen Doppelsternes, – der Herzogin Louise Dorothee und der Frau von Buchwald[3] – der den Hof, die Stadt und das Land Gotha mit mildem Glanze erfüllte, gefesselt.

Als die Rosen von Gotters genußreicher Jugend abgeblüht waren, und in einer Lebensperiode, wo das Herz anderer Männer, die sich Haupt und Becher mit Blumen zu kränzen und den Glanz derselben in schönen Augen widerstrahlen zu sehen lieben, kälter zu schlagen beginnt, ging in dem seinigen das erhabene Bedürfniß einer geistigen Liebe auf, und er beugte sich still anbetend vor dem Altar, auf welchem weder die Flamme wilder Leidenschaft, noch das Plaisanteriefeuer parfümirter Cupidität und zärtlicher Accommodation brannte, wo vielmehr der ätherische Strahl des durchgeisteten sittlichen Frauenthums leuchtete.

Genug, mit den Schätzen, die ihm die ebenfalls in ihn verliebte und ihn auch

Molsdorf.

hier rastlos verfolgende Glücksgöttin zweimal durch das große Loos der Staatslotterien in London und im Haag zuwarf, machte er aus Molsdorf einen Feensitz, um die Herzogin und ihre Doppelgängerin zuweilen hineinzuführen, den beiden hohen Damen sinnige Feste zu geben und ihnen auf diese ausgesuchte Weise seine Huldigung darzubringen. Was der feinste Luxus in den höchsten Regionen Köstliches und Seltenes darbot, das stellte Gotter in seinem Molsdorf auf, gleichsam als Zeichen und Tribut seiner der edlen Herzogin geweihten schwärmerischen Ehrfurcht.

Auch erkaufte er von den Brüdern des regierenden Herzogs das Rittergut zu Dietendorf in der Nähe Molsdorfs, der Altenhof genannt, und wollte 1737 darin eine Fabrik von wollenen Zeugen errichten. Es wurde aber nichts daraus, und Gotter verkaufte das Gut an einen Grafen Promnitz aus Schlesien, einen eifrigen Herrnhuter, der hier eine Brüdercolonie zu gründen gedachte und damit 1743 den Anfang machte. Die gothaische Regierung hinderte damals die Ausführung dieses Planes, der erst zwölf Jahre später gedieh und die Erbauung des Ortes veranlaßte, welcher, von den Brüdern Gnadenthal, von den Dietendörfern und der Umgegend Neugottern genannt, seinen jetzigen Namen Neudietendorf 1764 von der Regierung bei Ertheilung der landesherrlichen Concession erhielt. Der Name Gnadenthal sollte durchaus nicht geduldet werden, und er hat sich gänzlich verloren, weil er nicht im Herzen des Volks wurzelte; den Namen Neugottern hört man aber jetzt noch.

Noch stärker ist die Erinnerung an Gotter in Molsdorf; an diese seine phantastisch-prächtige Schöpfung hat er seinen Namen für Jahrhunderte gekettet. Oft sieht man dort sein Wappen und seinen verschlungenen Namenszug, sogar auf den Möbeln, die noch von ihm herrühren.

Sobald Friedrich der Zweite den preußischen Königsthron bestiegen hatte, rief er den Baron Gotter in den activen Staatsdienst zurück. Gotter gehorchte, wenn auch nicht gerade gern, und der junge König belohnte diesen Gehorsam mit der Oberhofmarschallswürde. Wenige Monate später erhob ihn der Kaiser in den Reichsgrafenstand, und Gotter nahm diese neue Würde mit Genehmigung des Königs, seines Herrn, an. Es war die letzte Standeserhöhung, welche Kaiser Karl VI. vornahm; denn er starb unmittelbar darauf. Dieser Todesfall veranlaßte den König, den Grafen Gotter mit der kitzligen Sendung an die junge Königin von Ungarn und Böhmen, Maria Theresia, zu betrauen, damit er ihr Vorschläge zu einem Abkommen in Bezug auf die vom König beanspruchten schleichen Gebietstheile mache. Die Wahl dieses außerordentlichen Gesandten zeugte vom Scharfsinne des Königs. Gotter war am Wiener Hofe immer noch ein beliebter Mann, und kein anderer preußischer Staatsbeamter durfte sich solcher intimen Verbindungen in der nächsten Nähe, der Königin-Erzherzogin rühmen, deren Kindheit er so nah gestanden hatte. Die Speculation war aber doch eine verfehlte; Gotter richtete nichts aus, und die abschlägliche Antwort, die er seinem königlichen Herrn zurückbrachte, veranlaßte bekanntlich den glorreichen ersten schlesischen Krieg.

