Die Gartenlaube (1859)/Heft 7
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No. 7. | 1859. | |
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Sand.
Erst in der letzteren Zeit war eine gewisse Erkaltung zwischen Berthold Zeisig und Friedrich Hagen eingetreten, weil mit den zunehmenden Jahren die Verschiedenheit ihres Wesens und ihrer Gesinnungen immer schroffer hervortrat. Dieser Zwiespalt wurde noch dadurch verstärkt, daß Beide sich um die Gunst einer jungen Dame bewarben, die sich jedoch, wie zu erwarten stand, für Hagen erklärt hatte und so gut wie seine Verlobte war, obgleich er vor Beendigung seiner Studien noch nicht daran denken durfte, öffentlich um ihre Hand anzuhalten. Die Liebenden hatten sich vorläufig heimlich Treue geschworen und sahen mit Vertrauen der Zukunft entgegen, da es Friedrich bei seinem anerkannten Talent und der Stellung seines Vaters nicht fehlen konnte, bald ein passendes Amt zu erlangen.
Bei dieser Gelegenheit hatte Berthold seinen wahren Charakter mehrmals verrathen und den Freund, der ihm das größte Vertrauen schenkte, mit seiner Geliebten durch geschickt angebrachte Verleumdungen zu entzweien gesucht. Deshalb erwiderte Hagen auch jetzt den Gruß desselben mit ablehnender Kälte, aber Berthold ließ sich dadurch keineswegs zurückschrecken; er rechnete dabei, eben so sehr auf den offenen, leicht versöhnlichen Charakter seines Jugendgenossen, wie auf die gehobene Stimmung des Augenblickes. In der That täuschte er sich nicht in seinen Voraussetzungen.
„Wo aber bist Du hergekommen?“ fragte Hagen im Laufe des Gespräches. „Ich wußte nicht, daß Du Dich für die Bestrebungen der Burschenschaft so lebhaft interessirst. Offen gestanden glaubte ich, daß Du Dich weit eher zu den entgegengesetzten Ansichten hinneigst und nur Deine baldige Versorgung im Staatsdienste mit allen Kräften verfolgst.“
„Du siehst daraus, wie Unrecht Du mir thust. Von jeher habe ich für die Freiheit und das Vaterland geglüht; aber ich gehöre nicht zu den Leuten, die mit ihren Empfindungen Staat machen. Mein Bestes gebe ich der Welt nicht Preis; deshalb werde ich leider selbst von meinen Freunden verkannt. Als ich von der erhabenen Feier auf der Wartburg hörte, ließ es mir keine Ruhe in Berlin, und obgleich ich, wie Du am besten weißt, nur ein armer Kerl bin, der nicht einen Groschen übrig hat, machte ich mich doch auf den Weg, um bei dieser schönen Gelegenheit nicht zu fehlen. Dafür bin ich jetzt belohnt genug, da ich Dich hier gefunden und Deine Verzeihung erlangt habe. Deine Hand her! Alles, was auch zwischen uns früher vorgefallen sein mag, ist heute vergeben und vergessen?“
„Ich habe Dir schon einmal gesagt, daß ich an die abgethane Geschichte nicht mehr denken will.“
„Ich danke Dir. Hoffentlich wird die Gelegenheit nicht ausbleiben, wo ich zeigen kann, wie sehr ich Dich von ganzem Herzen liebe.“
„Reden wir nicht mehr davon!“
„Gut! Wir wollen lieber trinken. Auf das Wohl Deiner Braut!“
Die Bierstube hatte sich allmählich bis auf den letzten Platz gefüllt; die langen Tafeln waren mit Studenten aus allen Ländern besetzt, denen nach Burschenart das Herz beim Glase aufging. Der edle „Stoff“, wie in der Studentensprache das Bier genannt wurde, floß in Strömen, und der Wirth hatte alle Hände voll zu thun, um die durstigen Kehlen zu befriedigen. Es wurde aber nicht blos getrunken; überhaupt war dafür gesorgt, daß sich kein gewöhnlicher „Commers“ heute entwickelte, da die meisten Anwesenden für das leere Formelwesen nicht den nöthigen Sinn oder vielmehr Unsinn mitbrachten, weil ihre Seele von ernsteren und heiligeren Gedanken erfüllt war. Dafür wurde bald von einem oder dem Anderen ein feierliches Lied angestimmt, in das der Chor mit brausender Begeisterung einfiel. Ab und zu ergriff wohl auch einer der Anwesenden das Wort und sprach in sinniger Weise von der Bedeutung des morgen stattfindenden Festes. Dann wurde wieder die Unterhaltung eine allgemeinere, aber stets drehte sie sich um die höchsten Güter der Menschheit, um das Vaterland, um die Freiheit, um die Aufgabe der deutschen Jugend und ihre Stellung zum Staate. Hier mahnte ein jugendlicher Redner zur Einigkeit und beschwor die Zunächstsitzenden, alle kleinlichen Zwistigkeiten und Eifersüchteleien fahren zu lassen, dort kämpften zwei ebenbürtige Gegner um den Vorzug des Fichte’schen Systems vor der Naturphilosophie Schelling’s und übertrafen sich in tiefen Gedanken und scharfsinnigen Bemerkungen, die allerdings in einer Sprache vorgebracht wurden, die aus dem „Philosophischen“ erst in’s „Deutsche“ übersetzt werden mußte, wenn sie der Uneingeweihte verstehen sollte. An jenem Tischende wurde die hohe Bedeutung Luther’s für das deutsche Volk von einem Theologen auseinandergesetzt, während an der entgegengesetzten Ecke ein Jurist, der mit dem eisernen Kreuze geschmückt war, die Nothwendigkeit einer neuen Gesetzgebung nachwies und die Schwurgerichte als eine urdeutsche Einrichtung dringend anempfahl.
So rauschte und brauste der Redestrom beim Glase Bier und spärlicher Beleuchtung; an einfachen Holztischen und in dem mit [90] Tabaksqualm erfüllten niederen Zimmer wurde manches bedeutende Wort gesprochen, mancher göttliche Gedanke zu Tage gefördert, wenn auch manche unreife Idee dazwischen lief und es nicht an tollen Behauptungen und Paradoxen fehlte, die man der Jugend nicht zum Vorwurf machen darf. Das deutsche Studentenleben blühte hier in seiner schönsten Pracht, noch nicht getroffen von dem Mehlthau der späteren Verfolgungen und von dem Wurme der Reaction benagt.
Es war der Frühling der jungen Burschenschaft, welche erst später durch die Gewalt der Verhältnisse in eine verderbliche Bahn getrieben wurde, wo sie nicht durch eigene, sondern durch fremde Schuld ihre ursprüngliche Reinheit einbüßte und in dunkle Verschwörung und gefährliche Umtriebe ausartete.
Nachdem Hagen noch einige Zeit in diesem Kreise verweilt, von dem er sich nur schwer trennen konnte, brach er endlich auf, weil er Sand nicht länger warten lassen wollte. Der zudringliche Berthold ließ es sich nicht nehmen, ihm bis zu seinem Hause das Geleit zu geben, wo er einen überaus zärtlichen Abschied von dem wieder versöhnten Freunde nahm.
„Auf Wiedersehn!“ rief er ihm zu. „Du hast doch keinen Groll mehr gegen mich?“
„Nicht eine Spur,“ entgegnete Friedrich und reichte ihm zur Bekräftigung die Hand.
„So schlafe wohl und träume von Deiner Julie!“
Es lag ein eigenthümlich boshafter Ausdruck in den letzten Worten des Scheidenden, aber Hagen war zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt, um darauf zu achten. Er zweifelte keinen Augenblick an der Aufrichtigkeit des Anderen. – Als er in das ihm angewiesene Quartier trat, fand er Sand bereits hier, der ihn erwartete. Trotzdem Beide ermüdet waren und von den vielfachen Eindrücken des Tages sich angegriffen fühlten, konnten sie nicht sogleich zur Ruhe kommen. Ihr Herz war zu voll und sie saßen noch bis gegen Mitternacht im eifrigen Gespräch. Sand war ganz erfüllt von den herrlichen und bedeutenden Jünglingen, die er in der Sitzung des Ausschusses kennen gelernt hatte.
„Du wirst sie morgen,“ sagte er, „bei der Feier sehen und hören, um Dir selbst ein Urtheil über sie zu bilden. Die edelsten Söhne hat das Vaterland geschickt, wo solche Geister blühen und solche treue Herzen schlagen, verzweifle ich nicht. So viel steht jetzt fest bei mir: es kann für das liebe deutsche Vaterland kein Heil kommen, es sei denn durch eine allgemeine freie Burschenschaft, in der Deutschlands edelste Jugend verbrüdert lebt.“[1]
„Ich bin darin mit Dir vollkommen einverstanden.“
„Aber wir müssen auch dazu thun und deshalb habe ich für den morgenden Tag einen Vorschlag drucken lassen, den ich zu vertheilen gedenke, da mir die Gabe der Rede nicht in solchem Maße zu Gebote steht, wie anderen Brüdern. Jeder muß nach besten Kräften dazu thun, unsere hohe Sache zu fördern. Ich will Dir meinen Aufsatz vorlesen, wenn Du nicht zu müde bist.“
Dies geschah, da Hagen mit Freuden einwilligte, und Sand entwickelte in einer längeren gedruckten Ansprache mit der Ueberschrift: „Zum achtzehnten des Herbstmonats im Jahr nach Christo achtzehnhundert und siebzehn auf der Wartburg“, seine Ansichten und Meinungen in einem zwar dunklen Style, dem es aber nicht an Schwung und Wärme fehlte. Vor Allem aber wies er darin auf die Nothwendigkeit einer allgemeinen Burschenschaft hin, in welche die vereinzelten Verbindungen zusammenschmelzen sollten. War auch die Sprache unbeholfen und der Sinn zuweilen verborgen, so entschädigte dafür die Gluth und Begeisterung, womit er seinen Gegenstand auffaßte und behandelte. Man fühlte unwillkürlich, daß es ihm ein heiliger Ernst war und daß er bereit schien, jedes Wort mit seinem Leben zu vertheidigen. Aus jeder Zeile leuchtete ein fester Wille und ein unbeugsamer Muth.
Der Morgen des achtzehnten Octobers brach in wunderbarer Klarheit an und versprach einen schönen, heitern Tag für das Fest. Feierliches Geläute der Glocken erschallte von den Thürmen der Stadt und unter den frommen Klängen versammelten sich die Studenten, meist in schwarzer altdeutscher Tracht, auf dem Markte, wo sich der Zug allmählich ordnete. Es war ein wunderbarer und erhebender Anblick. – Fünfhundert blühende Jünglinge aus allen Gauen des deutschen Vaterlandes waren hier versammelt, um ein wahres Nationalereigniß in würdiger Weise zu begehen; jeder unter ihnen wurde mehr oder minder von heiliger Begeisterung durchglüht. Zwei und zwei setzten sie sich in Bewegung, die Mützen und Hüte mit dem Laube der heimischen Eiche umkränzt; voran der erwählte Burgvoigt mit dem entblößten Schwerte der Jenaer Burschenschaft, gefolgt von den Burgmännern, in deren Mitte der Fahnenträger mit der schwarz-roth-goldenen Fahne schritt, die im frischen Herbstwinde stolz und lustig flatterte. Ihm zur Seite ging Sand als Fahnenbegleiter, die blanke Burschenwaffe in der Hand, mit gerötheten Wangen und überirdisch glänzenden Blicken.
Es war der schönste Tag seines Lebens und eine sonst nie gekannte Freude verklärte sein ernstes, blasses Gesicht.
„Jetzt möchte ich sterben,“ betete er, von einer unerklärlichen Ahnung erfaßt. „Herr, laß Deinen Diener in Frieden dahinscheiden, nachdem er solche Herrlichkeit geschaut!“
Die schmetternden Töne der Musik weckten ihn aus seinen Träumen; er fuhr empor und erblickte die alte Wartburg, welche im Morgenlichte mit ihren Erkern und Fenstern golden herniederglänzte. Bei diesem Anblicke ertönte ein einstimmiger Jubelruf von den Lippen der fünfhundert Studenten. Immer klarer und deutlicher zeichneten sich die alten Mauern in der durchsichtigen Luft ab; der Geist der Vergangenheit schien aus den geweihten Hallen die frische Jugend begrüßen zu wollen. Die Burg hatte ihren Festschmuck angelegt und mit grünen Tannenreisern sich geziert, was ganz wunderbar von dem grauen Gemäuer abstach. In musterhafter Ordnung betrat jetzt der Zug den zu diesem Zwecke geöffneten Rittersaal, an den sich jene mächtigen Erinnerungen an die Zeit der Minnesänger und der Reformation knüpften. Hier hatten sich bereits die Eisenacher Behörden, die dortige Geistlichkeit und vier von Jena angekommene Professoren, Schweizer, Kieser, der geniale Oken, und der freisinnige Fries eingefunden, um an der schönen Feier des Tages Theil zu nehmen.
Mit einem Male erschallte der hundertstimmige Chor: „Eine feste Burg ist unser Gott“ so mächtig und brausend, daß die gewölbten Hallen erzitterten; das Kampflied der neuen Zeit, welches Luther im erhabenen Gottvertrauen einst angestimmt und das jetzt seinem Andenken zu Ehren an der Stätte triumphirend klang, wo er selbst gewirkt, gelebt und gestritten hatte.
Welche Erinnerung!
Nachdem die feierlichen Töne verhallt waren, bestieg der Festredner Riemann, Ritter des eisernen Kreuzes, die aufgestellte Rednerbühne und begrüßte im Namen der Jenenser Burschenschaft Alle, die herbeigekommen „zur gemeinschaftlichen Feier des Wiedergeburtsfestes des freien Gedankens und des Errettungsfestes des Vaterlandes aus schmählichem Sclavenjoche.“
Von Neuem ertönte der Gesang: „Nun danket alle Gott.“
Thränen der Rührung und Begeisterung netzten die Wangen der Studenten und aller Anwesenden, die aus der Nähe und Ferne herbeigeströmt waren.
Da betrat Hofrath Fries, von allen Seiten dazu aufgefordert, die Rednerbühne. Lautlose Stille herrschte in dem Saale und die Blicke der Jünglinge hingen an den Lippen des allgemein, geliebten Lehrers, der, von der Gewalt des Augenblickes ergriffen, folgendermaßen sprach:
„Ihr deutschen Burschen![2]
„Aufgefordert von Euch, zu sprechen, gebe ich keine Rede, keine Lehre, nur ein Wort des Gefühls, ein Wort, ein treues Wort im Namen Eurer freien Lehrer auszusprechen!
„Sei uns gegrüßt, Du helles Morgenroth eines schönen Tages, der über unser schönes Vaterland heraufkommt; sei uns gegrüßt, du geisteswarmer, jünglingsfrischer Lebensathem, von dem ich durchhaucht fühle mein Volk!
„Ihr deutschen Burschen!
„Lasset Euch den Freundschaftsbund Eurer Jugend, den Jugendbundesstaat, ein Bild werden des vaterländischen Staates, dessen Dienst Ihr bald Euer ganzes Leben weihen wollt. Haltet fromm bei Tapferkeit, Ehre und Gerechtigkeit!
„Ihr deutschen Burschen!
„Lasset aus dem Freundschaftsbund Eurer Jugend den Geist kommen in das Leben unseres Volkes, denn jünglingsfrisch soll uns erwachsen deutscher Gemeingeist für Vaterland, Freiheit und Gerechtigkeit!
„So bleibe Euch und uns der Wahlspruch:
„Ein Gott, ein deutsches Schwert, ein deutscher Geist für Ehre und Gerechtigkeit!“[3]
[91] Diesen Worten, welche vom Herzen kamen und zum Herzen gingen, folgte der Segen, den ein Student noch über die Versammlung sprach. Unvergeßlich war der Eindruck, den diese Feier überall zurückließ.
Ein fröhliches Mittagsmahl vereinte die sämmtlichen Teilnehmer des Festes in dem berühmten Minnessängersaal der Wartburg. Dort wurde manches heitere Lied gesungen, mancher Toast „auf den Mann Gottes Doctor Martin Luther“ und „auf die Sieger bei Leipzig“ ausgebracht. Auch der Todten vergaß man nicht und die Namen „Schill, Scharnhorst und Körner“ klangen von den begeisterten Lippen, ihr Andenken ehrend.
So kam der Abend heran; ein großartiger Fackelzug sollte den Schluß des schönen Tages bilden. Bald strahlte der Markt im hellen Flammenglanz und purpurner Gluth. Von hier aus setzte sich der Zug in Bewegung nach dem der Wartburg gegenüberliegenden Wartenberge, wo der Eisenacher Landsturm mächtige Holzstöße, achtzehn an der Zahl, zuvor angezündet hatte zur Feier der Gegenwart und Mahnung an die Vergangenheit. Prächtig stieg die feurige Lohe zum nächtlichen Sternenhimmel auf, an dem der helle Mond erglänzte. Berg und Thal glühten von dem Wiederschein, und die alte Wartburg stand in wunderbarer Beleuchtung wie eine mittelalterliche Schildwacht, vom Lagerbrand beschienen. Der Wind blies schneidend kalt in die Scheiterhaufen und in das Fackelmeer, daß die hellen Funken um die Locken ihrer Träger stäubten. Die Lust war nur um so größer und der jugendliche Uebermuth, der bisher vor der Bedeutung des Tages zurückgetreten war, begann sich jetzt zu regen.
