Die Gartenlaube (1860)/Heft 13
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No. 13. | 1860. |
Der Kreissecretair maß mit stolzer Würde den jungen Mann. „Er wollte zur gnädigen Frau geführt werden?“
Der junge Mann maß den Kreissecretair mit stolzem Spotte und sagte: „Mein Herr, ist Ihnen vielleicht bekannt, daß in diesem Schlosse heut ein frohes Familienereigniß gefeiert werden soll?“
Der Kreissecretair stutzte doch. „Es ist das keine Amtssache.“
„Aber eine Thatsache, und da Sie von ihr wissen, mein Herr, so wird es Ihnen auch ferner nicht unbekannt sein, daß zu diesem Ereignisse Jemand erwartet wird.“
„Allerdings!“
„Ein junger Mann!“
„So ist es.“
„Lieutenant in der Garde!“
„Er ist Officier.“
„Sein Name ist Fritz von Horst!“
„Bei Gott!“
„Seine Mutter ist eine Jugendfreundin der gnädigen Frau!“
„Auch das ist so.“
„Wohlan, mein Herr, wenn Sie so vertraut mit den Geheimnissen der Familie des Schlosses sind, so werden Sie jetzt auch wissen, was Sie dieser Familie schuldig sind. Darf ich bitten, mich zu der gnädigen Frau zu führen, vorher aber mir diese Fesseln abnehmen zu lassen?“
Der Kreissecretair war verlegen geworden. Der Frau Landräthin hatte er zudem zu gehorchen. Er ließ sie herbitten und unterdeß dem Gefangenen die Fesseln abnehmen. Der Bediente kam mit der Meldung zurück, daß die gnädige Frau in ihrem Zimmer sei.
„Folgen Sie mir,“ sagte der verlegene Kreissecretair zu dem Gefangenen.
„Sie begleiten uns, Gensd’arm,“ befahl der vorsichtige Beamte dem Gensd’armen.
Der junge Mann lachte über die Vorsicht und folgte dem Kreissecretair, selbst gefolgt von dem Gensd’armen. In dem Vorzimmer der Landräthin ließ der Kreissecretair die beiden Anderen zurück und ging allein zu der Dame. Bei dieser war ihre Tochter, und Beide waren erwartungsvoll genug, bis der Kreissecretair ihnen das am wenigsten Erwartete brachte. „Gnädige Frau, der eingefangene Räuber gibt sich für den Herrn von Horst aus.“
„Mein Gott!“ riefen beide Damen.
„Der hier heute erwartet werde.“
„Fritz von Horst?“
„Fritz von Horst, Lieutenant in der Garde, nennt er sich.“
„Der Sohn meiner Jugendfreundin?“
„Und der Verlobte des gnädigen Fräuleins sei er.“
„Der Räuber? Der eingezogene Räuber?“
„Er hat die genaueste Kenntniß aller Familienverhältnisse.“
„Und wie sieht er aus?“
„Er ist ein schöner, eleganter junger Herr.“
„Führen Sie ihn herein,“ rief rasch entschlossen die Dame.
Der Secretair führte den Gefangenen aus dem Vorzimmer herein. Der junge Mann trat mit der vollen Leichtigkeit und dem vollen Anstande eines adeligen Gardelieutenants und mit dem ganzen Respecte vor, den er den Damen, namentlich in einer Situation wie die seinige, schuldig war. „Gnädige Frau,“ begann er, „die eigenthümlichen Umstände, unter denen ich hier eingebracht werde, legen mir die sonderbare Verpflichtung auf, vor allen Dingen mich bei Ihnen zu legitimiren. Darf ich Ihnen dieses Schreiben meiner guten Mutter überreichen? Sie empfiehlt sich herzlich der Freundin ihrer Jugend.“ Mit diesen Worten übergab er der Dame ein Schreiben.
„Von meiner theuren Freundin!“ rief sie, riß das Schreiben auf und las es.
Der junge Mann wandte sich unterdeß an die junge Dame. „Mein gnädiges Fräulein,“ sagte er, „ich wurde in Fesseln hierher geführt, aber kaum bin ich ihrer entledigt, so fühle ich mich in neuen gefangen; diese werde ich stets tragen.“
Das Fräulein suchte nach einer Antwort. Es schien ihr aber auch nicht viel daran gelegen zu sein, als sie keine fand.