Gotter blieb nun bis zum Jahre 1745 in Berlin, wo er nach der Wiederherstellung der königlichen Akademie der Wissenschaften (1743 und 1744) einer der vier Staatsminister und Curatoren war, welche halbjährig im Vorsitze wechselten.

Entweder hat ihn der König nachher vernachlässigt, und Gotter zog sich aus beleidigtem Stolze wieder nach Molsdorf zurück, oder die endlich wankende Gesundheit seines sonst so robusten Körpers nöthigte ihn zu der Bitte an den König, in Molsdorf wohnen zu dürfen. Der Monarch erfüllte seine Wünsche, und Graf Gotter durfte wieder fünf Jahre in seinem geliebten Patmos zubringen. Aber dieser Zeitraum genügte nicht zu seiner Wiederherstellung; seine Uebel scheinen sich sogar verschlimmert zu haben. Er nahm also seine Zuflucht zu einer Reise nach Montpellier, wie zu einem letzten Hülfsmittel, und dieses schlug über alle Erwartung gut an.

Nach einem Jahre (1751) kehrte er, an Leib und Seele gekräftigt und wieder mit der ganzen alten Lebhaftigkeit ausgestattet, zurück. Vom König gerufen, begab er sich nach Berlin, um neue Beweise der königlichen Gnade zu erleben. Er wurde mit hohen Würden und Aemtern überhäuft und sein Einkommen war ein sehr bedeutendes. Trotz all seiner einträglichen Aemter, die er bis an seinen Tod bekleidete, und trotz des zweimal gewonnenen großen Looses hinterließ er Schulden. Friedrich der Große sagte von ihm: es sei Alles möglich, nur nicht, den Grafen Gotter reich zu machen.

In den letzten fünfjährigen Aufenthalt Gotters in Molsdorf fällt seine Correspondenz mit dem Könige, welche in dessen von Preuß herausgegebenen Werken abgedruckt ist. Man ersieht daraus, daß Gotter wohl des Vertrauens seines Monarchen sich erfreute, doch schreibt dieser nicht in dem herzlichen Tone an ihn, dessen er sich gegen seine literarischen Freunde bediente. Wahrscheinlich datirt auch aus dieser Periode Friedrichs Epître au Comte Gotter (ebenfalls in den Oeuvres du Philosophe de Sans-Souci [114] abgedruckt), in welcher Gotter als ein grasser Epikureer mitgenommen wird. Dem also Angesungenen, längst über die Jahre rosenfarbner Phantasie und anakreontischen Lebensgenusses hinaus, that der bittere Spott weh, doch ergriff er die einzige Partie, die ein weltkluger Kopf, wie der seinige, unter diesen Umständen wählen konnte: er versteckte seine verletzte Empfindlichkeit hinter Scherz, indem er der königlichen Muse in einem launigen Briefe seinen tief empfundenen Dank abstattete, daß sie zu seinem unbeschreiblichen Erstaunen geruht habe, einen alten abgelebten Mann wieder aus der Dunkelheit hervorzuziehen, und ihm an der Grenze des Lebens ein so herrliches Unsterblichkeitsdiplom auszufertigen, in dessen Anerkennung die Nachwelt ihn wenigstens als einen Epicuri de grege porcum unmittelbar zwischen des großen Friedrichs Tischgenossen und Schooßhunde classificiren werde.

Das Leben, welches Gotter in Molsdorf führte, namentlich in der letzten Periode als Graf, war nichts weniger als einfach idyllisch und frugal. Vielmehr haben sich von der schwelgerischen Ueppigkeit desselben, von den glänzenden Festen, die er dem Hofe und dem benachbarten Adel gab, manche Anekdoten erhalten, die wenigstens in meiner Jugend noch vielfach erzählt wurden. Er hatte sich in dieser ländlichen Zurückgezogenheit mit einem wahrhaft fürstlichen Hofstaate umgeben, bei dem auch die üblichen Laufer nicht fehlen durften. Ja, er that sich sogar etwas darauf zu gut, ein wahres Prachtexemplar, einen sogenannten Parforcelaufer zu besitzen, der, wie man behauptete, aus Molsdorf selbst gebürtig war, Namens Heinhold. Zufolge einer Wette des Grafen mit einem anderen Standesherrn mußte dieser Mensch von hier bis nach dem ungefähr fünfzig Stunden weiten Hannover und zurück in sechsunddreißig Stunden laufen. Der Läufer vollendete diese Reise wirklich in noch kürzerer Frist, erlag jedoch der übermäßigen Anstrengung dicht vor Molsdorf auf dem sogenannten Palmberge, wo ein Blutsturz seinen raschen Tod herbeiführte. Was that’s? Der Herr Graf hatte die Wette gewonnen. Mich dünkt, dieser eine Zug verbreitet über den Charakter des Mannes hinlänglich Licht. Unmittelbar neben der der Herzogin dargebrachten raffinirten Huldigung und den schwelgerischen Festen der todtgehetzte Laufer!

