Die Gartenlaube (1859)/Heft 6

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1859
Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 6.   1859.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.       Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Sand.

Historische Novelle von Max Ring.




I.
Die Freunde.

Ein frischer Herbstwind wehte über die Höhen des Thüringerwaldes, welcher noch in tiefe Nebel gehüllt war. Die ganze Landschaft glich einem wogenden Meere, aus dem nach und nach einzelne Punkte wie grüne Inseln emportauchten, wenn der Wind die wallenden Schleier hier und da zerriß. – Allmählich stieg auch die Morgensonne im Osten empor und ihre hellen Strahlen fuhren wie Schwerter in das Getümmel einer Schlacht. Wo sie hinfielen, zertheilte sich das dunkle, brodelnde Gewölk und öffnete eine freie Aussicht auf die freundliche Gegend. Die Spitzen der Berge traten immer klarer hervor und leuchteten in wunderbarer Pracht; der dichte Wald im Schmucke des Spätherbstes gewährte ein köstlich buntes Farbenspiel: vom fahlen Gelb bis zum leuchtenden Golde, vom sanften Rosa bis zum brennenden Purpur waren alle Tinten und Schattirungen vertreten, als hätte ein Maler seine riesige Palette über die Erde ausgeschüttet. –

Dieses entzückende Schauspiel genossen zwei junge Männer, welche vor dem Gasthofe zur „hohen Sonne“ standen, wo sie zufällig sich gefunden hatten. Ihrer Tracht nach waren es Studenten, die nach demselben Ziele wanderten. Bald waren sie mit einander bekannt geworden, wie dies auf Reisen so leicht geschieht, besonders unter Mitgliedern der heiteren Burschenwelt. Beide waren am vorhergehenden Abend ermüdet von dem weiten Wege in das Wirthshaus eingekehrt und hatten sich sogleich zur Ruhe gelegt, ohne sich gesehen zu haben. Erst beim Morgenimbiß, wo sie an einem Tische saßen, rückten sie sich näher und fanden, je länger sie mitsammen sprachen und ihre Gedanken austauschten, desto mehr Wohlgefallen aneinander, ungeachtet der großen Verschiedenheit, die sich in ihrem ganzen Wesen kund gab.

Der Aeltere, welcher sich Karl Ludwig Sand nannte, war von mittlerer Größe und schlank gewachsen; sein Gesicht, von Pockennarben vielfach verunstaltet, hatte trotzdem einen interessanten Ausdruck sanfter Melancholie. Ein Zug sinnigen Ernstes umschwebte seine jugendliche Gestalt und die puritanische Strenge seines zur Schwärmerei geneigten Charakters verrieth sich selbst in seinem Aeußeren. Seine Kleidung bestand in einem altdeutschen Rocke von schwarzem Sammet. Trotz der rauhen Jahreszeit, welche in den Bergen doppelt empfindlich war, trug er den Hals ganz bloß, ohne ein schützendes Tuch, nur von einem weißen Hemdekragen umgeben. Weite Beinkleider von grauer ungebleichter Leinwand, wie sie die damals auftauchenden Turner liebten, und dunkle Schnürstiefel vollendeten seinen Anzug. Diese Tracht, welche im Widerspruch mit der herrschenden französischen Mode stand, sollte auch äußerlich Sand als einen echten Deutschen kennzeichnen, als einen abgesagten Feind und Verächter aller fränkischen Unnatur, die er vom Grunde seiner Seele verabscheute,

Einen entschiedenen Gegensatz zu ihm bildete sein Reisegefährte, der Friedrich Hagen hieß und der Sohn eines höhern preußischen Beamten war. Frische Lebenslust sprach aus dem rosigen Gesicht, umgeben von einer Fülle blonder, langer Locken. Trotz einer vorherrschenden Heiterkeit konnte auch er zuweilen einen tüchtigen Ernst zeigen, und seine blauen, klaren Augen nahmen einen eigenthümlichen Glanz an, wenn das Gespräch die Stichwörter des Tages: „Freiheit“ und „Vaterland“ berührte.

Es war aber damals im Jahre 1817 eine seltsam bewegte Zeit, die besonders in der akademischen Jugend ihren Wiederhall fand. –

Die eben beendeten Freiheitskriege hatten zum ersten Male nach langer Zeit das deutsche Volk aus seinem Schlummer aufgerüttelt und das Gefühl seiner weltgeschichtlichen Bedeutung in ihm geweckt. Es hatte die größten Opfer gebracht, unsterbliche Thaten vollführt und seine Größe erkannt, sobald es einig war. Im Feuer der Schlachten verschwanden die Unterschiede und kleinlichen Eifersüchteleien der getrennten und oft gewaltsam auseinander gerissenen Stämme, die sich jetzt dem Feinde gegenüber als Brüder und Söhne der einen großen Mutter fühlten. Aus den Flammen der allgemeinen Begeisterung stieg der Gedanke an Deutschlands Einheit und der Wunsch nach einer besseren und freieren Gestaltung der verrotteten Verhältnisse wie der Phönix aus seiner Asche empor. Diese Ideen lebten in den Herzen aller Besseren auf, vorzugsweise aber in der Jugend. Sie hatte im Augenblicke der Gefahr nicht gezögert, ihr Leben für das Vaterland einzusetzen, sie war freiwillig in die Reihen der Krieger eingetreten und hatte auf den Schlachtfeldern mit Freudigkeit ihr Blut vergossen. – Das Alles gab ihr ein stolzes Bewußtsein ihren Werthes, und als der Friede geschlossen war und die Sieger heimkehrten, glaubte sie sich besonders berufen, das Palladium der neu errungenen Freiheit zu bewachen.

Dieser Geist offenbarte sich zumeist auf den deutschen Universitäten, wo sich bald ein bisher unbekanntes Leben entfaltete. Früher war die Studentenwelt nur ein getreues Abbild der allgemeinen Zerrissenheit, in Landsmannschaften und ähnlichen Verbindungen zersplittert, welche sich meist feindlich gegenüberstanden und im rohen [74] Betragen miteinander wetteiferten. Unmäßiges Trinken, Schlägereien und Wüstheit aller Art standen auf der Tagesordnung, und in solch’ nichtigem Treiben vergeudete die deutsche Jugend ihre beste Kraft, um später als abgestumpfter Philister in das bürgerliche Leben zurückzukehren. Hier und da verfolgte zwar der Einzelne eine höhere Idee, aber die Mehrheit stand den Weltbegebenheiten und den großen Tagesfragen fern, in hochmüthiger und pedantischer Abgeschlossenheit verharrend.

Das sollte jetzt anders werden. Die Jünglinge, welche dem Feinde gegenübergestanden und deren Brust oft mit den höchsten Ehrenzeichen der Tapferkeit geschmückt war, konnten keine Freude mehr an dem kindisch rohen Treiben finden, welches früher noch auf den Universitäten vorherrschte; sie hatten Höheres kennen gelernt und ein edleres Streben mitgebracht. An die Stelle der früheren Landsmannschaften trat eine neue, allgemeinere Verbindung, welche unter dem Namen der Burschenschaft immer mehr Theilnehmer an sich zog, weil sie es sich zur Aufgabe gestellt hatte, Sittlichkeit, wahre Ehre und die Liebe zu dem gemeinschaftlichen Vaterlande in den Herzen der Studirenden, zu erwecken. So wurde nach und nach der Bund edler Jünglinge geschlossen, zu dem auch unsere beiden Wanderer gehörten.

Sobald sie sich als Theilnehmer derselben Verbindung erst erkannt hatten, was schnell geschah, wurden sie noch weit inniger befreundet, als hätten sie schon jahrelangen Umgang gepflogen. Der sonst so scheue Sand, der überhaupt etwas Zurückhaltendes in seinem Wesen hatte, war jetzt wie umgewandelt.

„Fort mit dem steifen „Sie“!“ rief er freudig aus. „Wir müssen miteinander Brüderschaft trinken.“

„Das nehme ich von Herzen gern an,“ entgegnete der Andere.

„Es soll aber in aller Form und nach altem, schönem Brauch geschehen.“

„Das versteht sich von selbst.“

„Es wird wohl eine Flasche Wein hier aufzutreiben sein.“

„Aber nur echter Rheinwein; von dem französischen Gebräu vermag ich keinen Tropfen herunterzukriegen.“

„Ich ziehe auch ein deutsches Traubenblut jedem fremden vor. Also, Herr Wirth, eine Flasche guten Rüdesheimer oder Liebfrauenmilch!“

Bald stand der gewünschte Trunk und zwei grün blinkende Römer vor ihnen, welche Hagen bis zum Rande vollschenkte.

„Schmollis, Herr Bruder!“ sagte er, sein Glas erhebend.

„Fiducit!“ lautete Sand’s Gruß.

Beide stießen zuerst mit den klingenden Römern an; dann tranken sie mit ineinander verschränkten Armen nach alter Studentensitte den Wein bis zum letzten Tropfen aus.

Eine herzliche Umarmung und ein inniger Kuß besiegelte den Bruderbund.

„Freunde für das ganze Leben!“ rief der Jüngere tief bewegt.

„Bis in den Tod und über das Grab noch hinaus!“ setzte Sand mit feierlich dumpfer Stimme hinzu, die wie eine schauerliche Mahnung klang.

Dabei stellte er das Glas mit solcher Gewalt auf den Tisch, daß es klirrend zerbrach.

„Sollte das ein Omen sein?“ fragte mit gezwungenem Scherze Hagen.

„Ich nehme es als ein solches an. Wie dieses Glas in meiner Hand zerbrochen ist, so sollen einst die alten Formen und Ketten brechen, welche noch den Geist der Freiheit gefangen halten. Ich selbst bin gern bereit, für diese heilige Idee mein Herzblut zu vergießen, wie hier den duftigen Wein. Das schwör’ ich Dir, so wahr ich ein Christ und Deutscher bin.“

Beide waren zu bewegt, um noch mehr zu sprechen. Schweigend leerten sie den Rest der Flasche, worauf Sand seinen Gefährten zum Aufbruch mahnte. Sie bezahlten ihre Rechnung und nahmen ihr leichtes Gepäck auf die Schultern, worauf sie den Weg nach Eisenach einschlugen, wo sie noch zur guten Zeit einzutreffen hofften, um an dem von der Jenaer Burschenschaft ausgeschriebenen Feste auf der Wartburg Theil zu nehmen.

„Es ist ein herrlicher Gedanke,“ sagte Sand im Gehen zu seinem neuen Freunde, „die dritte Säcularfeier der Reformation mit dem Jahrestage der Völkerschlacht bei Leipzig zu verschmelzen und dieses erhebende Doppelfest auf der alten Wartburg zu begehen, die so recht eigentlich die Zionsburg der Deutschen ist. In ihren hohen Hallen rauschte einst das deutsche Lied der edelsten Sänger, welche um den Preis mit ihrem vollen Leben rangen; denn, wie die Sage uns berichtet, stand hinter ihnen der Scharfrichter, Meister Hämmerlin von Eisenach, um den Besiegten mit dem blanken Schwerte das Haupt abzuschlagen.“

„Wunderliche Sitte!“ bemerkte Hagen.

„Mir gefällt sie,“ setzte Sand seine Rede fort, „als ein Zeichen, mit welchem hohen Ernste unsere Vorväter Alles vollführt und getrieben haben; selbst das Spiel war ihnen wichtig genug, ihr Leben daran zu setzen. So müßten wir auch denken, aber die Schlaffheit der Zeit, fälschlich und undeutsch Humanität genannt, hat dies ganze Geschlecht der Gegenwart entnervt. Unsere Dichter schreien schon laut, wenn sie nur leise getadelt werden. Man sollte auch ihnen den Scharfrichter an die Seite stellen, um sie abzuhalten, ihre Gaben zu mißbrauchen und die heilige Dichtkunst im Dienste der Hölle zu einweihen.“

„Wenn Dein Vorschlag angenommen würde, so möchte es wohl bald still sein im deutschen Dichterhaine.“

„Das wäre kein Unglück, wenn das unheilige Gekrächz verstummte und dafür wieder Lieder ertönten, wie sie der fromme Wolfram von Eschenbach, der sinnige Walther von der Vogelweide gesungen, voll treuer Liebe und gläubiger Frömmigkeit, von denen einst die Wartburg wiedeerhallte. – Ihr Kampf war schön, aber was will er bedeuten gegen jenen Riesenkampf, den der größte Deutsche von hier aus gegen Rom und seine Jahrtausende alte Macht geführt! Droben in seinem luftigen Erkerstübchen schmiedete der Gottesmann Luther aus der deutschen Sprache eine Waffe, mit der er die Geister von ihren Fesseln und Ketten befreite. Hier auf der Wartburg übersetzte er die Bibel und gab sie als die heilige Fahne der freien Forschung in die Hand des Volkes. Von jener Höhe ging das Licht aus, welches vergeblich die Kutten und Finsterlinge zu verhüllen trachteten; der Geist einer neuen Zeit, der sich nicht mehr unterdrücken läßt. Darum liebe ich diese Wartburg, welche das Herz des schönen Thüringerlandes, wie dieses das Herz von Deutschland ist.“

Unter solchen Gesprächen stiegen die Beiden von der „hohen Sonne“ in das „Annathal“ hinab, das sich nach und nach zu der romantischen „Drachenschlucht“ verengte. Der schmale und doch nicht gerade gefährliche Fußsteig führte sie an den schönsten Punkten vorüber; bald eröffnete sich den Wanderern eine herrliche Aussicht in die duftige Ferne; bald rückten die Felsen wieder so nahe zusammen, als wenn sie ihnen den Weg versperren wollten; zu Riesenmauern aufgethürmt, die von Geisterhänden erbaut schienen und über die der überall hervorwuchernde Epheu seine grünen, schwankenden Brücken schlug. – Dazu goß die milde Herbstsonne ihr klares, freundliches Licht über die ganze Gegend aus, und verscheuchte vollends den dampfenden Frühnebel, der sich in leicht dahinschwebende Wölkchen aufgelöst hatte. Die zwar kühle, aber überaus stärkende Bergluft überströmte die Jünglinge mit einem Gefühle frischer Kraft, so daß sie in heiterster Stimmung ihren Weg fortsetzten. Selbst Sand, der zu den mehr verschlossenen und in sich gekehrten Charakteren gehörte, thaute in dieser Natur auf, welche ihn an sein heimathliches Fichtelgebirge mahnte. Aus voller Brust stimmte er ein bekanntes Burschenlied an, in das Hagen mit seinem wohlklingenden Tenor einfiel. Je länger sie neben einander hergingen, desto vertrauter und inniger wurden sie, wie Brüder, die sich nach längerer Trennung zufällig wieder gefunden. Die Herzen gingen ihnen auf und eine Mitteilung drängte im raschen Fluge die andere, wie es in der Jugend wohl zu geschehen pflegt, wo das Vertrauen noch nicht getäuscht, der Glaube noch nicht betrogen ist, und wo die Seele der Seele leicht entgegenfliegt, weil ihre Schwingen noch nicht von dem Bleigewicht der Erfahrung belastet oder gar gebrochen sind.

Der ältere Sand hatte natürlich ein reicheres Leben hinter sich, das er dem jüngeren Freunde nicht vorenthielt. Unter einer alten Eiche gelagert, um von der anstrengenden Fußpartie ein wenig auszuruhen, erzählte er von seiner Vergangenheit.