Die gnädige Frau hatte den Brief ihrer Freundin gelesen und war gerührt; in ihre Augen schienen Thränen zu treten, und mit dem umflorten Blick sah sie noch einmal den schönen, gewandten, jungen Mann an. Dann flog ein Lächeln des Entzückens durch ihr volles, rothes Gesicht; sie breitete ihre kleinen dicken Arme aus, legte sorgfältig den gelesenen Brief auf einen Tisch und rief: „Ganz die Züge meiner theuren Amalie! Kommen Sie an mein Herz, Ebenbild der geliebten Jugendfreundin!“
Der junge Mann flog in ihre Arme und sie umarmte ihn lange. „Sie sind entlassen, Herr Kreissecretair,“ sagte sie dann vornehm zu dem Beamten, der ihr zu gehorchen hatte. Er gehorchte deshalb auch hier und ging. „Und jetzt,“ rief sie darauf emphatisch, „gehört er Dir, meine glückliche Lucina. – Doch vorher, mein theurer Fritz, welcher Unstern hat Sie verfolgt, daß Sie in solcher Weise hier erscheinen mußten?“
[194] Der junge Mann beugte erröthend sein Haupt und sagte: „Der Leichtsinn, gnädige Frau.“
„Wie liebenswürdig der Leichtsinn das sagt! Aber erzählen Sie.“
„Ich fuhr im Postwagen, und es war schon dunkel, als wir in den Wald fuhren; an der Waldschenke hielt der Postwagen, während vor derselben schon ein anderer Wagen stand, in welchem nur zwei Damen waren, die in der Nacht weiterfahren mußten. Es war soeben Nachricht von einer Räuberbande angekommen, die in der Gegend hause, und darum fürchteten sich die Damen, allein zu reisen. Sie baten mich um meine Begleitung, meinen Schutz, und ich war leichtsinnig genug, den Postwagen zu verlassen und sie zu begleiten.“
„Der liebenswürdige Schelm!“ sagte die gnädige Frau wieder, „edle Ritterlichkeit nennt er Leichtsinn. Und wie zerknirscht er ist!“
„O, gnädige Frau, ich habe Grund dazu; doch wie konnte ich Argloser ein Verbrechen, einen so entsetzlichen Verrath ahnen? In dem Postwagen reiste ein Fremder, von dem bekannt geworden war, daß er zehntausend Thaler bei sich führe. Auf einen Raub dieses Geldes war es abgesehen. Die Räuber waren mit in dem Postwagen selbst, ehrbar, sogar würdig verkleidet genug. Ihr Unternehmen hätte dennoch mißlingen können, es erschien ihnen wenigstens gefährlich, solange ich im Wagen war. Ich führte zwei scharf geladene Doppelpistolen mit mir und mußte entfernt werden. Dazu hatten die Schurken jene beiden Damen ausersehen, die zu ihrer Bande gehörten, und sie erreichten ihren Zweck. Bald nachdem ich den Postwagen verlassen hatte, wurde dieser von ihnen ausgeplündert. Dann kamen sie zu dem Wagen, in dem ich mit den beiden Verrätherinnen war, und zum Lohne sollte auch ich jetzt beraubt werden, allein da erschienen die Gensd’armen. Räuber und Weiber hatten nun die Frechheit, mich gar für ihren Chef auszugeben, ich wurde mit ihnen verhaftet und so kam ich hierher.“
„Umarmen Sie mich noch einmal, edler junger Mann,“ rief die Dame. „Aber,“, sagte sie dann mütterlich, „Sie werden von alle den Strapazen angegriffen sein und sich auszuruhen wünschen.“
„Ich leugne nicht, gnädige Frau, daß ich ermüdet bin.“
Die Dame klingelte, und ein Bedienter erschien. „Johann, führe den Herrn in sein Zimmer, Du kennst es.“
Johann kannte das für den erwarteten Herrn Fritz von Horst bestimmte Zimmer und führte den jungen Mann dahin. „Haben der gnädige Herr noch etwas zu befehlen?“
„Ich wünschte in den nächsten zwei Stunden nicht gestört zu werden.“ Als nun der so befreite Gefangene allein war, sah er sich nach den Fenstern, dann durch diese, die in einen gebüschigen Theil des Parks führten, in dem Gebüsche, und darauf in dem Zimmer und nach einigen darin befindlichen werthvollen Gegenständen um. Sein Gesicht wurde dabei immer zufriedener, und zuletzt hätte er auf einmal vor Freude beinahe laut aufgelacht, als er einen Secretair öffnete, einen Blick hineinwarf und ein reizendes Zettelchen mit noch einem andern Gegenstände hervorzog. „Man muß nur wollen,“ rief er, „dann kommt auch das Glück.“ –