Es wird noch von einer andern nicht minder tollen Wette erzählt, die er einer adligen Dame aus der Nachbarschaft abgewann, die Wieland oder Thümmel wohl in seinen Versen hätten erzählen können, die aber heutigen Tages der Schicklichkeit halber sich nicht mehr mittheilen läßt, aber beweist, daß er in solchen Fällen sein eigenes Leben so wenig schonte, wie das seines Läufers. Er scheint überhaupt auf dem Gipfelpunkte des aristokratischen haut-goût seiner Zeit gestanden zu haben, und es werden in dieser Beziehung Dinge von ihm erzählt, die wie Erfindungen einer tollgewordenen Phantasie klingen, aber gerade ihrer Ungeheuerlichkeit wegen nicht von einer anständigen Feder mitgetheilt werden können und mit seiner galanten und ehrfurchtsvollen Schwärmerei für die edle und sittenstrenge Herzogin seltsam contrastiren. Er war dabei ein fröhlicher Herr, der kein Vergnügen zu theuer fand. Als er das große Loos zum ersten Male gewonnen hatte, veranstaltete er ein großes Festmahl, dessen Hauptgericht junge Erbsen, sein Lieblingsgericht, waren; er bezahlte jede Erbse mit einem Groschen.

Auf dem Schloßthore sieht man heute noch zwei männliche Figuren aus Stein mit Gotter’s Wappenschild, Spieß, Schwert und einer großen Geldkatze über dem Rücken, in welcher sich große Geldstücke abdrücken. Sie werden die Geldmänner genannt und sollen die Ueberbringer der beträchtlichen Summen gewesen sein, welche ihm zu bestimmten Zeiten von Berlin überschickt wurden. Sie standen mit dem Gesichte nach dem Schlosse zu, gleichsam als eben ankommende Freudeboten. Als die Gelder ausblieben, ließ er die steinernen Glücksmänner herumdrehen. So kehren sie noch dem Schlosse den Rücken zu.

Als er selbst endlich gezwungen war, dasselbe zu thun und auf seinem Hengste durch den hinter Molsdorf befindlichen Weidgarten sprengte, wandte er sich lachend noch einmal zurück und rief: „Leb’ wohl, mein liebes Molsdorf! Du hast mich viel Geld gekostet. Nun ich keins mehr habe, müssen wir scheiden. Wir sehen uns nicht wieder!“ Und er ritt auf und davon.

Seinem Ende gingen schwere Leiden voraus, aber er war so bewundernswürdig ehrlich, selbst einzugestehen, daß sie verdiente seien. Dieses Geständniß ist fast geeignet, mit seinem schrankenlosen Leben zu versöhnen. Selbst Schmerzen leidend, verleugnete er seine joviale Natur nicht. Er hatte den Becher süßer Lebensfreuden bis zum Bodensatze geleert, und als ihm dieser in seiner bösen Herbigkeit nicht erlassen wurde, nahm er ihn Tropfen für Tropfen, ohne den Mund zu verziehen. Und so blieb er ein echter Epikureer bis zur letzten Stunde, die ihm am 28. Mai 1762 in Berlin schlug. Siebzig Jahre alt, starb er als königlich preußischer Staats- und Kriegsminister, Vice-Präsident des General-Directoriums für den Krieg und die Finanzen, Oberhofmarschall und Generalpostdirector. Verheirathet war er nie, aber es gab in Molsdorf und der Umgegend viel heimliche und öffentliche Nachkommenschaft von ihm. Er hat sie Gott empfohlen; mehr konnte er nicht thun. Auch seinen Verwandten im Lande Gotha hat er gar nichts genützt. Keinem hat er eine Laufbahn bereitet. Der Vater meiner Mutter und dessen Bruder, ein paar blutarme Studenten, ihm so nah verwandt und persönlich bekannt, haben kein Stipendium, auch nicht die kleinste Unterstützung durch ihn erhalten. Die Familie hat sich mit der Ehre seiner Verwandtschaft begnügen müssen. Es ist mit der menschlichen Schwachheit zu entschuldigen, daß die Familie doch stolz auf den Herrn Grafen war.

Im Andenken des Volkes hat sich Gotter nur als vornehmer jovialer Wüstling erhalten; was er als Mensch, Staatsmann und Gelehrter war, ist vergessen.