„Ich bin,“ nahm er das Wort, „in Wunsiedel am Fuße des Fichtelgebirges geboren, wo mein Vater als preußischer Justizamtmann angestellt war, und noch mit meiner guten Mutter und den Geschwistern lebt.“

„In der Heimath des herrlichen Jean Paul,“ unterbrach ihn Hagen, „der mein Lieblingsdichter ist.“

„Ganz recht!“ entgegnete Sand mit befremdender Gleichgültigkeit. „Ich erinnere mich, ihn zuweilen auf der Straße gesehen zu haben.“

[75] „Du Glücklicher!“ rief der Jüngere, der, wie der größere Theil der damaligen Jugend, für den genialen Verfasser des „Titan“ schwärmte. „Wie beneide ich Dich, daß Du mit dem Genius dieselbe Luft geathmet hast!“

„Leider muß ich Dir zu meiner Beschämung gestehen, daß ich mich in der Heimath nicht zu viel mit meinem berühmten Landsmann, Jean Paul, beschäftigt habe. Andere Gedanken erfüllten meine Seele; zunächst der Schmerz über die Unterdrückung des Vaterlandes, und der glühendste Haß gegen Napoleon beherrschten mich so ausschließlich, daß ich mich damals um Poesie und Poeten nur wenig gekümmert habe. Was ich bin, bin ich einmal ganz und mit voller Seele. Nenne es Einseitigkeit oder gar Beschränktheit, aber ich kann nicht, wie so Viele, zu gleicher Zeit die verschiedensten Empfindungen in meiner Brust beherbergen. Ein Gedanke, sei es Liebe oder Haß, beschäftigt mich so ausschließlich, daß ich in jedem Augenblicke bereit bin, für denselben mein Leben aufzuopfern. Das hab’ ich gezeigt, als ich ohne Wissen und gegen den Willen meiner Eltern an dem Kampfe gegen den Unterdrücker Deutschlands als angehender Student Theil nahm.“

„Ich, beneide Dich um die Gelegenheit, durch die That Deine Liebe zum Vaterlande zu bekunden.“

„Leider,“ fuhr Sand fort, „war ich nicht so glücklich, an dem Kampfe unserer Brüder Theil zu nehmen. Ich kam mit meinem Regiment auf dem Felde von Belle-Alliance an, nachdem die blutige Schlacht bereits geschlagen war. Wir wurden nach dem schnell geschlossenen Frieden wieder in die Heimath entlassen, ohne einem Feinde begegnet zu sein. Das schmerzte mich tief; denn ich sehnte mich nach kühnen Thaten. Noch mehr aber kränkte es mich, daß die Federn der Diplomaten wieder verdarben, was die Schwerter der Helden für Deutschland errungen hatten. Unsere Hoffnungen wurden getäuscht, und der Erbfeind wußte die Großmuth der Sieger schlau zu benutzen; er blieb im ungeschmälerten Besitze seines unrechtmäßigen Raubes. Das übermüthige Frankreich verlor auch nicht ein einziges Dorf und der schöne Elsaß, der zu uns gehört, wie diese Hand zu meinem Körper, wurde ihm nach wie vor gelassen. Unmuthig und enttäuscht kehrte ich zu meinen theologischen Studien zurück.“

„Du bist also Theolog?“

„Und das mit Leib und Seele. Welch einen schöneren Beruf kann es wohl auf Erden geben, als dem Volke das Wort Gottes zu verkünden und den heiligen Samen des Evangeliums auszustreuen! Nur das Treiben auf der Hochschule widerte mich an; denn die Landsmannschaften mit ihrem unlauteren Wesen hatten damals noch die Oberhand. Man verspottete mich und meine Gesinnungen, die ich offen zur Schau trug. Als ich zum ersten Mal in meiner altdeutschen Tracht erschien, um auch äußerlich meine Verachtung des fränkischen Modetandes auszudrücken, verhöhnten mich die Buben, und ich hatte manchen harten Strauß mit ihnen zu bestehen. Ich mußte mehr wie einmal zu dem blanken Schläger greifen, um mir Achtung zu verschaffen. Aber Gott war mit mir und meinem Thun; ich fand nach und nach einige edle Jünglinge von demselben Geist wie ich beseelt. Wir schlossen einen heiligen Bund und schwuren Treue dem Vaterlande auf einem Berge, den wir den „Rütli“ tauften. Dort gelobten wir gleich jenen tapfern Schweizern, Walther Fürst, Arnold Melchthal und Stauffacher, den letzten Blutstropfen für die gute Sache hinzugeben. Das war eine schöne, unvergeßliche Zeit in meinem Leben.“

Einen Augenblick hielt hier Sand inne, von diesen Jugenderinnerungen tief ergriffen. Seine Augen nahmen einen eigenthümlichen Glanz an, und ein sonst nur seltenes Lächeln der Befriedigung schwebte um den strengen Mund. Bald aber nahmen seine Züge wieder jenen düster melancholischen Ausdruck an, der den eigentlichen Grundton seines Wesens bildete.

„Dieses Glück,“ begann er wieder nach einer Pause, „wurde durch einen schweren Verlust getrübt, der mich traf. Ich hatte einen Freund gefunden, Namens Dittmar aus Ansbach, einen echten Deutschen mit einer Seele, rein, wie sie nur die Engel des Himmels zu bewahren wissen, fromm und heiter wie ein Kind und dabei stark wie ein Mann. Wir wohnten in demselben Hause, Thür an Thür; wir liebten uns, halfen uns gegenseitig in allen Nöthen und theilten Leid und Freud’ mit einander, wie wahre Brüder.

„Eines Abends, wo wir mitsammen gearbeitet und unsere Gedanken ausgetauscht hatten, gingen wir in die vorbeifließende Rednitz baden, um uns von der Hitze des Tages und der gehabten Anstrengung zu erholen. Als wir in das Freie traten, erhob sich plötzlich ein wilder Sturm; ich machte den Vorschlag, zurückzukehren, aber Dittmar spottete meiner Furcht. Wir verfolgten unsern Weg, die Sonne ging in wunderbarer Pracht zur Ruhe. Ich sehe sie noch, umgeben von dem dunklen Gewölk, dessen Ränder in Gold getaucht erschienen; denn ich erinnere mich jeder Kleinigkeit an diesem verhängnißvollen Abend. Wir kamen an den Fluß; Dittmar stieg zuerst hinein, weil er schwimmen konnte und mir, der ich diese Kunst nie geübt, zeigen wollte, wie tief ich gehen durfte. Das Wasser reichte mir bis an die Brust, während er, immer voranschreitend, bis zum Halse darin war. Mit einem Male schien es mir, als ob er den Grund verloren hätte; er merkte es ebenfalls und begann zu schwimmen. Kaum zehn Schritt von mir entfernt, an einer Stelle, wo der Strom sich in zwei Arme theilt, stieß er einen Schrei aus und verschwand unter dem Wasser. Da ich nicht schwimmen konnte, hielt ich es für das Beste, sogleich an das Ufer zu eilen, weil ich ihn so am ehesten noch zu retten hoffte. Ich rief um Hülfe, aber Niemand hörte mich; ich suchte nach einem Kahn oder Seil, um es ihm zuzuwerfen, doch kein derartiger Gegenstand war in der Nähe zu finden. In diesem Augenblicke erschien Dittmar wieder an der Oberfläche und griff mit einer ungeheueren Anstrengung nach einem Weidenzweige, der über dem Wasser hing. Aber der Ast war zu schwach und der arme Freund sank zum zweiten Mal vor meinen Augen rettungslos in die Tiefe zurück. Du kannst Dir meinen Zustand denken. Weinend, mit gerungenen Händen lief ich an dem Ufer auf und nieder, wie ein Wahnsinniger.“

„Armer Freund!“ bedauerte Hagen, tief bewegt von dem Schmerz, den die bloße Erinnerung in Sand erweckte. „Du regst Dich nur auf.“

„Laß mich,“ entgegnete dieser. „Es thut mir wohl, vor Dir des Dahingeschiedenen zu gedenken. Ich bin mit meiner Erzählung noch nicht zu Ende. Mein Geschrei und Wehklagen hatte nach und nach eine große Menschenmenge herbeigelockt. Einer der Ersten, der herbeieilte, war ein Mitglied einer Landsmannschaft; ich wußte, daß er schwimmen konnte, und forderte ihn auf, sich in den Fluß zu stürzen und zu sehen, ob noch Hülfe möglich sei. Der Elende weigerte sich mit den Worten: „Gott Lob, daß ein Burschenschafter weniger ist.“ Nur der Schmerz und die Betäubung hielten mich ab, mich auf den erbärmlichen Kerl zu stürzen und ihn mit meinen Händen zu erdrosseln.“

„Ich hätte es Dir nicht verdacht.“

„Nach zweistündigem Suchen gelang es endlich, die Leiche Dittmar’s aufzufinden. Bei diesem Anblick brach mein Herz und düstere Schwermuth füllte meine Seele, die mich seit dem Unglückstag nicht wieder verlassen hat. Unsere Verbindung beschloß, den todten Bruder durch ein feierliches Leichenbegängniß zu ehren, und forderte trotz aller Vorgänge die Landsmannschaften auf, sich daran zu betheiligen. Diese lehnten es in ihrer Verblendung nicht nur ab, sondern dachten noch auf rohe Weise unser Vorhaben zu stören, so daß uns nichts übrig blieb, als mit gezogenen Schwertern unsern Bruder zu bestatten, gerüstet, jeden Ueberfall der Feinde mit den Waffen in der Hand zurückzuweisen. Damals entbrannte mein Herz in wildem Zorn und ich beschloß jenen Elenden zu strafen, der dem armen Dittmar die nöthige Hülfe zu leisten sich geweigert hatte. Ich ließ ihn fordern, aber er stellte sich nicht. Zwei Stunden wartete ich auf dem zum Zweikampf bestimmten Platze, und als er nicht erschien, überließ ich den Feigling seinem Gewissen und der Strafe Gottes. Noch heute aber beweine ich den todten Freund, mit dem mein Jugendmuth dahin geschwunden ist.“

„Traure nicht länger,“ rief Hagen in tiefer Rührung aus.

„Du hast in mir einen Freund gefunden, der den Verstorbenen Dir zu ersetzen suchen wird. Das schwör’ ich Dir unter dieser deutschen Eiche.“

Beide umarmten sich und gelobten sich nochmals ewige Liebe und Treue; dann brachen sie auf und setzten ihren Weg fort, zu bewegt, um ein lautes Wort zu sprechen.


II.
Das Wartburgfest.

Noch zur frühen Stunde gelangten sie ohne weitere Abenteuer nach Eisenach. Je näher sie der Stadt kamen, desto mehr belebte [76] sich die Landstraße von Wanderern, die gleich ihnen zu dem morgenden Feste zogen. Von allen Ecken und Enden des Vaterlandes strömte die studirende Jugend herbei, um der Aufforderung Folge zu leisten, welche von der Jenaer Burschenschaft ursprünglich ausgegangen war. Die sonst so ruhigen Straßen boten ein bewegtes buntes Bild, Bürger und Studenten drängten sich im lustigen Getümmel nach dem Markt, wo das provisorische Festcomité seine Sitzung hielt. Jeden Augenblick kam ein neuer Trupp fröhlicher Studenten mit lautem Liederschall und wehenden Fahnen, deren Farben, Schwarz, Roth und Gold, jubelnd empfangen wurden. Die wackeren Burschen von Erlangen, Gießen, Göttingen, Heidelberg, Leipzig, Jena und Marburg hatten sich bereits eingefunden; nur die Abgesandten einiger ferner liegenden Universitäten wurden noch erwartet, bevor man zu der Wahl des engeren Ausschusses und zur Entwerfung des Festprogramms schreiten wollte. Auch diese trafen nach und nach ein; gegen Abend erschienen noch als die Letzten dreißig Kieler Studenten, die von Kiel nach Eisenach zusammen gewandert waren und jetzt ihren Einzug hielten, wobei sie das herrliche Lied „Eine feste Burg ist unser Gott“ feierlich anstimmten. Das war ein Leben und Treiben auf dem Markt, wie es schon lange nicht hier gesehen worden war. Die Blüthe Deutschlands hatte sich zusammengefunden, die herrlichsten Jünglingsgestalten aus allen Gauen des Vaterlandes, kräftige Westphalen, deren hohe Gestalten und treue Augen an die Cherusker mahnten, welche einst Varus und seine Legionen im Teutoburger Walde vernichtet hatten, leichtblütige Pfälzer und heitere Rheinländer, die wie der junge Most ihrer Rebenhügel schäumten, starkgliedrige Friesen mit blauen Augen und langen, blonden Haaren, feine Sachsen und treue Hessen, gemüthliche Schlesier und gewandte Berliner; trotz dieser nationalen Verschiedenheiten von einem Gefühl beseelt, von einem Bruderband umschlungen.

Die Einwohner von Eisenach halten sich bereits mit ihren Gästen befreundet und erboten sich freiwillig zu ihrer Aufnahme. Bürger und Studenten gingen Hand in Hand; die Scheidewand war gefallen, welche sonst den auf seine Vorrechte eifersüchtigen Burschen von dem Philister trennt; das einseitige und beschränkte Vorurtheil mußte einer bessern Einsicht weichen und Beide fühlten nur noch, daß sie Deutsche waren. Auch die Frauen und holden Mädchen sahen natürlich mit Wohlgefallen auf die schmucken Ankömmlinge; an jedem Fenster erblickte man reizende Lockenköpfe und schelmische Gesichter, welche halb neugierig, halb bewundernd auf das interessante Schauspiel niedersahen. Trotz der bekannten Sittenstrenge der Burschenschafter waren dieselben doch für die berühmte Schönheit der Eisenacher Jungfrauen keineswegs unempfindlich, und manches Herz schlug bei diesem verführerischen Anblick lauter unter dem schwarz-roth-goldenen Bande.

Die großherzoglich weimarische Regierung hatte nicht nur der bevorstehenden Wartburgfeier kein Hinderniß in den Weg gelegt, sondern dieselbe auf jede mögliche Weise unterstützt. Es wurde sogar von ihr eine namhafte Summe zur abendlichen Erleuchtung und das nöthige Holz zum Siegesfeuer angewiesen. Karl August liebte seine Studenten und hörte nicht auf die Einflüsterungen und Verleumdungen, an denen es eine gewisse Partei schon damals nicht fehlen ließ.

Nur mit Mühe konnte sich Sand mit seinem Begleiter einen Weg durch dieses Menschengetümmel bahnen. Er wollte nach dem Gasthofe „zum Rautenkranz“, um seinen Namen in die dort ausliegende Liste einzuzeichnen und den Quartierzettel, der ebenfalls daselbst ausgetheilt wurde, für sich und seinen neuen Freund in Empfang zu nehmen. Bei jedem Schritte wurden Beide von Fremden und Bekannten angehalten und begrüßt. Dabei machte Hagen die Erfahrung, daß sein Reisegefährte eine in der Burschenschaft hoch angesehene und geachtete Persönlichkeit war. Sobald er auf Befragen seinen Namen nannte, wurde er von dem Festcomité und den anwesenden Burschenschaftern auf das Ehrenvollste empfangen und bei der noch an demselben Abende stattfindenden Wahl zum Mitgliede des Ausschusses sämmtlicher Hochschulen gewählt und außerdem mit dem Ehrenamte eines Fahnenträgers der großen Burschenfahne betraut. Das freudige Roth, welches diese Auszeichnung aus Sand’s sonst so blassen Wangen hervorrief, bezeugte, daß der strenge Puritaner nicht gänzlich jeder Eitelkeit abgestorben war und daß sein stilles, scheues Wesen einen nicht unbedeutenden Ehrgeiz verbarg.

Da Sand durch sein neues Amt noch zurückgehalten wurde, so schlug Friedrich allein den Weg nach der ihm bezeichneten Wohnung ein, welche in der Nähe des Thores lag. Es dämmerte bereits und das Gewühl hatte sich einigermaßen zerstreut, indem die meisten Gäste, welche einen weiten Weg zurückgelegt, sich entweder in ihr Quartier zur Ruhe legten oder Stärkung in den überall geöffneten Gasthäusern suchten. Da auch er seit jenem Morgenimbiß nichts genossen, empfand er plötzlich das Bedürfniß nach Speise und Trank und trat zu diesem Zwecke in die nächste Bierstube, aus der ihm schon von Weitem lauter Jubel und Gesang entgegenschallte.

Kaum hatte er sich an den Tisch gesetzt, wo die Zunächstsitzenden zusammenrückten, um ihm Platz zu machen, als er unerwartet seinen Namen nennen hörte. Zugleich sah er sich von zwei langen, mageren Armen umschlungen, die ihn mit ihrem knöchernen Druck zu ersticken drohten. Diese Beweise einer außerordentlichen Zärtlichkeit schienen indeß Hagen keineswegs angenehm zu sein, denn er erwiderte sie ziemlich kalt und mit einem kaum merklichen Gruße. Davon ließ sich jedoch der Andere, der sich Berthold Zeisig nannte, keineswegs zurückschrecken, da er zu jener Menschenclasse zu gehören schien, die nicht so leicht aus einer gewissen angenommenen Ruhe kommt und auch nicht an übertriebener Empfindlichkeit leidet. Berthold war ein praktischer Philosoph, der sich in alle Verhältnisse zu schicken wußte, weil er nicht anders konnte. Er war ebenfalls der Sohn eines preußischen Beamten, aber weit niedriger von Rang, als Hagen’s Vater. Von Jugend auf beneidete er daher seinen Spielgefährten, mit dem er ungefähr in einem Alter stand und der ihn in jeder Beziehung überragte. Friedrich trug nicht nur einen feineren Rock und hatte mehr Taschengeld, sondern zeigte auch größere Anlagen und weit mehr Talent. Auch äußerlich war Freund Berthold von der Natur keineswegs allzugütig bedacht worden. Das lange Gesicht voll Sommersprossen, die grünlichen und fortwährend zwinkernden Augen, das struppige, Kamm und Bürste spottende Haar machten ihn nicht angenehmer, und ein lauernder Zug um den breiten Mund, der allerdings dafür ein Gebiß der schärfsten weißen Zähne aufzuweisen hatte, flößten beim ersten Anblick mehr Furcht als Vertrauen ein. Dazu kam eine Gestalt von einer erschreckenden Magerkeit, als hätte sich ihr Eigenthümer noch nie im Leben recht satt gegessen. Besonders waren die Arme von einer unverhältnißmäßigen Länge, so daß Berthold niemals wußte, wo er sie lassen sollte. Die ganze Figur erinnerte unwillkürlich an gewisse kriechende Würmer oder Schlingpflanzen, die sich überall anklammern und aus fremden Körpern ihre Nahrung saugen.

Diesem Aeußeren entsprach eine Schmiegsamkeit und Biegsamkeit des Geistes, welche ihm von Jugend auf zur zweiten Natur geworden war. Frühzeitig lernte er seine wahren Gesinnungen verleugnen, sich in die Launen Anderer und Höherstehender fügen und durch Nachgiebigkeit und Unterwürfigkeit sich überall Freunde machen, so daß es ihm gelang, auch schärfer blickende Beobachter zu täuschen und mit seinem widerlichen Aeußeren auszusöhnen. Diesen Eigenschaften hatte er es auch zu verdanken, daß er in Hagen’s elterlichem Hause freundlich aufgenommen wurde und manche Unterstützung daselbst genoß. Auch Friedrich, dem er sich wie eine Klette anhing, verkehrte viel mit ihm und nahm ihn gegen alle Welt in Schutz.

(Fortsetzung folgt.)




Zur Todtenfeier eines heimgegangenen Künstlers.