Zehn Minuten später ritten wieder Gensd’armen auf das Schloß zu, welche in ihrer Mitte einen gefesselten Gefangenen führten. Es war ein schöner junger Mann, und trotz der gefesselten Hände ging er stolz und mit seinen lebhaften Augen sah er keck und mit seinem kleinen schwarzen Schnurrbärtchen fast übermüthig zu den Fenstern des Schlosses hinauf, dorthin, wo die Damen sein konnten. Aber er wurde von den Gensd’armen seitab auf das landräthliche Bureau zu dem Kreissecretair geführt. „Herr Kreissecretair, dieser ist der Gefährlichste der Bande, wahrscheinlich der Hauptmann.“
Der Kreissecretair maß ihn mit stolzer Würde. „Hauptmann?“ sprach er; „wir wollen ihn –“
Der Gefangene aber lachte und rief: „Vorläufig nur Lieutenant, Lieutenant von Horst, und –“
In dem ersten Moment war es dem überraschten Kreissecretair, als wenn ihm der Gedankenfluß in seinem Gehirn erstarrt sei, dann begriff er und sagte: „Ah, ah, und auch Er will wohl zu der gnädigen Frau geführt sein?“
„Vorläufig nur bei ihr gemeldet.“
„Als Lieutenant von Horst?“
„So sagte ich.“
„Herr Fritz von Horst?“
„Fritz von Horst.“
„Bei der Garde stehend?“
„Bei der Garde.“
„Sohn der Jugendfreundin der gnädigen Frau?“
„Aber zum Teufel, Herr –“
„Und Verlobter des gnädigen Fräuleins –“
„Lucina, Herr, und nun, zu allen Teufeln, lassen Sie mich melden.“
„Der Herr hat auch wohl ein Legitimationsschreiben bei sich?“
„Alle Teufel, ja, Herr.“
„Der gnädigen Frau Mama zu Hause an die gnädige Frau hier.“
„Lassen Sie mir die Fesseln abnehmen, und Sie werden es sehen.“
„Gensd’arm, nehmen Sie dem Gefangenen die Fesseln ab.“
Der Gensd’arm nahm dem Gefangenen die Fesseln ab.
Der Gefangene suchte in seinen Taschen. Aber er fand nicht, was er suchte. „Der verdammte Spitzbube! Er hat mir meinen Brief gestohlen!“
„Aha!“ lachte der Kreissecretair.
Der Gefangene aber erblaßte. „Verdammter Leichtsinn!“ sagte er, freilich nur zu sich selbst. „Aber sie war so hübsch – die schwarzen Locken – Und wer kann Alles vorher wissen? Allein ist das nicht eben der Leichtsinn?“
Der Kreissecretair hielt es an der Zeit, nicht mehr den Humor walten zu lassen, sondern den hohen Ernst des polizeilichen Inquirenten zu zeigen. „Gefangener,“ hob er mit diesem hohen Ernste an. „Er hat seine Rolle bis jetzt gut gespielt. Ich hoffe, Er gibt jetzt der Wahrheit die Ehre. Denn, sieht Er, wenn Er so frech, wie bisher, nur halb so frech, beim Lügen bleibt, so haben wir hier polizeiliche Mittel genug, den Geist der Lüge gründlich auszutreiben.“ Er warf einen Blick nach einer Seitenwand.
Der junge Mann folgte dem Blicke. Es hing dort ein derber Stock, über dessen Bedeutung kein Zweifel herrschen konnte. Das Gesicht des Kreissecretairs wurde bei dem Hinblicke auf das Instrument zum Austreiben des Lügengeistes ernster und würdiger. Dem Gefangenen wurde doch die Stirn feucht. „Aber, mein Herr,“ sagte er, „lassen Sie mich bei der gnädigen Frau melden. Ich versichere Sie, ich bin der Lieutenant von Horst.“
Er erhielt nur die Antwort: „Aber, mein Freund, sowie Er noch einmal die Worte: „gnädige Frau“ und „Horst“ in den Mund nimmt, so, ich schwöre es Ihm, und ich habe noch nie falsch geschworen, so tanzt jener Stock auf Seinem Rücken.“
Das war eine verzweifelte Situation für den hübschen jungen Mann, dessen Augen nicht mehr keck sahen und dem das kleine schwarze Schnurrbärtchen ordentlich beklommen herunter hing. „Verfluchter Leichtsinn!“ kam es nur unter dem kleinen Barte hervor.