Während noch einige Redner das Wort ergriffen, sah man eine geschäftige Gruppe mehrere dunkle Ballen herbeischaffen. Aus dem Kreise der Studirenden trat Einer, Namens Maßmann, hervor mit einem Korbe voll Bücher und einer großen Heugabel in der Hand. Niemand außer seinen nächsten Freunden, die er in sein Vertrauen gezogen hatte, wußte, was er vorhatte; am wenigsten hatte der Festvorstand eine Ahnung von seinem Thun. – Er näherte sich dem Feuer und erinnerte an die Verbrennung der päpstlichen Bannbulle durch Luthers Hand.
„Das that Luther,“ sagte er, „mit dem Feinde der Glaubensfreiheit! So wollen auch wir durch die Flammen verzehren lassen das Andenken Derer, so das Vaterland geschändet haben durch Rath und That, und die Freiheit geknechtet und die Wahrheit und die Tugend verleugnet haben in ihrem Leben und in ihren Schriften. – Es ist wohl der rechte Augenblick gekommen in dieser heiligen Stunde, zu zeigen aller Welt, weß Geistes Kinder wir sind, welchen Geist wir meinen, daß blühen und gedeihen müsse im Vaterlande, welche Hehrgedanken das Leben erhalten und gestalten sollen, und wie der mildthätigen Liebe wir paaren sollen den tiefen, grimmigen Haß wider das Böse und Verkehrte und darum wider alle Bösen und Tauben im Vaterlande. Das soll unser Volk erfahren, das ist der treibende Gedanke zu diesem ernsten Schritte, der Manchem ein Gericht sein wird seiner Thaten, Gedanken und Schriften. Wahrlich, wir hätten des Zeugs überlang zu brennen und zu brandmarken, auch anderer Völker Schriften, so die ganze Welt verdorben haben, wenn wir allen schlechten und bösen Machwerken ihr Recht und Gericht geschehen ließen. Aber diese Feuerbrände hier mögen als die Vertreter und Reigenführer der ganzen Sippschaft büßen. – So tretet denn heran zu dem zehrenden Fegefeuer und schaut, wie Gericht gehalten wird über die Schandschriften des Vaterlandes. Möge das höllische Feuer sie alle verzehren und vernichten, wie arge Tücke oder die Jämmerlichkeit und Erbärmlichkeit sie eingab!“
Hierauf las der Redner eine Reihe von Schriften ab, welche durch ihren unsittlichen oder freiheitswidrigen Inhalt das Mißfallen der studirenden Jugend auf sich geladen hatten, und jetzt zum Scheiterhaufen verdammt werden sollten. Zugleich erschien der Titel des so genannten Buches mit großer Fracturschrift auf einen besondern Bogen geschrieben. Bei jedem dieser Bücher stellte Maßmann an die Eingeweihten zunächst die Frage, ob es den Flammen übergeben werden sollte.
„In’s Feuer, in’s Feuer!“ lautete die Antwort.
Dann wurde ein Haufen Maculalur mit der Heugabel unter lautem Jauchzen und Jubeln in das Feuer geschlendert, gewöhnlich von einer Erklärung begleitet, die ein solches Verdammungsurtheil zu rechtfertigen suchte. So wanderten die Werke von Ancillon, des berüchtigten Haller, der allgemeine Codex der Gensd’armerie von dem preußischen Minister von Kamptz, die Schriften des Geheimraths Schmalz, Werner’s Weihe der Kraft und Kotzebue’s Geschichte des deutschen Reichs in die lodernden Flammen. Zuletzt wurde noch ein Schnürleib, ein Patentzopf und ein großmächtiger Corporalstock als die Repräsentanten des Gamaschendienstes und als Schmach des ernsten heiligen Wehrstandes mit verbrannt. Darum sang der Chor lustiger Burschen den Vers:
„Zuletzt nun rufet Pereat
Den schuft’gen Schmalzgesellen
Und dreimal Pere – Pereat!
So fahren sie zur Höllen!
Auf, auf, mein theures Vaterland
Ihr Brüder, reichet Euch die Hand
Und schwört: so woll’n wir’s halten.“
Die um den Scheiterhaufen Zunächststehenden gaben sich die Hände und tanzten im tollen Reigen, beleuchtet von den zuckenden Flammen um die lodernde Gluth, welche die hineingeworfenen Bücher rasch verzehrte. – Die meisten der Anwesenden waren mit diesem Strafgericht vollkommen einverstanden, besonders Sand, der am lautesten rief: „In’s Feuer!“ – Keiner von den anwesenden Jünglingen hatte jedoch eine Ahnung von den möglichen Folgen eines derartigen Autodafé’s, das mitunter die angesehensten Schriftsteller und die einflußreichsten Staatsmänner traf, deren Eitelkeit auf die empfindlichste Weise beleidigt worden war. Mit einem gewissen Mißton schloß das schöne Fest, und die feiner organisirten Naturen fühlten sich einigermaßen dadurch verletzt, daß ein mit Liebe und Eintracht begonnener Tag in einen Act des Hasses und der Verdammung endete. – Zu diesen Verstimmten gehörte auch Hagen, und seine Verdrießlichkeit wurde nicht dadurch gemildert, daß sich bei dem Rückweg der schleichende Berthold zu ihm gesellte.
„Nun,“ redete ihn dieser lauernd an. „Das wird in Berlin und ganz Deutschland Aufsehen machen, wenn es bekannt wird, wie man hier zu Gericht gesessen. Der Herr Geheimrath Schmalz wird, wie ich glaube, nicht allzu erfreut über die Auszeichnung sein, die man ihm erwiesen hat. Und gar der Herr Minister Kamptz, dessen Codex der Gensd’armerie mit verbrannt worden ist, wird nicht wenig wüthen.“
„Mir ist die ganze Geschichte nicht angenehm,“ entgegnete Hagen kurz, bemüht, dem Gespräche eine andere Wendung zu geben.
„Das kann ich mir wohl denken, da Dein Vater unter dem Minister steht.“
„Deshalb nicht; denn mein Vater billigt keineswegs den Geist der Reaction, der in Preußen immer mehr zum Vorschein kommt, und verleugnet seine Gesinnung nicht. Er ist Mitglied des Tugendbundes und gehört zu jenen Männern, welche, wie Stein und Hardenberg, das Heil des Vaterlandes nur in einem zweckmäßigen Fortschritte sehen.“
„Ich weiß, daß Deine ganze Familie freisinnig ist und darum mit dem gegenwärtigen Regiment nicht zufrieden sein kann. Der Wind weht jetzt freilich von einer andern Seite her; man will jetzt nichts vom Volke wissen. Der Mohr hat seine Schuldigkeit gethan, der Mohr kann gehen. Große Herren haben ein kurzes Gedächtniß und vergessen leicht, was sie in der Noth versprochen haben. Aber es kann wieder einmal eine Zeit kommen, wo sie das Volk brauchen werden.“
Die ganze Rede Berthold’s schien darauf angelegt zu sein, Hagen zu veranlassen, seine innern Gesinnungen Preis zu geben; sie verfehlte jedoch diesmal ihren Zweck, weil dieser eine gewisse Zurückhaltung beobachtete, ohne sich eines bestimmten Grundes bewußt zu werden. Desto mehr sprach der Andere von der Nothwendigkeit, die eben erst errungene Freiheit zu bewahren und der in Preußen auftauchenden Rückschrittspartei entgegen zu arbeiten. Mitten in seinen pathetischen Auseinandersetzungen, welche meist in nichtssagenden Phrasen bestanden, wurde er durch Sand’s Dazwischenkunft unterbrochen.
Da Hagen am nächsten Tage zu seinen Eltern nach Berlin zurückkehren wollte, so bot sich ihm Berthold sogleich zum Reisegefährten an, was er füglich ihm nicht abschlagen konnte. Ueberaus zärtlich war der Abschied, den er am Morgen von seinem neuen Freunde nahm. Sand, der zurückblieb, da er in Jena seine Studien fortsetzen wollte, begleitete Hagen und Berthold bis zum nächsten [92] Dorfe, wo der Abschiedstrunk feierlich getrunken wurde. Beide umarmten sich und gelobten sich von Neuem ewige, unerschütterliche Freundschaft.
„Was auch geschehen mag, wir bleiben Brüder in alle Ewigkeit!“ rief Hagen.
„Und ich besuche Dich in Berlin, so bald ich nur von Jena abkommen kann.“
„Es versteht sich von selbst, daß Du dann bei meinen Eltern wohnst. Du sollst sie und meine Schwester kennen lernen.“
„Ich freue mich auf Deine Familie, die durch Dich nur nicht mehr fremd ist. Tausend Grüße für die Deinigen und für den biedern Turner Jahn, der, wie Du mir gesagt hast, ein Freund Deines würdigen Vaters ist. Theile ihm mit, wie ich ihn als meinen Meister und als den Erwecker vaterländischer Gefühle und Gesinnungen auf das Innigste verehre. Und nun lebe wohl!“
„Lebe wohl und halte Wort! Ich werde Dich mit Ungeduld erwarten.“
Mit einem Gruß für Berthold ging Sand wieder nach Eisenach zurück, während jene den entgegengesetzten Weg nach Berlin einschlugen.
Die Nachricht von dem Wartburgfeste und den dabei stattgefundenen Vorfällen hatte sich indeß mit Blitzesschnelligkeit durch ganz Deutschland verbreitet, so daß Hagen bei seiner Rückkehr die Seinigen bereits unterrichtet fand. Der Vater, ein Mann von anerkannt freisinnigen Grundsätzen, aus einer polnischen Schule hervorgegangen, der Preußen die wohlthätigsten Reformen zu verdanken hat, war weit entfernt, ein Ereigniß zu verdammen, das er von seinem Standpunkte aus als ein freudiges Zeugniß des wiedererwachten Nationalgeistes anerkennen mußte, obgleich auch er den hier und da hervorbrechenden jugendlichen Uebermuth nicht billigen konnte.
„Die Geschichte mit den verbrannten Büchern,“ sagte er dem Sohne, „hat ein ungemeines Aufsehen gemacht. Geheimrath Schmalz und Consorten setzen Himmel und Hölle in Bewegung, als ob der Staat selbst von Euch angegriffen worden wäre. Ich will Dir nicht verschweigen, daß Deine Betheiligung bei dem Feste Dir möglicher Weise in Deiner Carriere jetzt schaden kann. Indeß wird das Geschrei vorübergehen und hoffentlich weiter keine bösen Folgen haben. Mir persönlich ist es natürlich unangenehm, daß auch der Minister Kamptz, dem ich untergeben bin, dabei mit betheiligt ist; er will mir ohnehin nicht wohl.“
„Es thut mir leid, daß Du meinetwegen vielleicht in Ungelegenheit kommst. Ich kann Dir aber die Versicherung geben, daß Niemand eine Ahnung hatte, daß die Bücher verbrannt werden sollten. Von einer bedachten That kann daher nicht die Rede sein.“
„Ich glaube es Dir und bin auch überzeugt, daß sonst nichts Unerlaubtes und Ungehöriges auf der Wartburg vorgekommen ist. Du kennst mich und meine Ansichten und weißt auch, daß ich weit entfernt bin, der Jugend ein gewisses Maß von Freiheit zu mißgönnen. Nur möchte ich Dich im Voraus vor allen Uebertreibungen und vor einer Ueberschwänglichkeit warnen, die seit den Freiheitskriegen sich hier und da hervordrängt. Ich unterscheide zwischen wahrer Begeisterung, ohne die nichts Großes geschaffen wird, und jener blinden Schwärmerei, welche über das gesteckte Ziel hinausschießt. Es zeigt sich gegenwärtig in Deutschland ein mehr als bedenklicher Geist, der nothwendiger Weise zu Verirrungen von der einen Seite und zu Uebergriffen von der andern führen muß. Vor allen Dingen warne ich Dich, Dich in irgend eine geheime Verbindung einzulassen. Gib mir Dein Versprechen, Dich nie an einer wirklichen Verschwörung gegen den Staat zu betheiligen.“
Hagen that dies ohne Weigern, da die damalige Burschenschaft durchaus noch nicht die Oeffentlichkeit scheute und ihre Wünsche und Bestrebungen keineswegs verheimlichte, wie dies erst später unter dem Drucke der über sie verhängten Verfolgungen geschah. – Nach dieser freundschaftlichen Unterredung mit seinem Vater begrüßte Friedrich seine Mutter und die Schwester, mit der ihn eine innige Sympathie verband. Emma war eine durchaus ideale Erscheinung, von einer Tiefe und Reinheit, wie sie nur das Weib in seiner Abgeschlossenheit sich zu bewahren im Stande ist. Nur ein Jahr jünger als ihr Bruder, hatte sie an allen seinen Richtungen und Empfindungen, in denen sich eine bedeutende Zeit wieder spiegelte, den lebhaftesten Antheil genommen; sie war seine Vertraute, seine beste Freundin, das treue Echo seiner Wünsche und Träume, welche in ihrer Seele mild verklärt erschienen. Zart und mild fehlte es ihr darum nicht an der nöthigen Charakterstärke und an einer Festigkeit, womit sie an dem festhielt, was sie einmal für gut und edel anerkannt. Schlank und hoch emporgeschossen, erinnerte sie mit ihrem blonden Haar und dem weißen, durchsichtigen Teint an die keusche Lilie, deren Kelch den süßesten Duft umschließt. Die Zerbrechlichkeit ihrer hohen Gestalt und die Blässe ihrer Wangen verliehen ihr ein ätherisches Ansehn, sie deuteten auf eine andere Heimath als die schwere Erde, der ihr kaum den Boden berührender Gang zu entschweben schien.
Mit leuchtenden Blicken hörte sie seiner Schilderung des Wartburgfestes zu, aus dessen Hintergrund Sand’s Bild in klaren Zügen für sie hervortrat. Mit der Ueberschwänglichkeit der Jugend malte Hagen seinen neuen Freund und erweckte in der Schwester die Sehnsucht, den so Gepriesenen näher zu kennen. „Er hat mir,“ sagte er, „das Versprechen gegeben, uns in Kurzem zu besuchen, und einige Tage bei uns zuzubringen. Du wirst gewiß meine Vorliebe für ihn theilen und seine Freundin werden, wie ich sein Freund geworden bin.“
„Das bin ich schon,“ entgegnete Emma mit tiefem Erröthen, „wenn er nur einigermaßen Deinem Bilde gleicht.“
Das Gespräch der Geschwister wurde hier durch den Besuch einer jungen Dame unterbrochen, bei deren Eintritt Hagen mit einem lauten Freudenschrei aufsprang, um sie zu begrüßen. Es war seine Braut, Julie Wiggern die im Vorübergehn ihre Freundin Emma sehn wollte, mit der versteckten Absicht, sich nach dem Bruder zu erkundigen. Die nachsichtige Mutter und die zärtliche Schwester waren in das Geheimniß der Liebenden eingeweiht, so daß dieselben in ihrer Gegenwart den Zwang fallen ließen, den sie sich noch vor Fremden auferlegen mußten. Juliens Vater war Geheimrath und gehörte zu jenen Beamten, welche alles Heil in der Bevormundung des Volkes sehn. Er war ein abgesagter Feind jeder freieren Richtung und schloß sich immer enger der Partei an, welche gegenwärtig am Hofe die herrschende war. Mit strenger Consequenz trat er jeder Neuerung entgegen; die alten Zustände fanden an ihm einen hartnäckigen Vertheidiger; weshalb er auch nur ungern den vertrauten Umgang seiner Tochter mit dem durch seine freisinnigen Grundsätze bekannten Hause seines Collegen Hagen sah.
Schon nach kurzem Verweilen mußte Friedrich in Juliens Zügen und in ihrem ganzen Betragen eine Betrübniß bemerken, die sie ihm auch nicht langer vorenthielt.
„Mein Vater,“ sagte sie, „ist im höchsten Grade aufgebracht wegen des Wartburgfestes und hat sich in einer Weise darüber ausgesprochen, die mich das Schlimmste fürchten läßt. Noch scheint er nicht zu wissen, daß Du Dich daran betheiligt hast. In meiner Angst bin ich hierhergeeilt, um Dich vor den möglichen Folgen zu warnen.“
„Ich danke Dir,“ entgegnete Hagen, „für Deine Liebe, die Du mir von Neuem bewiesen hast, aber Deine Angst kann ich nicht theilen, da ich mir keiner Schuld bewußt bin.“
„Ich glaube Dir, aber in der Stadt gehen die schrecklichsten Gerüchte von einer gefährlichen Verschwörung um. Der Geheimrath Schmalz, der ein Freund meines Vaters ist, hat bereits eine Schrift verfaßt, worin er auf die Gefahren hinweist, welche durch die Burschenschaft dem Staate drohe. Der Minister Kamptz soll außer sich sein und für die ihm angethane Beschimpfung Satisfaction verlangen und auf Bestrafung der Urheber und Rädelsführer angetragen haben.“
„Du kannst darüber ganz ruhig sein, da ich dem Autodafé dieser Bücher, die nach meiner Meinung meist kein besseres Schicksal verdient haben, zwar mit beigewohnt, aber es keineswegs veranlaßt habe. Ich und viele meiner Bekannten waren durchaus nicht damit einverstanden, weil wir nicht die schöne und erhebende Feier des Tages durch ein derartiges Strafgericht entweiht sehen wollten. Aber ich begreife nicht, wie man den Muthwillen der aufgeregten Jugend gleich zu einem Verbrechen stempeln kann. Darum hoffe ich auch, daß dies Geschrei der Betroffenen bald wieder verhallen und daß weder für mich, noch für meine Brüder eine größere Unannehmlichkeit daraus erwachsen wird.“
„Gott gebe es!“ seufzte das liebenswürdige Mädchen, den kleinen Lockenkopf bedenklich schüttelnd. „Ich wünschte nur, daß Du nicht auf der Wartburg dabei gewesen wärst.“
Von Ludwig Storch.