Felix Mendelssohn-Bartholdy! Welchem Leser der Gartenlaube wäre dieser Name unbekannt! Wer hätte nicht schon seine „Lieder ohne Worte“ gehört, seine Ouvertüre zum Sommernachtstraum, sein prächtiges, in allen deutschen Gauen so oft erklungenes Männerquartett: „Wer hat Dich, Du schöner Wald, aufgebaut?“ Wer hat sich nicht an diesen herrlichen Klängen erbaut und den Tondichter gefeiert in dankbarer Erinnerung! Zwar hat auch an seinem Verdienste der Neid zu nagen versucht, aber nur, um sich die Zähne vergeblich daran auszubeißen.

Wenn man die Lebensgeschichten der Künstler nicht blos oberflächlich

[77]

Felix Mendelsohn-Bartholdy.

überschaut, sondern tiefer in ihr inneres Wesen eindringend durchschaut, stellt sich im Ganzen eine lange Reihe von Märtyrern dar. Besonders unterworfen diesem traurigen Geschick sind die Tonkünstler. Von der erschreckend großen Zahl der musikalischen Proletarier an, die den Namen „Künstler“ mit den elendesten täglichen Nahrungssorgen bezahlen müssen, bis zu den schaffenden Genie’s hinauf, die als wirkliche oder nur eingebildete „Zufrühgekommene“ ihrer Zeit geben oder zu geben wähnen, was erst eine spätere genießen kann, ist der äußere Kampf um die leibliche Existenz oder der innere gekränkten Ehrgeizes der Hauptinhalt von der Tonkünstler Erdenwallen. Eine öftere Ausnahme machen die musikalischen Ephemeren. Diese ziehen schnell einen großen Liebhaberkreis an, weil sie es verstehen, dem gemeinen Tages- und Modegeschmack zu huldigen. – Zuweilen kommt denn auch Einer in die Welt, dessen Werth schnell erkannt wird, dessen Ruhm sich sein ganzes Leben hindurch und über sein Leben hinaus in gleichem Grade und Glanze erhält. Unter diese seltenste Art von Tonkünstlern gehört Mendelssohn, dessen funfzigsten Geburtstag wir am 3. Februar feierten, wenn auch das Geburtstagskind längst unter dem kühlen grünen Rasen ruht.

Felix Mendelssohn-Bartholdy wurde am 3. Februar 1809 zu Hamburg geboren. Sein Großvater war der berühmte Philosoph Mendelssohn, sein Vater ein reicher Bankier. Dieser wie die Mutter unseres Felix besaßen eine reiche Bildung und liebten namentlich auch die Musik.

Im Jahre 1812 siedelte die Familie nach Berlin über, wo sich bald ein Kreis von Notabilitäten der Kunst und Wissenschaft in dem gastfreien Hause versammelte. Da wurde denn auch sehr viel gute Musik getrieben. Die angeborene Neigung zur Tonkunst gab sich frühzeitig in dem Knaben kund und die Eltern beförderten dieselbe auf alle Weise. Den ersten Unterricht auf dem Clavier übernahm die Mutter selbst. Bald trat Berger dafür ein, kurze Zeit auch Moscheles. In der Theorie und Composition wurde Zelter sein Hauptlehrer; dazwischen, bei seiner ersten Anwesenheit in Paris, wohin ihn der Vater geführt hatte, bekam der Knabe auch von Cherubini Unterricht im Contrapunkt. Dabei wurde die wissenschaftliche Bildung nicht vernachlässigt. Felix erhielt ausgezeichnete Privatlehrer, ließ sich später als Student auf der Berliner Universität inscribiren, frequentirte die Vorlesungen eifrig und machte sein Studentenexamen in gehöriger Form.

Da Mendelssohn Alles, was er angriff, mit Ernst und Eifer betrieb, so erwarb er sich viele und gründliche Kenntnisse. Er las die lateinischen und griechischen Autoren in den Ursprachen, schrieb und sprach französisch, englisch und italienisch geläufig und las den „Don Quixote“ spanisch. Nebenbei nahm er Unterricht im Zeichnen und Malen und brachte es auch in diesem Fache zu gewandter und leichter Darstellung. Es existirt noch manche gelungene Landschaft von ihm. Auch die Körperbildung des Knaben wurde nicht vernachlässigt. Er lernte Schwimmen, Reiten, erwarb sich große Gewandheit im Turnen und war ein leidenschaftlicher und graziöser Tänzer.

Endlich bereiste er zu verschiedenen Zeiten, theils in Begleitung [78] seines Vaters, theils allein, einen großen Theil von Deutschland, Frankreich, England, Schottland und Italien.

Die Productivität wurde frühzeitig in ihm lebendig. Als er sechzehn Jahre alt war, hatte er bereits drei Quartette für Pianoforte, Violine, Viola und Cello, eine Sonate für Pianoforte, sieben Charakterstücke für dasselbe Instrument, zwölf Gesänge für eine Singstimme mit Pianoforte, die Hochzeit des Camacho, komische Oper in zwei Acten, veröffentlicht. Im Ganzen sind sechsundsechzig Werke mit Opuszahl und fünfzehn ohne Angabe derselben im Druck erschienen, darunter viele sehr umfangreiche, wie seine beiden Oratorien „Paulus“ und „Elias“, seine Symphonien etc.

Im Herbst 1833 übernahm Mendelssohn die Stelle des städtischen Musikdirektors in Düsseldorf. 1835 folgte er dem Rufe als Dirigent der Leipziger Gewandhausconcerte. Am 4. October dirigirte er zum ersten Male daselbst. Von da an begann für Leipzig die Glanzperiode seiner Concerte und musikalischen Zustände überhaupt. Als Anerkennung seiner Verdienste erhielt Mendelssohn von der Universität zu Leipzig das Doctordiplom und von dem Könige von Sachsen den Titel als sächsischer Capellmeister. 1837 verheirathete er sich mit Cécile Jeanrenaud, der Tochter eines reformirten Predigers zu Frankfurt a. M. Der Ruf als königlich preußischer Generalmusikdirector zog ihn nach Berlin, wo er die Compositionen zur Antigone, Athalja, zum Sommernachtstraum und Oedipus lieferte und aufführte, und schien ihn Leipzig für immer zu entführen. Indessen sagten ihm die Verhältnisse daselbst, trotz der königlichen Gunst, der er sich zu erfreuen hatte, nicht zu; er erbat und erhielt die Erlaubniß, nach Leipzig zurückzukehren. Bei der Einrichtung des Leipziger Conservatoriums war er thätig und zog durch seinen Namen viele Schüler herbei.

Mit seinem steigenden Rufe vermehrten sich die Einladungen zur Betätigung an großen Musikfesten; so dirigirte er in London, Birmingham, Köln, Aachen, Lüttich, Frankfurt, Braunschweig, Weimar u. a. O. m. Am öftersten reiste er nach England. Er war sieben Mal dort, führte seine Hauptwerke, Ouvertüren, Symphonien, Oratorien, zumeist in den philharmonischen Concerten selbst auf, spielte auch darin, so wie am Hofe vor der königl. Familie mehrere seiner Claviercompositionen.

Den Sommer 1847 wollte Mendelssohn zur Erholung in Vevey zubringen. Der Tod seiner Schwester, die er zärtlich liebte, verleidete ihm den Plan. Doch ging er einige Zeit nach Baden, dann nach Laufen, endlich nach Interlaken. In einer kleinen Dorfkirche, nahe dem Brienzer See gelegen, improvisirte er vor einigen Freunden wahrscheinlich das letzte Mal in seinem Leben auf der Orgel. Denn schon zogen leise Todesahnungen durch seine Seele, diesmal keine vagen Einbildungen, sondern wohl schon Vorboten der nahenden Krankheit, die ihn nach seiner Rückkehr nach Leipzig befiel.

Am 9. October des Nachmittags war er in einem befreundeten Hause zum Besuch und accompagnirte eben einige Stücke aus seinem „Elias“, als ihn ein plötzliches Unwohlsein überfiel, daß er nach Hause gehen mußte. Heftiger Andrang des Blutes nach dem Kopfe, Erstarrung der Hände und Füße traten ein. Kräftige, schnell angewandte Mittel des Arztes schienen geholfen zu haben. Es war leider Täuschung. Am Nachmittage des 28. Oct., nachdem er mit seiner Gattin einen Spaziergang gemacht, traf ihn ein heftiger Nervenschlag. Zwar erhielt er nach einem Aderlasse das Bewußtsein wieder, konnte aber nur in abgebrochener Rede über heftige Kopfschmerzen klagen. Dazwischen hatte er ruhige Momente, auch zuweilen sanften Schlaf. Aber am 3. November wiederholte sich der Schlaganfall, und von diesem Momente an kannte er Niemand mehr. So lag er, umgeben von seiner Familie und einigen Freunden, bis zum 4. November, wo er Abends 9 Uhr seine Seele mit einem tiefen Seufzer aushauchte. – Leipzig ehrte die großen Verdienste des Dahingeschiedenen durch die allgemeinste, tiefste Theilnahme. Ein imposanter Trauerzug und eine ergreifende Todtenfeier gab Zeugniß davon.

Der kurzen Lebensskizze mögen einige Betrachtungen folgen.

Wurde Mendelssohn vom Leben Alles gewährt, was ein Talent schnell bilden kann, so hatte ihm die Natur alle Eigenschaften zu einem großen Künstler in seltenem Verein geschenkt. Ein scharfes Begriffsvermögen machte ihm alles Lernen zum leichten, angenehmen Spiel. Dazu kam ein unglaublich treues Gedächtniß. In Berlin – um nur ein Beispiel anzuführen – hatte er dem Flötisten Guillon ein Concertstück auf dem Pianoforte begleitet. Acht Tage nachher wurde dieser in einer Gesellschaft aufgefordert, es zu wiederholen, was er abschlug, da er die Begleitungsstimme nicht bei sich habe. Mendelssohn erbot sich, dieselbe aus dem Gedächtniß zu spielen, und that es richtig von Anfang bis zu Ende, zur höchsten Verwunderung des Franzosen. Die schwierigsten Sachen von Bach, Beethoven, Hummel etc. spielte er öffentlich ohne Noten, und fast alle größeren Werke, wie die Opern von Gluck, Mozart, Beethoven, Weber u. A. hatte er so fest im Gedächtniß, daß er sie auswendig am Clavier mit völliger Sicherheit begleitete. Eben so glücklich waren seine Anlagen zu körperlichen und mechanischen Thätigkeiten. Zu welcher Virtuosität er es auf Clavier und Orgel gebracht, ist bekannt. Auch Violine und Viola spielte er. Und nie hat es für ihn langer und anstrengender Uebungen dazu bedurft. Die Fertigkeiten bildeten sich bei ihm in reißender Schnelle und wie von selbst aus.

Die einzige Gefahr, welche ihm in der Jugend als Componist drohte, war sein Hauptlehrer in der Composition, Zelter. Zwar wirkte dieser auf die Ausbildung des Kunstverstandes und mehr noch auf die Gewandtheit in allen contrapunktischen Künsten sehr ersprießlich auf den Knaben, aber in Hinsicht auf die blühende Erfindung und die freieren Formen der Musik war der alte Maurermeister weit hinter seiner Zeit zurückgeblieben, nicht fähig, die Werke eines Beethoven, C. M. v. Weber u. A. vollkommen zu begreifen, zu schätzen und seines Schülers Richtung und Streben darauf zu befördern. Ein weniger energischer und selbstständiger Geist wäre durch die markige Entschiedenheit der Ansichten und die Autorität eines solchen Lehrers in dem veralteten Style, den dieser allein liebte, gefangen worden und geblieben. Auch sind Mendelssohn’s früheste Compositionen nicht frei von diesem Einflusse. Aber er wußte das Brauchbare des Lehrers von dem Antiquirten desselben gar wohl zu unterscheiden und ging bald seinen eigenen und besseren Weg.

Die große Anzahl von bedeutenden Werken, welche er in seinem kurzen Leben zu Tage gefördert, würde schon merkwürdig sein, wenn er sich in stiller Muße und ausschließlich nur der Composition überlassen hätte. Wahrhaftiges Erstaunen muß aber diese Fruchtbarkeit erwecken, wenn man an die mannichfaltigen anderen Thätigkeiten denkt, denen er sich unterzog, an die vielen Reisen, die er als Knabe, Jüngling und Mann unternahm, an die vielen Directionsgeschäfte bei auswärtigen Musikfesten und bei den Leipziger Gewandhausconcerten, an die Gesellschaften, namentlich musikalische, denen er sich gern hingab, an die Besuche so vieler Reisender, die ihn persönlich kennen lernen wollten, an die vielen Einsendungen junger Componisten, die um sein Urtheil über ihre Versuche baten, an die fast ununterbrochen einlaufenden Briefe, von denen er, gleich Humboldt, keinen unbeantwortet ließ.

Dabei ist noch zu bemerken, daß er jene Schnelligkeit und Leichtigkeit des Schaffens und jene Sicherheit des Hinwurfs seiner Conceptionen, welche z. B. einem Mozart verliehen war, keineswegs besaß. Er änderte viel an seinen Compositionen, arbeitete manche ganz um und verwarf zuweilen ganze Stücke. Er hat eine ziemliche Menge von Manuskripten hinterlassen, die seinem Willen nach niemals in die Oeffentlichkeit gelangen sollten. Indessen verschwindet das Räthselhafte dieser außerordentlichen Productivität bei näherer Kenntniß seines Wesens. Zuerst besaß er von frühester Jugend an eine ungewöhnliche Lebhaftigkeit und Reizbarkeit wie des Geistes so des Körpers. Er konnte keinen Augenblick unbeschäftigt bleiben; der Thätigkeitstrieb war in außerordentlichem Grade in ihm vorhanden; – so war ihm das Arbeiten zur gebieterischen Nothwendigkeit geworden. Und obwohl von zartem Organismus, war er doch einer außerordentlichen Ausdauer fähig. Nun sind ja die Geistesoperationen nicht an die Stube und den Arbeitstisch gebunden; das geistige Werkzeug, sein Gehirn, hat der lebende Mensch immer bei sich, er kann also seine Phantasie und seine Gedanken überall, an jedem Ort und zu jeder Zeit, in’s Spiel setzen. So arbeitete Mendelssohn oft in Momenten, wo Andere ihn scheinbar unbeschäftigt glaubten. Wie bei Mozart, waren daher auch bei Mendelssohn die Reisen keine Abhaltungen vom Componiren. Sie beförderten vielmehr dasselbe, und Manches, was er zu Hause schnell niederschrieb, hatte er fertig im Kopfe mitgebracht, da sein eisernes Gedächtniß ihm Alles, was er behalten wollte, treu aufbewahrte.

Die Haupteigenschaft jedoch, welche ihm so viele und so vielerlei abwechselnde Thatäußerungen möglich machte, war die Gabe und Kraft, sich, wo und wann immer er wollte oder mußte, augenblicklich, [79] ganz und ausschließlich nur auf den Gegenstand zu fixiren, den er eben vornahm. Verbindet sich mit dieser Kraft der Wille, jede Stunde zu benutzen, mit irgend einer nützlichen und nöthigen Thätigteit auszufüllen, so ist die enorme Summe von bedeutenden Thaten und Hervorbringungen erklärt, durch welche Geister wie Napoleon, Humboldt u. A. und so auch Mendelssohn die Welt in Erstaunen setzten.

Was nun den Werth der Mendelssohn’schen Werke betrifft, so darf man seine besten unbedenklich unter die besten überhaupt rechnen, welche bis heute die musikalische Welt kennen gelernt hat. Eine Ouvertüre, die das Ohr durch reizendere Klänge, das Gemüth durch tiefere Gefühlseindrücke, die Einbildungskraft durch originellere Bilder erfreute und fesselte, als es seine Ouvertüren zum „Sommernachtstraum“ und zur „Fingalshöhle“ thun, ist unserer Empfindung nach weder vor, noch neben, noch nach ihm erschienen. Ein Oratorium, das man an Gediegenheit und Wirkungskraft über den „Paulus“ setzen dürfte, wüßten wir nicht zu nennen. Und so finden sich unter allen seinen Compositionen Stücke, welche bis heute zu den vortrefflichsten gehören und nicht übertroffen sind.

Aber nicht von allen, ja nicht einmal von der Mehrzahl derselben ist das zu behaupten. Und das wird erklärlich, wenn wir wissen, daß er nicht blos schuf, wenn der Genius in ihm glühte und ihn zwang, sondern daß er auch schrieb, wenn jener nicht aufgelegt war. Mendelssohn theilte nämlich den Glauben, daß der Künstler keinen Tag ohne Pinselstrich vorüberlassen dürfe, um nicht aus der technischen Uebung zu kommen. War er nun zwar im Ganzen sehr streng gegen seine Arbeiten, hielt er manche geringere darunter zurück, so konnte es doch nicht fehlen, daß die formelle Vollendung, welche er jeder seiner Compositionen eben wegen seiner großen technischen Ausbildung zu ertheilen wußte, ihn zuweilen über ihren höheren ästhetischen Werth täuschte, und er mehr hineingeschaffen zu haben glaubte, als Andere davon herauszuhören vermochten. Es versteht sich, daß der Begriff „geringer“ bei seinen Werken nur im Vergleich mit seinen besten Werken gelten soll. Denn im gewöhnlichen Sinn hat er keine geringen Werke veröffentlicht. Seine relativ geringsten haben immer noch mehr Werth, als manche neuere, deren Urheber es ihm gleich zu thun oder ihn gar zu übertreffen meinen. Was Mendelssohn ferner und besonders hoch stellt, ist die Eigenthümlichkeit seiner Musik, die er noch zu offenbaren vermochte, nachdem so viele große Meister alle Seiten der musikalischen Kunst und alle Stylweisen bereits ausgebeutet und erschöpft zu haben schienen. Es ist Mendelssohn kein Meister nachzuweisen, dessen Weise er genau nachgeahmt hätte. Seine Gedanken sind durchaus nur seinem eigenen Kopfe entsprungen, tragen nur sein und keines andern Componisten Gepräge. Die Eigenschaften seiner Compositionen kann man etwa folgendermaßen charakterisiren: Feuer, aber ein verklärtes, nicht jenes wilde, rohe, fessel- und formlos nach allen Seiten hin ausschlagende und prasselnde; Schwung, der in mehrfachen Graden sich steigert, niemals aber in kreischenden Lärm überschlägt; Zartheit und Anmuth, ohne Süßlichkeit; Humor in mäßigem Grade, aber ohne launenhafte plötzliche unvermittelte Uebergänge; ein elegisches Element; viel feine polyphon ausgearbeitete Miniaturzüge; eine blühende Colorirung der Zeichnung, und manche erst durch ihn gebrachte originelle Instrumentalmischungen und Effecte; eine klare, überall faßliche Construction der Gedanken, durch festgehaltene Entwicklung aus wenigen Hauptzügen (thematische Arbeit) leicht und übersichtlich ausgeprägte Form; und endlich – Adel der Gedanken.