„Also,“ fuhr der Kreissecretair in seinem Verhöre fort, „ermahnt ist Er jetzt zur Genüge. Nun antworte Er. Zuerst, seit wann ist Er mit seiner Bande in dieser Gegend?“
„Aber alle Millionen Teufel –“ brach der Gefangene los.
„Er will nicht antworten? Zehn Hiebe hat Er schon verwirkt. Zum Anfange – Executor!“
„Herr Kreissecretair befehlen?“
„Execution!“
Dem Gefangenen stand der volle Angstschweiß auf der Stirne. Da wurde hastig die Thür des Bureau’s aufgerissen. Die gnädige Frau von Eisenring stürzte in das Zimmer. Ihr volles Gesicht war nicht mehr roth, aber fast bedenklich blaß. „Ist er nicht mehr hier?“ rief sie.
„Wen meinen die gnädige Frau?“
„Himmel, er ist nicht hier! Er war ein Spitzbube! Der Räuber, der Anführer der Bande.“
„Den Anführer der Bande haben wir hier, gnädige Frau!“ versicherte der Kreissecretair.
„Nein, nein, er ist fort. Fort mit meinen fünftausend Thalern. Ich hatte sie so zart zusammengepackt, das reizende Zettelchen dabei; dieses hat der Schurke liegen lassen, aber dafür hat er sogar die silbernen Gardinenhalter mitgenommen.“
„Ein richtiger Dieb nimmt Alles mit,“ bemerkte der Gensd’arm.
Der Kreissecretair aber suchte seine Gebieterin zu trösten. „Gnädige Frau, dieser hier soll uns für Alles aufkommen.“
Die Dame sah auf den Gefangenen. Der Gefangene hatte seinen Muth, seinen Humor und Alles wieder erhalten, was der Anblick des polizeilichen Instruments zum Austreiben des Lügengeistes ihm genommen hatte. Er lachte; er konnte nicht dafür, in [195] diesem Augenblicke wahrhaftig nicht. Er mußte der Dame laut in das Gesicht lachen. Darüber wurde die Dame wüthend. „Wer ist der freche Mensch?“ rief sie.
„Der Anführer der Bande,“ berichtete der Kreissecrelair.
„Der Lieutenant von Horst,“ sagte der Gefangene.
„Noch Einer!“ rief die Dame, und sie wurde noch wüthender.
„Mensch,“ bemerkte mit amtlichem Ernste der Kreissecrelair, „ich hatte Ihm die Prügel zugeschworen, wenn Er den Namen wieder in den Mund nehme, und meinen Schwur muß ich halten.“
Aber hinter der gnädigen Frau war noch Jemand in die Stube getreten. Fräulein Lucina hatte die erboste Mutter wohl nicht verlassen wollen. Schüchtern genug war sie ihr gefolgt. Entschieden, fast eifrig, trat sie jetzt vor. „Nicht doch, mein Herr,“ sagte sie zu dem Kreissecretair. „Mutter,“ fuhr sie zu der gnädigen Frau fort, „Dieser gleicht dem Portrait Deiner Jugendfreundin, das in Deinem Zimmer hängt.“
„Hier lügt Alles!“ rief die Mutter.
„Und seine Hiebe soll er haben,“ rief der Kreissecretair, der nun einmal ein überzeugter Anhänger des Prügelsystems zu sein schien.
Dem jungen Gefangenen aber trat bei der Drohung der Schweiß nicht wieder auf die Stirn; er warf einen Blick der Dankbarkeit, der Freude, des Entzückens – es war wohl noch mehr darin – auf das schöne, junge, in ihrem Eifer hocherröthete Mädchen. Sie sah den Blick. Ihr Gesicht glühte. Sie wollte beschämt zurücktreten. Der junge Mann flog auf sie zu. Er mußte doch wohl der rechte Gardelieutenant Fritz von Horst sein. Die Gensd'armen wollten ihm wehren. Die gnädige Frau wollte entsetzt zurückspringen, vielleicht gar in Ohnmacht fallen. Das junge Mädchen sah ihm in allem ihrem Erröthen mit einer stillen Freude entgegen. Jenen anderen Fritz von Horst hatte sie nicht umarmen wollen. Diesem hätte sie, trotz alledem und alledem, die Arme geöffnet, wenn nicht – plötzlich wieder die Thür sich geöffnet hätte.