Als Kind war ich von äußerst lebhafter Phantasie, und sie machte mir zuweilen tolle Streiche; sie führte mir Traumerscheinungen vor. Nichts aber beflügelte sie mehr, als die Erzählungen meiner Mutter von ihren Vorfahren, von bedeutenden Männern aus der Familie Gotter, deren Tochter sie war. Da waren es vorzüglich drei, von welchen sie prächtige Geschichten zu erzählen wußte, und unter diesen tauchte einer wie ein Riese aus dem flammenden Abendrothe untergegangener Tage hervor, dessen Haupt von einer Glorie umglänzt war.
Der erste dieser Männer war eigentlich der Stammvater der Familie, der Oberhofprediger und Generalsuperintendent Johann Christian Gotter zu Gotha, unter den Herzögen Ernst dem Frommen und Friedrich I. von Gotha und Altenburg einer der vornehmsten und angesehensten Männer des Landes, welcher den prachtliebenden Herzog Friedrich II. getauft hatte. Der Zweite, eben der phantastisch geschmückte Halbgott, war der Graf Gustav Adolph von Gotter, des Vorigen Enkel, welcher als Oberhofmarschall und Minister Friedrich’s des Großen in Berlin gestorben war; der Dritte endlich der Dichter Friedrich Wilhelm Gotter, der Jugendfreund Goethe’s, Urenkel des Generalsuperintendenten und als Geheimer Secretair in Gotha gestorben. Der Vater meiner Mutter war ebenfalls Urenkel jenes Ahn gewesen und hatte als Knabe mit seinem Vater, Rath und Amtmann Gotter zu St. Blasien-Zella, Geschwisterkindsvetter des Grafen, diesen in Molsdorf besucht. Molsdorf! der bloße Name hatte für mich etwas Zauberhaftes. Von seinem Klange entflammt, baute meine Phantasie im Nu mir Schloß und Garten eines Kalifen aus „Tausend und eine Nacht“ vor die berauschte Seele. Ich kann nicht sagen, daß ich enttäuscht war oder daß die Wirklichkeit in irgend einer Weise hinter der Schöpfung meiner Phantasie zurückgeblieben wäre, als auch ich als Knabe Schloß und Garten zu Molsdorf an der Hand meiner Mutter zum ersten Male betrat; ich zitterte vor Aufregung und wagte kaum zu athmen. Die reizende Schöpfung meines berühmten Ahnherrn war für mich eine heilige Stätte, und ich hatte ja noch nichts Aehnliches gesehen.
Friedrich der Große ist als „alter Fritz“ zum mythischen Volkshelden geworden und auf dem Schimmel mit dem Krückstocke in der Hand eine typische Figur. Nur noch Luther genießt im nördlichen Deutschland gleicher Ehre. Daran kann man ermessen, welche glänzende Höhe in den Ueberlieferungen einer bürgerlichen Familie einer ihrer Vorfahren einnehmen muß, der sich zum Grafen und Minister des großen Königs emporgeschwungen, und an welchen dieser eine seiner poetischen Episteln gerichtet hat. Wahrlich, der Graf Gotter war in meiner Mutter und meinen Augen selbst eine halb mythische Gestalt. Und was mir etwa noch zu seiner Vergötterung gefehlt hätte, das fügte eine Base in Meiningen, ebenfalls eine geborene Gotter, Tochter eines Justizamtmannes in Coburg, hinzu. Graf Gotter war eben der Stern aller Abkömmlinge dieser Familie.
Und in der That, dieser Parvenu war ein merkwürdiger Mensch, ein treuer Repräsentant seiner Zeit, und es ist sehr zu beklagen, daß er uns keine Denkwürdigkeiten hinterlassen hat, sie müßten ein guter Spiegel der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts sein und ihn uns als veredelten Casanova vorführen. So sind leider die öffentlichen und Familiennachrichten über ihn dürftig, inzwischen geht doch auch aus ihnen schon sein Bild ziemlich klar hervor. Nie hat ein Mensch in den sächsisch-ernestinischen Landen durch seine Carriere und geistigen und körperlichen Eigenschaften größeres Aufsehen erregt; nie waren in Thüringen die Augen der Vornehmen wie der Geringen in gleicher Weise auf einen bürgerlichen Emporkömmling gerichtet. Und doch war dieser Mann kein Feldherr, kein Gelehrter, kein Dichter, kein Schauspieler, kein Sänger; er war kaum ein bedeutender Diplomat zu nennen; er war nur ein höchst liebenswürdiger und gewandter Gesellschafter, ein Liebling der vornehmsten Frauen am deutschen Kaiserhofe Karl’s VI. und ein brauchbarer Hofmann am Hofe Friedrich des Großen, oder, um es mit dem rechten Worte zu sagen, er war der vornehmste und feinste Aventurier seiner an Glücksrittern aller Art so reichen Zeit. Wie selten bei einem Menschen wuchs Gotter’s ungewöhnliches und glänzendes Schicksal aus seiner ausgezeichneten Persönlichkeit heraus.
Gustav Adolph Gotter war der einzige Sohn eines verdienstvollen Beamten, welcher zur Zeit der Geburt dieses Sohnes (1692) Kammerrath, später Kammerdirector des Herzogs Friedrich II., prächtigen Andenkens, in Gotha war, und erhielt eine sehr sorgfältige und vornehme Erziehung. Auf den Universitäten Jena und Halle zeichnete er sich durch geistige und körperliche Vorzüge so aus, daß ihm die schmeichelhaftesten und aufmunterndsten Zusicherungen seines Landesherrn zukamen. Wirklich soll er, der Familientradition nach, einer der schönsten und liebenswürdigsten jungen Männer gewesen sein, und die von ihm vorhandenen Portraits aus späterer Zeit können als Bestätigung dienen. Schon als Student in Jena und Halle hielt er sich nur zu Studiengenossen aus den höheren Ständen; war er doch selbst aus dem höheren thüringischen Beamtenstande hervorgegangen. Seine Mutter war nämlich die Tochter des schwarzburg-sondershausenschen Kanzlers von Happe. So schloß er in Halle ein inniges Freundschaftsbündniß mit dem nachmaligen hannoverschen Minister Freiherr Gerlach Adolph von Münchhausen, welcher sich als Curator der neuen Universität Göttingen unsterblichen Ruhm um ihre Blüthe erworben hat. Gerade dieser Freundschaftsbund wurde für Gotter’s Lebensgeschick auf eigenthümliche und fast romantische Weise bestimmend.
Nach absolvirten Studien machte Gotter die damals allen jungen Männern von Stande, welche sich poussiren wollten, unerläßliche Reise durch Holland, England und Frankreich. Zurückgekehrt, erhielt er einen Besuch seines Freundes Münchhausen, und erbat [94] sich von seinem Vater die Erlaubniß, denselben auf die Güter der Münchhausen’schen Familie begleiten zu dürfen. Die beiden jungen Männer hatten aber ganz andere Dinge vor. Während Münchhausens Verwandte ihn in Gotha wähnten und die Familie Gotter ihren Sohn auf den Münchhausen’schen Gütern, eilten die beiden Freunde nach Wien, um die Vergnügungen der Kaiserstadt durchzukosten. Auf dieser Geniereise in Regensburg angekommen, suchten sie ein Schiff, auf welchem sie die Donaufahrt zu machen gedachten. Das einzige vorhandene war aber von zwei vornehmen Damen in Beschlag genommen, welche durchaus keine ihnen nicht ebenbürtige Reisegesellschaft dulden wollten; und sie waren Prinzessinnen von Savoyen-Carignan und Nichten des großen österreichischen Feldherrn Prinzen Eugen. Als Gotter dies in Erfahrung gebracht, war er nur um so begieriger, die Reise nach Wien auf demselben Schiffe zu machen, und es gelang seiner Ueberredungskunst, deren sieghafte Kraft ihm bekannt war, den Haushofmeister der beiden fürstlichen Damen zu gewinnen, daß er die beiden Freunde im unteren Schiffsraume versteckte. Was geschieht? Das Schiff kommt an den übelberüchtigten Strudel, damals noch gefürchtet, wie die Scylla und Charybdis; es geräth durch die Ungeschicklichkeit seines Führers in Gefahr. Die Prinzessinnen schreien in Todesangst; die Schiffer beten, die Damen ringen die Hände. Da, im Augenblicke der höchsten Noch, steht plötzlich ein Jüngling, schön, wie ein Engel, am Steuer und zwingt die Schiffer, das Fahrzeug nach seinem Befehle zu lenken. Alles gehorcht ihm wie einem höheren Wesen; er selbst legt Hand an; Schiff und Wasser fügen sich seinem Willen, und in wenigen Minuten sind sie über die Gefahr hinaus. Da Niemand weiß, wie der in jugendlicher Schönheit und Anmuth strahlende Retter auf das Schiff gekommen, so wird er vom Erstaunen und der Rührung der Fürstinnen für einen ihnen zu Hülfe geschickten Himmelsboten gehalten, bis er mit der feinsten Gewandtheit seine irdische Abkunft documentirt und das Räthsel löst.
Gotter verstand es, den außerordentlich günstigen Eindruck, welchen er auf die Prinzessinnen gemacht, zur dauernden Gunst zu erheben; denn ehe die kleine Gesellschaft nach Wien kam, hatte er die Schwestern durch seine Gewandtheit und Liebenswürdigkeit so für sich begeistert, daß sie ihn zuerst ihrem Oheim, damals nach dem Kaiser die vornehmste und bedeutendste Person in Wien, vorstellten und ihm nach und nach die Thüren aller Großen öffneten. Wie die Gunst der Prinzessinnen, so gewann Gotter schnell die des ruhmgekrönten Feldherrn. Herr von Münchhausen verschwindet neben ihm. Den sprechendsten Beweis für die bezaubernden Eigenschaften des jungen Thüringers liefert der Umstand, daß er, der bürgerliche Jüngling, zu einer Zeit in den ersten Cirkeln Wiens glänzt, wo die steifste spanische Etikette des Kaiserhofs (der Kaiser Karl VI. war erst König von Spanien gewesen und hatte das am dortigen Hofe gültige Ceremoniell nach Wien verpflanzt) maßgebend, und nur dem Artigen, welcher die große Ahnenprobe zu bestehen vermochte, der Zutritt gestattet war, jeder Andere aber, und wenn er die größten Verdienste um das öffentliche Wohl aufzuweisen gehabt hätte, streng ausgeschlossen blieb. Diese neun Schlösser des Standesvorurtheils öffneten ihm die von seinen hohen Gaben inspirirten Feenhände der Prinzessinnen von Savoyen.
Während nun der junge Gotter in der Kaiserstadt ein wahres Götterleben führt, kommt eines schönen Tages sein Vater als Beauftragter des Herzogs Friedrich II. von Gotha und Altenburg ebenfalls dahin, um Forderungen für geleistete militairische Hülfe vom Kaiser einzutreiben. Der Pracht und Aufwand liebende regierende Herr, der natürlich immer viel Geld brauchte, machte nämlich ein einträgliches Handelsgeschäft mit – Soldaten, indem er seine Landeskinder dem Kaiser verkaufte, aber nur mit Schwierigkeiten zum Kaufschilling gelangen konnte.
Im Palais des Prinzen Eugen wird ein großes Fest gegeben, und der Kammerdirector Gotter sucht sich als Zuschauer Zutritt zu verschaffen. Die geladenen Gäste wallen in reichster Gala durch die glänzenden Räume, die kaiserliche Familie, Fürsten und Fürstinnen, Grafen und Gräfinnen, hohe Kleriker, Officiere, Staatsmänner, Ungarn, Spanier, Italiener. Der bescheiden auf einer Gallerie unter anderem zugelassenen Volk stehende gothaische Beamte erblickt plötzlich einen jungen Mann sich gewandt und leicht in diesem Zauberkreise bewegen, als wär’ er darin aufgewachsen, mit den Vornehmsten vertraut, von den Damen gesucht, mit Allen bekannt. Die Augen des würdigen Herrn aus Gotha bleiben an dieser Erscheinung hängen, aber er traut doch diesen seinen eigenen Augen nicht recht. Eine solche Aehnlichkeit ist ihm noch nicht vorgekommen. Endlich fragt er einen Diener des Hauses:
„Wer ist der junge Herr, mit welchem Se. Durchlaucht der Prinz Eugen zu conversiren geruht?“
„Herr von Gotter!“ ist die Antwort, die den Kammerdirector vollends außer Fassung bringt.
Starr vor Erstaunen gewinnt es der alte Herr endlich doch über sich, sich weiter nach dem Söhnlein, das er in Westphalen wähnt, zu erkundigen, und hört nun, daß „Herr von Gotter“ Hausfreund des Prinzen Eugen, und von diesem und seinen Nichten in die ersten Häuser Wiens eingeführt sei. Der Vater sucht den Sohn auf, bedient sich seiner zur Erreichung seiner Zwecke und gelangt durch ihn weit schneller zum Ziele, als er durch eigne Kraft vermocht hätte. Die Irrungen werden zum Vortheile des gothaischen Hofs beigelegt, die Forderungen des Herzogs berichtigt, alte Processe beim Reichshofgericht ungewöhnlich schnell zu Ende gebracht, Alles durch die Hand des jungen Gotter, der besser als der Alte weiß, an wen er sich zu wenden hat. Ein Billetdoux von ihm richtet mehr aus, als ein ganzes Actenfascikel der gothaischen Regierung.
Nach einer andern Version scheint allerdings die Rettungsgeschichte in das Bereich der Fabel zu gehören. Gotter soll nach dieser andern Quelle ganz einfach durch seinen Vater und einige Cavaliere, die ihn lieb gewonnen hatten, bei Hof eingeführt worden sein und dort durch seine Gewandtheit, wohl auch durch seine Schönheit rasch die Gunst der Höflinge gewonnen haben.
Herzog Friedrich II. zeigte sich von diesen Erfolgen sehr befriedigt; der junge Gotter blieb als sein Chargé d’Affaires in Wien, und wurde nach zweijähriger glücklicher Wirksamkeit von ihm zum Legationssecretair ernannt. Allgemein galt er als der erklärte Günstling des mächtigen Prinzen Eugen und hatte zu jeder Zeit freien Zutritt bei demselben. Diese außerordentliche Gunst theilte er nur mit einer kleinen Anzahl von mehr noch durch Verdienst als durch Würde hervorragenden Personen, so daß die Auszeichnung dadurch nur noch kostbarer wurde.
Die Familiensage läßt unerörtert, wie viel die jüngste der fürstlichen Nichten bei Gotters fabelhafter Prosperität gewirkt, aber sie behauptet, diese Prinzessin habe sich nicht verheirathet und den schönen Glücksritter in Bezug auf die gemeinschaftliche Donaufahrt und sein Erscheinen im gefährlichsten Augenblick stets ihren Engel genannt. Ich habe von meiner Mutter behaupten hören, daß die hohe Dame noch einen andern Sinn mit dieser artigen Bezeichnung verbunden habe. Genug, Gotter machte großen Aufwand, war bald die beliebteste Persönlichkeit in den Kreisen der haute volée, und erhielt dazu das rechte Relief von der beneidenswerthen Gunst des zu jener Zeit berühmtesten Feldherrn und Staatsmannes. Ihr verdankte er es auch, daß er 1724 durch einen Gnadenbrief des Kaisers sammt seinen Nachkommen in den Reichsfreiherrnstand erhoben wurde „wegen der dem kaiserlichen Hofe geleisteten Dienste und zu Ehren des Herzogs von Gotha.“ Von Letzterem war unser Glücksritter einige Jahre zuvor erst zum Rath, dann zum Hofrath und außerordentlichen Gesandten am kaiserlichen Hofe ernannt worden.
Das ungewöhnliche Glück des zweiunddreißigjährigen Mannes machte natürlicher Weise großes Aufsehen, außer Wien am meisten an den thüringischen Höfen, welche die Augen stets respectvoll auf den Kaiserhof gerichtet hielten, das meiste am Hofe seiner Vaterstadt. Die reizendsten Aventuren und Plaisanterien wurden von ihm erzählt; man schilderte ihn als den Abgott aller vornehmen Frauen Wiens und brachte glänzende Namen mit dem seinigen in Verbindung, die sonst nur mit dem ungemessensten Respect ausgesprochen zu werden pflegten. Eine zärtliche Liaison mit dem Baron Gotter – so wurde behauptet – gälte selbst Damen vom reinsten Geblüt für point d’honneur, und keine tadelte darum die andere. Die Glückliche werde nur beneidet. Kurz, Gotter war der verwöhnte Liebhaber aller Götter oder vielmehr Göttinnen auf dem Olymp des heiligen römischen Reichs deutscher Nation.
In alle Geheimnisse und Intriguen des Wiener Hofs eingeweiht, in vielen davon eine wichtige Rolle spielend, mit allen hervorragenden und einflußreichen Personen vertraut, Muscadin und Mignon der vornehmen Welt, der intime Freund des päpstlichen Nuntius, spätern Cardinals Passioni, mit welchem er Prinz Eugens Gunst theilte, wurde er von den Großen, die am kaiserlichen Hofe etwas bezweckten, gesucht und favorisirt.