Man kann Mendelssohn in gewissem Sinn den letzten Repräsentanten und Anhänger der klassischen Kunstmaximen nennen. Und das muß hoch angeschlagen werden in einer Zeit, wo das Festhalten daran in der Meinung einiger Nachfolger schon als ein zweifelhaftes Verdienst, ja wohl gar als Beweis mangelnder Genialität zu gelten begann, wozu Beethovens letzte Werke den vorzüglichsten Anlaß gaben, die aus dem Gebiete des Classischen heraus schon, wenn auch verhältnißmäßig nur noch in seltenen Momenten, in das Hyperromantische hinüber strebten und streiften. Daher erklärt sich die oft durchstrittene Frage: ob Mendelssohn ein Genie oder nur ein bedeutendes Talent gewesen sei. – Es ist hier nicht Raum zu einer gründlichen Untersuchung dieser beiden so viel gebrauchten Worte. Nur bemerkt sei, daß der Unterschied zwischen beiden, wenn ein solcher überhaupt existirt, noch nirgends so bestimmt und deutlich angegeben ist, um einen sichern Gebrauch davon bei Abschätzung der Meister und ihrer Werke machen zu können. Hat doch einmal ein Kritiker sogar Goethe ein großes Talent, aber kein Genie genannt! Wir meinen: ein Künstler, der, wie Mendelssohn, so viele Werke geschaffen, die noch heute, also nach 30 Jahren, in ungeschwächter Lebenskraft und Liebenswürdigkeit erscheinen, die heute noch Kennern und Laien in allen musikalischen Ländern genußreiche Stunden schenken – ein solcher Künstler muß jedenfalls einen Geist von ungewöhnlicher Kraft und Schönheit besessen haben, und damit wollen wir zufrieden sein. Welche allgemeine Anziehungskraft seine Compositionen besitzen müssen, geht am schlagendsten aus den vielen Nachahmern derselben hervor. Selbst Rob. Schumann, der nächste und begabteste Nachfolger, hat sich Mendelssohn’s Einflusse nicht ganz zu entziehen vermocht.

Was Mendelssohn als Orchesterdirigent geleistet, steht in zu gutem Andenken, um einer breiteren Auseinandersetzung zu bedürfen. Die Sicherheit seiner Taktgebung, das Eindringen in die feinsten Züge der Meister, die Gabe, sie durch Rede, Haltung, Auge und lebendiges Spiel seines geistreichen Antlitzes der ganzen Masse der Ausführenden gleich einem elektrischen Strome mitzutheilen, steht unübertroffen da.

Auch als Claviervirtuos zählte er längere Zeit zu den ersten mit. An Fertigkeit wurde er später von Einigen übertroffen, an geistreicher Wiedergabe der Intentionen hingegen ist er von Wenigen erreicht worden. Wahrhaft bewundernswerth war, was er im Prima vista-Spielen (vom Blatt spielen) zu leisten vermochte. Die vollständigsten Partituren las und spielte er, ohne zu stocken, beim ersten Mal, als läge ein einfacher und leichter Clavierauszug vor ihm.

Es gibt eine Anzahl von Sätzen, die von Geschlecht zu Geschlecht als unbestreitbare Wahrheiten übernommen und ohne Prüfung hartnäckig fortgeglaubt werden, so viele offen vorliegende Thatsachen auch das Gegentheil davon predigen. Darunter gehört unter andern der Ausspruch, daß das wahre Talent sich Bahn breche durch alle Hindernisse, ja, daß diese zur Förderung desselben nöthig seien, indem ohne ihre treibende Kraft die Anlagen ihre volle Ausbildung nicht gewonnen haben würden.

Die kurze Skizze von Mendelssohn’s Leben straft wenigstens die Allgemeingültigkeit dieser Meinung gründlich Lügen. Von ihm hielt das Schicksal alle hindernden Umstände sorgfältig fern, und es ist nicht abzusehen, wie er bei Armuth, mangelnder Lehre und sonstigen widerwärtigen Verhältnissen sein angebornes Talent auf eine höhere Stufe getrieben haben sollte. Man vergißt, daß gleiche Umstände auf verschiedene Charaktere unmöglich gleiche Wirkungen hervorbringen können. „Was dem Einen nützt, schadet dem Andern“, ist auch ein Allgemeinspruch, jedenfalls ein begründeterer als der obige. Welche Hindernisse haben denn Raphaels, Goethe’s u. A. Genie befördert? Daher sagte Letzterer auch von Tiedge: „Und ich wollte wetten: wenn der gute Tiedge ein besseres Geschick hätte, so hätte er auch bessere Gedanken.“

Ebenso wie den vorigen, widerlegt das Beispiels Mendelssohns einen andern, bei Vielen in hohem Ansehen stehenden Satz, nämlich den: der Künstler findet Anerkennung erst nach seinem Tode. Von Angriffen des Neides blieb freilich auch er nicht verschont, im Ganzen aber hat er den Ruhm noch bei seinen Lebzeiten in vollen Zügen genossen. Und das ist leicht erklärlich. Seine musikalischen Gedanken und Bilder waren zwar immer neu und eigenthümlich, aber sie erschienen überall in klaren, durchsichtigen und faßlichen Formen. Er componirte nach den besten, allgemein anerkannten Grundsätzen der Kunst, nicht nach neuen Systemen, die in ihren Principien noch zweifelhaft, in ihrer praktischen Ausführung noch unreif sich vorgestellt hatten. Wir wollen das Hinausstreben über die Kunstideen einer Gegenwart nicht verwerfen. Es wäre ja ohne diese bewegende Kraft niemals ein Fortschritt bewirkt worden. Wird das wahre Genie von ihr getrieben, so kann sie Großes leisten. Da sie aber auch von jedem Aftergenie als das Agens seiner unreifen Geburten vorgeschoben wird, da sie selbst das wahre Genie viel öfter auf falsche, als auf richtigere und bessere Wege führt, wie die Geschichte aller Künste lehrt: so ist das Publicum nicht zu schelten, wenn es seinem natürlichen Gefühle folgt, Productionen, die ihm nicht behagen, mit Mißtrauen empfängt, zumal sich solche wohl gleich als überschreitende, aber nicht eben so entschieden auch als schönere darstellen. Daher muß es Geister geben, die inmitten solcher gährenden Epochen das anerkannt Gute festhalten, und zeigen, daß auch innerhalb der gewohnten Formen immerfort neue und schöne Gedanken erzeugt werden können. Zudem ist es noch eine Frage, welche von beiden Strebungen die schwierigere ist, ob die, [80] welche sich von den Regeln entfernt, um originell zu werden, oder die, welche innerhalb der Regeln anmuthige und eigenthümliche Gestalten schafft. Uns scheint es eine genialere Kraft zu bedingen, die Gegenwart in gebräuchlichen Rahmen durch neue Bilder zu fesseln, als nach selbstersonnenen Principien, und mit danach geständlich noch unreifen, gährenden Bildungen, die berechtigt, aber auch nicht berechtigt sein können, aufzutreten. Erreichte nun auch Mendelssohn die Stufe der schaffenden Tonkunst nicht, welche wir bis jetzt durch Beethoven als die höchste kennen gelernt haben, so ist er doch diesem wunderbaren Meister im Ganzen – am nächsten gekommen. Wer daher überhaupt ein Herz hat für die Töne, wird die unsres Meisters verstehen, nachempfinden und stets wahre Kunstfreuden dadurch genießen.

Das Privatleben Mendelssohn’s war, wie seine Compositionen, gediegen und geregelt. Wenn er seine Arbeit verlassen hatte, lebte er seiner Familie und einem kleinen Kreise werther Freunde. Feine Gesellschaft, die geistige Unterhaltung bot, liebte er. Für das Wirthshausleben hatte er keinen Sinn. – Gegen seine Kunstgenossen war er gefällig; Kunstjüngern stand er mit Rath und That jederzeit bei. Mit seinen pecuniären Mitteln hielt er Haus, doch war er weit entfernt, damit zu kargen. Wo es noth that, war er zur Hülfe stets bereit, und scheute selbst bedeutende Opfer nicht. Erst nach seinem Tode sind rührende Züge von Unterstützungen bekannt geworden, die er im Stillen gespendet hatte.

–e.




Berliner Bilder.
Von E. Kossak.
1. Der Friseur.

Die Natur pflegt in allen nordischen Gegenden hinsichtlich der Garderobe der daselbst ortsangehörigen Vierfüßler eine sehr verständige Einrichtung zu treffen, welche vielleicht im Menschen den ersten Gedanken der Mode angeregt hat. Sobald die wenigen Pflanzen ihre kurze Blüthe beendet, ihre kargen Früchte getragen haben und nun die eisige Jahreszeit heranrückt, beginnen die Haare aller Thiere länger und dichter zu werden, um sie gegen die Einwirkungen der furchtbaren Kälte zu schützen. Tritt dann aber nach vielen traurigen Monaten der spärliche Sommer wieder ein, so lichten sich alle Vließe, die überflüssigen Haare fallen wieder aus und der pelzhändlerische Tourist gibt sich weiter keine Mühe um diese wertlosere Sommertracht. Die Wissenschaft hat mit gewohntem Scharfsinn diesen Wechsel in der Garderobe mit den Ausdrücken „Sommer- und Winterhaare“ bezeichnet.

Wie dieser oder jener wohl schon bemerkt haben wird, ist die Natur aber weit entfernt, eine ähnliche Fürsorge für den Menschen zu treffen. Unbekümmert, ob er im Winter friert oder im Sommer vor Hitze verschmachtet, hat sie ihm nur auf dem Kopfe einen Rest dichter thierischer Bedeckung gelassen, – weniger, wie anzunehmen ist, um seine Gedanken warm zu halten, als um ihm für die Momente, welche in jedem Leben häufiger oder seltener vorzukommen pflegen, wo er sich veranlaßt sieht, vor Kummer oder Verzweiflung seine Haare auszuraufen, ein anständiges und seinen Bemühungen entsprechendes Material zu bieten.

Will man aber auf die Anwendung der Theorie von Winter- und Sommerhaaren auf den Menschen durchaus nicht verzichten, so bleibt nichts Anderes übrig, als den Satz, zumal in großen Städten, vollständig umzukehren. Denn die Haare des Menschen pflegen gerade in der schönen Jahreszeit seines Lebens dichter und länger zu sein, mit dem Eintritte der kälteren Tage aber dünn zu werden oder ganz auszufallen, wenn gleich sie mit den Pelzen der Polarzone das gemein haben, im Winter des frühen oder späteren Alters grau oder weiß zu werden.

Schon frühzeitig hat sich deshalb das menschliche Geschlecht genöthigt gesehen, auch über seine Haare nachzudenken und geeignete Maßregeln hinsichtlich derselben zu treffen. Bei der mit der Civilisation zunehmenden Theilung der Arbeit bildete sich sogar bald ein eigener Stand, welcher sich ausschließlich der Wissenschaft des Haares widmete und nach der Sprache jenes Volkes, das ihm die höchste Ausbildung durch die lebhafteste Beschäftigung mit dem Haarwuchse verlieh, „Friseur“ genannt wurde.

Nur sehr einfache Nationen haben unter sich diesen Stand noch nicht entwickelt, weil sie als thatkräftige und kriegerische Individuen das Haupt des Menschen als ein Jagdgebiet auffassen, an das man so selten als möglich die Hand legen müsse, um das sich darin aufhaltende Wildpret nicht unzeitig einzuschüchtern und so den Ertrag der bisweilen anzustellenden Treibjagden zu schmälern. Trägere Völker gehen von der entgegengesetzten Ansicht aus und lassen lieber, wie die Orientalen, den ganzen Wuchs von der Hand kundiger Männer fällen, ehe sie die bei Ihrem Klima höchst wahrscheinliche Zucht einer starken niederen Jagd unbedachtsam begünstigen.

Erst der ganz civilisirte Mensch hält die richtige Mitte ein. Er pflegt sein Haar von früher Jugend an sorgsam, und wenn widrige Schicksale oder allzuhäufige Annehmlichkeiten des Lebens ihn desselben berauben, sucht er einen Künstler auf, dessen Geschicklichkeit in Anfertigung künstlicher Kopfbedeckungen er unbedingt vertrauen darf.

Eine Menge Redensarten unserer Muttersprache zeigen an, daß die gebildete Menschheit einen starken Nachdruck auf den Werth der Haare legt. Nicht ohne Grund nennt man die Absicht, einen ungewöhnlich hohen Grad von Wohlwollen gegen Jemand an den Tag zu legen: „ihn bei den Haaren nehmen“, die Fähigkeit, ein uneigennütziges Opfer zu bringen: „Haare lassen“, ja, mit wahrem Tiefsinn redet der Jüngling, der am Abend vorher durch Rebensaft oder Hopfengebräu die höchste Begeisterung der Poesie in sich angeregt hat, von dem elegischen Leiden des anderen Morgens, als von einem „Wehethun der Haare“. Deshalb dürfen wir uns auch nicht wundern, wenn der Stand der Haarkünstler sich vor sämmtlichen Handwerksgenossen auszuzeichnen trachtet und einen gewissen höheren Aufschwung nimmt.

Die Seele des Friseurs vertieft sich durch die fortwährende Behandlung menschlicher Köpfe. Seine Hand berührt den Schädel des Staatsmannes und Feldherrn, des Philosophen und frommen Geistlichen; er fühlt sich zum Nachdenken angeregt, wenn er jetzt den Haarputz einer leichtsinnigen Schönen mit Geschmeiden durchflicht und bald darauf die Perrücke eines tugendhaften Greises zurechtstutzt. Wenn er nicht vermöge der Abstammung seines Gewerbes aus Paris zu einiger Leichtfertigkeit Hinneigung zeigte, würden sich unter dem Gewerbe der Haarkräusler ebenso gut große Philosophen entwickeln, wie unter den Gelehrten, die sich mit dem Südpol des Menschen, seinen Füßen, beschäftigen und über der Anfertigung der Stiefeln brüten. Fühlte sich der große Jakob Böhme zu Görlitz durch den Anblick eines blankgescheuerten zinnernen Gefäßes zu wunderbaren theosophischen Träumen angeregt, warum sollte nicht einen hochbegabten Friseur die spiegelblanke Glatze irgend eines alten Herrn zu den wichtigsten Philosophemen veranlassen?

Aber die Friseure pflegen nur Männer von Welt und Ton zu sein; trotz der zahlreichen Aufforderungen zum Nachdenken bringen sie es nie weiter, als bis zu einer gewissen Lebensweisheit; sie entwickeln meistens eine Richtung in sich, die an den großen und doch so kleinen Voltaire erinnert. Wir sprechen freilich zunächst von den Friseuren Berlins, wo Voltaire ihnen in das Handwerk pfuschte und den großen König Haare zu lassen verstand, allein jener besondere Charakter erhält sich an vielen andern Orten. Selbst auf dem classischen Boden Italiens trafen wir einen dieser glücklichen Weisen. Zwar bestand sein Atelier schlechtweg in einem Keller, der Luft und Licht nur durch eine Thür empfing, welche, um beide edlen Elemente niemals fehlen zu lassen, selber fehlte; zwar beschränkte sich sein Frisirmantel auf eine winzige schmutzige Serviette und sein Apparat auf ein ausgebrochenes Kämmchen, wie es zärtliche Mütter zu ihren sicherheitspolizeilichen Maßregeln auf den Köpfen der lieben Kleinen anzuwenden pflegen, nebst einer winzigen stumpfen Scheere; allein er dachte gleich anmuthig von Dingen und Menschen, wie der große Geschäftsmann der Residenz, bei dem der Hof seine Pomade von Dupuytren kauft.

Jeder elegante Friseur nennt seinen Laden und das Handwerkslocal „Maison“, oft sogar „Maison de Paris.“ Zuweilen [81] nimmt er sich den römischen Kaiser Titus, den man die Freude des Menschengeschlechtes nannte, zum Vorbilde und betitelt sich „ami de la tête“. Die glänzenden Schaufenster sind mit tausenderlei zierlichen Geräthen, Oelen, Salben, Toilettegegenständen und Schmucksachen verziert, die sich auf die Pflege des Haares beziehen; selbst der Schutz desselben gegen atmosphärische Einflüsse, der modernste Hut von der Seine, darf daneben nicht fehlen. Und da viele Menschen sogar Haare auf den Zähnen haben, hält er sich für verpflichtet, auch die besten Zahnbürsten feilzubieten.