Der Executor des Landrathsamtes, der die mit dem ersten Räuber eingelieferten beiden Frauen abgeführt hatte, stürzte leichenblaß herein. „Sie sind fort!“ rief er.
„Wer? Wer ist fort?“
„Die beiden Weiber der Räuber. Ich hatte einen Augenblick die Wachtstube verlassen und als ich zurückkehrte, waren sie nicht mehr da. Sie müssen mit Hexerei fortgekommen sein.“
„Dieser soll uns auch dafür aufkommen,“ versicherte der Kreissecretair.
Von Neuem öffnete sich die Thür. Ein kurzer, dicker Herr mit einem rothen, aufgeworfenen Gesichte trat in die Stube. Aber über der Röthe des Gesichtn lag es blau, und die Aufgeworfenheit sah sehr niedergeschlagen aus.
„Wo haben Sie meine zehntausend Thaler, Amtmann?“ rief ihm die gnädige Frau entgegen.
„Sie sind geraubt, Euer Gnaden,“ antwortete eine jammervolle Stimme.
„Und Sie haben sie nicht wiederbekommen?“
„Was die Räuber einmal haben, Euer Gnaden –“
„Dieser soll uns für Alles aufkommen!“ rief der Kreissecretair.
Da sah der Amtmann den Gefangenen an, und sein rothblaues Gesicht wäre beinahe weiß geworden. „Um Gotteswillen, das sind ja der Herr Lieutenant Fritz von Horst!“
„Um Gotteswillen!“ rief auch die gnädige Frau.
„Sind Sie Ihrer Sache gewiß?“ fragte noch der vorsichtige Kreissecretair.
„Ich bin ja mit dem Herrn Lieutenant gereist, und mit seinem Freunde, dem Herrn Premierlieutenant von Falkenberg.“
Das Gesicht des Kreissecretairs wurde sehr lang. Seinen Schwur konnte er jetzt nicht mehr halten.
Die gnädige Frau aber bekam ihre natürliche Farbe wieder und rief: „Ja, Lucina, Du hast Recht, dieser trägt die edlen Züge meiner theuren Amalie. Kommen Sie an mein Herz, ganzes Ebenbild meiner Jugendfreundin! Ach, und jener hat die fünfzehntausend Thaler!“ Sie umarmte den jungen Mann lange, dann führte sie ihn zu ihrer Tochter. „Umarme auch Du ihn, Lucina.“ Aber das Fräulein wich zurück. „Wie, Lucina?“ fragte die Mutter.
„Ach, Mutter, wenn der Andere der Räuber war, so hat dieser Herr die Rolle gespielt, die jener uns vorspiegelte.“
„Gewiß,“ versicherte eifrig der Lieutenant.
„Und dann hat er auch –“ Das Fräulein zögerte von Neuem erröthend. Aber ein Zorn, wie klein er sein mochte, gewann plötzlich die Oberhand in ihr. „Dann hat er auch von jener leichtfertigen Person sich anlocken lassen, und sie war – ja, sie war sehr schön.“ Der kleine Zorn preßte sogar Thränen aus den schönen Augen.
Der leichtsinnige Lieutenant aber schwamm in Entzücken, er bog ein Knie vor der jungen Dame, ergriff ihre Hand und bedeckte sie mit Küssen. „Es wird nie, nie wieder geschehen!“
„Nie?“, fragte sie, und sie ließ ihm die Hand.
Noch einmal wurde die Thür geöffnet, und der Landrath, Herr von Eisenring, stand auf der Schwelle des landräthlichen Bureau’s. „Ist es erlaubt, einzutreten? Ich sah Alles hierher gehen.“
„Und Du hast die Birnen verlassen können, Adalbert?“ fragte die gnädige Frau.
„Sie sind schon im Keller.“
Mit lebhaftem Antheil verfolgte Frau von R…g das sich steigernde Pointiren und das wiederholte Parolibiegen eines jungen Officiers, die schwindenden Schätze des Rittmeisters, des Einen Glück, des Andern Unglück! – die Kühnheit des Pointeurs, der plötzlich den ganzen Gewinn auf die eine Karte setzte, die ihm zehnfach Glück gebracht, machte sie verstummen; doch der schnelle Verlust seines rasch erworbenen Reichthums entlockte ihr einen leisen Schrei des Mitleids. Man sah sich um und erkannte die schöne Beobachterin. Die ihr am nächsten Stehenden wichen ehrerbietig zurück, unwillkürlich wurde sie gezwungen vorzutreten und in der folgenden Secunde stand sie Herrn von Blücher am Tische gegenüber.