Von allen Seiten regnete es Gunst- und Gnadenbezeigungen auf ihn. Im Jahre 1725 erhielt er vom gothaischen Hofe auf [95] Verwendung des Prinzen Eugen „wegen seiner treu geleisteten Dienste“ das Prädicat als „Geheimer Legationsrath“ mit erhöhtem Gehalte, und zwei Jahre später war er ein so wichtiger Mann in Wien, daß ihm der zwölfjährige Czar Peter II. den Alexander-Newsky-Orden, begleitet von einem schmeichelhaften Handschreiben des allmächtigen Fürsten Menschikoff, durch Staffette überschickte. Diese große Auszeichnung läßt uns ahnen, von welcher Wichtigkeit die Dienste sein mußten, welche der glückliche Parvenu aus Gotha sich um Personen vom höchsten Rang erworben.
Die Memoiren der Berliner Akademie sagen über diese Periode seines Lebens: „Gotters Lage in den Jahren, über die wir soeben berichtet, gewährte einen ungemein heitern Anblick. Wenn es sich um einen verächtlichen Emporkömmling handelte, wir würden nicht weiter von ihm reden; aber kann man einen Mann ohne Wohlgefallen sehen, der seiner Pflicht mit Auszeichnung genügt und sich der allgemeinen Zuneigung bemächtigt, einen Mann, der, weit entfernt, die seiner Erhöhung entgegenstehenden Hindernisse stürmisch zu durchbrechen, vielmehr durch die einstimmige Zustimmung derer, welche sie verleihen, zu den großen Stellen emporgehoben wird, und, was nicht weniger selten ist, ohne das neidische Murmeln irgend eines Mitbewerbers zu erregen? Gotter hatte eine Eigenschaft, die vor jeder andern die Herzen gewann, er war verbindlich und dienstfertig über allen Ausdruck. Sich an ihn wenden, ihn um etwas bitten, und den Erfolg davon sehen, war in allen möglichen und zulässigen Fällen gewöhnlich eine und dieselbe Sache. Wie hätte man sich nicht allgemein für einen Mann interessiren sollen, der sich so großmüthig zu Gunsten Aller interessirte, welchen seine Gefälligkeiten nützlich sein konnten?“
Zwei Mittel und Wege, wie der gefeierte und gehätschelte Libertin der höhern Gesellschaft die großen Summen erwarb, durch deren generöse Verausgabung er nicht nur seiner Neigung zu fürstlichem Großleben genügte, sondern auch seine Stellung sicherte und sich die Laufbahn zu noch höhern Zielen eröffnete, zwei Mittel und Wege des Gelderwerbs, welche die Lobrede der königl. preußischen Akademie verschweigt, hat mir die Familientradition überliefert. Von dem einen habe ich schon gesprochen, von der schier fabelhaften Gunst hochgestellter Frauen, deren Herzen nicht nur, deren Cassetten ihm auch stets offen standen, und die sich bewetteifert haben sollen, seinen kleinen Verlegenheiten abzuhelfen. Das zweite ist seltsamer und ungewöhnlicherer Natur, zeigt aber, welch ein gewandter Kopf Gotter war, der Welt und Menschen kannte, und der sich so zu geben wußte, daß die Benützung auch dieses Mittels seine glänzende Stellung nicht beeinträchtigte, und selbst die Spötter in zustimmende Lacher verwandelte. – Gotter soll nämlich einen sehr einträglichen Weinhandel getrieben haben. Er entnahm die Weine aus italienischen Waarenhandlungen, und verkaufte sie seinen Gönnern und Freunden mit beträchtlichem Gewinn. Es gehörte eine Zeit lang in Wien zum guten Ton, Gotter’schen Wein auf die Tafel zu setzen.
Genug, alle Berichte stimmen darin überein, daß der Baron Gotter in Wien der schönste, liebenswürdigste, gewandteste, zärtlichste Held in Amors süßen Kämpfen, der gefeiertste Liebling der vornehmsten Frauenwelt per Kaiserstadt, der schlaueste Kopf, der gefälligste, dienstfertigste Menschenfreund, der beliebteste und großmüthigste Lebemann und Günstling der Großen und aus all diesen Gründen der gefeiertste Glücksritter seiner Zeit war.
Es gibt dem bewußten Leben einen neuen Reiz, wenn man den Quellen nachforscht, aus denen die Mittel zu seiner Befriedigung fließen. Dieser Reiz muß sich zum Kitzel steigern, wenn es sich um jene Quellen handelt, welche dem Leben die eingebildeten Werthe der Prunksucht liefern. Wahrscheinlich aber mögen die, ich nenne sie nicht die Bevorzugten, welche den köstlichen Schaum des Lebens für sich abschöpfen, selten daran denken, sich auch diesen Kitzel zu verschaffen; wenn sie ihr Geschmeide anlegen, fällt es ihnen wohl nicht ein, sich an die Ursprungsstätten und an die mühselige Herbeischaffung zu erinnern. Und in welch grellem Contrast stehen jene oft mit diesen! Gibt es ein sprechenderes Bild der keuschen Reinheit und der einfachen Schönheit, als die Perle? Und in welchem Contraste steht damit alles Das, was sich an ihre Gewinnung knüpft!
Nicht leicht aber auch möchte irgend etwas gleich sehr, wie die Perle, den Menschen aller Himmelsstriche für sich gewonnen haben. Für das Höchste, Edelste, Reinste wissen wir keinen ausdrucksvolleren Vergleich, als die Perle. Es ist gewiß bezeichnend und für die Anschauung der Menschen ein schönes Lob, daß wir die Diamanten wohl im Geldwerth höher halten, aber näher unserer Verehrung für das Reine steht die Perle. Ich nannte dies ein schönes Lob, und ich glaube einfach an das Gefühl jedes Lesers appelliren zu können. Das geläuterte Urtheil des Sittlichsten hätte kein besseres Gleichniß finden können, als die in sanftem Licht und warmem Farbenton – während doch sonst das Weiß fast immer kalt ist – strahlende Perlenkugel. Wir finden aber diese Hochhaltung der Perle nicht blos bei den gebildeten Völkern, sondern nicht minder bei den schlichten Kindern der Natur.
Darum knüpfen sich auch an die Perle, wozu ihre räthselhafte Entstehungsweise nicht wenig beitrug, eine Menge Sagen und abergläubische Verirrungen. Für uns mag sie jetzt ein Stündchen der Gegenstand einer allseitigen Betrachtung sein. Außer einigen eigenen Untersuchungen benutze ich dabei die ausgezeichnete Arbeit von Dr. K. Möbius in Hamburg: „Die echten Perlen. Ein Beitrag zur Luxus-, Handels- und Naturgeschichte derselben. Mit einer Kupfertafel. (Hamburg bei Nolte und Köhler. 1858.“ Auf diese allgemein faßlich und schön geschriebene Arbeit verweise ich diejenigen meiner Leser und Leserinnen, welche mehr von den Perlen wissen wollen.
Oft hört man die Frage nach der Entstehungsweise der Perlen aufwerfen. Ich glaube sie also zunächst beantworten zu müssen, wenn es auch zur Zeit noch nicht mit wissenschaftlicher Erschöpfung geschehen kann.
Vorher aber muß daran erinnert werden, daß uns Binnenlandsbewohnern die Naturgeschichte der Perlen nicht so fern liegt, wie die tropischen Meere, denn auch unsere Flüsse und Bäche, ja unsere Lachen und Teiche bergen mehrere Muscheln, welche schöne Perlen liefern. Auch die Meerperlen stammen nicht alle von einer, sondern von verschiedenen Muschelarten.
Ein Blick auf eine geöffnete Auster lehrt uns die Einfachheit des Baues der Muschelthiere kennen, und in den wesentlichen Punkten stimmen alle die zahlreichen Arten dieser Thiere mit der Auster überein. Die beiden Schalen, welche das Gehäuse der Muschelthiere bilden und das Thier wie die zwei Pappendeckel das Buch umschließen, sind innen zunächst von zwei nur locker aufgehefteten Häuten ausgekleidet, die zusammen den Mantel bilden, weshalb man die Muschelthiere auch Mantelthiere, Palliaren, nennt. Beiderseits vom Mantel bedeckt, folgt dann der einfache fleischige Körper des Thieres, an dem man einen zungenförmigen oder auch meist keilförmigen – daher auch Beilfüßler, Pclekypoden – sehr dehnbaren Theil, den Fuß, unterscheidet. Einen Körpertheil, den man Kopf nennen könnte, sucht man vergeblich, daher denn diese Thiere zuweilen auch den Namen Akephalen, Kopflose, führen. So eigenthümlich sind die Thiere beschaffen, welche uns die köstlichen Perlen liefern. Wir sehen Fig. 1. eine columbische Perlenmuschel, Avicula squamulosa, von welcher die rechte Schale hinweggenommen ist, so daß das Thier in der linken wie in einem Teller liegt. Das Thier bedeckt die Schale nicht mehr ganz, denn es hat sich im Tode bedeutend zusammengezogen, wie es auch die aufgebrochenen Austern thun. Oben, SS, sehen wir den geraden Ober- oder Schloßrand der Muschel, der dem Rücken eines Buches entspricht und an welchem die beiden Schalen durch das elastische Schloßband verbunden sind. Das ganze Thier finden wir von der rechten Hälfte des Mantels bedeckt, dessen Rand, R, sich etwas verdickt zeigt. Bei M liegt der Schließmuskel, welcher die Schalen durch seine Zusammenziehung schließt, während das Schloßband sie zu öffnen strebt, so daß das Oeffnen und Schließen der Muschel durch das Gegeneinanderwirken des Schloßbandes und des Schließmuskels bewerkstelligt wird. Daher öffnet sich nach dem Tode des Thieres die Muschel stets von selbst, indem der nicht mehr wirksame Schließmuskel das [96] Schloßband nicht mehr hindert, die Schalen auseinander zu ziehen. Dieser Umstand ist sehr wichtig für die Perlenfischerei, da es eine große Arbeitsvermehrung sein würde, wenn man das Oeffnen der Muscheln mit dem Messer bewerkstelligen müßte. Bei B sehen wir den Byssus, einen Büschel sehr fester sehniger Fäden, mit denen das Thier auf dem Meeresgründe festsitzt.
Der Mantel ist jetzt für uns das wichtigste Organ des Thieres, denn wie die Schalen, so bereitet er auch die Perlen. Zu dem Ende scheidet er an seiner ganzen Oberfläche, namentlich aber am Rande, R, Kalkstoff und einige andere Stoffe aus, aus denen jene sich bilden.
Man kann wesentlich viererlei Baustoffe der Muschelschalen unterscheiden: Perlmutterstoff, die sogenannte Säulenschicht, die Oberhaut und den eigenthümlichen, elastischen, oft schön irisirenden Stoff des Schloßbandes. Die ersteren drei sind zugleich die Stoffe, aus denen die Perlen gebildet werden, wenigstens können alle drei dazu verwendet werden, wenn auch wahrscheinlich die ganz reinen Perlen, die Perlen „vom reinsten Wasser“, wie der Juwelier sagt, lediglich aus Perlmutterstoff gebildet sein mögen.
Diese Stoffe werden jedoch von dem Thiere, so weit dieselben zugleich für die Muschelschalen und für Perlen dienen, oft in umgekehrter Reihenfolge verwendet. An den Muschelschalen selbst wird bei deren Vergrößerung an ihrem Umfange zunächst die Oberhaut in einer neuen Lage angesetzt, unter diese zunächst eine Lage Säulenschicht und zuletzt an diese eine Schicht Perlmutterstoff angelagert. Dies soll uns Fig. 4. veranschaulichen. Sie stellt in sechsmaliger (6/1) Vergrößerung ein bis zur Durchsichtigkeit dünngeschnittenes Plättchen aus der Schale unserer deutschen Flußperlmuschel dar. Wir sehen an Fig. 4. zumeist nach links zunächst die dünne schwarz-braune Oberhaut (o), dann die Säulenschicht (s) und dann die dicke Perlmutterschicht (p bis p″). Auf letzterer sehen wir die durch Striche bezeichneten Säulen der Säulenschicht senkrecht stehen, aber die Ablagerungsgrenzen der Perlmutterschicht gehen auch durch die Säulenschicht mit hindurch. Diese Grenzen, die einzelnen abgelagerten Schichten bezeichnend, sind theils durch stärkere entfernter stehende, theils durch zahllose außerordentlich feine Linien bezeichnet, welche letzteren der Deutlichkeit wegen blos von p′ bis p″ gezeichnet sind: daß auch sie in der Wirklichkeit noch unendlich viel feiner und dichter sind, versteht sich von selbst.
Bei der Bildung der Perle dagegen wird, wenn alle diese drei verschiedenen Stoffe dazu verwendet werden, oft so verfahren, wie es Fig. 3 der Durchschnitt einer deutschen Perle, darstellt. Im Mittelpunkte sehen wir den Kern (K), um welchen die Anlagerung der Stoffe stattgefunden hat, dann kommt (wie es scheint, nach einer Schicht Perlmutterstoffes) eine Oberhautschicht (o), dann eine doppelte Säulenschicht (s) und zuletzt eine dicke Perlmutterschicht (p). Hier haben wir also den Fall, daß der Bildung nach die Perle eine umgekehrte Muschel genannt werden könnte. Diese Schichtenanordnung findet aber keineswegs immer statt. Manchmal wiederholt sich an einer Perle diese Schichtenfolge mehrmals, oder eine und die andere Schicht fehlt ganz, oder die Perle besteht, der Kern ausgenommen, nur aus Perlmutterschicht; ja es kann wohl auch der Fall vorkommen, daß eine Perle blos aus Säulenschicht besteht. Diese Verschiedenheit des Stoffes der Perlen beruht ohne Zweifel darauf, daß sich Perlen in verschiedenen Theilen des Thieres bilden können, welche diese verschiedenen Stoffe ausscheiden, und daß die Perle während ihrer Bildung im Leibe des Thieres von einem Ort zu einem andern fortrückt und dabei nach einander in die Bereiche verschiedener Stoffausscheidung kommt.
Nothwendig hat diese Stoffverschiedenheit Einfluß auf die Güte der Perlen und, andere nothwendige Eigenschaften einer tadellosen Perle vorausgesetzt, wird diejenige Perle die vorzüglichste sein, welche nur aus Perlmutterstoff besteht. Da nun die Perlmutterschalen zuweilen über einen halben Zoll dick sind und ihr Perlmutter genau derselbe Stoff ist, wie der einer Perle „vom reinsten Wasser“, die sich vielleicht in derselben Muschel gebildet hatte, – sollte man da nicht aus Perlmutter die schönsten Perlen drechseln können? Der in Fig. 4. gezeichnete Kreis soll uns veranschaulichen, weshalb dies nicht geht. Stellen wir uns eine Perle an dieser Stelle aus der Perlmuttermasse gedreht vor, so würde diese Perle die Schichten des Perlmutters überall durchschneiden, und nur an zwei Punkten, an den Polen der durch unseren Kreis gezogenen geradlinigen Axe, würde die Kugeloberfläche mit den Schichten des Perlmutters parallel zusammentreffen. Nur diese beiden Punkte würden Glanz, Wasser haben, sonst würde die ganze gedrechselte Perle glanzlos sein, wie wir wissen, daß es das Perlmutter auf dem Querschnitt stets ist, und wie auch die schönste Perle auf dem Querschnitt es ebenfalls ist. Mithin beruht der eigenthümliche Glanz beider nicht in der Beschaffenheit ihrer Masse, sondern in der schichtweisen Uebereinanderlagerung derselben. Diese erfolgt an der sich vergrößernden Perle rings an ihrem ganzen Umfange und dadurch zeigt dieselbe auf dem Querschnitte lauter concentrische Kreise, wie eine quer durchschnittene Zwiebel. Diese Kugelschalen, aus denen mithin die Perle besteht, werden aber nicht ringsum, gewissermaßen als geschlossene Häute, abgesetzt, eben so wenig wie die innere Fläche einer Muschel Schicht um Schicht gebildet wird. Wäre dies der Fall, so müßte die Oberfläche beider unter dem Mikroskop ganz eben, glatt und stark glänzend erscheinen. Dieselbe zeigt vielmehr bei beiden sehr zarte moirirte (gewässerte) Linien, wie es Fig. 2 darstellt. Gleichwohl ordnen sich diese unendlich dünnen, einzeln abgelagerten Lappen im Großen zu dickeren Schichten, wie wir sie bei Fig. 3. und 4. dargestellt fanden, so daß dennoch im Großen – obgleich immerhin nur theilweise für das unbewaffnete Auge erkennbar – die Perle aus Kugelschalen (zwiebelartig) zusammengesetzt ist.
Der Perlmutterstoff, den wir als den wesentlichen und oft alleinigen Bestandtheil der Perlen kennen gelernt, ist aber wieder ungleich zusammengesetzt, so fest und dicht uns auch ein Stück Perlmutter erscheint. Legen wir ein solches in Salzsäure, so fällt es uns auf, daß es sehr wenig braust und sich nicht völlig darin auflöst, was beides der Fall sein müßte, wenn das Perlmutter und die Perlen blos aus Kalk, und zwar kohlensaurem, beständen. Untersuchen wir den unaufgelöst gebliebenen Rückstand, der sogar noch ganz zusammenhängend und größer, als vorher, aufgequollen und weich erscheint, so finden wir, daß er aus zahllosen übereinanderliegenden, außerordentlich feinen Häuten besteht. Zwischen diesen war der nun von der Säure aufgelöste Kalk eingelagert gewesen. Die Perle gehört mithin dem Stoffe nach eben so sehr dem unorganischen, wie dem organischen Reiche an und es erscheint uns nun als eine Fabel, wenn Plinius erzählt, daß Kleopatra bei einem kostbaren Gastmahle, das sie dem Antonius gab, um ihre Behauptung, dabei 552,000 Thaler zu verthun, wahr zu machen, eine Perle von unschätzbarem Werthe in Essig aufgelöst und „getrunken“ habe. Wenn das Geschichtchen überhaupt wahr ist, so hat sie eine weiche, häutige Pille zu verschlucken gehabt.