Treten mir ein, so empfängt uns der Chef des Hauses, redet uns mit „Monsieur“ oder doch mit „Mein Hörr“ an, und nöthigt uns in ein zierlich decorirtes, nach einem freundlichen Garten hinausgelegenes Gemach. Entzückte in der Verkaufshalle ein köstlicher Geruch aller Specereien Arabiens und Indiens unsere Geruchswerkzeuge, wie die französischen Novellisten zu sagen pflegen, obgleich auch in jenen Ländern nicht Alles eitel Wohlgeruch ist: so befremdet uns in diesem Atelier ein etwas unheimlicher Duft. Es riecht wie in der Folterkammer eines Inquisitionsgebäudes, und als ob ein arger Ketzer zur Vermehrung seiner Geständnisse etwas angesengt worden wäre. Ein mit Cokes geheizter großer Kamin ist wirklich vorhanden und mehrere kleine eiserne Instrumente lassen das Schlimmste fürchten. Da mehrere vor uns eingetroffene Herren bereits von den Attachés des Locales bedient werden, und wir reichlich eine Viertelstunde zur Beobachtung Zeit haben, nehmen wir neben einem marmornen Tischchen Platz, und prägen uns das Bild der Scene ein. Wir lassen deshalb einen Stoß Zeitungen, deren altes Datum und angeölte Physiognomien Zweifel erregen, ob sie zur Lectüre der Besucher, oder nur zum Abwischen der fettigen Gehülfenfinger bestimmt sind, unberührt liegen und sehen uns sorgfältig um. An allen Wänden prunken hohe Spiegel und auf den breiten Fensterbretern runde Toilettenspiegel; die Zwischenräume sind mit Kupferstichen französischer Schule und kriegerischen Inhaltes bedeckt. Wo sonst noch Platz vorhanden ist, hängen blendend weiße Frisirmäntel, liegen blinkende Scheeren, riesige Bürsten von fremdartiger Gestalt, curiose Pinsel zum Pomadiren der Haare, stehen Büchsen und gläserne Vasen mit farbigen Haarölen und conservativem wohlriechendem Essig; die vorhandene Gesellschaft ist ziemlich schweigsam.

Auf drei Drehstühlen, welche den Scheiben gleichen, auf welchen lebende Bilder ausgestellt, aber fast immer in Preußen von der Polizei verboten werden, sitzen ebenso viele Herren von ungleichem Lebensalter. Der nächste vor uns wird Herr Graf genannt und raucht eine Cigarre, deren Geruch den Herrn der Anmaßung des Adels verdächtig machen würde, wenn nicht die Umständlichkeit seiner Wünsche in Betreff der Haartracht für die Zahl seiner Ahnen spräche. Seine braunen dichten Locken sind bereits mit makelloser Genauigkeit geordnet und glänzend polirt, sein Gesicht ist mit einer weichen Bürste von allen Abschnitzeln gereinigt, aber noch immer äußert er seine Unzufriedenheit, und der Gehülfe beeilt sich, nicht entrüstet, sondern auf das Aeußerste entzückt über solchen künstlerischen Sinn, seinen Wünschen zu willfahren. Hier wird noch ein Härchen abgeschnitten, hier eines mit Oel angedunkelt, dort mit heißem Eisen gekräuselt und schließlich dem imposant nach Osten und Westen starrenden Schnauzbarte eine letzte Stärkung mit ungarischer Bartwichse gegeben. Endlich erhebt der Graf sich von dem Sessel, wirft den Frisirmantel ab, zieht den Oberrock an, legt ein Fünfsilbergrosckenstück auf den Tisch und entfernt sich mit edlem Anstande, von dem Chef bis an die Thür begleitet.

Der zweite Herr ist offenbar sein Gegentheil. Im höchsten Grade bescheiden und anspruchlos, hat er seinen Rock gleichfalls ausgezogen und sich mit der stillen Duldung eines armen Sünders, dem man das Sterbegewand anzieht, den Frisirmantel anlegen lassen. Der Hauptausdruck seiner Züge ist eine ursprünglich traurige Abgedroschenheit, die mit einer ganz und gar niederträchtig gemachten und behandelten Perrücke vollständig harmonirt. Hören wir aber lieber seine charakteristische Unterhaltung mir dem Gehülfen an.

„Sie wünschen? mein Hörr!“ sagt Letzterer, indem er nicht ohne einigen Abscheu das Mißgebilde von dem alten Schädel zieht.

„Ja, ich – ich – ich möchte – ich wünschte wohl, daß Sie mir die Perrücke aufarbeiten möchten,“ seufzt der Herr, aus dessen Kopf auch nicht mehr ein zartes Härchen keimt.

Der Gehülfe gibt dem Chef einen vertraulichen Wink, dieser nähert sich, und indem Beide die heruntergenommene Perrücke mit den Fingern verächtlich hin und her drehen und stoßen, fragt der Chef: „Mein Hörr! wie konnten Sie nur dieses Machwerk so lange tragen?“

„Ja, ich – ich bin – ich wohne in einer ke – ke – kleinen Stadt und komme nur – nur alle dr – drei Jahre nach Berlin, wenn ich in die Ka – Ka – Kammer gewählt werde!“ antwortet der gute alte Parlamentsredner.

„Diese Perrücke, mein Hörr!“ spricht nun mit hohem Fachstolze der Chef des Hauses, „können wir nicht mehr in Ordnung bringen, sie ist vollständig decomponirt, wenn ich so sagen darf. Eine künstlerische Idee war nie darin, aber sie gewährte einigermaßen leiblichen Schutz, doch geht – da –“ Zum Entsetzen des Abgeordneten fährt der Chef bei diesen Worten mit dem Zeigefinger an verschiedenen Stellen durch die Perrücke, fügt aber tröstlich hinzu: „Wir werden Ihnen noch in dieser Minute eine neue, für Sie passende aufsetzen. Haben Sie nur die Güte, mein Hörr, uns in das obere Stockwerk zu begleiten.“

Was soll der Beklagenswerthe machen? Einen schwermüthigen Blick wirft er noch auf seine durchlöcherte Verstandeshülle und folgt dann den beiden Künstlern in das obere Stockwerk, wo immer dergleichen geheimnißvolle Proceduren vor sich gehen. Die ganze Scene macht den schauerlichen Eindruck des Vorspieles einer Hinrichtung im geschlossenen Raume.

Eigentlich schon an der Reihe selbst frisirt zu werden, zaudern wir noch ein wenig, um den letzten Herrn zu beobachten. Er sitzt breit und gemächlich auf dem Drehsessel, lächelt in den Spiegel und zeigt die wenigen Zähne, welche der Umschwung aller Dinge ihm noch gelassen hat. Sein runder, wohlgestalteter Kopf ist so spärlich bewachsen, daß nur einige Härchen über den Ohren, ein kleines Büschelchen über der hohen Stirn und ein Löckchen im Nacken bemerkbar sind. Nichts destoweniger ruft der lebenslustige Greis mit einem frohen kraftvollen Basse auf die Frage, welchen Haarschnitt er beliebe: „Vorn die Haare alle frei aus dem Gesichte, seitwärts glatt hinter die Ohren gestrichen; hinten unbedingt streng militärisch!“

Was sich der Gehülfe dabei gedacht und wie er dieses Problem gelöst hat, vermögen wir nicht anzugeben, da wir in demselben Augenblicke in die Mache genommen wurden. Nur so viel vernahmen wir, als der glückliche Lockenkopf frisirt worden war, daß der Chef herbeieilte und ihm nicht allein Bärenfettpomade zur Stärkung des Haarwuchses, sondern auch Bandeauline, eine Composition zum Festhalten der geordneten Haare, mit vielem falschen Pathos anpries, auch von beiden Waaren für nicht weniger als zwei Thaler an den Herrn absetzte.

Nicht bei allen Friseuren behandelt man jedoch das Publicum mit solcher weltmännischen Sicherheit, nicht überall fragt man Jeden, ob er in Paris gewesen sei und nicht Nußöl oder einen neuen Hut, wenn nicht gar „préservatifs de Paris“ brauche; es gibt auch viele kleinere Haarkünstler, die sich erst zu dieser Höhe der sittlichen Weltanschauung hinauf arbeiten wollen. Ehe die meisten Haarkünstler für den Haarschnitt fünf oder mehr Silbergroschen beanspruchen, ehe sie in ihrem Geschäfte französische und englische Kosmetika verkaufen können, sehen sie sich genöthigt, vorbereitende Studien in kleineren Geschäften zu machen.

In einer Nebenstraße treffen wir ein solches an und wir entblöden uns nicht, unter dem Anschein, die im Schaufenster ausgestellten Gegenstände zu betrachten, in die Officin zu blicken.

Kein Graf, kein Abgeordneter, kein heitrer Lebemann ist hier zu sehen, nur ein Bruder Studio sitzt auf einem schlichten Strohstuhle und läßt seinen urwüchsigen Haarbusch von einem noch nicht ausgewachsenen Knaben lichten, der darin wie ein ungeübter amerikanischer Ansiedler in einem dichten Eichenwalde arbeitet und wüthet. Um das Passende dieses Gleichnisses zu erhöhen, stöhnt der Bruder Studio auch bange, gleich einem alten, von der Art zersplitterten Baume. Der kleine Knabe geht mit ihm gar zu unglimpflich um; es scheint ihm nur um den Gewinn möglichst vieler und langer Haare zu thun zu sein, das Gesetz der männlichen Schönheit läßt er gänzlich unbeachtet. Er scheert den künftigen Gelehrten so kahl, wie einen den Hundstagen entgegengehenden Pudel, steckt ohne Dank das Honorar von zwei und einem halben Sgr. ein, und ruft dann seinen Herrn, sobald der Studiosus das Local verlassen hat. Der Herr kommt aus der Hinterstube mit einem sauberen kleinen Besen, fegt die Hinterlassenschaft seines jungen Kunden sorglich zusammen und geht schweigend zurück, anscheinend [82] berechnend, ob das Material zu einer stattlichen Perrücke reiche. Die im Laden aufgestellten Parfumerieen stammen sämmtlich aus seiner Vaterstadt Berlin, die zahlreichen Flaschen Eau de Cologne mit eingeschlossen. Altes Baumöl, versetzt mit irgend einem nicht genauer zu bestimmenden Wohlgeruch, wird als haarstärkendes Blüthenöl verkauft, gefärbtes Schweineschmalz stellt irgend ein fabelhaftes Thierfett vor, und parfümirter Essig muß sich zu allen möglichen Dingen hergeben. Der Handel mit Seife geht aber am stärksten, da in dieser Stadtgegend am Sonntage wirklich ein lebhaftes Bedürfniß vorhanden ist.

Diese Herren Friseure beschäftigen sich überwiegend mit der Praxis außer dem Hause. Sie setzen Vormittags alte eitle Mamsellen in Stand, befestigen täglich die Haartouren reicher Kahlköpfe, und brennen jungen Schauspielern und ähnlichen müßigen Garçons die Locken zur Mittagspromenade, während ihre Gehülfen und Lehrlinge den mitunter nicht unblutigen häuslichen Dienst versehen.

Zum Amt des Friseurs gehört einige Kenntniß der französischen Sprache, weshalb ihre Gehülfen auch auf der oberen Gallerie gefunden werden, wenn französische Schauspieler in Berlin anwesend sind. Das Aeußere dieser Herren zeichnet sich nicht durch eine kühne Zusammenstellung bunter Farben aus, die bei Barbiergehülfen Sonntags sehr beliebt ist, sondern nur durch die schwungvolle und zierliche Anordnung ihrer eigenen Haare. Auch erkennt man sie an den streng kritischen Blicken, mit welchen sie die Frisuren anderer Christenmenschen beobachten. Sie stehen darin ganz mit den Schneidern auf einer Stufe. Von allem Charakteristischen an einem Menschen sehen Beide nur, was in ihr Fach fällt. Als während der Pariser Industrieausstellung der Kaiser Napoleon von einer Parade nach den Tuilerien ritt, standen vor uns ein Friseur und ein deutscher Schneidermeister. Jener machte unseren Landsmann auf den wohlgepflegten Schnurrbart des Kaisers aufmerksam. Dieser aber rief, ohne den oberflächlichen Friseur zu beachten: „Sehen Sie lieber, wie gut ihm die Hosen sitzen!“ – So sprechen nur die Genies der Toilettenkunst. –




Der schwarze Georg von Serbien.

Sie haben zu Weihnachten den Sohn des schwarzen Georg, Alexander, abgesetzt und dafür ihren anderen modernen Helden, Milosch, den Zweiundachtzigjährigen, vor zwanzig Jahren Davongejagten, wieder als Retter auf den Thron gerufen. Europa, ohnehin schon in der größten politischen Verlegenheit und durch allerhand Kriegsgerüchte in seinem friedlichen Fleiße beunruhigt, ist dadurch mit einer Verlegenheit mehr beschenkt worden, da alle Großmächte es als eine ihrer heiligsten Pflichten betrachten, gewisse kleine, unsichere Throne Europa’s mit Fürsten zu versorgen und sich bei diesem Geschäfte bald zu zanken, bald zu vereinbaren.

Dazu gehört der Fürstenstuhl Serbiens, der blos drei Beine zu haben scheint, so daß immer eine Großmacht das vierte ersetzen zu müssen glaubte, um den Stuhl und den Fürsten darauf nicht fallen zu lassen.

Früher war’s ganz anders. Serbien, das paradiesische, von den stärksten Männern und den schönsten Mädchen bewohnte, singende, liederreiche, heldenmüthige Serbien über der Donau drüben, mit den üppigsten Feldern und Wäldern und malerischsten Berglandschaften, durch welche manch’ herrlicher Fluß und Strom der Donau zueilt, blühte einst vom siebenten Jhrhunderte an als großer, mächtiger, heroischer Staat. Im vierzehnten Jahrhundert nannte der serbische Kaiser Stephan Duschan ganz Serbien, außerdem Macedonien, Thessalien, Nordgriechenland und Bulgarien sein Land, über welches er Kunst und Wissenschaft, Industrie und Handel aussäete. Aber die Landestheile zerfielen unter späteren Kaisern, besonders durch deren Satrapen oder Statthalter. Die Türken fielen über ein Stück nach dem anderen her und behielten sie. Später (1718) wurden die besten Theile Serbiens Oesterreich zuerkannt, durch den Frieden von Belgrad (1739) aber wieder dem Sultan, an dessen Stelle wüste, fanatische, ruchlose Janitscharen nicht nur Serbien, sondern auch die ganze Türkei ausplünderten und bis auf’s Blut mißhandelten.

Die „Srbins“ oder Serben wurden von Creaturen der Janitscharen von ihrem Grund und Boden gejagt, wenn sie nicht mehr zahlen konnten. Türken wurden große Grundeigenthümer und besetzten alle Staats- und Verwaltungsämter, d. h. verschiedene privilegirte Stellen zum willkürlichsten Ausplündern, Gerechtigkeit und Gesetz waren ganz verschwunden. Kadis oder Richter gaben nie einem „Srbin“ Recht.

„Was der Pascha nicht nimmt, nimmt der Bey; was der Bey nicht nimmt, nimmt der Aga; was der Aga nicht nimmt, nimmt der Janitschar, und was der nicht nimmt, will auch der Teufel nicht mehr haben.“ Dieses Sprüchwort trat in Serbien an die Stelle herrlicher, volltöniger Volks- und Heldenlieder.

Die Serben sind in friedlicher, ackerbaulicher Häuslichkeit die schönsten, gastfreundlichsten, lustigsten Leute von der Welt, die alle Abende nach leichter Arbeit auf üppigem Boden, nachdem sie die Schweine gehütet u. s. w., zu singen und mit ihren wunderschönen Mädchen auf freien Plätzen zu tanzen lieben.

Aber ein Stück Landes nach dem andern wurde ihnen genommen, eine Heerde nach der andern weggetrieben. Lust und Lieder verstummten. Der unsichere oder verlorene Besitz hatte keinen Werth mehr. Dunkele, sehnige Männergestalten nahmen Aexte, schlugen ihre Pflüge in Stücke, umgürteten sich mit breiten, gestickten, festen Brustbinden, steckten Pistolen und breite Schlitzmesser hinein, schulterten lang- und schlankläufige Damascenerflinten und verließen schaarenweise Haus und Hof, ganze Dörfer, um in Wäldern als Karl Moor’s und der Rache gegen alle Türken, als Haiducken, zu leben. Das Gegengift gegen die Janitscharenwirthschaft schwoll als Haiduckenthum auf und erfüllte das schöne Serbien mit entsetzlichen Thaten der Rache, Grausamkeit, Räuberei, List und Verwilderung. Der Name Haiducke verbreitete sich als Schreckenswort über Europa.

Die Janitscharen überboten in Thaten der Rache die Haiducken und suchten ihre Opfer selbst in fremden Ländern auf. Kaiser Joseph II. und Katharina II. erklärten der Pforte Krieg. Als Grund war auch der mit angegeben, daß Janitscharen serbische Haiducken, die zum Theil als Freiwillige in der österreichischen Armee Sicherheit gefunden hatten, auf österreichischem Boden aufgesucht und abgeschlachtet hätten.

Unter diesen Haiducken der österreichischen Armee ragte eine hohe, riesige, schwarzglühäugige, elastische, breitschulterige Gestalt hervor, genannt Georg Petrowitsch, auch der schwarze Georg, Czerny Georg, hernach Kara[1] Djordje und der „Befreier Serbiens“, wie Milosch auf sein Grabesdenkmal malen ließ.