„Ich suchte meinen Mann!“ sagte sie mit jenem bezaubernden Lächeln um sich blickend, das den eifrigsten Spieler mit der eingetretenen Störung aussöhnte.
„Und erschienen für mich als Glücksgöttin!“ sprach der Rittmeister verbindlich, indem er auf seinen wiedergewonnenen Reichthum deutete. Er fuhr nach kurzer Verbeugung gegen sie im Spiele fort. Sie schien wirklich ihm als Schutzengel gegenüber zu stehen, denn das Glück wandte allen Setzenden den Rücken und blieb ihm treu. Die den Spieltisch umgebende Menge lichtete sich, nachdem nicht Wenige stark verloren hatten.
„Pointiren Sie doch einmal!“ rief plötzlich Herr von D** der eifrig zuschauenden Frau zu.
„Hätte ich Geld bei mir, im Augenblick!“ entgegnete sie mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit und blitzenden Augen.
Herr von Blücher schob ihr Gold zu, rief aber zu gleicher Zeit warnend: „Fordern Sie nicht das Geschick heraus, das Sie mit allen Gaben des Glücks überschüttet! Hier kann es Ihnen unmöglich auch hold sein!“
„Wir wollen sehen!“ rief die schöne Frau übermüthig und legte das erhaltene Gold auf eine Karte.
„Wie? so muthig?“ sprach der Rittmeister staunend und zögernd.
„Bitte, legen Sie Ihre Karten aus!“ entgegnete sie in fieberhafter Hast.
Er that es. Sie verlor.
„Borgen Sie mir mehr, Herr von Blücher.“
„Gern! Doch –“
„Bitte, jenes Gold!“
Der Rittmeister erfüllte den mit Ungeduld ausgesprochenen Wunsch der Dame und reichte ihr 400 Louisd’or.
Frau von R…g setzte 200 Louisd’or auf eine andere Karte. Sie verlor, setzte von Neuem 100, verlor abermals, borgte
[196] noch 200 Louisd’or, wagte diese an einen einzigen Wurf – gewann, bog Paroli und gewann wieder.
„Nun hören Sie aber auf, Gnädigste!“ rief der Rittmeister lachend, indem er der todtenblassen, entsetzlich erregten jungen Frau die gewonnenen 600 Louisd’or überreichte.
„Nein, o nein, ich höre nicht auf, ich spiele jetzt weiter!“ rief sie lebhaft und setzte die Hälfte des Goldes auf ein Coeur-Aß.
„Sie sind zu aufgeregt, gnädigste Frau, zu leidenschaftlich!“
„Was thut das?“
„Sie werden verlieren!“
„Weiter nichts?“
„Ist das nicht genug?“
„Nein, ich bin zu reich, um mich ruiniren zu können.“
„Sie sind aber Dame, und – ein Verlust wird Sie ärgern.“
„Wollen wir es abwarten, Herr Rittmeister?“
„Ich stehe zu Befehl, Frau Baronin!“ erwiderte er mit verbindlichem Lächeln.
Das Spiel begann von Neuem, Beide spielten allein. Kein Anderer setzte und alle Umstehenden blickten mit Interesse auf die schöne Frau, die, je länger sie pointirte, immer größere Summen wagte und kaum den Verlust und Gewinn mehr zu unterscheiden schien. Sie gerieth von Moment zu Moment mehr in Leidenschaft. Ihre Augen glühten, ihre Wangen brannten, ihr ganzes Wesen erlitt die auffallendste Veränderung und verrieth eine convulsivische Erregung. Spurlos ging es an ihr vorüber, was sich in ihrer nächsten Nähe ereignete[WS 1]. Sie sah nicht, daß Einzelne den Spieltisch verließen, Andere kamen; sie bemerkte nicht die Anwesenheit ihres Mannes, der sie erstaunt und lächelnd betrachtete und dann leise seinen Rückzug nahm; sie befolgte nicht die Warnungen ihres Gegners, griff nur mechanisch nach dem Golde, das er ihr borgte, setzte, ohne zu zählen, verlor, ohne es zu beachten.
Das Glück, das anfangs wechselnd gewesen, sich bald dem Herrn, bald der Dame zugeneigt hatte, floh im Verlaufe des Spiels die junge Frau vollständig und blieb dem Rittmeister treu.