Der einst steife, von der Scheere in Ordnung gehaltene französische Garten wurde nach dem Aussterben des Fürstenhauses Gotha in einen sogenannten englischen Park umgewandelt, aus dem allmählich nicht nur die zahlreichen Götterstatuen, sondern auch die Götter selbst verschwunden sind. Das kleine Schloß hat dem Anscheine nach erhalten werden sollen, wie es zu Gotter’s Zeit war, aber sein einst so reiner Spiegel ist vom Hauche der Zeit stark getrübt. Der heutige intelligente Besucher der einst so berühmten glänzenden Schöpfung wird sich schwerlich einer unbehaglichen Verstimmung erwehren können. Nichtsdestoweniger wird auch jetzt noch der Garten den Sommer über aus den benachbarten Städten Erfurt, Arnstadt, Gotha und den übrigen Ortschaften als Rendezvous und Vergnügungsort benutzt. Sehr interessant sind die zum Theil werthvollen Bilder, mit welchen Gotter Saal und Zimmer des Schlosses geziert hat, doch sind die besten davon in neuester Zeit ausgewandert. Es sind meist historische Portraits aus seiner Zeit, zumal eine große Anzahl fürstlicher Personen. Der Kenner der Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts wird sich gut in diesen Räumen unterhalten. Seine Blicke werden von einem lebensgroßen Bilde Friedrich des Großen als sechzehnjährigen und einem Brustbilde desselben als sechsundzwanzigjährigen Kronprinzen gefesselt werden.

Gotter’s mächtiger Gönner und Freund Prinz Eugen ist ebenfalls in Lebensgröße zu sehen; desgleichen Friedrich Wilhelm I. von Preußen. Im Damenzimmer, so genannt, weil lauter Portraits vornehmer Damen darin hängen, sehen wir die jugendlichen Gestalten der beiden späteren Kaiserinnen Maria Theresia und Katharina II. Wenn die Erstere eine liebenswürdige Erscheinung ist, so ist die Zweite eine zarte Hebegestalt, in welcher man wahrlich die spätere nordische Semiramis nicht ahnen würde. Für mich hat das Bild der geistreichen Herzogin Louise Dorothee von Gotha in der Ordenstracht der fröhlichen Einsiedler die meiste Anziehungskraft. In einem anderen Zimmer findet man auch Portraits berühmter Schauspielerinnen, Sängerinnen und Tänzerinnen jener famosen Zeit. Das werthvollste aller Bilder ist ein Bruststück vom Grafen Gotter selbst (es sind zwei Portraits von ihm da). Wenn irgend ein Portrait wahr und getroffen sein muß, so ist es dieses, das den Beweis liefert, daß die Erscheinung nie lügt.

Die ganze Individualität Gotters tritt uns aus diesen Zügen entgegen. Wir begreifen, daß dieser schöne kräftige Mann mit dem braunen Teint und dem braunen Haare (er ist als angehender Vierziger gemalt), mit diesen flammenden, heiter lachenden, geistreichen Augen, mit diesem üppig geschwellten Munde der Liebling aller liebebedürftigen Frauen sein mußte. Seine Genialität thut sich schon darin kund, daß er die unerläßliche Perrücke, den Galarock und die Halsbinde verschmäht und in einer poetischen, wahrscheinlich idealen Tracht erscheint. Unter den übrigen Perrückenträgern nimmt sich dieses Bild überraschend fremdartig aus. Man meint einen [[William Shakespeare|Shakespeare]ischen Helden unter den Darstellern einer Staatsaction zu sehen.[4]

[115] Auf einer 1761 (ein Jahr vor seinem Tode) auf Gotter geprägten ziemlich großen und sehr schönen Münze sieht man sein wohlgetroffenes Brustbild von der Seite in einer idealisirten Allongeperrücke. Die Rückseite zeigt ein stolzes Schiff mit vollen Segeln auf dem Meere mit der Umschrift: Quo rapiunt aurae? (Wohin reißen es die Winde?) – Gotter war ein treuer Sohn seiner leichtsinnigen Zeit, ein Cabinetsstück der aristokratischen Frivolität des vorigen Jahrhunderts, – der Mutter der Revolutionen!




Die gefährlichsten Hustekrankheiten des Kindesalters.
2. Der Keuchhusten.