Ueber die Entstehung der Perlen behauptet eine gar liebliche Sage, die freilich den Leuten vor Alters nicht blos Sage war, daß ein Thautropfen in den geöffneten Schooß der Muschel falle und [97] dort sich zur Perle wandele. Hiermit steht wohl im Einklänge, daß Plinius erzählt, die Perlen würden erst hart, nachdem die Muschel aus dem Meere genommen sei. Die geringe Kenntniß der alten Zeit in Dingen der Naturwissenschaft, die große Hinneigung zur wundersüchtigen und poetischen Auffassung der natürlichen Dinge, besonders aber der Mangel unserer heutigen optischen Mittel mußte die richtige Deutung der Natur der Perlen hemmen, und erst Réaumur, welcher der Naturwissenschaft so manchen epochemachenden Dienst geleistet hat, erkannte die mikroskopische Textur derselben, wodurch erst die Erforschung ihrer Entstehung möglich wurde.
Seit man weiß, daß der Mantel das die verschiedenen Schichten der Muschelschalen absondernde Organ ist, daß die Perlen aus denselben Stoffen, wie diese, bestehen und mit seltenen Ausnahmen sich nur zwischen den zarten Häuten des Mantels finden (siehe die zwei Perlen an Fig. 1.), so konnte man mit Bestimmtheit die Perlen das Erzeugniß einer krankhaften oder sonst abnorm bedingten Ausscheidung der Schalensubstanz nennen, und es war nur noch die Veranlassung zu dieser und der Grund ihrer Gestalt und freien Lage in der Muschel zu erforschen. Was letztere betrifft, so liegen die Perlen keineswegs immer frei, sondern sind zuweilen an der inneren Schalenseite festgewachsen. Die Veranlassung ist in den allermeisten Fällen, die man natürlich nur an einem Durchschnitte der Perlen kennen lernen kann, ein mikroskopisch kleines organisches Körperchen, das man im Mittelpunkte als den Kernpunkt der Perle findet. Auf welche Weise dieser die ihn immer mehr umhüllende Perlmutter-Ausscheidung veranlaßt, wird vielleicht nie mit Ersichtlichkeit nachzuweisen sein. In den meisten Fällen fand man als Kernpunkt ein kleines organisches, meist zellig und körnig gebildetes Körperchen (Fig. 3. K). Einige Male entdeckte man ein mikroskopisches Schmarotzerwürmchen in den Perlen eingeschlossen, einem Doppelmunde (Distoma) sehr ähnlich, welches man auch in Menge lebend im Mantel des Muschelthieres fand. Seltener bildet ein krystallinischer Kalkkörper den Mittelpunkt der Perlen. Th. v. Heßling hat in neuester Zeit in bairischen Süßwasserperlen, die den Schalen inwendig aufgewachsen waren, Sandkörnchen, Schlammklümpchen und Algenüberreste gefunden.
Da die Körperchen, welche man in den Perlen eingeschlossen findet, stets außerordentlich klein sind, so ist es natürlich, selbst wenn dieselben keine regelmäßige runde Gestalt haben, daß die Perlen dennoch rund werden; denn die fortdauernde Umhüllung mit immer neuen Perlmutterschichten muß nach und nach die Unebenheiten des Körperchens ausgleichen. Mithin dürfte es fraglicher sein, wodurch die birnförmige, tropfenförmige, der Walzenform nahe kommende oder sonst sehr unregelmäßige Gestalten der Perlen bedingt seien. In den meisten dieser Fälle mag dennoch eine sehr von der Kugelform abweichende Gestalt des veranlassenden Körperchens maßgebend sein. Vielleicht liegt auch der Grund zu unregelmäßig gestalteten Perlen – Barok-Perlen genannt – darin, daß mehrere dicht nebeneinander liegend begonnene Perlchen später einer gemeinsamen Umhüllung mit Perlmutterstoff unterlagen. Es braucht kaum erwähnt zu werden, daß die Kostbarkeit des Gegenstandes eine oft wiederholte Untersuchung, die ohne Opferung der Perlen nicht möglich ist, sehr erschwert.
Es ist ziemlich bekannt, daß Linné im Besitze eines Geheimnisses sein wollte, die Muscheln zur Perlenerzeugung zu nöthigen, und daß er dieses Geheimniß, nachdem er es dem Könige von Schweden zum Besten des Landes angeboten hatte, nachher für 500 Duckten an einen Kaufmann Bagge in Götheborg verkauft habe. Man weiß nicht, ob die Linné’sche Kunst außer von ihm selbst jemals ausgeübt worden sei. Beckmann aber sah in Linné’s Conchyliensammlung, neben der gemeinen Süßwasser-Perlenmuschel (Unio margaritifer) stehend, eine Schachtel voll Perlen und dabei einen Zettel mit den Worten: „Diese Perlen habe ich durch meine Kunst gemacht, sie sind nur fünf Jahre alt und doch so groß.“ Derselbe glaubte, Linné’s, Geheimniß in einer Stelle von dessen systema naturae (VI. Aufl. S. 195) gefunden zu haben, wo aber die Sache nur wissenschaftlich und nicht als Geheimniß erwähnt ist. Wenigstens wurde Linné gegen Beckmann verlegen, ohne nach der Stelle zu fragen, als ihm Beckmann seine Vermuthung äußerte. Die Stelle besagt: „es wachsen auf der Innenseite der Muschel Perlen, wenn man jene von außen anbohrt.“ Dieses Mittel ist übrigens als probat erkannt, obgleich dadurch nur Halbperlen entstehen können.
Die geschickten Chinesen sind längst im Besitze des Kunstgriffes, die Muschelthiere zur Ablagerung von Perlenstoff zu nöthigen, indem sie allerlei Körper in die Muschel unter den Mantel oder zwischen diesen und den Bauch des Thieres einschieben. Man kennt unter anderen chinesische Muschelschalen, welche inwendig über eingeschobenen Metallformen buddhistische Götzenbilder darstellend, eine dünne Schicht Perlstoff zeigen, durch welche der Metallglanz hindurchscheint.
Lord Dufferin, der reiche, lustige Irländer, hat blos zu seinem Vergnügen in einer ganz kleinen Yacht eine Spazierfahrt nach Island, Jan Mayen und Spitzbergen unternommen, eine Reise, vor welcher die Flotte des Prinzen Napoleon mit einem mächtigen, brillianten Dampfschiffe zurückfuhr, so daß der irische Lord in seinem kleinen kühnen Segler, von dem Napoleonischen Dampfer bis an die eigentlichen arktischen Wasser geschleppt, allein weiter in Nacht und Eis und erhabenste Scenen arktischen Naturlebens hinunterkämpfte, Jan Mayen und selbst Spitzbergen erreichte, glücklich zurückkam und der Welt in einem brillant ausgestalteten und illustrirten Buche[5] erzählte was er erlebt und gesehen.
Das Buch hat kurz hintereinander vier Auflagen erlebt, obgleich es keine großen Geheimnisse und Entdeckungen enthält. Worin liegt der Reiz? In der Kühnheit des Unternehmens wohl weniger, denn an muthigen Thaten zu Wasser ist das Leben und die und Literatur Englands nicht arm; gewiß aber in Island, Jan Mayen und Spitzbergen selbst in der arktischen, menschenleeren, blos naturgewaltigen Scenerie, den Quellen einer riesigen Götter- und Sagenwelt, den Bildern die in Farben und Formen, Massenhaftigkeit und Kraft oft an das Leben der Natur vor der Schöpfung erinnern an die vormenschliche Zeit der Einbildung. Sie befriedigen zugleich eine just von den Edelsten und Besten der Menschen am stärksten gefühlte Sehnsucht der Flucht und Erlösung aus unserer menschenwimmelnden unter verschuldeten kleinen und unverschuldeten größeren socialen und politischen Uebeln sich abquälenden Civilisation, die das Schönste nicht selten kainsstempelt, statt es zu adeln, feige Kriecherei decorirt und die Stirn des freien Mannes brandmarkt. Auch sieht man oft, wie den Wald vor Bäumen, den Menschen vor Menschen nicht. Wenigstens muß er viel Geld, mächtige Verwandte, hohe Titel, Sterne an der Brust und Zeus-Blitze der Gewalt in der Hand haben, wenn er „angesehen“ sein will. Je weniger der einfache, edle Mensch beachtet wird, desto mehr verdichtet sich die Ehrfurcht und Furcht um den Einzelnen. In Frankreich genießt blos ein Mensch Preß- und Redefreiheit. Eine einzige Neujahrs-Gratulation von ihm, nicht so höflich, als man erwartet, – und die ganze politische deutsche und englische Presse schrie angstkreischend auf, wie ein altes, krankes Weib. Die Elektrizität der europäischen Telegraphen zitterte schlaflos Tag und Nacht und sah blauer aus vor Schreck, als je. Jeder Mensch mit Werthpapieren, für welche Mächtige Staaten garantiren, fühlte sich plötzlich um so und so viel Viertel- und Achtelprocent ärmer. Nicht ein braves Manneswort im Namen mächtiger Nationen wurde geschrieben gedruckt und gelesen,
Aus solcher Civilisation und Politik sehnt sich das edele, gequälte Menschenherz oft heraus, Wohin? In die Einsamkeit, in die Arme der Natur, der gewaltigen, die in ihren furchtbarsten Tragödien sich noch streng an ewige, unverbrüchliche Gesetze hält.
„Sie ordnet regelnd jegliche Gestalt,
Und selbst im Großen ist es nicht Gewalt.“
Da wir nicht so reich sind, in eigenem Schiffe vor diesem [98] erschreckten Neujahre (dessen Beglückwünschung einem einzigen Pariser Abenteurer 80,000 Pfund brachte: „des Pudels Kern, ihr hohen Politiker!“) nach Spitzbergen zu fliehen, wo das Jahr nur aus einem Tage und einer Nacht besteht, wollen wir uns Dufferin’s Yacht zu Nutze machen und uns wenigstens Island, Jan Mayen und den einzigen Lebenden auf Spitzbergen – ein Menschengerippe im offenen Sarge – einmal von ferne ansehen und arktischen Wind um die Nase wehen lassen.
Jenseits der Hebriden und Shetlands-Inseln verlor das Meer seine bleierne Todesfarbe und dunkelte in ein tiefes Sapphir-Blau gegen den Horizont, aus welchem eines Morgens plötzlich ein blasser, goldener Schein hervorschoß, bald sich verdichtend und abblassend zu einer silbernen Pyramide von Schnee: die südöstliche Spitze von Island.
Hier landete vor 995 Jahren der erste Flüchtling Norwegens, um den andern Edeln und Freien die Stätte zu bereiten. König Harold Haarfagar hatte alle anderen skandinavischen Fürsten ermordet, verbannt und sonst ausgerottet und ging dann den Freiheiten der nobeln Nordmänner selbst an’s Leben. Die Edelsten und Trotzigsten unter ihnen zogen es vor, zwischen dem unbekannten Eise des Nordens eine neue Heimath zu suchen. Sie fanden Island und erhoben diese traurige, eisumgürtete, von grimmiger Natur geschützte neue Welt zu einem Asyl und Seminar alter, skandinavischer Freiheit und Cultur, einer Republik hoher Bildung und Gelehrsamkeit, wo das erste große Werk in germanischer Sprache („Heimskringlu“) gedruckt, eine ganze, grandiose Cultur und Literatur gedacht und gedichtet ward und alle Bewohner außerdem Lateinisch schrieben und sprachen. Das Lateinische ist noch jetzt Conversationssprache der gebildeten Isländer beiderlei Geschlechts. Isländer entdeckten zuerst Amerika zu Anfange des elften Jahrhunderts. Die Zuversicht des Columbus, der im Februar 1477 persönlich in Reikjavik, der Hauptstadt Islands, gewesen war, um von den Isländern selber zu hören, daß man von hier aus schon vor Jahrhunderten Neufundland und selbst die Küste von Massachusetts erreicht habe, beruhte also auf sehr solider Grundlage.
Endlich näherte sich die Yacht des Lord Dufferin der Insel und lief in die Bucht Faxa Fiord ein, zehn geographische Meilen breit, eingerahmt von Pyramiden und Felsenwänden und Schneethürmen, durchleuchtet von der klarsten Luft und jungfräulichsten Reinheit des Lichtes, gegen welches Schatten und Farben in den schärfsten Umrissen und Contrasten hervortreten. Die Gebirgs- und Eisformationen hoch in der klaren, keuschen Luft stehen steil, still erhaben, in den reinsten Farbentinten, hier ein vierschrötiger Riese in einem Meere flammenden Goldes, dahinter eine Formation von Spitzen im dunkelsten Purpur; über beider Schultern glitzern Eis- und Schnee-Köpfe bald bläulich, bald rosig. Der Meeresrand steigt in grünen Erhebungen auf vor den felsigen Wänden und ist dünn bestreut mit moosig-grünen Häuschen, die aussehen, als hätte sie einst das Meer angespült, wie Ueberbleibsel einer vergessenen, verschollenen Cultur.
Selbst Reikjavik, die Hauptstadt, mit noch nicht tausend Bewohnern in Holzschuppen und vorstädtischen Grashütten, ausgestreut auf spröder, öder Lava-Ebene, ohne Spur von Baum oder Busch, hat nicht einen Zug von hauptstädtischer Miene, wohl aber desto reinere eigene. Vor den Kaufmannshäusern an der Küste flattern lustige Wimpel und auf die schweigenden Straßen, deren Lavastaub nie ein Wagenrad aufwirbelt, gucken zart gepflegte Blumen und warme, freundliche Menschengesichter zwischen weißen Mousselin-Gardinen. Ein Gefühl von Eleganz und Behäbigkeit duftet um sie her, einladende Gastfreundschaft, offene, energische Herzlichkeit, die den Fremden mit Sturm erobert und ihm schon am ersten Tage mehrere neue Heimathen bietet. Man kann ihnen keinen größeren Gefallen thun, als bei ihnen zu wohnen, tüchtig zu essen und zu trinken, große Humpen aus weißen Händen goldhaariger Mädchen anzunehmen, sie möglichst oft zu leeren und mit der glücklichen, cordialen Jovialität gebildeter Männer lateinisch zu sprechen. Poculiren in tüchtiger, altdeutsch massenhafter Gründlichkeit und lateinisch dazu disputiren – scheint eine Hauptforce der Isländer zu sein. Wo man auch hinkommt, überall wird sofort ernsthaft poculirt und scherzhaft gesprochen. Zum Abschiede wird der Fremde von den lieblichsten Töchtern und der feinsten Mutter ganz derb und ungenirt auf die Lippen geküßt.
Natürlich gibt’s auch Armuth, aber nirgends zerlumpte Noth, wie in unseren großen Städten. Die Armen leben zwischen aufgehäuften, mit Moos ausgestopften Lavablöcken und schlafen in Nestern von Seegras, obgleich sie vielleicht davon leben, auf der benachbarten grünen Insel Vedey den Eidergänsen die Daunen wegzunehmen. Sie thun dies nie eher, als bis die Gänse ihre Jungen ausgebrütet, groß gezogen und die kostbaren Nester verlassen haben. Die Alten wattiren sie mit ihren eigenen, feinsten, weichsten Unterdaunen aus, die sie sich aus der Brust reißen. – Andere Häuser bestehen aus Balkenwerk von Wallfisch-Rippen mit Fleisch und Bein von Seegras oder Moos, isländischem Moos, das viele civilisirte Menschen als Medicin gegen die Folgen ihrer Civilisation trinken.
Die Isländer sind das herzreinste, simpelste, unschuldigste, vertraulichste Völkchen von der Welt, ganz unbekannt mit Verbrechen, Diebstahl, Völlerei, Grausamkeit oder nur Inhumanität, ohne ein Gefängniß, ohne einen Galgen, ohne Soldaten, ohne Polizei, noch Repräsentanten der idealsten Patriarchenzeit: „aufrichtig und vollkommen, Uebles meidend und ohne Falsch in ihrem Herzen.“ Unser Lord spricht mit besonderem Enthusiasmus von den isländischen Damen. Schon ihre nationale Kleidung ist hübsch, wenigstens charakteristisch: schwarzseidenes Häubchen, naiv auf die eine Seite gedrückt, mit langen Troddeln an den Schultern herab, oder zum Ausgehen weißer Kopfaufsatz, der sich vom Wirbel in einem Bogen nach vorn krümmt, schwarzes Leibchen mit silbernen oder goldenen Haken zugeheftet, darüber im Winter niedliche Tuchjacke mit silbernen oder goldenen Knöpfen, um den Hals geriffelter Sammetkragen mit Silber- oder Goldschnur, um die Taille silberner oder goldener, ornamentirter Gürtel, der die unten fünffach band- oder schnurenbesetzten Röcke festhält, Aermel enganschließend, so daß die schönen Rundungen der Arme[WS 1] sichtbar bleiben, um die Achseln etwas farbiger und eingefaßter Besatz.