„Wie viel habe ich jetzt verloren?“ fragte Frau von R…g nach ungefähr einer Stunde und lehnte sich, tief Athem holend, gegen ihren Stuhl zurück.
Man berechnete die Summen. Sie hatte nah an 20,000 Thaler verloren. Ueber ihr jetzt bleiches Gesicht glitt kein Ausdruck der Ueberraschung. Lachend rief sie: „Ihr Geld, Herr von Blücher, hat mir kein Glück gebracht! darf ich einmal mit meinem Eigenthum spielen?“ Sie streifte bei diesen Worten eins ihrer kostbaren Brillantarmbänder ab und legte es auf eine Karte. Der Rittmeister von Blücher widersetzte sich ihrem Vorhaben auf das Entschiedenste. Sie bestand mit Beharrlichkeit auf ihrem Willen. Scherzend entgegnete er: „Ich sagte es Ihnen bereits vorhin, gnädigste Frau, das Glück kann Ihnen im Spiele nicht hold sein, denn es hat Sie zu seinem Lieblinge in der Liebe erwählt. Sie brechen zu viele Herzen, und Solchen bringen die Karten nie Segen!“
„Versuchen wir es noch einmal, Herr von Blücher!“ bat die schöne Frau mit einem Blick, dem der einst so tapfere Krieger nicht zu widerstehen vermochte und vor dem der spätere kühne Held, dessen Losung das „Vorwärts“ war, erbebend zurückwich.
Er nahm den kostbaren Satz an, und die Hand, die in dem Augenblick die Karten umschlug, zitterte leicht.
Dem einen Armbande folgte das andere, das Frau von R…g ebenfalls abstreifte; dann deutete sie auf ihr Collier. Herr von Blücher zögerte. – Noch ein bedeutungsvoller Blick, und er wurde abermals gezwungen. – Dem Collier folgte das Diadem, diesem Knöpfe, Nadeln, Spangen, und nach zehn bis fünfzehn Minuten besaß sie nur noch die Diamanten, die als Thautropfen an den Blumen ihres Kleides glänzten.
„Jetzt ist’s genug!“ sagte sie leise und erhob sich langsam von ihrem Stuhle.
Der Rittmeister sprang lebhaft empor, ergriff die Armbänder und näherte sich der jungen Frau.
„Bis morgen Credit, Herr von Blücher!“ rief sie lebhaft, „dann wird mein Mann den Schmuck einlösen und die übrige Schuld tilgen.“
„Darf ich Sie ergebenst ersuchen, diese Bracelets anzulegen, Frau Baronin?“ entgegnete er verbindlich.
„Nein, nein. Sie bleiben bis morgen in Ihrer Hand. Hier auch das Diadem!“ rief sie noch erregter und löste schnell den Schmuck aus ihrem Haare und legte ihn, ehe er es verhindern konnte, auf die Armbänder.
„Ich bitte!“ flüsterte er leise und sein Auge sah flehend auf die junge Frau. Der Blick verwirrte sie; hastig, scheu, verlegen wich sie zurück; abwehrend streckte sie ihre Hand nach ihm aus, als er ihr mit jenem Blicke folgte, der bis in das tiefste Innere ihres Herzens drang.
„Gnädige Frau!“ rief er dringender.
„Bitte – nein! – Nein, nein, ich kann nicht!“ hauchte sie kaum hörbar.
Das Wesen des Flehenden erlitt eine schnelle und plötzliche Veränderung. In dem leichten üblichen Tone der Conversation sagte er freundlich[WS 2]: „Sie nehmen den Scherz zu ernst, Gnädigste. Ich bitte, betrachten Sie die ganze Sache als eine flüchtige Unterhaltung!“
Frau von R…g blickte fast entsetzt empor. Ueberrascht rief sie: „Wie, Sie wollten Verzicht leisten auf den ganzen Gewinn? – Unmöglich, Herr von Blücher!“
„Warum unmöglich, Frau Baronin?“
„Weil meine Schuld sich jetzt ungefähr auf 40,000 Thaler belaufen wird. Vielleicht noch höher, da die Steine überaus werthvoll sind.“
„Gut, lassen Sie es 50,000 Thaler sein. Das thut nichts zur Sache.“
„Die wollten Sie entbehren?“
„Ein Grund, lebhaft danach zu verlangen, ist nicht vorhanden. Ich werde auch ohne die Summe fertig werden!“ antwortete er stolz.
Es entstand eine kurze Pause. Erwartungsvoll sahen alle Anwesenden dem Ende der seltsamen Scene entgegen.