Der schwarze Georg ward kurz vor 1770 in Wischnjewzi bei Kragujewaz geboren. Sein Vater Petar war Bauer und Schweinezüchter. Vor den Räubereien türkischer Beamten und Janitscharen fliehend, hatte er sich tiefer in’s Gebirge, in das Dorf Topola, zurückgezogen. Hier hörte der junge Georg nur von Türkenhaß reden, von Thaten der Haiduckenrache, der er sich schon als Knabe angeschlossen haben soll. Nachdem er mehrere Türken abgethan, floh er (1788) vor deren Rache in das Oesterreichische. Die Janitscharen hatten ihm persönlich Rache geschworen. Er scheint sich gleich im Anfange als Genius der Rache hervorgethan zu haben. Rache! Immer Wiederholung desselben Wortes? Werden sie sich nicht an seinem Vater rächen, wenn sie ihn nicht finden? Der Vater soll mit fliehen. Aber der alte Mann weigert sich. Der Sohn bittet, wird eifrig, flammt auf aus seinen dunkel glühenden Augen in Wuth gegen die Schwäche des alten Mannes, in Liebe zu dem Vater, welchen er für scheußliche Martern der Janitscharenbanden, für einen schmachvollen Tod zurücklassen soll. Der Vater bleibt unerbittlich.

Wir wissen aus einer wundervoll dramatischen Schilderung des Livius, wie einst ein edler Römer seine jungfräuliche, schöne, einzige Tochter mitten auf dem politischen Markte des alten Rom vor den Augen seiner Mitbürger mit eigener Hand erstach, um sie vor Entehrung zu schützen.

In dem einsamen Wald- und Gebirgsdorfe Topola scheint Niemand gesehen zu haben, wie der schwarze Georg mit eigener [83] Hand seinen Vater erschoß, weil er nicht mit ihm fliehen wollte. War’s cannibalische Haiduckengrausamkeit oder erhabenste Kindesliebe? Wir wissen’s nicht. Aber diese That zeichnet mit einem gewaltigen Striche den ganzen Mann der Zukunft, den Napoleon Serbiens, eben so deutlich, als grauenvoll.

Von dem österreichischen Freiwilligen Georg wissen wir nicht viel, als daß er 1791 als Feldwebel zurückkam, um hier den Haiducken-Rachekrieg wieder aufzunehmen. Später wird er Waldheger in Syrmien; aber der einsame Wald ist nicht seine Mission. Unter Mustapha Pascha’s menschlicherer Verwaltung richtet er sich mit seinem Bruder Milenko die Wirtschaft in Topola wieder ein und mästet Schweine.

Die Janitscharen, durch einen früheren Vertrag vertrieben, kehren zurück, um ihre alten „Rechte“ durch Thaten der Rache, des Mordes und der Plünderung wieder geltend zu machen. Sie kommen und morden, brechen in die Hauptstadt Belgrad ein, ermorden den türkischen Statthalter, erklären sich zu Herren des Landes, und vertreiben selbst türkische Bewohner Serbiens von ihrem Hab und Gut.

Rache, Schrecken, Ruchlosigkeit herrschen wie nie zuvor. Spahis (türkische Grundherren) und Serben vereinigen sich unter gemeinschaftlichen Tscheta’s oder Aufruhrfahnen. Auch der schwache Sultan erklärt sich gegen die Janitscharen, ist aber zu schwach, etwas zu thun. Die Herren Serbiens, von zwei Seiten bedroht, suchen „Ruhe und Ordnung“ durch ein schaudervolles Blutbad (Februar 1804) herzustellen. Jetzt tritt der schwarze Georg auf. Die Janitscharen wollen ihn fangen, sie finden aber blos sein leeres Gehöft, das in Flammen aufgeht. Er sieht zu von einem Berge. Nichts war ihm geblieben, als sein erhöhter Rachedurst, Waffen und Haiduckenfreunde. Ein Janitscharenbeamter bei Belgrad liegt eines Morgens ermordet vor seinem niedergebrannten Hause, eine That des schwarzen Georg, der nun mit einem Schlage Held Serbiens wird. Alles, mit Rache im Herzen, strömt ihm zu. Sein Rachecorps verbrennt und ermordet Alles, was Türkisch heißt, über das Land hin. Ueberall bilden sich neue Freicorps der Rache. Die Janitscharen bitten um Frieden, aber der schwarze Georg weist sie ab. Sie werben in benachbarten Ländern alles Gesindel an, und suchen sich so von außen zu stärken. Die Serben sahen nun ein, daß Einheit in ihren Guerilla-Rachekrieg kommen müsse, und wählten den schwarzen Georg zum „Commandanten von Serbien.“

Er warf Zuzüge der Janitscharen aus Bosnien und der Bulgarei mit dem gründlichsten Erfolge zurück, dann rückte er mit reicher Beute gegen Belgrad, und eroberte es.

Die vier Häupter der Janitscharen-Regierung liegen am folgenden Morgen zu Füßen des schwarzen Georg. Der Sultan hatte die Serben bisher sogar unterstützen lassen. Aber nun sollt’ es gut sein, man sollte die Waffen niederlegen. Die Großen Serbiens waren, wie der schwarze Georg, noch nicht zufrieden, aber schon neidisch auf die Popularität und Macht ihres Commandanten. Sie drangen in ihn, daß er das Commando niederlege, besonders der Knes Theodosje, der hinzufügte, daß er seine Befehle nicht mehr beachten werde. Der schwarze Georg, mitten unter ihnen stehend, blitzt unter seinen schwarzen Brauen hervor, zieht ein Pistol aus der breiten Brustbinde und mit den Worten: „Dann nimm, was dem Empörer gebührt!“ schießt er ihn durch die Brust. Der Meuterer zuckt einige Male im Kreise der serbischen Großen und liegt dann still. Der schwarze Georg berathet mit den Umstehenden, ungestört von ihnen, ungestört von dem stillen Manne zu ihren Füßen.

Der Kampf wird nun als Revolution fortgesetzt, der schwarze Georg wird ihr absolutes Haupt (1804). Aber er schwankt schon beim ersten Schritt, bittet Oesterreich, dann Rußland um – Unterstützung der Revolution, und wird auf türkische Gnade verwiesen. Diese kommt in Form eines türkischen Heeres. Der Commandant von Serbien schlägt es von den Grenzen Serbiens zurück. Allgemeine Begeisterung und Einigkeit, die den schwarzen Georg zum Vrbovni vozd (obersten Anführer) erhebt.

Von allen Grenzen her drohen türkische Truppen, so daß der schwarze Georg, der nicht überall sein kann, viele wichtige Zugänge andern Führern übergeben muß. Nach manchen Scharmützeln werden mehrere geschlagen, dann bricht die türkische Hauptmacht mordend und brennend über das Land herein, vielleicht in Folge von „Verrath.“

Serbien ist vollständig unterjocht (1806). Nur von Einem hofft man noch, vom schwarzen Georg. Was noch Muth hat, flüchtet sich zu ihm. Er wüthet mit Erfolg umher. Bei Mischvar, dicht an der Save, kommt es zu dreitägiger Schlacht. Der schwarze Georg, dunkel und glühend hervorragend überall, wo es am blutigsten herging, nur durch seine Mütze vor den Gemeinen kenntlich, mit langer Damascenerflinte in der Rechten, Pistolen und Handschar im Gürtel, Alles durch sein Beispiel und seine einzigen Commandoworte: Haidemo! Udarimo! (Drauf! Vorwärts!) mit sich in den Feind hineinreißend, kommt als vollständigster Sieger aus dem Kampfe und den Leichenhaufen des gänzlich von lebenden Feinden geräumten Schlachtfeldes zum Vorschein.

Alle Türken sind aus Serbien geflohen. Serbien, 1806 vollständig unterjocht, war 1807 wieder frei durch den schwarzen Georg.

Belgrad wurde unter dem fürchterlichsten Blutvergießen und Gräuelscenen, der schwarze Georg zuerst auf den Wällen, erobert. Seine besten Freunde und Anhänger spielten nun Haiducken gegen das eigene Volk, und lösten die Zungen seiner alten Gegner.

Im Jahre 1808 war Waffenstillstand. Seine Gegner drangen auf Anrufung russischer Hülfe und Entfernung zunächst seiner Getreuen. Der ihm im eigenen Lande drohenden Gefahr sucht er durch kühne Kriegsthaten zu entgehen: durch Revolutionirung der christlichen Bevölkerung Bosniens, Albaniens und der Herzegowina gegen das Türkenthum. Erst siegreich, dann auf allen Punkten geschlagen und fliehend (nachdem sich sein Freund Stevo mit allen den Seinen in die Luft gesprengt, von deren Köpfen die Türken den entsetzlichen Schädelthurm bei Nissa bauten), dann wieder Alles gewinnend, war er 1809 zum zweiten Male Retter und Befreier Serbiens.

Retter Serbiens? Zu Neujahr 1810 in der Volksversammlung klagen ihn die Großen als – Feind des Czaren von Rußland an. Noch können sie ihn nicht stürzen, aber Neid und Mißgunst verschwören sich gegen ihn. Ihr zuvorkommend, läßt sich Georg von der Neujahr-Volksversammlung 1811 zum Haupte der Nation ausrufen, und die Verschwörer beugen sich.

Der ehemalige Haiduck und Schweinemäster ist nun Haupt eines freien Volks. Aber ihm schwindelt auf dieser Höhe. Der Sultan bietet ihm den Fürstentitel. Der zweimalige Befreier Serbiens, Haupt der tapfersten Nation, bittet jetzt Rußland um Erlaubniß, diesen Titel anzunehmen. Rußland überlieferte ihn und sein Volk wieder ganz der Gnade des Sultans. Wer nach außen um Erlaubniß gefragt, ob er so frei sein dürfe, verdiente nichts Besseres. Um nur Haupt der Nation zu bleiben, bot und gab er dem Sultan mehr, als verlangt ward, Festungen, Kanonen, Alles. Das Volk wüthet über ihn. Er will seine Stelle retten und greift wieder zur Damascenerflinte, zum Aufstand gegen die Türkei. Die einzelnen Serbenhaufen streiten und fallen wie Spartaner, aber der schwarze Georg, überall gesucht, ist verschwunden, geflüchtet nach Oesterreich (2. October 1813). Der neunjährige Freiheitskampf des tollkühnsten, tapfersten Volkes lag zu den Füßen des türkischen Großherrn.

Milosch Obrenowitsch, auch ehemals Schweinehirt, dann Mitkämpfer, wird kluger Hospodar von Serbien und diplomatisirt zwischen Selbstständigkeit und Gehorsam, zwischen Rußland, Oesterreich und der Türkei, bis auch er weggejagt wird. Im Frühjahr 1817 erscheint der schwarze Georg wieder in Serbien, bei einem alten Gastfreunde Wuitza, der ihm – aus Gefälligkeit gegen Milosch – im Schlafe mit einem Beile den Kopf abhackt und denselben an den Hospodaren sendet. Dieser schickt ihn an einen türkischen Pascha, dieser an den Sultan, welcher ihn an der Pforte des Serails annageln läßt. Darunter die Unterschrift: „Kopf des berüchtigten serbischen Kara Djordje!“ – Milosch ließ den kopflosen Körper in der Kirche von Topola begraben und darüber „dem Befreier Serbiens“ ein Denkmal setzen. Dem Befreier, nein, dem Repräsentanten des Unterganges Serbiens und jeder Nation, die Freiheit zu erkämpfen, aber vor Neid, Zwietracht, Herrschsucht, Eigennutz und Erlaubnissen von außen her sie nicht zu würdigen und zu wahren weiß.

Der Despot Milosch, der sich seinen Thron mit Geld und russischer Unterstützung wieder erobert, wird nun an dieses untergehende Reich seine letzten Jahre setzen und seiner Auflösung entgegenführen.



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Die Marienburg.

Die Nummer 30 des vorigen Jahrganges der „Gartenlaube“ brachte aus der Provinz Preußen die Abbildung und Beschreibung einer der kühnsten und sehenswerthesten Bauten der Gegenwart: der Gitterbrücke über die Weichsel bei Dirschau. Heute sei es uns vergönnt, die Leser zu einem Bauwerke zu führen, welches in seiner Art nicht minder kühn und sehenswerth, ja vielleicht ohne Gleichen ist und dabei eines so großartigen historischen Hintergrundes sich erfreut, wie nur wenig andere: zur Marienburg. In noch nicht voll drei Viertelstunden trägt von Dirschau das Dampfroß uns zur Stadt Marienburg, unmittelbar neben welcher die Burg gleichen Namens sich erhebt, welche anderthalb Jahrhunderte hindurch die Residenz jener Priesterfürsten war, welche unter dem Namen der „Hochmeister des Deutschherren-Ordens“ einen Staat beherrschten, welcher manches heutige Königreich an Größe übertraf und in den Zeiten seiner höchsten Blüthe vom Ostufer der Oder bis zum esthischen Strande des baltischen Meeres sich erstreckte.

Nordfaçade des Mittelschlosses Marienburg.

Im Jahre 1230 setzten die „Deutschen Herren“ – der dritte unter den drei geistlichen Ritterorden, welche zu den Zeiten der Kreuzzüge im gelobten Lande gestiftet wurden – zuerst den Fuß in das Land der heidnischen Preußen, das ihnen der Papst und der Herzog Conrad von Polen-Masowien (die es aber beide nicht besaßen) geschenkt hatten.

Um sich vor Ueberfällen zu schützen, ließ der Landmeister Conrad von Thierberg 1276 dicht neben dem Flecken Marienburg eine Burg erbauen, mehr fest, als wohnlich, die er die „Marienburg“ nannte und welche fortan die Residenz der Landmeister war und den Ort Marienburg somit zur Hauptstadt Preußens machte. Er nannte sie auch das „Hochschloß“ oder „hohe Schloß“, und dasselbe bildet den ältesten Theil der Marienburg. Die beiden andern Theile sind das „Mittelschloß“ und die „Vorburg“. Diese entstanden in folgender Weise.

Mit dem Aufhören abendländisch-christlicher Herrschaft im gelobten Lande und Syrien durch die Erstürmung von Akkon oder Ptolemais (heutzutage „St. Jean d’Acre“), im Jahre 1291, durch die Saracenen, hatten die Hochmeister ihre (ohnehin stets nur unbedeutenden) Besitzungen im Morgenlande verloren und nahmen nun ihren Wohnsitz in der alten Dogenstadt Venedig. Jedoch schon der dritte dort lebende Hochmeister, Ritter Siegfried von Feuchtwangen, der überdies vor seiner Wahl zum Hochmeister „Landmeister in Preußen“ gewesen war, fand es unpassend, fern von dem Lande, über welches er gebot, als einfacher Bürger, ja als Flüchtling, zu leben. Er beschloß deshalb, seinen Wohnsitz mitten in das Herz des Landes, das ihm und dem Orden gehorchte, nach der Marienburg, zu verlegen. Da aber die dort vorhandenen Räumlichkeiten nicht genügend und nicht geeignet waren, den Herrscher eines Staates aufzunehmen, der schon damals einen Umfang hatte, wie etwa heutzutage Hannover, Oldenburg und Braunschweig zusammengenommen, so ließ Hochmeister Siegfried dem Hochschlosse das „Mittelschloß“ Marienburg als fürstliche Residenz und die „Vorburg“ als Wohnung der niederen Hofbeamten, der Knechte und des Trosses erbauen. In diese neu geschaffenen Räume hielt er dann am 14. September des Jahres 1309 seinen prunkvollen Einzug. Nach ihm haben noch sechzehn Hochmeister hier gethront und sind zum größeren Theile auch hier begraben; unter ihnen Werner von Orselen, der durch Meuchelmord fiel; Luther, Herzog zu Braunschweig-Wolfenbüttel, ein Minnesänger; Ludolph von Weitzau, welcher den größten Dom des Preußenlandes, die „Marienkirche“ zu Danzig, zu erbauen begann; Winrich von Kniprode, unter welchem der Deutschherren-Orden seine höchste Blüthe erreichte, und Conrad von Rothenstein, unter dem er diese behauptete; Ulrich von Jungingen, welcher die Niederlage bei Tannenberg (am 15. Juli 1410) erlitt und damit das Sinken seines Ordens sah; Heinrich, Graf Reuß zu Plauen aus der Linie Greiz, der männliche Held, des Ordens Retter in bedrängter Zeit und dann dessen Gefangener; endlich Ludwig von Erlichshausen, welcher am 6. Juni 1457 bei Nacht und Nebel als Flüchtling die Marienburg verlassen mußte, in welcher seine Vorgänger anderthalb Jahrhunderte hindurch als Fürsten regiert hatten. Sic transit gloria mundi!

[85] Nicht durch offene kühne Eroberung, sondern durch schnöden Verrath böhmischer Söldner-Häuptlinge war in dem großen Kriege, welchen (von 1451 bis 1466) der Deutschherren-Orden gegen die eigenen Stände (die Städte und den eingebornen landsässigen Adel) und das ihnen verbündete Polen führte und in welchem er zuletzt den Kürzeren zog, die Marienburg in die Hände Polens gekommen und sank nun von der Residenz eines königgleichen Fürsten zum Wohnsitze polnischer Starosten herab, die, zumeist um ihrer Bequemlichkeit willen, den Prachtbau des Schlosses durch Ein-, An- und Nebenbauten verzwickten und zerstückten. Doch muß ein billiges Urtheil den Ordensfeinden nachsagen, daß sie weniger zerstörten, als durch geschmacklose Zuthaten verunzierten, und daß sie stehen ließen, was nicht gerade einstürzen mußte.