Durch steinerne und höckerige, meilenweit gefrorne Lavameere ohne eine Spur von Grashalm, durch endlose, graue, todte Wüste ohne Weg und Steg – allerdings blos 35 englische Meilen in gerader Linie – wand sich die berittene Gesellschaft unseres Lords mühsam bis zu dem berühmten Thingvalla, dem Sprechsaal, dem Parlamentshause der alten, freien Republik Island, eine zehn Meilen breite, rings von Felsen eingefaßte lichte, grüne Ebene, hundert Fuß tief unter der kahlen, steinernen Umgebung von unzähligen steilen, dunkeln Schluchten und Abgründen durchrissen, mit einem großen klaren See am Südende. Beinahe in der Mitte dieser tausendfach durchschluchteten Ebene erhebt sich ein ganzes, ovales Stück, 200 Fuß lang und 50 breit, ringsum von tiefen Abgründen und Spalten abgetrennt und nur an einer Stelle zugänglich. Auf diesem Stück Erde versammelte sich das Parlament der isländischen Republik und regierte Jahrhunderte in Freiheit und Frieden, während Europa unter Feudal- und Despotenfehden blutete und verwilderte. Noch jetzt sieht man die drei kleinen Hügel, auf welchen die drei Häupter der Republik dem Parlamente vorsaßen und Recht sprachen. Während der Parlamentszeit wohnten hier die Volksvertreter in Zelten, und an den Ufern des Flüßchens Oxeraa dampften lustige Eß- und Trinkbuden. Man versammelte sich im Freien und berieth das Wohl des Volks unmittelbar Angesichts des grünen Thales, der Sonne und des Himmels. Jetzt sitzen melancholische Raben auf dem „Hügel des Gesetzes“ und auf dem Grase weiden die Schafe des dänischen Predigers. Drei Jahrhunderte blühte die isländische Republik in Freiheit, literarischer und socialer Kraft und Fruchtbarkeit. Endlich veruneinigten sich die Herren des Parlaments, intriguirten gegen einander und riefen einen Staatsretter aus Norwegen herbei. Im Jahre 1261 wurde die Republik Island der norwegischen Krone zugeschrieben, etwa ein Jahrhundert später der dänischen, die bis heute noch ihren Gouverneur dort dafür besoldet, daß er den Isländern Steuern und Abgaben abnimmt.
Völker, welche sich nicht unter sich vertragen, sich einander die Freiheit nicht gönnen, wegen Popularität und Einfluß eines Andern neidisch werden, rufen immer früher oder später einen „Staatsretter von außen“ herbei, oder eifersüchteln so lange, bis Einer von ihnen alle Andern zusammenhaut und zum Despoten wird. Island ist von den Folgen dieser Krankheit, an der alle freien Völker zu Grunde gingen, blos deshalb im Aergsten verschont geblieben, weil die Bevölkerung dünn, von eigener alter Civilisation getragen, gutherzig und durch Eis und Ferne vor dänischer Bedrückung geschützt [99] war, und heitere Luft, gesundes Klima, abschreckend für Fremde, moralische und physische Gesundheit sichern. Aber Thingvalla wird ewig ein schönes Symbol freier, schöner Bildung und Cultur in der Geschichte der Menschheit bleiben.
Die berühmten heißen Geiser-Springquellen, schon oft beschrieben, übergehen wir hier, und folgen dem kühnen Schiffer sofort zu dem arktischen Felsenriesen in furchtbarer wallender Nebel-Gewandung: Jan Mayen, jenseits des arktischen Cirkels und des 70sten Grades. Ueber dem unendlichen eisknirschenden Meere thun die in verschiedenen Farben und Formen wallenden und wogenden Nebeln sich plötzlich auf, um aus 7000 Fuß Höhe am klaren Himmel einen ungeheuern, in die wogenden Nebelmassen herableuchtenden Schneekopf zu enthüllen, die Spitze des Beerenberges auf dem eis- und nebelumschlossenen vulkanischen Felsstück, der Insel Jan Mayen. Die Nebel schlossen sich wieder, braun, dann grau, dann weiß, sich zu transparentem Blau verdünnend und die furchtbar-erhabene Gestalt der Insel im halb durchsichtigen Schleier enthüllend. Der Beerenberg erscheint im violetten Nebelgewande, das sich binnen wenig Minuten mit dem dunkelsten Purpur färbt, während der Himmel oben wieder blau aufleuchtet, um jetzt den 6,870 Fuß hoch aus dem dunkeln, eisstückglimmernden Meere aufsteigenden Berg ganz zu zeigen, umgürtet von einer Zone bergigen Dampfes mit sieben Gletschern zu seinen Füßen, gefrornen Niagarafällen, in Umfang, Färbung und Wirkung Alles übertreffend, was je die kühnste Phantasie aus Erdformationen zusammendichten mag. Man denke sich den größten Fluß an den Stufen, Kanten und Schichten des Berges hinabstürzend, über jedes Hinderniß hinwegtobend, in tausenderlei Wirbel und Gegenwellen zerklüftet, donnernd, brausend, tosend von Schicht zu Schicht, von Kamm zu Kamm in zitternden Katarakten von Gischt, Staub und Dampf, und so in einem Augenblicke in Eis gefesselt, so plötzlich, daß selbst Gischt und Dampf in den wunderbarsten ätherischen Formen und Farben zur Unbeweglichkeit eines Sculpturwerks erstarrten – und dies Alles in unabsehbarer Ausdehnung und kolossalster phantastischster Formation – so haben wir vielleicht eine schwache, dämmernde Vorstellung von der furchtbaren massenhaften Wirklichkeit dieses selten von fern gesehenen, in der Regel dicht nebelverhüllten arktischen Wunders.
Lord Dufferin landete mit Kühnheit und Ausdauer auf Jan Mayen, einem 16 Ellen breiten Rande von Küste. Alles Andere war Eis, basaltisches Säulenwerk bis 1000 Fuß hoch, Eisensand, Augit, Pyroxen, dicht bevölkert mit vertraulich guckenden und furchtlos sitzenbleibenden Seevögeln aller Art. Einige flogen um die nie gesehenen Menschen so dicht herum, daß man ihre Flügel berühren konnte. Ein alter Scheerenschnabel setzte sich dicht vor den Lord hin und ließ sich, selber neugierig und erstaunt mit scharfen Augen musternd, über zehn Minuten lang betrachten, ohne ein Bein oder nur eine Wimper zu rühren.
Weiter hinunter nach dem geheimnißvollen Nordpole bis zu der letzten bekannten Spur festen Landes, Spitzbergen.
Nach langem Kampfe mit Eisfluthen dämmern endlich bläuliche Spitzen am ätherischen Horizonte auf, die Eisalpen von Spitzbergen, 60 Meilen fern, bald sich nähernd, bald zurückweichend, wie Trugbilder, je nach Veränderungen in der Atmosphäre. Nebel in allen Farben, Eiswüsten, fest und wandelnd, stellen sich Wochen lang entgegen, und drohen schrecklichen Untergang, aber Lord Dufferin harrt aus und trotzt so lange, bis ihnen gelingt, zu landen, an einem Augustmorgen, mitten im Sommer zu landen in eisiger, unendlicher Todtenstille mit riesigen Schichten ewigen Schnees, umgeben von unabsehbaren Labyrinthen von Eisgebirgszügen, aus denen Spitzen in allen möglichen Farben und Formationen hervorragen. An messerscharfen Eisbergkanten hängen gefrorne Thränen von Gletschern. Die unendliche Todtenstille wird manchmal von herabdonnernden Gletschern unterbrochen.
Man suchte Tage lang nach Spuren irgend eines Lebens, fand aber endlich nur, halb aus schwarzem Moose hervorragend, einen halb verwitterten, offenen Sarg mit einem noch vollständig erhaltenen, weißgebleichten Menschengerippe darin. Oberhalb des Sarges war ein rohes Holzkreuz halb gesunken, und zeigte an, daß hier Commandeur Van der Schelling, gestorben 2. Juni 1758, seine Ruhestätte gefunden.
Schnee und Eis und Regen und Wind hatten ihn abgenagt. In andern Theilen Spitzbergens fand man geschlossene Särge, worin Todte drei Jahrhunderte geschlummert, ohne daß sich ein Zug verändert. Mit warmem Wasser von der Eiskruste befreit lagen sie noch da, wie eben eingeschlafen.
Mitten im Sommer friert der Thau des Thales in der Luft zu fallenden Eiszapfen. Im Winter donnert es häufig von zerspringenden Felsen. In den wärmsten Hütten fällt der Athem als Schnee nieder. Wäsche aus kochendem Wasser genommen, gefriert sofort steif wie ein Holzbret im wärmsten Zimmer. Wie mag’s dann draußen und oben auf den Eisbergen sein? Aber im Sommer lebt’s auch hier. Es wächst Moos in tiefen Thälern, Eisbären, Eiderenten, Seehunde, Seevögel, Seelöwen u. s. w. besuchen Spitzbergens Thäler im Sommer. Wo und wie bringen sie den Winter zu? Menschen, die man mehrmals hier ließ, ausgestattet mit Feuermaterial, Lebensmitteln und dreifach wattirten Hütten, um von ihnen zu erfahren, wie der Winter auf Spitzbergen sei, wurden das Jahr darauf stets in Eis verwandelt gefunden.
Spitzbergen ist die äußerste, Menschen bekannte Grenze gegen das mehr als Europa große Polarmeer, in dessen um Mitternacht leuchtende, geheimnißvolle Unendlichkeit schon Mancher mit Grauen und Hoffnungen blickte, aus welchem warme Winde einladend heraufwehten auf ewige Eismassen. Wird es künftigem Muthe gelingen, die grimmig verschlossenen Pole unserer Erde zu erreichen und zu sehen, ob das oft nur geahnte Paradies eines Nordpol-Landes mit seinen Millionen von glücklichen Menschen und furchtlosen Thieren, Flüchtlingen aus unserer „Civilssation“, das nie genossene Glück der Freiheit und des Friedens biete? Sehr fraglich. Der Norden ist zu kalt, der Aequator zu heiß für die weltgeschichtliche Arbeit um Freiheit und Frieden, die sich stets in gemäßigter Zone, etwa zwischen dem 40sten und 50ten Breitengrade, hielt. Freiheit und Frieden sind hier, unter uns und durch uns, unsere natürliche Bestimmung, unsere Pflicht, unser Wesen, das Princip unseres Lebens.
Zehn Tage in fürchterlicher Lage.
Am 5. October vorigen Jahres segelte das englische Barkschiff Jeannie Johnson mit einer Ladung Breter von Quebeck ab. Es erreichte aber Hull, seinen Bestimmungsort, nicht. Am 21. October wurde es von einem ungeheueren Sturme befallen, es bekam dabei ein Leck und am Tage darauf war es mit Wasser ziemlich gefüllt. Das Uebrige erzählt der Capitain selbst in folgenden Worten:
„Alle Matrosen beeilten sich nun in das Takelwerk hinauf sich zu flüchten, weil das Schiff jeden Augenblick sinken konnte. Meine Frau lag mit dem Kinde in der Cajüte im Bett und ich eilte hinunter um ihr zu sagen, auch wir müßten uns in das Takelwerk flüchten. Die Gefahr war aber so dringend, daß die arme Frau nicht einmal Zeit hatte, sich anders anzukleiden. Nur einen Mantel vermochte sie umzunehmen. Es war Nacht, aber nicht gerade sehr kalt. Wir hatten auch die Geistesgegenwart, etwas Brod, das noch nicht durch das Seewasser verdorben war, ein Stück gepökeltes Rindfleisch, einen Schinken und einige rohe Kartoffeln mitzunehmen. Mit Trinkwasser konnten wir uns leider nicht versorgen, denn die Fässer waren theils über Bord gespült, theils nicht zugängig. Oben in dem Takelwerke banden wir uns so viel als möglich mit Tauen und Segelstücken fest, welche letztere zugleich einigermaßen als Schutz gegen das Wetter dienten. Vom Schlaf war diese Nacht nicht die Rede. Um 7 Uhr früh am 23. Octbr. sahen wir ein Schiff, wir gaben Nothsignale, wurden aber nicht bemerkt. Der Sturm wüthete unablässig fort und wir mußten jeden Augenblick fürchten, daß der Hauptmast, auf dem wir uns befanden, niederbreche. So verging wieder der ganze Tag. Unsere Kleider waren ganz durchnäßt. Wir konnten die Glieder nicht strecken, sondern kauerten eng zusammengedrängt da. Einige Matrosen wagten sich hinunter auf das Dach des Deckhauses, nur um sich einmal strecken zu können. Das Kind verhielt sich ruhig, schlief auch wohl bisweilen, verlangte aber häufig weinend etwas zu trinken, das wir ihm nicht geben konnten. Unsere Nothflagge ließen wir fortwährend flattern, aber es zeigte sich erst am 24. wieder ein Schiff, das uns aber auch nicht sah.
[100]
„Am 23. schon peinigte uns Alle der Durst. Ich stieg bisweilen hinunter auf das Dach des Deckhauses, um mich legen zu können. Meine Frau vermochte ich erst am sechsten Tage, auch hinunterzusteigen, kaum aber hatte sie es gethan und sich ausgestreckt, als eine ungeheuere Woge sich heranwälzte, sie nebst dem Kinde völlig durchnäßte und fast hinwegriß, wie sie die Decken wegspülte, auf die sie sich gelegt hatte. Mit Mühe stieg sie wieder in unser Versteck oben auf der Mastspitze hinauf, das sie nicht wieder verließ, bis die Erlösung kam. In der Nacht vom 24. wurde das Steuerruder hinweggerissen, so daß das Schiff nun ganz ein Spiel des Windes und der Wellen war. Der Durst wurde für uns Alle fast jeden Augenblick peinigender. Am 25. regnete es und wir hofften, den brennenden Durst wenigstens in etwas stillen zu können, aber der Sturm peitschte die Regentropfen mit solcher Gewalt umher, daß wir uns mit denen begnügen mußten, die von dem Takelwerke uns in den Mund fielen, obgleich sie stark nach Salz und Theer schmeckten. Die Lippen meiner Frau waren fast verdorrt und ich selbst war durch den Durst so geschwächt, daß ich ohnmächtig werden zu müssen fürchtete. Die wenigen Tropfen, die wir jetzt erhalten hatten, steigerten den Durst wo möglich noch [101] höher. Von unserem Fleischvorrathe konnten wir nicht essen, weil der Durst dadurch noch mehr gereizt worden sein würde. Einige Erleichterung – aber welche! – gewährten uns die rohen Kartoffeln, die wir in kleine Scheiben schnitten und sie im Munde behielten, um den brennenden Gaumen zu kühlen und die halb vertrocknete Zunge zu befeuchten. Der Sturm wüthete dabei fort, in gleicher Richtung, bis er den 27. nach Norden umsetzte und scharfe Kälte mit sich brachte.
„Wir waren nun völlig erschöpft aus Durst, aus Mangel an Schlaf und weil wir die Glieder nicht zu regen vermochten. Die Kälte, die nun hinzukam, brachte uns fast zur Verzweiflung. Am meisten litt meine arme Frau. Sie konnte sich gar nicht rühren und dabei erfror sie fast, abgesehen von dem Hunger und Durst, die sie folterten. Das Kind litt eben so und erhöhte unsern Jammer dadurch, daß es fast immer weinte, wir ihm aber keine Hülfe bringen konnten. So ging es fort bis zum 30. October. Da schneite und hagelte es. Um vier Uhr Nachmittags am 31. endlich erblickten wir ein Schiff, das gerade auf uns zu kam, eine holländische Barke. Sobald der Capitain uns bemerkt hatte, machte er Anstalten zu unserer Rettung, die mit Mühe, aber glücklich gelang. Alle Glieder schmerzten uns so, daß wir sie erst allmählich wieder gebrauchen konnten. Drei Tage lang konnte ich gar nicht gehen. Meine Frau war eine Woche lang krank, doch dankten wir Gott und dem menschenfreundlichen Capitain des holländischen Schiffes für unsere Rettung.“
Berliner Polizei.
Die Eisenbahnen haben die Cultur selbst nach Hinterpommern, in das Land der Kassuben, getragen.
In Hinterpommern liegt das Dorf Goddentov mit dem Gute gleiches Namens. Auf letzterem wohnt der Baron von Goddentov, einer der reichsten und vornehmsten Adeligen Hinterpommerns.
Der Baron und die Baronin von Goddentov saßen eines Tages in einem wichtigen Gespräche beisammen. Sie waren Beide noch niemals in Berlin gewesen und waren doch Beide auch nicht mehr jung. Der Baron zählte einige funfzig, die Baronin einige vierzig Jahre. Der Baron hatte aber ein sehr erhebliches Bedenken gegen eine solche Reise nach Berlin. Er hatte nämlich viel von der Gefährlichkeit der Berliner Diebe gehört und fürchtete sich vor diesen. Die Baronin hatte vergeblich dieses Bedenken zu besiegen versucht. Alle Lust des Barons zur Reise war an ihm gescheitert. So war die Lage der Dinge, als der Baron und die Baronin eines Tages in einem wichtigen Gespräche beisammensaßen. Der Baron hatte die Neue Preußische Zeitung gelesen.