Eine verständige und gewissenhafte Mutter, wenn sie merkt, daß ihr Kind hüstelt oder hustet, behält es sofort zu Hause und zwar in gleichmäßig warmer, reiner Luft, die aber nicht blos am Tage, sondern auch bei Nacht warm und rein sein muß. Thut sie das, zumal zu einer Zeit, wo der Keuchhusten herrscht, so bekommt das Kind den Keuchhusten nicht, eine Hustekrankheit, von welcher sogar die homöopathischen Aerzte, die doch Alles schnell mit ihren ausgezeichneten Arzneimitteln (Nichtsen) heilen zu können meinen, zugeben, daß sie nicht unter vier, wohl aber bis zwölf Wochen andauere. Nur Hahnemann II., das ist nämlich Herr Dr. Arthur Lutze,[5] behauptet, daß durch richtig gewählte homöopathische Arzneien (wie: weiße Nieswurz, Sonnenthau, Kupfer oder Wurmsamen) dieser Husten oft sogleich abgeschnitten werden könne, während er in der Regel achtzehn Wochen dauere, wenn nichts eingegeben wird, und daß er bei fleißigem Mediciniren allopathischer Mittel auch wohl noch länger anhalte. Doch scheint von allen Homöopathen blos Herr Dr. Lutze die Keuchhusten-Abschneiderei loszuhaben, denn seine Herren Collegen bringen die Heilung dieses Hustens, ebenso wie der arzneifeindliche Naturheilungsproceß, niemals unter Wochen fertig. Uebrigens (aber ganz im Vertrauen gesagt) ist der Keuchhusten eine Krankheit, bei welcher die Aerzte aller Schulen sehr wenig wissen und noch weniger können, und die eigentlich bei Jung und Alt den Glauben an die Heilmacht des Arztes und der Arzneien recht tüchtig erschüttern sollte. Es gibt in den Apotheken wirklich nur noch wenige Medicamente, die beim Keuchhusten noch nicht probirt worden sind.

Der Keuch- oder Stickhusten befällt, in der Regel nur einmal im Leben, besonders Kinder zwischen dem zweiten und achten Lebensjahre, doch auch Säuglinge und Zehn- bis Zwölfjährige; Mädchen und Schwächlinge werden in größerer Anzahl davon ergriffen, als Knaben und kräftige Kinder. Auch bei Erwachsenen hat man bisweilen Keuchhusten beobachtet. Nicht selten wird eine solche große Anzahl von Kindern eines Ortes von dieser Krankheit heimgesucht, zumal im Frühling und am Ende des Winters, daß man von Keuchhusten-Epidemien spricht, die wahrscheinlich (wie die nicht selten gleichzeitig herrschende Grippe- und Masern-Epidemie) bestimmten, zur Zeit noch unbekannten Luftverhältnissen ihren Ursprung verdanken. Es soll dieser Husten auch anstecken, wird behauptet, und dann sechs Tage nach der Ansteckung zum Vorschein kommen. Ist dies der Fall, dann kann die Ansteckung aber wohl nur in nächster Nähe (durch einen luftförmigen Ansteckungsstoff) geschehen. Es werden allerdings manchmal Ammen und Kindermädchen, deren Pfleglinge an Keuchhusten leiden, von einem ähnlichen Husten befallen. Doch dürfte sehr oft auch ein keuchender Husten bei Kindern, die viel mit Keuchhustenkranken umgehen, auf Nachahmung beruhen. Jedenfalls ist es gut, gesunde Kinder von solchen Kranken fern zu halten.

Das Eigenthümliche bei dieser Krankheit sind die periodisch wiederkehrenden, durch freie Zwischenräume getrennten krampfhaften Hustenanfälle, von denen ein jeder mit einem langen, keuchenden Einathmen beginnt, worauf fünf, sechs oder noch mehrere kurz und gellend abgestoßene Aushustungen so schnell hintereinander folgen, daß kein Einathmen dazwischen mehr möglich ist. Erst am Ende der Hustenstöße tritt das Einathmen als ein langgedehntes, keuchend-schallendes Stöhnen oder schrillendes Pfeifen wieder ein. Mehrere solcher eigenthümlicher Ein- und Ausathmungen bilden jeden einzelnen, 1½ bis 2 Minuten andauernden Keuchhustenanfall; sie können so schnell hinter einander folgen, daß das Kind förmlich stecken bleibt, d. h. außer Athem kommt und dem Ersticken nahe ist. Die hierdurch bedingte Störung des Athmens und Blutlaufs (besonders durch die Lungen) gibt sich am Aeußern des vom Anfalle ergriffenen Kindes, welches sich gewöhnlich aufrichtet und ängstlich an einen festen Gegenstand anklammert, dadurch zu erkennen, daß das Gesicht bläulichroth oder blau wird, die gerötheten Augen (sogar mit Blut unterlaufen) thränen und vortreten, die bläuliche Zunge aus dem Munde hervorgestreckt ist, Hände und Füße kalt werden, sogar Gesichtszuckungen und allgemeinere Krämpfe auftreten. Sehr oft kommt es auch zum Erbrechen (zähen Schleimes und des Genossenen), bisweilen zu Blutungen aus Mund und Nase, sowie zu unwillkürlicher Harn- und Stuhlentleerung, sogar zu Bruchschäden. Nach Beendigung des Anfalles, der entweder ganz von selbst eintrat, oder durch Gemüthsbewegung, Aerger, Schreck, Weinen oder Lachen, Essen, kalte und unreine Luft, starke Körperbewegung veranlaßt wurde, ist das Kind kurze Zeit lang noch etwas erschöpft und schwitzt, kehrt aber, scheinbar ganz wohl, bald wieder zu seinem Spiele zurück oder verlangt nach Speise und Trank. Nur wenn sich die Anfälle (deren Anzahl anfangs gering, später in 24 Stunden bis auf 40 steigen kann) zu schnell aufeinander folgen, bleibt das Kind auch in den Zwischenzeiten leidend, erschöpft, bleich und klagt über Brust- und Kopfschmerzen.