Die „Residenz“ des Schlosses Marienburg.

Schlimmer ward’s, als 1770 mit ganz Westpreußen – das nun diesen Namen wieder annahm, während es bisher „Polnisch-Preußen“ geheißen – auch die Marienburg an Friedrich II. kam. Dieser große Monarch hatte auch nicht die kleinste romantische Ader; was nützte, stand bei ihm obenan, und so wurde denn in Folge des im Cabinet waltenden Utilitäts-Systems in einem einzigen Decennium mehr zerstört, als die dreihundertjährige polnische Herrschaft verdorben hatte. In den oberen Sälen schlugen Weber ihre Werkstätte auf; der größte Saal des Untergeschosses wurde in ein Exercirhaus, später in eine Reitbahn, und die Hauptküche des Schlosses gar in einen Pferdestall verwandelt; ja der Minister von Schrötter hatte 1803 sogar den Befehl zur gänzlichen Abtragung der „alten unnützen Burg“ bereits erlassen, als, so zu sagen, „noch in der elften Stunde“, dem alten Prachtbau die Retter nahten. Es waren Max von Schenkendorf, der begeisterte Sänger altdeutscher Herrlichkeit, und Heinrich Theodor von Schön, der in so mannichfacher Weise um ganz Preußen, namentlich um dessen gleichnamige Stammprovinz, verdiente Staatsmann. Sie waren es, die auf die große historische wie architektonische Bedeutsamkeit der Marienburg hinwiesen; dem Ersteren verdankt man die fernere Erhaltung dessen, was dem Zahne der Zeit, den Bequemlichkeits-Rücksichten der Starosten und dem Utilitäts-Principe des großen Friedrich noch nicht zum Opfer gefallen war; dem Zweiten die Wiederherstellung eines großen Theiles der verbliebenen Burgreste in ihrer früheren Pracht. Denn nur von Resten können wir bei der Marienburg noch reden; denn von dem umfangreichsten, aber freilich auch architektonisch unbedeutendsten der drei Theile des Ordenssitzes, von der Vorburg, ist fast so gut als nichts mehr übrig geblieben, und auch die beiden anderen Theile weder in ihrer Totalität mehr völlig vorhanden, noch das Erhaltene vollständig restaurirt. Gleichwohl ist das Werk der Restauration wohl als vollendet zu betrachten; wie Manches auch noch fehle: was wir sehen, ist groß und genügend, auf die Erhabenheit und Herrlichkeit der Burg in der Zeit ihrer Glanzperiode uns einen Schluß ziehen zu lassen; so daß man wohl den Wunsch zu dem seinigen machen kann, den Preußens kunstsinniger König Friedrich Wilhelm IV. am 20. Juni 1822, damals noch Kronprinz, im neu hergestellten, wieder in alter Pracht erglänzenden, fürstlichen Remter aussprach: „Alles Große und Würdige erstehe wieder, wie dieser Bau!“

Derselbe steht einzig da in seiner Art; nur im fernsten Südwesten unseres Welttheils, da, wo die Sierra Nevada ihre Schneegipfel zum Himmel hebt, findet sich in der weltberühmten Alhambra Granada’s ein der Marienburg analoger, nämlich den kirchlichen mit dem profanen Charakter vereinigender Bau, wobei aber freilich der große Unterschied obwaltet, daß die Alhambra ein Prachtbau im maurischen, die Marienburg ein solcher im gothischen Style ist. Mag der Laie durch den Glanz von modernen Königsschlössern vielleicht mehr bezaubert, mag des Frommen Gemüth in unseren herrlichen Domen tiefer ergriffen werden, – die Prachtburg der Hochmeister hat ihren eigenen Geist; eine tiefe Idee geht durch sie: die Idee der Versöhnung des Irdischen mit dem Himmlischen. –

Gehen wir nun zur Besprechung der einzelnen Theile des Prachtbaues über und beginnen wir hier, wie’s die chronologische Ordnung mit sich bringt, mit dem Hochschlosse. In diesem ältesten Theile der Marienburg waltet der Charakter der mit Einfachkeit gepaarten Stärke vor. Zu einer Zeit erbaut, wo die Herrschaft des Deutschherren-Ordens über das von ihm beanspruchte Land noch keineswegs außer Frage gestellt und selbst in der schon seit Decennien dem Orden gehorchenden Umgegend Marienburgs [86] noch keineswegs die Gefahr eines Aufstandes allzufern lag; erbaut ferner zu dem Zwecke, nicht den Hochmeister und seinen fürstlichen Hofhalt, sondern nur des Hochmeisters Stellvertreter und eine Anzahl wehrhafter, aber einfach lebender Ritter zu beherbergen, ward bei der Hochburg mehr auf Festigkeit, als auf Bequemlichkeit der Einrichtung gesehen; ihre Architektur aber war demungeachtet eine schon von hoher Vollendung zeugende, wie noch jetzt sich deutlich ersehen läßt, wo doch durch den Materialismus einer gewinnsüchtigen Zeit das Hochschloß in ein plumpes Magazin verwandelt und im Inneren und Aeußeren vielfach verunstaltet worden ist.

Wir betreten den geräumigen Burghof, und vor uns liegt im Hintergrunde das imposante Gebäude. Dasselbe bildet ein längliches Viereck von 200 Fuß Länge und 168 Fuß Breite. Das 70 Fuß hohe Haus, ehemals ringsumher mit starken Zinnen und an jeder Ecke mit kleinen viereckigen Thürmchen verziert, erhob sich in vier bis unter das Dach kunstvoll gewölbten Stockwerken und umschließt einen Hof von 102 Fuß Länge und 86 Fuß Breite, in dessen Mitte sich ein tiefer Brunnen befindet. Das Erdgeschoß der Hochburg war früher zur Vertheidigung des Wallganges mit Schießlöchern versehen. Auf den inneren Seiten der Burg liefen ehemals durch zwei Geschosse übereinander kunstvoll gewölbte Kreuzgänge herum, auf welche die einzelnen Gemächer ihre Ausgänge hatten. Jetzt ist alle Pracht, die diesen Theil der Marienburg schmückte, längst dahin; wir beschreiben daher hier minder, was jetzt ist, als vielmehr, was einst war. Da ist es denn zuvörderst der große „Capitelsaal“, welcher unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt. Hier hielt der Landmeister mit seinen Rittern Rath, hier ward auch manches frohe Gelage abgehalten. Derselbe hat eine Länge von 69 und eine Breite von 31 Fuß und ist gegenwärtig in drei Getreide-Schüttböden von je 23 Fuß Länge getheilt. Die Gewölbe waren hier sehr schön, was noch heutigen Tages aus den Kragsteinen zu ersehen ist.

Ein anderer, noch merkwürdigerer und sehenswertherer Bestandteil dieses Theiles der Marienburg ist die Schloßkirche, welche sich der „Hochburg“ an ihrer Ostseite anschließt und im größten Theile ihrer Pracht erhalten worden ist. Treten wir in das „Schiff“ der Kirche, so haben wir den vortheilhaftesten Standpunkt zur Betrachtung ihres herrlichen Gewölbes. Von zehn hohen, reich mit Stuccatur-Verzierungen geschmückten Bogenfenstern erleuchtet, ist der innere Raum gefällig und heiter anzuschauen, nur der Hintergrund ist mehr in ernstes Halbdunkel gehüllt. Ueberall, wohin man blickt, verkündet Kunst und Zierlichkeit die alte Zeit mit ihrem eigenen Geiste. Und an die alte Zeit mahnt’s uns um so mehr, wenn wir erwägen, daß unter dem granitnen Estrich der Kirche die Todtengruft der Hochmeister, die sogenannte „St. Annen-Capelle“, sich befindet. Schon der Eingang derselben bereitet den Eintretenden zu ernster innerer Sammlung vor, wenn er hinsieht auf die bildlichen Darstellungen dieses düsteren, an Tod und Vergänglichkeit mahnenden Inhaltes und auf die sinnigen Blumen und Laubgewinde aus Stuck und Stein, die wie ein Trauerkranz den gewölbten Portaleingang umgeben.

Zwölf Hochmeister – von Dietrich von Altenburg, dem Begründer dieser Fürstengruft (starb 1341), bis Conrad von Erlichshausen (starb 1449) – schlummern hier den ewigen Schlaf. Aber nur drei von den zwölf Grabsteinen haben die Zerstörungen der Zeit und der Menschen überdauert. Der Zufall ist selten gerecht; hier ist er’s einmal gewesen. – Die drei Grabsteine, welche verschont geblieben, sind gerade diejenigen, welche die Gebeine des Gründers dieser Ruhestätte und die der beiden größten Hochmeister bedecken: Dietrich’s von Altenburg, des ritterlichen Heinrich Reuß von Plauen, und vor Allem des großen Winrich von Kniprode, unter dem der Deutschherren-Orden sein goldenes Zeitalter feierte.

In einer hohen Mauernische an der äußeren Ostseite der Kirche steht die 29 Fuß hohe kolossale Bildsäule der heiligen Jungfrau mit dem (8 Fuß hohen) Christuskinde im Arm, in der vorgestreckten Rechten ein vergoldetes Scepter haltend. Sie hat ein faltenreiches goldglänzendes Untergewand an, über diesem einen Purpurmantel und auf dem Haupte eine goldene Krone, von welcher ein weißer Nonnenschleier herabwallt. Das Bild in seinen weit über menschliche Größe hinausgehenden Dimensionen macht einen imponirenden, aber nicht den die Seele zur Andacht hinreißenden Eindruck, den der Anblick von Gemälden oder minder kolossalen Statuen der Himmelskönigin sonst in dem Beschauer hervorruft. Das ganze Bild ist aus Stuck geformt, doch überzogen mit Pasten von farbigem und unten vergoldetem Glase, welche in die frische Stuckmasse kunstvoll eingedrückt worden. Alles daran ist mithin Mosaik, ein Kunstwerk, auf dessen Vorbilder zwar dunkle Nachrichten hindeuten, das aber gegenwärtig in Europa schwerlich noch seines Gleichen hat. An dasselbe knüpfen sich manche Legenden; so namentlich auch die, daß zwei polnische Geschützmeister, die bei der Belagerung des Schlosses durch die Polen und Litthauer, im Jahre 1410, nach einander ihre „Donnerbüchsen“ unter frechem Spott auf das für ein Palladium geachtete Bild der Jungfrau[WS 1] gerichtet, durch ein Wunder ihr Augenlicht verloren, und (wie der Chronist hinzufügt) „blind blieben bis an ihren letzten Tag;“ was insofern eine etwas auffällige Aeußerung ist, als, wie er bemerkt, im zweiten Falle das Geschoß auf der Stelle platzte und seinen Meister, wie Alle, die es bedient, in Stücke zerriß. Dieser zweite Frevler ist also jedenfalls nicht lange blind gewesen.

Gehen wir nun zum zweiten Theile der Marienburg, zum Mittelschlosse, über. Dasselbe, der Wohnsitz des Hochmeisters, nachdem derselbe seine Residenz in das Ordensland verlegt, ward in der ersten Hälfte des 14. Säculums (genau läßt sich die Zeit nicht angeben) erbaut. Es umgibt mit drei Flügeln – einem nördlichen, östlichen und westlichen – einen weiten, fast viereckigen Platz, welcher im Süden offen und von einem Graben begrenzt ist. Von den drei Flügeln – von denen der westliche 306, der östliche 276, der nördliche aber nur 256 Fuß lang ist – betrachten wir diesen letzteren zuerst. Die Nordfaçade, die unser Bild hier zeigt, mit ihren langen Reihen hoher gothischer Fenster und mit stolzen Zinnen geschmückt, imponirt durch ihre Hoheit. An beiden Seiten steigen stattliche Giebel auf, mit gothischen Thürmchen, Bogenblenden und Stuccaturverzierung reich versehen. Davor steht links ein altersgrauer Wartthurm, rechts ein schlanker achteckiger Thurm, über die vielzinnige Schloßmauer sich erhebend. Ueber eine breite Brücke gelangt man in das zum Schloßhof führende Durchgangsthor, dessen Portal ebenfalls mit Zinnen und zwei gothischen Spitzthürmen verziert ist. Zwischen ihnen leuchtet, von der rothen Schloßwand herab, das hochmeisterliche Wappen: ein schwarzes Kreuz mit goldener Einfassung und schwarzem Adler innen, auf grauem Steinschilde. Im oberen Geschosse dieses Schloßflügels befand sich einst das Krankenhaus der Ordensritter (die „Herren-Firmarie“, also genannt zum Unterschied von der „Diener-Firmarie“, welche die kranken Knechte und Reisigen aufnahm, und auf der „Vorburg“ sich befand), sowie die Wohnung des Großcomthurs, eines der vornehmsten Ordensbeamten, aus zwei prachtvollen, von Säulen getragenen Sälen und mehreren anderen Gemächern bestehend. Gegenwärtig dient dieser Flügel des Schlosses zur Unterbringung verschiedener Dikasterien und zu Wohnungen der bei ihnen angestellten Beamten.

Unmittelbar an den nördlichen schließt sich der Ostflügel an. Einen guten Theil desselben nahmen ehemals die „Gastkammern“ ein, welche zur Beherbergung von Gästen, an denen es dem Orden nie fehlte, dienten. Jetzt dient dieser ganze Flügel zu einem Kornmagazin, und nichts ist von seiner ehemaligen Pracht geblieben.

So bleibt denn vom „Mittelschlosse“ nur noch der westliche Flügel, der sich in einer Länge von ca. 150 Schritten an der rechten Seite des Schloßhofes hinzieht, und in dem Obergeschosse seines Haupttheils die ehemalige hochmeisterliche Wohnung, kurzweg die „Residenz“ genannt, enthält, die jetzt in ihrer Herrlichkeit durch die patriotischen Bemühungen von Corporationen, fürstlichen und Privatpersonen wieder hergestellt ist. Dieser Haupttheil dieses Flügels, diese „Residenz“, erstreckt sich von Norden nach Süden in einer Breite von 110, und von Osten nach Westen in einer Länge von 170 Fuß. Auf der Hofseite hat dieses herrliche Gebäude nur eine Höhe von 36 Fuß und liegt hier mit zwei Geschossen 28 Fuß tief in der Erde; die äußere oder Nogat-Seite dagegen erhebt sich von dem Grunde des trockenen Grabens, der es umgibt, bis zu den Zinnen 76 Fuß hoch, und auf dieser Seite liegen die Kellergeschosse über der Erde. Die Seite 85 stehende Abbildung stellt die Marienburg auf dieser Seite dar.

Doch kehren wir zur „Residenz“ zurück. Durch das Gemach des Thorwart, in welches wir vom Schloßhofe schreiten, führt eine breite steinerne Treppe in das obere Prachtgeschoß. Wir gelangen zunächst in den sogenannten „obern Gang“, eine hohe Bogenflur mit mächtig emporstrebenden schlanken Säulen. In der Breite seiner äußeren Mauer geht ein runder Brunnen, aus Stein gemauert, [87] 55 Fuß tief hinab durch alle Stockwerke, so daß man in allen schöpfen kann. Links tritt man in „Meisters großen Remter“, einen Prachtsaal von 45 Fuß Länge und 30 Fuß Breite, in welchem der Hochmeister fremde Fürsten und Gesandte empfing und fürstlich bewirthete. Die helle Beleuchtung des Saales an drei Seiten durch die doppelte dicht über einander befindliche Fensterreihe, die reizende Architektur mit den schlanken Granitpfeilern zwischen den Fenstern, das hohe Gewölbe, getragen von einem einzigen, nur 1 ½ Fuß dicken Granitpfeiler, endlich die freundliche, lachende Aussicht über die Nogat weithin in die ihrer Fruchtbarkeit wegen berühmten Niederungen: Alles dies muß einstens nicht wenig dazu beigetragen haben, zur Lust und Freude zu stimmen in diesem der Lust und Freude geweihten Raume. An eine ernste Episode jedoch mahnt eine über dem mächtigen Kamine eingemauerte Steinkugel.

Es war im Spätsommer des Jahres 1410, wenige Wochen nach der unglücklichen Schlacht bei Tannenberg, welche – eine der bedeutendsten, welche die Weltgeschichte kennt, indem hier mehr denn 200,000 Menschen im blutigen Kampfe einander gegenüberstanden, und fast 80,000 mit ihren Leichnamen die Wahlstatt bedeckten – der Deutschherren-Orden gegen die zwiefache Uebermacht der Polen, Litthauer und Tataren verloren hatte, als des Ordens Hauptfeste, die „Marienburg“, in die der tapfere Comthur, Graf Heinrich Reuß von Plauen, mit 5000 Mann sich geworfen, von 100,000 Polen und Litthauern unter dem Könige Wladislaw Jagello belagert ward. Täglich donnerten die Geschütze des Feindes gegen die gewaltigen Mauern der Burg, und schreckvoll schallte der wilde Kriegsgesang der Barbaren über die Nogat herüber; aber das Häuflein der Ordenskrieger zagte nicht und die Mauern wankten nicht. An eine Aushungerung der wohlverproviantirten Burg war auch nicht zu denken; im Heere des Königs aber brach, baldigen Aufbruch bedingend, die Pest aus, und so beschloß Jagello denn, um nicht unverrichteter Sache abziehen zu müssen, durch Verrath der Burg sich zu bemächtigen, da er sie nicht durch Tapferkeit zu nehmen vermochte. Der Verräther fand sich in der Person eines der Diener Plauens, welcher dem Könige zu wissen that, daß an einem bestimmten Tage, einem Festtage des Ordens, die Gebietiger und Ritter alle im „großen Remter“ mit einander bankettiren würden, und der zugleich durch eine ausgehängte rothe Mütze den Geschützmeistern des Königs, die jenseit der Nogat bereit standen, die Richtung angab, in der sie den das ganze Deckengewölbe des Saales tragenden Pfeiler treffen könnten. Donnernd fuhr zur verabredeten Stunde die gewaltige Steinkugel durch ein Fenster, verfehlte aber ihr Ziel: um wenig mehr als Handbreite ging sie an dem Pfeiler vorüber und schlug in den steinernen Kamin, wo sie, eingemauert zum ewigen Wahrzeichen, noch heutigen Tages zu schauen ist. Der schändliche Plan, mit einem Schlage alle Häupter des Ordens zu vernichten, war somit vereitelt, und den Verräther traf die wohlverdiente Strafe; der Polenkönig aber zog bald darauf spott- und schmachbeladen ab.