„Meine Gemahlin,“ sagte er darauf, „in dem Berlin sind doch sehr tüchtige Leute.“ Der Baron hatte das jedes Mal gesagt, wenn er die Zeitung gelesen hatte. Er hatte es gesagt in seiner Lust zu einer Reise nach Berlin, und die Baronin hatte ihm dann jedes Mal zugestimmt, um diese Lust in ihm desto heller anzufachen. Dann war aber jedes Mal das Bedenken des Barons mächtiger aufgetaucht. Heute versuchte sie einen anderen Weg. Sie war eine kluge Frau; sie galt für die klügste Dame des hinterpommerschen Adels. Aber auch der Verstand des Barons wurde unter dem Adel Hinterpommerns hochgeschätzt. Sie mußte daher sehr vorsichtig mit ihm verfahren.
„Ich wüßte nicht, mein theurer Baron,“ sagte sie etwas verächtlich.
Der Baron wurde pikirt.
„Meine Theure, wir können selbst hier in Hinterpommern noch von ihnen lernen.“
„Zum Beispiel, lieber Baron?“
„Sogar die Straßenjungen sind dort witzig, und der Witz der Berliner Eckensteher ist bekannt.“
„Der Adel Hinterpommerns wird doch die Berliner Straßenbuben und Eckensteher nicht zu Vorbildern nehmen sollen?“
„Ich werde Dir das gleich beweisen, Verehrteste. Erlaube mir nur erst, daß ich meine Pfeife anzünde; die Gedanken kommen mir dann besser.“
Der Baron klingelte. Der Bediente brachte dem Baron seinen Meerschaumkopf und der Baron ließ ihn sich anzünden. Die Baronin unterhielt sich unterdeß mit ihrem Mops.
Der Baron hatte angefangen zu rauchen. Es waren ihm also die Gedanken besser gekommen.
„Meine Theure,“ sagte er, „ich habe über die Sache nachgedacht. Es bleibt nur ein Mittel. Wir müssen doch endlich die Reise nach Berlin antreten.“
„Damit ich mich von der Bildung der Berliner Straßenbuben überzeugen soll?“
„Auch aus einem anderen Grunde, meine Liebe.“
„Ich wäre neugierig.“
„Die Eisenbahnen bringen vielen Besuch nach Kassuben; Alles kommt in unser Haus.“
„Ja, mein theurer Baron, unser Haus ist das erste und angesehenste im Lande.“
„Ja, meine Gemahlin, und es kommen zu uns die Präsidenten von Stettin und Cöslin.“
„Und der Oberpräsident, mein theurer Baron.“
„Und der commandirende General, meine Gemahlin.“
„Und selbst der Oberpräsident der Provinz Preußen.“
„Aber er ist nur ein Bürgerlicher. Und Alle, meine Theure, wenn sie hier sind, sprechen nur von Berlin. Selbst die Lieutenants und Regierungsassessoren, die wir in unserem Hause empfangen –“
„Sie am meisten, mein theurer Freund.“
„Und sie schnarren so vornehm dabei: „Waren Sie schon in Berlin, Baron? Noch nicht? Ah –!“ Oder: „Ah, meine Gnädigste, das müßten Sie in Berlin sehen!““
„Ja, Baron, unser schönes Hinterpommern wird über Berlin zurückgesetzt.“
„Und um nun, meine Theure, wie Du so schön sagst, auf der Höhe der Cultur zu stehen, werden wir doch wohl die Reise nach Berlin machen müssen.“
„Aber diese Hauptstadt der Intelligenz, Verehrtester, hat doch auch manche Schattenseiten.“
„Zum Beispiel, meine Gemahlin?“ fragte der Baron im Eifer des Gespräches.
„Die Berliner Diebe zum Beispiel –“ Die Baronin hatte den Würfel geworfen; aber mit Geschick zur richtigen Zeit. Sie stand einen Augenblick, den Athem anhaltend.
Der aufgeregte Widerspruchsgeist des Barons hielt an. Ein wenig veränderte er die Farbe; dann sagte er herzhaft: „Gewiß, aber sie haben auch eine gute Polizei in Berlin.“
„Ah, mein theurer Baron, auch die beste Polizei kann nicht Alles.“
„In Berlin kann sie Alles, ich versichere Dich.“
„Das ist ein großes Wort, lieber Baron.“
„Und dann, meine Theure, habe ich schon lange den Wunsch gehabt, einmal mit Dir selbst in Gerson’s Magazin zu gehen, um an Ort und Stelle Deine Toilette zu vervollständigen.“
„Freilich, mein lieber Baron, Du bedarfst auch eines neuen Meerschaumkopfes, und man soll sie am besten in Berlin bekommen können.“
„Wir müssen also der Cultur ein Opfer bringen, meine Gemahlin; denn ein Opfer bleibt diese Reise.“
Die Gedanken in dem Kopfe des Barons wirbelten oft wunderbar durcheinander, wie die Wolken, die er unterdeß aus seinem Meerschaumkopfe blies.
Der Cultur wurde das Opfer der Reise nach Berlin gebracht. Die Anstalten zu der Reise wurden getroffen. Ungeheuere Koffer und Schachteln wurden mit Kleidungsstücken angefüllt; große Kisten mit Gänsebrüsten und Danziger Goldwasser. Außerdem wurden mitgenommen der Kammerdiener des Barons, Joachim, und die Kammerjungfer der Baronin, Justine. So fuhren sie ab, in zwei Wagen des Barons bis Danzig, von da auf der Eisenbahn.
[102]
So lange der Baron und die Baronin von Goddentov in ihrem eigenen Wagen fuhren, saßen sie natürlich allein. Der Kutscher und der Bediente saßen draußen auf dem Bocke, und die Kammerjungfer war in dem zweiten Wagen bei dem Gepäcke. Eine Zeit lang saßen sie auch auf der Eisenbahn noch allein. Kammerdiener und Kammerjungfer mußten in der dritten Classe fahren. Der Baron und die Baronin nahmen Plätze in einem Coupé erster Classe.
„Man sitzt dort bequemer, als in der zweiten Classe, meine Gemahlin.“
„Und was höher anzurechnen ist, mein theurer Baron, wir laufen in der ersten Classe nicht Gefahr, mit Bürgerlichen auf einer Bank sitzen zu müssen.“
Sie blieben in der That bis Stettin ohne bürgerliche Gesellschaft, denn bis dahin blieben sie in ihrem Coupé überhaupt ohne alle Gesellschaft. Auch auf dem Stettiner Bahnhofe waren sie in ein Coupé geführt, in dem sie ganz allein saßen. Aber unmittelbar vor dem Abfahren des Zugs erhielten sie Gesellschaft. Ein sehr wohlgekleideter junger Mann stieg zu ihnen ein. Er hatte ein aufgewecktes, munteres und doch bescheidenes Aussehen. Auch sein Benehmen war ein bescheidenes.
„Der Schaffner hat mich hierher gewiesen,“ sagte er, bevor er einstieg. „Sollten Sie aber wünschen, allein zu sein, oder sollte meine Gesellschaft Sie sonst im Geringsten incommodiren, so würde ich mir ein anderes Coupé anweisen lassen.“
„Ein charmanter junger Mann,“ flüsterte die Baronin ihrem Gemahl in’s Ohr. „Und wie nobel er aussieht!“
„Ich bin ganz Deiner Meinung, meine Gemahlin. Er muß es auch uns angesehen haben, daß wir von gutem Adel sind, denn ich bemerkte schon auf dem Bahnhofe, wie seine Blicke uns mit einer gewissen Genugthuung verfolgten.“
„So lassen wir ihn zu uns einsteigen, mein theurer Freund.“
„Mein Herr, Ihre Gesellschaft wird uns sehr angenehm sein.“
„Sie machen mich sehr glücklich.“
Der noble junge Mann stieg ein; der Zug fuhr ab.
„Ich muß doch wissen, ob er von gutem Adel ist,“ sagte der Baron leise zu seiner Gemahlin. „Waren Sie schon in Hinterpommern?“ fragte er laut den Fremden.
„Nein,“ antwortete der junge Mann, „aber es soll ein gesegnetes Land sein.“ ,
„Ja, wir haben prächtige Fluren.“
„Ah, Sie sind aus Hinterpommern?“
„Baron von Goddentov auf Goddentov bei Goddentov.“
„Ein wohlklingender Name!“
„Sie sind wohl in Vorpommern zu Hause, wenn ich fragen darf?“
„Ich bin aus Schlesien, Graf Schimmel von Hengst auf Füllendorf.“
„Ah, ah, Graf -?“
„Graf Schimmel durchweg. Wir haben in Schlesien viele solche sonderbare Namen: Pförtner von der Hölle, Henkel von Donnersmark. Im gewöhnlichen Leben sind sie Pförtner, Henkel u. s. w.“
„Ein curioses Land, dieses Schlesien.“
„Hat es auch Bildung?“ fragte die Baronin, sich in das Gespräch einmischend.
„O gewiß, meine Gnädigste. Der schlesische Adel steht fast dem hinterpommerschen gleich.“
„Sie sind sehr gütig, Herr Graf.“
„Ich versichere Sie, man merkt das nirgends mehr, als in Berlin, wo der Adel aus allen preußischen Provinzen zusammenströmt.“
„Sie sind in Berlin bekannt?“
„Ich wohne dort schon seit einer Reihe von Jahren.“
„Angestellt vielleicht?“
„Ich lebe unabhängig, ich verzehre meine Renten dort. Man kann das nirgends angenehmer, als in Berlin.“
„Ich denke doch, in Paris zum Exempel.“
„Französische Aufschneidereien, meine Gnädigste.“
„Aber,“ fragte der Baron, „machen Einem die Berliner Diebe das Leben nicht unangenehm in Berlin?“
„Die Berliner Diebe?“
„Man hört so viel ihnen.“
Der Graf Schimmel wurde sehr ernst, beinahe wichtig. „Ja, mein Herr Baron, die Berliner Diebe, das ist eine äußerst bedenkliche Sache.“
Der Baron erblaßte; selbst die Baronin wurde ängstlich.
„Sie meinen, lieber Graf?“ sagte der Baron.
„Man kann keinen Menschen genug vor ihnen warnen.“
Der Baron von Goddentov sah seine Gemahlin darauf an, ob es nicht rathsam sei, noch vor Berlin umzukehren.
„Diese Diebe sind also wirklich so gefährlich?“
„Es gibt keine frechere, verwegenere Sorte von Menschen.“
„Aber was sagt denn die Polizei dazu?“ fragte der Baron den Grafen Schimmel von Hengst auf Füllendorf.
„Die Polizei? Ah, Baron, nach dem, was die Polizei sagt, frägt kein Berliner Dieb.“
„Das sind ja fürchterliche Menschen.“
„Unmenschen, mein theurer Freund!“
„Es ist nur ein Glück dabei, meine Gnädigste.“
„Ein Glück, Herr Graf?“
„Sie sind eben so dumm, wie sie frech sind.“
„Und doch kann die Polizei nicht mit ihnen fertig werden?“
„Die Polizei kann nicht immer Alles, was sie will.“
Der Baron von Goddentov hatte wieder Muth gewonnen. „Ah, wenn sie dumm sind, dann werden wir schon mit ihnen fertig werden. Denn, was ihre Frechheit betrifft, in Hinterpommern haben wir auch Fäuste.“ Der Baron hatte in der That ein paar tüchtige Fäuste. Er hob sie mit Wohlgefallen empor. Die Baronin aber erröthete.
„Mein Gemahl!“ sagte sie leise verweisend.
Der Graf Schimmel fuhr fort: „Seien Sie indeß nicht so zuversichtlich, lieber Baron. Vor einem Berliner Diebe ist nichts sicher, keine Uhr, keine Tabatiere, keine Börse.“
Der Baron erblaßte wieder. Eine Tabatiere führte er nicht bei sich, wohl aber eine theure goldene Repetiruhr und eine schwere Börse. Er mußte unwillkürlich nach den Taschen langen, in denen er sie trug. Es waren zwei Hosentaschen.
„Freilich ist auch hierbei ein glücklicher Umstand,“ sprach der Graf weiter.
„Auch hierbei, lieber Graf?“
„Der Berliner Dieb ist dumm, wie ich Ihnen sagte; wenn man nur seine Sachen an einen Ort steckt, wo sie nicht gewöhnlich getragen werden, so findet er sie nicht.“
„Ah, ah, das wäre ja ein einfaches Mittel, ihnen zu entgehen.“
„So zum Beispiel hinten in den Rocktaschen wird kein Dieb in ganz Berlin eine Uhr oder eine Börse suchen.“
Dem Baron schien ein Licht aufzugehen. „Hm, hm, lieber Graf.“
„Höchstens nach einem Taschentuche suchen sie da, und auch dann nur, wenn man in der Straße vor einem Bilderladen oder im zoologischen Garten vor den Affen steht.“
Der Baron hatte seine goldene Uhr schon glücklich aus der Hosentasche hinten in seine Rocktasche gebracht. Es hatte ihm freilich Mühe gekostet. Er hatte ein sehr wohlgenährtes Bäuchlein, und um dieses schlossen seine Hosen sich sehr fest und stramm an, so daß es einem Diebe doppelt schwer müßte geworden sein, etwas aus den dort befindlichen Taschen zu nehmen.
Der Graf Schimmel fuhr fort: „Doch hätte ich beinahe etwas vergessen.“
Der Baron erschrak wieder. „Man ist dennoch seiner Rocktaschen nicht sicher?“
„O doch, wenn man kein Gardelieutenant ist.“
„Wie, lieber Graf?“
„Die Gardelieutenants pflegen ihre Börsen hinten in der Rocktasche zu tragen.“
„Das ist ja unbegreiflich.“
„Nicht so ganz. Die Gardelieutenants haben die Brust vorn hoch wattirt.“
„Ja, ja, die Uniformen.“
„Daher haben sie kein Gefühl in der Brust.“
„Kein Gefühl in der Brust?“
„Oder auf der Brust. Sie können daher auch nicht fühlen, wenn ihnen Jemand dahin faßt.“
„Das ist begreiflich.“
„Dagegen haben sie hinten an den Rockschößen der Uniform sehr enge Taschen, die zudem nach innen gehen.“
„Ich weiß es; ich habe selbst zwei Vettern, die Gardeofficiere sind.“
[103] „Die Taschen sind so enge, daß sie selbst kaum hineinfassen können. In diese stecken sie nun ihre Börsen.“
„Ah, sehr sinnreich!“
„Leider war es nur in der ersten Zeit so. Die Diebe kamen bald dahinter, und nun konnten sie zwar auch noch nicht in die engen Taschen kommen –“
„Ah, ah, das war den dummen Dieben Recht, lieber Graf.“
„Aber sie wußten es sich in anderer Weise noch bequemer zu machen, und man sah auf einmal in Berlin nichts, als Gardeofficiere, denen hinten die Rockschöße abgeschnitten waren.“
„Was, was, Graf?“
„Rein abgeschnitten, sage ich Ihnen, Baron.“
„Das ist ja eine empörende Frechheit.“
„Ja, frech sind die Berliner Diebe.“
Der Baron war auch mit seiner Börse auf dem Wege in die Rocktasche gewesen. Als er von den abgeschnittenen Rockschößen hörte, besann er sich. „Verteufelte Frechheit!“ sagte er. „Aber,“ fragte er dann, „sind denn die Gardeofficiere nicht klüger geworden?“
„O doch; sie stecken jetzt gar kein Geld mehr zu sich.“
„Und die Diebe nun?“
„Schneiden ihnen keine Rockschöße mehr ab.“
Der Baron brachte auch seine Börse in die Rocktasche. –
Man war auf dem Berliner Bahnhofe angekommen. Der Zug hielt. „Sollten schon hier auf dem Bahnhofe Diebe sein?“ fragte der Baron.
„Hier erst recht.“
Der Baron hielt, obwohl er noch im Coupé war, mit beiden Händen seine Rocktaschen fest, in die er seine theure goldne Uhr und seine schwere Börse gebracht hatte. Der Graf sah es.
„Darf ich Ihnen noch einen Rath ertheilen, lieber Baron?“
„Sie sind sehr gütig, lieber Graf.“
„Halten Sie nie die Tasche oder den Ort fest, wo Sie Gegenstände von Werth tragen. Sie zeigen dadurch dem Diebe geradezu an, wo er etwas zum Stehlen findet. Sie dürfen nicht einmal Miene machen, hinfühlen zu wollen.“
Der Baron ließ seine beiden Rocktaschen los.
„Aussteigen!“ commandirten die Schaffner an den Wagen der zweiten und dritten Classe. „Wäre es den Herrschaften gefällig, auszusteigen?“ bat einer höflich an dem Coupé der ersten Classe. Zugleich reichte er schon der Baronin die Hand, ihr beim Aussteigen behülflich zu sein.
„Ich bitte, lieber Graf,“ sagte der Baron höflich zu dem Grafen Schimmel.