Mit den beschriebenen krampfhaften Hustenanfällen beginnt und endet nun aber die ganze Krankheit nicht, sondern vor Eintritt und nach dem Verschwinden dieser Anfälle zeigen sich noch andere Krankheitserscheinungen. Beim Beginne der ganzen Keuchhusten-Krankheit sind nämlich nur die Symptome eines mit Fieber verbundenen Schnupfens und Lungenkatarrhs (Verstopfung der Nase, häufiges Niesen, geröthete Augen, trockner Husten) vorhanden und dieser erste Zeitraum, den die Aerzte auch den katarrhalischen nennen, kann Tage und Wochen andauern. Auf ihn folgt erst, und zwar mit Nachlaß und Aufhören des Fiebers, der krampfhafte Zeitraum, dessen Dauer sehr unbestimmt und nicht unter drei bis vier Wochen, sogar erst nach Monaten beendigt ist. Er schließt jene eigenthümlichen Hustenanfälle in sich, die in den ersten vierzehn Tagen immer heftiger und häufiger werden, dann längere Zeit in derselben Weise fortbestehen und endlich ganz allmählich (selten plötzlich) an Heftigkeit und Häufigkeit abnehmen. Jetzt tritt nun die dritte, sogenannte kritische oder Schleim-Periode ein, in welcher der Husten seinen eigenthümlichen krampfhaften Charakter verliert, weniger quälend, mehr feucht und lösend wird und einen reichlichen weißlichen oder grüngelblichen Schleim aus der Lunge herausbefördert, der aber von vielen Kindern sofort verschluckt wird. Diese Periode hält ebenfalls noch einige Wochen an und geht nur allmählich in volle Genesung über, wenn sich nämlich nicht anderweite Krankheiten durch den Keuchhusten entwickelten.

Die Keuchhusten-Krankheit, die bisweilen auch einen friesel- oder röthelartigen Hautausschlag mit sich führt, geht in den allermeisten Fällen in vollständige Genesung aus, selten endet sie mit Tod und äußerst selten im Anfalle durch Erstickung; nicht selten legt sie aber den Grund zu Nachkrankheiten, zumal wenn sie lange andauerte und sehr heftig auftrat.

Zur Vermeidung des Keuchhustens sind von den Kindern, zumal während des Herrschens einer Keuchhustenepidemie, alle Veranlassungen zu Katarrhen (ganz besonders schneller Wechsel zwischen Warm und Kalt und überhaupt kalte, rauhe, unreine Luft, sowie Erhitzung und Erkältung) zu meiden. Sodann sind sie von andern an Keuchhusten Leidenden möglichst fern zu halten, denn, wie es scheint, holen sich die meisten Kinder den Keuchhusten in der Schule, auf Spielplätzen und in Kindergesellschaften. Kinder mit diesem Husten sollten überhaupt gar nicht in der Schule zugelassen werden. Die geringsten Anfänge von Katarrh sind sodann auf’s Sorgsamste [116] zu überwachen und das Kind sofort in gleichförmig warmer reiner Luft, bei Tag und bei Nacht, in der Stube und zwar in möglichster Ruhe (nicht herumtollend) zu halten. Bei Fieberspuren bleibe das Kind im Bette. Die Diät sei mild, namentlich Milchdiät und Fleischkost (Brühe).