Zehn von der königlich preußischen Familie geschenkte Fenster mit prächtiger Glasmalerei, Scenen aus der Geschichte des Ordens und der Marienburg darstellend, erhellen den Saal. Der Fußboden ist mit bunten Thonfließen belegt, und an den Wänden ziehen sich Steinbänke hin, mit rothen Decken verziert. Aus den Mauerblenden aber blinken die ganz neuerdings (1855–56) von renommirten Künstlern al fresco gemalten Bildnisse von zehn Land- und Hochmeistern, an eine große Aera der Weltgeschichte mahnend, auf den Beschauer herab. Verweht ist längst der Staub dieser Helden, doch ihr Name, ihr Gedächtniß ist es nicht!

An die Ostseite dieses Saales stößt „des Meisters kleiner Remter“, wo das herrliche Gewölbe ebenfalls von einem einzigen Pfeiler getragen wird. Hier speiste der Hochmeister mit den höchsten Würdenträgern und den Comthuren, öfter auch mit den Abgeordneten der Städte des Ordenslandes und des eingeborenen Adels. Es ist ein traulicher Raum, dessen Wände ehemals mit den Portraits der hier residirenden Hochmeister geschmückt waren, während jetzt nur noch deren Wappen auf den Fenstern in Glasmalerei prangen. Eine schmale, niedrige Thür führt von hier in „des Meisters Stube“, deren Wände grün und deren Fußboden mit rothen und weißen Fließen schachbretartig ausgelegt ist. Ein sanftes, mildes Licht fällt durch vier hohe Fenster in diesen traulichen Raum, an welchen das etwas größere, aber minder ansprechende „Gemach“ des Meisters stößt. Aus diesem gelangt man in den Flur, und durch eine Vorhalle in „des Meisters Hauscapelle“, die 35 Fuß lang, 19 Fuß breit und 20 Fuß hoch ist. Ein lichtes Sternengewölbe schwebt hier über dem Altar; jeder Bogen aber, jedes Fenster, jede Verzierung stimmt das Herz zur Andacht, wenn man sich erinnert, wie an dieser Stätte weitgebietende Fürsten vor dem König aller Könige, dem Herrn aller Herren ihre Kniee beugten und bei ihm Trost und Rath suchten, wenn Kummer und Sorge ihr Herz beschwerte. Aber auch eine schaurige Erinnerung knüpft sich an dieses Betgemach. An dieser gottgeweihten Stätte ward nämlich – es war am 16. des vorletzten Monats des Jahres 1330 – Werner von Orselen, der siebzehnte in der Reihe der Hochmeister und der dritte der auf der Marienburg residirenden, von Johann v. Endorff, einem tiefgesunkenen Ordensbruder, gräuelvoll ermordet.

Aus der anstoßenden (jetzt waffenleeren) „Rüstkammer“ führt eine steinerne Treppe zu dem 97 Fuß langen, 48 Fuß breiten und 29 Fuß hohen „Conventsremter“, wohl dem herrlichsten unter den Prachtsälen der Marienburg. Andachtsschauer durchrieseln Jeden, der diesen großartigen Raum betritt[WS 2] , den vierzehn hohe Spitzbogen-Fenster, von farbigem Glase und mit sinniger Malerei geziert, erhellen. Die Kunst und Harmonie, die hier herrscht, die schöne Idee, die in diesem Bau sich ausspricht, ist ein glänzendes Zeugniß von hoher Bildung des unbekannten Baumeisters wie des Ordens, und ein Beweis, daß es zur Zeit des Mittelalters doch nicht so traurig um Kunst und Wissenschaft gestanden, und überhaupt nicht so dunkel ausgesehen haben kann, als man gewöhnlich annimmt. In diesem Prunksaal verbrachten die auf der Marienburg wohnenden Ordensbrüder, vom Comthure abwärts, ihre Mußestunden; hier speisten, zechten, plauderten und sangen sie; hier empfingen sie Ankömmlinge aus „dem Reich“, aus Welschland, Dänemark und Frankreich; hier gedachten sie der fernen Heimath; hier sahen sich Freunde nach Jahre langer Trennung wieder, hier schieden Andere für ewig. Von den Fenstern dieses langgestreckten Saales überschaute man den „Herren-Parcham“, den Begräbnißplatz der Ritter. Welch’ eine Fülle von Erinnerungen! Sie werden noch tiefer empfunden, wenn wir auf die hohen, buntgemalten Bogenfenster schauen, welche neuerdings von den Städten Westpreußens in ihrer alten Pracht wieder hergestellt worden sind.

Mit der fragmentarischen Schilderung dieses Prachtsaales enden wir unsere Beschreibung des „Mittelschlosses“, und überhaupt der „Marienburg“, da der dritte Haupttheil derselben, die „Vorburg“, welche einst eine Längenausdehnung von 440 und eine Breite von 296 Schritt hatte, bis auf wenige Mauerüberreste und den „Buttermilchsthurm“ vom Erdboden verschwunden ist.




Blätter und Blüthen.

Literarisches. Von allen Denen, welche das geistige, d. h. das literarische und künstlerische, Eigenthum für ein wirkliches Eigenthum ansehen und auch bei diesem, ebenso wenig als bei andern, keinen Unterschied machen, ob dasselbe einem Landsmanne oder einem Fremden angehört, wurde der Vertrag freudig begrüßt, den Sachsen nebst andern Staaten mit England und später mit Frankreich zum Schutze dieses geistigen Eigenthums abgeschlossen. Eine Folge dieser Verträge ist bereits die bedeutende Abnahme von Uebersetzungen, die sonst den deutschen Büchermarkt überschwemmten, da es nicht mehr Jedem freisteht, ohne Weiteres die Uebersetzung eines Buches herauszugeben, vielmehr die Erlaubniß dazu von dem rechtmäßigen Eigenthümer nachgesucht und wohl auch gekauft werden muß. Wie aber, wenn Jemand ein Werk nicht übersetzt, sondern nur Auszüge daraus gibt? Das ist nicht verboten und läßt sich auch schwerlich verbieten. Es wird in jedem solchen speciellen Fall auf den Umfang des Auszugs ankommen und auf die Art, wie er dem Publicum geboten wird. In Leipzig hat kürzlich eine solche Sache in literarischen und buchhändlerischen Kreisen bedeutendes Aufsehen gemacht. Herr Costenoble nämlich erkauft durch eine ansehnliche Summe das ausschließliche Recht, von Livingstones berühmtem Werke über Afrika eine deutsche Uebersetzung herauszugeben, die unter dem Titel: „Missionsreisen und Forschungen in Süd-Afrika während eines 16jährigen Aufenthaltes im Innern des Continentes“ in 2 Bänden mit Karten und Holzschnitten erschien. Trotzdem gab ein Leipziger Buchhändler Otto Spamer auch ein Werk unter dem Titel: „Dr. David Livingstone, der Missionär, Erforschungsreisen im Innern [88] Afrika’s“, ebenfalls mit Abbildungen heraus. Herr Costenoble, der sich in seinem wohlerworbenen Rechte für verletzt hielt, suchte Schutz bei der Behörde, die zunächst ein Gutachten des Sachverständigen-Vereins einholte. Obwohl nun nach diesem Gutachten die bei Otto Spamer erschienene fragliche Schrift keine Uebersetzung jenes Reisewerkes von Livingstone ist, sondern nur einen kleinen Auszug aus demselben enthält und eine strafbare Verletzung des Verlegers der rechtmäßigen Uebersetzung nicht vorliegt, so schließt dasselbe doch mit folgenden Worten:

„Der Verleger desselben (d. h. des Spamer’schen Buches) hat geflissentlich sich bemüht, seinem Verlagswerke den Schein zu geben, als sei es das, was es nicht ist, eine Ausgabe des Livingstone’schen Reisewerkes. Wir haben schon in unserem ersten Gutachten bei der Besprechung des Titels (der damals nur erst in der Ankündigung auf dem Umschlage zu lesen war, jetzt aber als Haupttitel dem Buche beigegeben ist) hierauf hingedeutet, jetzt aber tritt das gerügte Bestreben noch deutlicher in einer angehängten Buchhändleranzeige Spamer’s hervor. Dieselbe sagt wörtlich: „Unsere Ausgabe dieser denkwürdigen Reisen (im Vorausgehenden ist nur von Livingstone’s Reisen die Rede) in dem so fremdartigen etc. zeichnet sich durch Gedrängtheit des Inhaltes, beispiellos billigen Preis neben vorzüglicher Ausstattung aus.“ O. Spamer gibt also seinem Werke selbst den Schein eines Nachdruckes, in der offenbaren Absicht, dadurch Käufer anzulocken: er täuscht das Publicum, indem er einen höchst dürftigen Auszug für das Werk ausgibt, welches das rechtliche Eigenthum eines Anderen ist; er sucht diesem Anderen zu schaden und schadet ihm um so sicherer, je besser ihm seine Täuschung gelingt, und die wenigsten Käufer das Originalwerk mit dem, welches sich für dessen deutsche „Ausgabe“ ausgibt, zu vergleichen in der Lage sind, so ist kein Zweifel, daß durch die unehrliche Machination O. Spamer’s der im rechtlichen Besitze des Verlagsrechtes von Livingstone’s Reisen stehenden Costenoble’schen Buchbandlung ein beträchtlicher Schaden zugefügt wird. Auch im Interesse der Ehre des deutschen Buchhandels wäre zu wünschen, daß dieser Sorte von Industrie energisch ein Ende gemacht werden könnte.“

Leipzig, den 10. November 1858.

Die erste Section des Sachverständigen-Vereins für literarisches Eigenthum

Friedrich Fleischer, Friedrich Büsau,
Julius Franke, Oswald Marbach,

Leopold Voß.




Noch eine Bitte! Von der Feder eines der achtbarsten Forscher und tüchtigsten Ornithologen war jüngst ein „Schutz den Vögeln“ durch unsre Blätter geboten worden. Es ist kaum glaublich, wie selten noch manche der allernützlichsten und angenehmsten Insectenfresser gefunden werden.

In der Gewißheit, daß manches erwägende Elternpaar, mancher wackere Lehrer diese Zeilen liest, schreiben auch wir noch einmal, um dringlich, so lange es noch Zeit und die Brütezeit noch nicht begonnen hat, auf dies Uebel hinzuweisen und eine andere Quelle der Verminderung nützlicher und belebender Thiere zu beleuchten. Wir meinen den falschen Sammlergeist unserer Jugend.

Es ist richtig, die Sorge und geistige Ausbildung muß uns auch erlauben dürfen, Sammlungen von Naturalien anzulegen. Viel sehen, oft sehen, lange sehen schärft die Beobachtung, und so lange nicht wichtigere Seiten des Menschen darunter leiden, immerhin so sammelt. Turnt Euch wacker an Körper und Geist mit Botanisirtrommel und Fangnetz im Freien aus, ihr Knaben; sammelt Pflanzen, Mineralien, wohl auch Conchylien, und nach Plan und Maß wohl auch Kerfen, um Himmelswillen unterlaßt aber die Eiersammlungen! Hier hört nämlich jeder Nutzen auf. Es gibt in der gesammten Thierkunde kein schwierigeres Capitel äußerer Erscheinungen, als gerade die Bestimmung und Conservirung der Vogeleier selbst für den Specialforscher bietet. Die Bewandertsten der Ornithologen arbeiten noch gar sehr an diesem Capitel – und unsre freilich oft nur renommirenden Jungen von Real- und Bürgerschulen wollten mit Nutzen derartige Sammlungen, die außerdem am zeitraubensten, gefährlichsten und theuersten sind, anlegen? Ein solches Studium fordert ganz andere und zwar die tüchtigsten Grundlagen, Kenntniß des Vogellebens, Vogelbaues, kurz der gesammten Phisiologie, und erfordert darum einen ganzen Mann. Unsere Knaben, denen solcher Blick fehlt, würde es einseitig machen und nur mehr und mehr verwildern lassen. Wirke vielmehr ein Jeder in diesem Sinne mit uns und wecke den Sinn für allseitigen, sinnigen Naturgenuß, die unbefangene Lust am Schauen in unserer Jugend, auf daß das süße Lied der Nachtigallen noch nicht so bald in’s Reich der Sage gehöre.

St.




Schach.

Bei der Uebernahme der Redaction eines von nun ab dem „Schach“ gewidmeten Theiles dieser Zeitschrift verspreche ich den zahlreichen Freunden des edlen Spieles, dauernd eine Auswahl guter Partien und Aufgaben zu Gebote zu stellen und sie von allen wissenswerthen Novitäten der Schachwelt in Kenntniß zu setzen. Ich hoffe, auf die Unterstützung derjenigen deutschen Schachfreunde rechnen zu dürfen, mit denen ich als Redacteur der „Berliner Schachzeitung“ in enger Verbindung gestanden, und bemerke, daß ich alle an mich unter der Adresse der Verlagshandlung zu richtenden Correspondenzen in Schachangelegenheiten theils in der „Gartenlaube“, theils brieflich beantworten werde.

Berlin, im Januar 1859.
Jean Dufresne.
Aufgabe Nr. 1.
Von Anderssen.
Weiß setzt mit dem dritten Zuge matt.

Schwarz.

Weiß.

Partie Nr. 1.

Schachwettkampf in Paris zwischen den Herren Anderssen und Morphy.

Bekanntlich hat Professor Anderssen den Match, den er gegen den amerikanischen Gegner gespielt, mit einer auffallend kleinen Minderzahl von Gewinnpartien verloren. Nach unserer Meinung ist aber der Schluß, daß Anderssen wirklich schwächer als Morphy spiele, aus dem Resultate dieses Kampfes keineswegs mit Sicherheit zu entnehmen, indem theils die Anzahl der gespielten Partien an sich zu gering ist, um einen Maßstab geben zu können, theils auch Morphy den Vortheil einer langen Uebung mit den stärksten europäischen Gegnern vor dem Professor Anderssen, der in Breslau keine Gelegenheit zu ernsteren Schachkämpfen findet, voraus hatte.

Weiß – Morphy.      Schwarz – Anderssen.
1) e 2 – e 4 1) e 7 – e 5.
2) S. g 1 – f 3 2) S. b 8 – c 6.
3) L. g 1 – b 5 3) S. g 8 - f 6.
4) d 2 – d 4 4) S. c 6 – d 4 :[2]
5) S. f 3 – d 4 : 5) e 5 – d 4 :
6) e 4 – e 5 6) c 7 – c, 6.
7) o – o 7) c 6 – b 5 :
8) L. c 1 - g 5 8) L. f 8 – e 7.[3]
9) e 5 - f 6 : 9) L. e 7 – f 6 :
10) T. f 1 – e 1 † 10) K. e 8 – f 8.
11) L. g 5 – f 6 : 11) D. d 8 – f 6 :
12) c 2 – c 3 12) d 7 – d 5.
13) c 3 – d 4 : 13) L. c 8 – e 6.
14) S. b 1 – c 3 14) a 7 – a 6.
15) T. e 1 - e 5 15) T. a 8 – d 8.
16) D. d 1 – b 3 16) D. f 6 – e 7.[4]
17) T. a 1 – e 1 17) g 7 – g 5.
18) D. b 3 - d 1 18) D. e 7 – f 6.
19) T. e 1 - e 3 19) T. h 8 – g 8 Ein grober Fehler:
20) T. e 3 – e 6 : 20) Schwarz gibt die Partie auf, denn auf f 7 – e 6 : folgt T. e 3 – f 3.

Beim Beginne eines neuen Quartals empfehlen wir:

Stimmen der Zeit. Monatsschrift für Politik und Literatur.
Herausgegeben von Adolph Kolatschek.

Inhalt des Januarheftes: Die Grenzen Deutschlands. – Ein deutscher Politiker. Zur Erinnerung an Gustav Diezel. – Literarische Koterien. – Die Vergangenheit und Zukunft der Logik. – Die politische Lage in Hannover. (Schluß,) – Die gegenwärtige Stellung der protestantischen Kirche in Oesterreich. – Die Dinge in Preußen. – Londoner Brief.

Die „Stimmen der Zeit“ erscheinen in monatlichen Heften von 7–8 Bogen und kosten vierteljährlich 2 Thaler.

Gotha, Januar 1859.
Expedition der Stimmen der Zeit.

Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. „Kara“ heißt im Türkischen schwarz, wie crni im Serbischen. Aus Letzterem stammt der in Zeitungen gebräuchliche Name Czerny Georg.
  2. Wir würden hier L. f 8 – e 7 für besser halten.
  3. Staunton zieht hier mit Recht D. d 8 – b 6 vor.
  4. Wenn Weiß nun den Bauer d 5 mit dem Springer nähme, so würde Schwarz diesen durch D. e 7 – d 6 gewinnen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Junfrau
  2. Vorlage: betrittt