Aber der Graf war noch höflicher. „Nach Ihnen, lieber Baron.“ Und er half auch schon dem Baron – aussteigen, wobei er sprach: „Vergessen Sie nur meine Ermahnungen nicht. Sie sehen, wie viele Menschen da stehen. Unter dreien können Sie jedesmal auf einen Spitzbuben rechnen. Besonders nehmen Sie sich vor jenem lauernden Gesichte in Acht. Es blickt gerade hierher. Dort links ist es. Und vor Allem fassen Sie nicht nach Ihrer Börse und nach Ihrer Uhr. Sie hätten sie in demselben Augenblicke verloren.“
Der Baron war ausgestiegen. Er hielt seine Hände steif vor sich hin. „Ah, wie bin ich Ihnen dankbar, lieber Graf.“
Der Graf Schimmel stieg ebenfalls aus dem Wagen. Draußen nahm er Abschied. „Ich habe mich sehr gefreut –“
„Charmirt, charmirt, lieber Graf!“
„Ich hoffe auf das Glück, Sie am Hofe wiederzusehen, Sie lassen sich doch vorstellen?“
„Ich denke.“
„Also au revoir. Meine Gnädigste, Ihr Unthäniger.“
Er war fort. „Ein charmanter junger Mann, mein theurer Baron.“
„Und so gewandt.“
„Aus einem alten Hause, man sieht es ihm an.“
„Und so dienstfertig. Wie half er mir aus dem engen Wagenschlage!“
„Und mit allen Berliner Verhältnissen so vertraut.“
„Besonders mit den Diebesgeschichten.“
„Du vergißt doch seine Ermahnungen nicht, mein lieber Freund?“
„Gewiß nicht. Ich habe sogleich Uhr und Börse in meine Rocktasche gesteckt.“
„Fühle nur ja nicht nach ihnen; ich sehe so viele lauernde Augen um uns.“
„Ich hüte mich, verlaß Dich darauf. Ich halte expreß die Hände auf meinen Hosentaschen, um die Diebe irre zu führen.“
„Das ist ein kluger Einfall, mein Lieber.“
„Ha, diese dummen Berliner Diebe, die müssen früher aufstehen, wenn sie uns anführen wollen.“
„Es ist wirklich ein Glück, daß sie so dumm sind, mein theurer Baron.“
„Aber ich leugne doch nicht, meine Gemahlin, ich möchte wohl einmal hinten an meine Rocktaschen fühlen. Sie kommen mir so leicht vor, so, als wenn ich gar nichts darin trüge. Nur einmal.“
„Hüte Dich, mein Freund. Wir sind hier mitten im Gedränge, und dieses lauernde Augenpaar hier gleich links neben uns –“
„Ah, es ist dasselbe Gesicht, vor dem der brave Graf mich warnte.“
„Es läßt uns nicht aus den Augen. Mir graut beinahe vor ihm.“
„Ja, ja, meine Liebe, das ist sicher ein sehr gefährlicher Mensch. Aber ich möchte doch nur einmal – Die Rockschöße kommen mir so außerordentlich, so sonderbar leicht vor.“
„Aber fasse nur nicht hin.“
„Ah, Theure, ich habe sie doch noch?“
„Du bist ja kein Gardelieutenant, mein lieber Baron.“
„Aber ich muß wahrhaftig –“
„Himmel!“ schrie auf einmal der Baron von Goddentov mit einer so lauten und schrecklichen Stimme, daß in der weiten Eisenbahnhalle sicher kein Herz war, das nicht über den Schrei fast erstarrt wäre. „Himmel, liebe Frau! Diebe! Räuber! Ich bin bestohlen! Meine Uhr fort, meine Börse!“
Ein wohlgekleideter Herr stand an seiner Seite. Es war derselbe, vor dessen lauerndem Augenpaar ihn vorhin der Graf Schimmel und so eben seine Gemahlin gewarnt hatte. „Sie sind bestohlen, mein Herr?“
Der Baron war wie wahnsinnig vor Wuth, vor Schreck. Er sah nur Diebe, Räuber. „Das ist der Dieb!“ rief er. „Herr, Sie haben mir mein Geld, meine Uhr gestohlen!“
Er hielt mit seinen Hinterpommerschen Fäusten den wohlgekleideten Herrn fest. Der aber sagte ruhig: „Gemach, gemach, mein Herr; ich bin der Polizeihauptmann. Aber ich sah mit Ihnen aus dem Coupé einen Menschen steigen?“
„Das war der Herr Graf Schimmel. Wäre er nur noch hier!“
„Graf Schimmel hat er sich Ihnen genannt?“
„Graf Schimmel von Hengst auf Füllendorf.“
„Teufel, eine ganze Reihe von Namen! Und Ihr Name, mein Herr?“
Aber den Baron faßte wieder seine Wuth. „Sie frecher Mensch wollen hier noch gar den Inquirenten machen? Ein schöner Polizeihauptmann mögen Sie sein! Mit solchen verbrauchten Kniffen dummer Berliner Diebe kommen Sie bei mir nicht durch.“
Der Herr hatte unterdeß ruhig nach mehreren Seiten hingewinkt. In einem Augenblicke war eine Compagnie Gensd’armen, Polizeisergeanten, Schutzmänner um ihn, Alle in ihren Uniformen.
„Was befehlen der Herr Hauptmann?“
„Halten Sie alle diese Beamten für Diebe und Räuber?“ fragte der Polizeihauptmann den Baron.
Das konnte der arme Baron freilich nicht. „Aber Einer muß mir doch meine Uhr und Börse gestohlen haben!“ rief er.
„Gewiß, mein Herr, und wenn mich nicht Alles trügt, war es jener Graf Schimmel –“
„Wie, dieser charmante junge Mann? Von so altem Adel? Nimmer!“
„Erzählen Sie mir von ihm, mein Herr.“
Der Baron mußte erzählen. Der Polizeihauptmann lächelte. „Ah, mein Herr Baron, Sie werden jetzt überzeugt sein, daß die Berliner Diebe doch nicht so dumm, wie frech, sondern im Gegentheile eben so klug, wie frech sind.“
Aber der Baron sah es nicht ein. „Ein so charmanter junger Mann, und von so altem Adel! Nimmer!“ Dabei blieb er.
[104]
Blätter und Blüthen.
Hausthiere als Wetterpropheten. Ein Freund meines Vaters, welcher diesem als scharfer Beobachter bekannt wurde, gibt folgende merkwürdige Mittheilungen über unsere von allen Frauen bitter gehaßte Zimmerspinnerin und blos auf unseren Nutzen bedachte Kammerjägerin, die Haus- oder Winkelspinne.
„Die Hausspinne, deren künstliches Gewebe man gewöhnlich in einem Winkel des Zimmers antrifft, besitzt ein äußerst feines Gefühl und scharfes Augenmaß. Die Aeußerungen des einen, wie des anderen oder beider zusammen können dem emsigen und scharfen Beobachter zur sicheren Vorausbestimmung der Witterung dienen, und zwar nicht blos auf Stunden und Tage, sondern auf ganze Monate hinaus: selbstverständlich nur im Allgemeinen. Es kommt einzig und allein darauf an, die Spinne so oft als möglich beobachten zu können; und es ist deshalb zweckmäßig, eine Spinne, welche sich in möglichster Nähe des Arbeitstisches eines Beobachters ansiedelt, nicht zu stören oder auch nur zu beunruhigen.
Ich will versuchen, meine auf die sorgfältigsten Beobachtungen von Jahren gestützten Erfahrungen über diese merkwürdigen Thiere in möglichster Kürze mitzutheilen, und bin gern bereit, auf Verlangen genauere Auskunft zu ertheilen.
Wenn sich eine Spinne an einem günstig gelegenen Orte angesiedelt hat, so muß man sich zunächst mit ihr bekannt zu machen suchen. Man geht deshalb oft an ihrem Netze vorüber, sieht sie im Vorbeigehen scharf an, bleibt später stehen, betrachtet sie, und verweilt dann immer länger und länger in ihrer Nähe, bis sie keine Furcht mehr zeigt, und sich nicht mehr in ihrer Höhle verbirgt. Bleibt das Thier endlich bei Annäherung des Beobachters ruhig und furchtlos auf ihrem Gespinnste sitzen, so können die Beobachtungen beginnen. Zuvörsderst hat man nun aber noch auf das verschiedene Alter der Spinne Rücksicht zu nehmen, d. h. sich zu vergewissern, ob man es mit einer ein- oder zweijährigen zu thun hat, da die sogleich zu beschreibenden Handlungen alter oder junger Spinnen verschiedene Zeiten anzeigen. Die vorjährige Spinne zeigt das Wetter des kommenden elften, die diesjährige des kommenden neunten Tages an.
Sitzt nun eine alte Spinne in ihrem Netz vor der Höhle desselben mit gerade ausgestreckten Füßen, so ist den elften Tag darauf schönes, trockenes Wetter; sitzt sie mit halbem Körper oder mit halb angezogenen Füßen in der Höhle, so ist derselbe Tag unveränderlich; sitzt sie umgekehrt, mit dem Hintertheile nach der Stube und mit dem Kopfe nach dem Winkel zu, so regnet es den elften Tag gewiß. Bei jungen Spinnen bedeuten diese verschiedenen Stellungen immer den neunten Tag.
Sitzt im ersten Falle die Spinne auf schönes Wetter und verändert sie plötzlich ihren Sitz, ohne irgend eine äußere Veranlassung, so tritt um dieselbe Stunde des elften (oder neunten) Tages dasjenige Wetter ein, welches sie anzeigt (Regenschauer, Gewitter etc.). Ist die Spinne eifrig bemüht, Löcher in ihr Netz zu reißen, so deutet dies für dieselbe Stunde des elften Tages auf Sturm. Bei fortgesetzter Beobachtung kann man auch erfahren, wie lange derselbe anhalten wird.
Im Frühling oder im Herbst verlassen die Spinnen oft ihr Netz und laufen unruhig umher. In diesen Zeiten kann man so glücklich sein, den Verlauf des Wetters während des nächsten Sommers oder bezüglich Winters ziemlich sicher zu bestimmen; man muß aber sehr genau beobachten, viel Geduld haben und Alles sorgfältig aufschreiben, denn die nunmehr zu erwähnenden Prophezeiungen. treffen erst genau nach der elften Woche ein. Nur selten ist man so glücklich, die bezüglichen Beobachtungen vom Anfange bis zum Ende ausführen zu können; dies schadet auch Nichts; es genügt, das allgemeine Gepräge der folgenden Witterung kennen zu lernen. Man hat hauptsächlich auf Folgendes zu achten:
Läßt sich irgend eine Spinne von der Decke des Zimmers oder irgend eines erhabenen Gegenstandes herab, so gebe man Acht, wenn sie aufhört zu spinnen, ruhig hängen bleibt oder wieder aufwärts läuft. Je länger der Faden ist, an welchem sie spinnt, um so trockener wird die Luft, oder um so wärmer wird der Sommer, um so kälter der Winter sein. Läuft die Spinne, wie öfters geschieht, wieder in die Höhe, so stellt sich feuchte Luft (Regen oder Schnee) ein; läßt sie sich wieder herab, so folgt von Neuem trockenes Wetter. Man schließt aus diesen wiederholten Bewegungen des Thieres mit ziemlicher Sicherheit auf die Veränderungen des Wetters.
Will man dieselben aber genau kennen, so nehme man nur gleich Stuhl und Tisch zu Hülfe, lasse sich Essen auftragen und waffne sich mit vierundzwanzigstündiger Geduld. Man theile nur die Höhe vom Netze bis zum Fußboden in elf gleiche Theile ein, von denen jeder einzelne in den Augen der Spinne eine Woche bedeutet, und merke sich nur für jeden genau an, was die Spinne innerhalb desselben vorgenommen hat. Hat sie z. B. von der Decke. der Stube herabgesponnen, und läuft vom fünften der elf Theile an wieder aufwärts, so stellt sich sicher in der 5. + 11. = 16. Woche feuchte Luft und im Winter wahrscheinlich Thauwetter ein.“
So weit unser Berichterstatter. Wir haben gar keinen Grund, die Richtigkeit seiner Beobachtungen vor Erlangung von Gegenbeweisen zu bezweifeln, und laden deßhalb alle Freunde solcher Beobachtungen zum Studium der Spinnen ein. Einige anderweitige Erfahrungen über die Vorausahnung der Witterung durch höhere Thiere sollen demnächst hier folgen.
Fürst Talleyrand, dieses Vorbild aller Diplomaten der alten Schule, welcher das bekannte Wort gesprochen „die Sprache ist da, um die Gedanken zu verbergen,“ ein Grundsatz, welcher genügend die ganze Politik dieses Mannes und der ihm folgenden diplomatischen Schule charakterisirt, ist bekannt als ein feiner satirischer Kopf, dessen beißende Bemerkungen sehr gefürchtet waren. Wir wollen hier einige weniger bekannte, die wir in den Memoiren eines französischen Staatsmannes finden, wiedergeben.
Man kennt die Unverschämtheit, mit welcher sich die Emigranten nach der zweiten Restauration bei der Regierung Ludwig XVIII. um Aemter und Sinecuren bewarben und für ihre Ansprüche oft die nichtigsten Gründe aufstellten. Einer dieser Herren kam denn auch eines Tages zu Talleyrand, damals Minister der auswärtigen Angelegenheiten und bewarb sich um eine diplomatische Stellung.
„Ich möchte Ihnen von Herzen behülflich sein,“ sagte der Fürst zu dem Supplicanten, „wenn Sie nur irgend beweisen könnten, auf welche Dienstleistung Ihre Anforderung sich stützt.“
„Ich habe mich 1815 nach Gent begeben.“
Gent war bekanntlich der Ort, wohin Ludwig XVIII. bei der Rückkehr des Kaisers von Elba flüchtete und wohin ihm eine Anzahl Royalisten, die dies später für eine Großthat erklärten, folgten
„Nach Gent?“ entgegnete der Minister. „Sind Sie dessen vollkommen gewiß?“
„Wie gewiß?“
„Sagen Sie mir offenherzig: sind Sie dahin gegangen oder sind Sie nur von daher gekommen?“
„Ich begreife nicht –“
„Sehen Sie,“ lächelte Talleyrand fein, „ich war in Gent. Wir waren dort im Ganzen sieben- oder achthundert, nicht mehr. Und soviel ich weiß, sind schon mehr als fünfzigtausend von dort hergekommen.“
Als er noch in der gesetzgebenden Versammlung (1789) saß, hatte er eines Tages eine heftige Discussion mit dem Grafen Mirabeau, der ausrief:
„Ich will Sie mit einem anrüchigen Kreis umgeben!“
„Wie, wollten Sie mich vielleicht umarmen?“ entgegnete Talleyrand auf der Stelle.
Eines Tages war er in den Tuilerien, wo bei Ludwig XVIII. große Aufwartung war. Während der König sich mit dem englischen Gesandten unterhielt, bemerkte ein Hofmann, daß Talleyrand beständig seine Augen auf den seiner Magerkeit wegen auffallenden badischen Minister Hrn. v. F. geheftet hielt, Auf die Frage, warum er denselben so starr und bedenklich ansehe, entgegnete er:
„Herr von F. setzt mich in die größte Verlegenheit. Ich mag forschen, wie ich will, es ist mir unmöglich, zu errathen, ob er drei Beine hat oder ob er drei Degen trägt.“
Gottfried Kinkel schließt einen Artikel: „Unsere Muttersprache“ in der neuesten Nummer seines „Hermann“ sehr schön, und wir möchten diese Worte den vielen Tausenden unserer Leser in Amerika, Rußland, Frankreich, Holland, Dänemark und Schweden namentlich den Müttern tief in’s Herz hineinprägen:
„Wir Deutsche im Auslande, was thun wir?
Wenn ich so frage, so meine ich nicht, daß wir in England oder Amerika uns der Kenntniß der englischen Sprache verschließen sollen. Das ist kein Nationalgefühl was aus Faulheit stammt. Im Gegentheil es ist frevelhaft, wenn der deutsche Arbeiter nur in deutscher Clique zusammenhält, wenn der Flüchtling oder Auswanderer es thöricht verschmäht, in der fremden Sprache das sicherste Mittel ehrlichen Erwerbes zu erringen, und wir haben nur Mitleid, aber kein Lob für den trägen Mann, dem nichts in der Fremde gelingt, weil seine Unwissenheit ihn immerdar zum lächerlichen Spielzeug jedes Gauners verdammt. Wer in England leben will, der lerne zuerst Englisch, nicht ein paar Redensarten, die nöthig sind, um hinter Yes und No die eigne Nationalität zu verstecken, sondern in dem vollen Umfang, der ihm zur Führung seines Geschäfts nothwendig ist. Dazu ist überall Gelegenheit; wir freuen uns, zu sehen, daß hier in London der Arbeiter-Bildungsverein einen unentgeltlichen Unterricht im Englischen durch einen wissenschaftlich gebildeten Mann empfängt; und in allen andern Städten dieses Landes stehen uns in den Mechanics' Institutes englische Abendclassen für ein Eintrittsgeld offen, das auch den Arbeiter nicht drücken kann, – Was aber soll man von deutschen Familien halten, die an ihrem eignen Heerde die Sprache der Heimath verleugnen?
Erhalte, o Deutscher in England und überall, deinem Kinde die edelste Mitgift des Vaterlandes! Last dich nicht von deinem Knaben, der die englische Schule besucht, auf das Gebiet der fremden Zunge verleiten! Bewahre deiner Tochter, du deutsche Mutter, den reichsten Schatz menschlicher Bildung, indem du ihr die Sprache rettest, in welcher Goethe und Schiller reden!
Wer seine Sprache verleugnet, der verleugnet seine Nation. Der Tag kommt, und viele von denen, die heute leben, werden ihn sehen, wo es in der Fremde ein Stolz sein wird, ein Deutscher zu heißen. Es ist leicht, ein Vaterland zu lieben, wenn es groß und mächtig die Welt beherrscht; einen rechten Charakter aber schätzt man danach, ob er die Mutter noch ehrt in ihrer Armuth und Niedrigkeit.“
redigirt von A. Diezmann,
Wöchentlich ein Bogen mit und ohne Illustrationen. Vierteljährlich 16 Ngr.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Armee