Im eigentlichen Krampfhusten-Zeitraume ist eine arzneiliche Behandlung in der Regel ganz überflüssig, weil unwirksam. Es soll allerdings manchmal ein Brechmittel, beim ersten deutlichen Auftreten des krampfhaften Charakters dargereicht, die weitere Entwicklung der Krankheit gehemmt haben, doch ist hierbei große Vorsicht nöthig. Wichtig ist dagegen die psychische Behandlung des kranken Kindes durch Zerstreuung, durch Abhaltung von Gemüthsbewegungen und durch Ermuthigung zur Unterdrückung des Hustenkitzels. Ueberhaupt müssen alle jene Anlässe, welche den Husten erregen können, nach Möglichkeit vermieden werden. – Im Anfalle ist das Kind sofort in die Höhe zu richten und nach vorn übergebeugt zu halten; den zähen Schleim entferne man mit dem Finger aus dem Munde. Heftige Anfälle werden durch warme Breiumschläge auf die Brust und durch Einathmen von warmen Wasserdämpfen, sowie durch Riechen an Aether oder Chloroform gemildert. Bei längerm Steckenbleiben des Kindes hilft das Bespritzen mit kaltem Wasser; bei Gefahr von Erstickung muß noch gebürstet und Ammoniak eingerieben werden. – Auch in diesem Zeitraume ist eine reine, gleichmäßig warme Luft zum Einathmen unentbehrlich, eben so aber auch eine kräftige, aber milde Diät (Milch, Fleisch, Ei) und von Zeit zu Zeit ein warmes Bad. Bei der Hannon’schen kräftigenden Fleischdiät sollen die Keuchhustenanfälle sehr bald (spätestens in 14 Tagen) verschwinden. Die Vorschrift zu dieser Cur ist: man reiche am Morgen gebratenes Fleisch mit trocknem oder geröstetem Brode, sowie etwas reinen Madeira oder Portwein; gegen Mittag Zwieback mit eben solchem Wein; um 4 oder 5 Uhr Nachmittags eine starke Bouillon, gebratenes Fleisch, geröstetes Brod und abermals Wein; am Abend gar keine Nahrung, außer beim Niederlegen nochmals Wein; in der Nacht höchstens Wasser. Diese Behandlungsweise, welche jeden Genuß von Milch, Gemüsen, Suppen und mehligen Speisen, sowie aller Arzneien auf das Entschiedenste ausschließt, bedarf nach dem Alter und den Kräften des Kindes nur geringer Modificationen. Sie soll in ihrem Erfolge um so glänzender sein, je frühzeitiger sie (in der Krampfperiode nämlich) in Anwendung kommt und je weniger vorher medicinirt wurde.

Bleibt der Krampfhusten unverändert und will gar nicht weichen, dann ist nur noch vom Wechsel der Wohnung und des Wohnortes, besonders vom Aufenthalte in warmer und reiner Land- oder Bergluft, Hülfe zu erwarten. – Nach Beendigung der Krankheit müssen aber immer noch eine Zeit lang die genannten Veranlassungen zur Erregung des Hustens gemieden werden; bei zu frühem Ausgehen kehrt die Krankheit leicht wieder.

Bock.




Schach.

Aufgabe Nr. 2.
Von Herrn N. zu Kainsk in Sibirien.
(Durch Güte des Hrn. Geh. Obertribunalrath von Oppen der Redaction übermittelt.)

Schwarz.

Weiß.

Weiß zieht an und zwingt Schwarz, in zwölf Zügen matt zu machen.

Wettkampf zwischen den Herren Anderssen und Morphy.

Nachfolgende beide Partien geben den besten Beleg für die Geschicklichkeit des transatlantischen Meisters. Namentlich beweist die zweite Partie, wie er in sehr durchgreifender Art einen gegebenen Vortheil zu benutzen weiß.

Partie Nr. 2.
Weiß – Morphy. Schwarz – Anderssen.
1) e 2 – e 4 1) d 7 – d 5.
2) e 4 – d 5 2) D. d 8 – d 5:
3) S. b 1 – c 3 3) D. d 8 – a 5.
4) d 2 – d 4 4) e 7 – e 5. [6]
5) d 4 – e 5 : 5) D. a 5 – e 5 †
6) L. f 1 – e 2[7] 6) L. f 8 – b 4.
7) S. g 1 – f 3[8] 7) L. b 4 – c 3 †
8) b 2 – c 3 : 8) D. e 5 – c 3. †
9) L. c 1 – d 2 9) D. c 3 – c 5.
10) T. a 1 – b 1[9] 10) S. b 8 – c 6.
11) o – o 11) S. g 8 – f 6.
12) L. c 2 – f 4 12) o – o.
13) L. f 4 – c 7 : 13) S. c 6 – d 4. Am besten.
14) D. d 1 – d 4 : 14) D. c 5 – c 7.
15) L. f 3 – g 5 15) L. c 8 – g 4. Sehr schwach.
16) S. f 3 – g 5 16) T. f 8 – d 8.[10]
17) D. d 4 – b 4 17) L. g 4 – c 8.
18) T. f 1 – e 1 Ein trefflicher Zug. 18) a 7 – a 5.
19) D. b 4 – e 7 19) D. c 7 – e 7 :
20) T. e 1 – e 7 : 20) S. f 6 – d 5.[11]
21) L. d 3 – h 7 † 21) K. g 8 – h 8.
22) T. e 7 – f 7 : 22) S. d 5 – c 3.
23) T. b 1 – e 1 23) S. c 3 – a 2 :
24) T. f 7 – f 4 24) T. a 8 – a 6.
25) L. f 7 – d 3 25) Aufgegeben.




Partie Nr. 3.
Weiß – Morphy. Schwarz – Anderssen.
1) e 2 – e 4 1) c 7 – c 5.
2) d 2 – d 4 2) c 5 – d 4 :
3) S. g 1 – f 3 3) S. b 8 – c 6.
4) S. f 3 – d 4 : 4) e 7 – e 6.
5) S. d 4 – b 5[12] 5) d 7 – d 6.
6) L. c 1 – f 4 6) c 6 – c 5.
7) L. f 4 – e 3 7) f 7 – f 5.
8) S. b 1 – c 3 8) f 5 – f 4.[13]
9) S. c 3 – d 5[14] 9) f 4 – e 3 :
10) S. b 5 – c 7 † 10) K. e 8 – f 7.
11) D. d 1 – f 3 † 11) S. g 8 – f 6.[15]
12) L. f 1 – c 4 12) S. c 6 – d 4.
13) S. d 5 – f 6 † 13) K. f 7 – g 6.
14) D. f 3 – h 5 † 14) K. g 6 – f 6 :
15) f 2 – e 3 : 15) S. d 4 – c 2 †
16) K. e 1 – e 2 16) Aufgegeben.

Schwarz.

Weiß.




Briefwechsel.

Mehrere Correspondenten haben bemerkt, daß die Aufgabe 1 bereits in einem andern Blatte früher abgedruckt worden ist. Dieser Umstand war dem Redacteur des „Schach“ unbekannt. Demselben wurde sie im Jahre 1851 von seinem Freunde Anderssen am Schachbret gelegentlich mitgetheilt, und es entging ihm jede Wissenschaft von einer bereits stattgefundenen Veröffentlichung des sehr geistreichen Problems. Wir betonen den kleinen Uebelstand, weil an dieser Stelle nur Originalarbeiten Platz finden sollen.

Herr Richter in Dresden: Dankend erhalten. Lösung richtig.

Herr H. Voigt in Leipzig: Bitte noch einmal zu prüfen.


Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Wörtlich.
  2. Jahns eigene Worte.
  3. Den Lesern der Gartenl. aus Nr. 41. 42. des vor. Jahrg. bekannt.
  4. Unser Holzschnitt ist nach einer von diesem Bilde genommenen Photographie gemacht.
    D. Red.
  5. Dieser Heilkünster schreibt nämlich von sich und dem Entdecker des Alkali Pneum, dem Wiederaufwärmer der schon von Descartes vor etwa 250 Jahren proclamirten Homöopathie: „weil wir Beide eine neue Heilmethode, respective entdeckt, vervollkommnet und mit Erfolg ausgeübt haben“ etc.
  6. e 7 – e 6 scheint hier besser zu sein.
  7. Die alte Regel, die Anderssen sonst besser als irgend Jemand kennt, daß verfrühte Damenangriffe zur Entwicklung der kleinen Figuren des Gegners beitragen und das Spiel compromittiren, bewährt sich in dieser Partie.
  8. Morphy gibt einen Bauer auf, um alle Figuren zu entwickeln, sonst hätte er ihn mit L. c 1 – d 2 auch halten können.
  9. Sehr hübsch. Es droht T. b 1 – b 5 – e 5 ober L. d 2 – b 4.
  10. Auf h 7 – h 6 würde S. g 5 – e 4 und später D. d 4 – e 4 : geschehen, wodurch B. b 7 verloren geht.
  11. h 7 – h 6 wäre besser gewesen.
  12. Ein erst neuerdings von Loewenthal gefundener Zug. Auf a 7 – a 6 folgt S. b 5 – d 6 mit Vortheil.
  13. Ein Fehler, den Murphy trefflich benutzt. Anderssen mußte S. g 8 – f 6 oder a 7 – a 6 ziehen.
  14. Ein eben so glänzender als correcter Zug.
  15. K. f 7 – g 6 hätte den Verlust wohl länger aufgehalten.

Anmerkungen (Wikisource)