„Nein, nein, Herr von Blücher, ich kann das großmüthige Anerbieten nicht annehmen. Ich kann nicht so tief in Ihrer Schuld bleiben.“
„Der Gedanke ist Ihnen also unangenehm?“
„Sehr.“
„So. geben Sie mir einen Kuß, und – ewig bleibe ich Ihr Schuldner!“
Ein glühendes Erröthen überflog das marmorbleiche Antlitz der jungen Frau. Mit Blitzesschnelle flogen die Gedanken durch ihre Seele, wer und was sie – wer und was er war! Sie – ein Sprößling eines der ältesten Adelsgeschlechter Westphalens – unermeßlich reich! – Er arm, verabschiedeter Rittmeister – pommerscher Landedelmann und – Spieler! – Sie trat einen Schritt zurück, maß den vor ihr stehenden kühnen Förderer mit einem ihrer kältesten Blicke, warf stolz ihr schönes Haupt zurück und sprach in scharfem, klarem, ruhigem Tone: „Ich danke! – mein Mann wird morgen früh meine Schuld an Sie abtragen.“
Mit der Würde einer Königin schritt sie aus dem Zimmer. Bewundernd folgten ihr Aller Augen, dann wandten sich die Blicke lächelnd zu dem Rittmeister. Er stand mit fest aufeinander gepreßten Lippen, mit finster zusammengezogenen Brauen da, und sein Auge blickte so starr zu Boden, als könne es sich nimmer von dort erheben. Dennoch schaute er im nächsten Moment frisch und fröhlich auf, als sein Gönner, der General von Bischoffswerder, ihm heiter zurief: „Das war eine verlorne Schlacht, lieber Blücher; indessen, ein guter Soldat verzagt nicht so leicht und vertröstet sich stets auf die Zukunft, wo sich ihm die Hoffnung eröffnet, die empfangene Scharte auswetzen und – glückliche Revanche am Feinde nehmen zu können!“
Dreißig Jahre waren vergangen. Blücher hatte sich in diesem Zeitraume durch seinen Muth, seine Kühnheit und Tapferkeit vom einfachen Rittmeister eines Husarenregiments zum Generalfeldmarschall der preußischen Armee emporgeschwungen. – Ihm war jede nur mögliche Auszeichnung zu Theil geworden, und bewundernd wurde sein Name von ganz Europa genannt. Huldigend lag ihm die Welt zu Füßen, als er mit den unverwelklichen Lorbeern des Sieges geschmückt nach dem Friedensabschlusse aus Paris heimkehrte. Seine Reise zur Heimath glich einem Triumphzuge; überall wo der greise Held sich blicken ließ, begrüßte man ihn als den größten Helden seiner Zeit.
Längst hatten die bedeutenden Ereignisse seines vielbewegten ruhmgekrönten Lebens jenes kleine unbedeutende Erlebniß mit Frau von R…g verwischt. Vor den stürmischen Scenen des Kriegs- [197] und Lagerlebens war die Erinnerung an jenes Spiel am Ballabend gewichen, und – vergessen hatte der Held, der Sieger, der Fürst und Feldmarschall die kleine Niederlage, die ihm als zweiundvierzigjährigem verabschiedetem Rittmeister durch eine junge Frau bereitet worden. Das Geschick, das ihm in jeder andern Beziehung günstig gewesen und ihn zu seinem entschiedenen Lieblinge erkoren, es hatte versäumt, ihm jene Gelegenheit zu bieten, mit der damals der General von Bischoffswerder den erregten Mann getröstet und auf die der Gekränkte und Verspottete gehofft. Lange war das Gefühl eine schmerzende Wunde gewesen, endlich hatte sie der Alles beschwichtigende Lauf der Zeit geheilt, und seit vielen Jahren war sie vernarbt.
Der greise Held dachte, als er im Januar des Jahres 1817 nach Berlin kam, nicht daran, daß er dort noch eine Rechnung mit Menschen abzuschließen haben würde. Das Geschäft glaubte er besorgt zu haben, mit der Welt dachte er fertig zu sein. Sein Gewissen sagte ihm, daß er im Leben seine Schuldigkeit gethan, die ihn bewundernde Menschheit fand, daß er Unglaubliches geleistet. Dachte er also daran, mit irgend Etwas Rechnung abschließen zu müssen, so war’s mit dem Himmel, und voller Seelenruhe war er dazu bereit. – Frei und offen, wie er jederzeit in’s Leben geblickt, sah er nun nach oben, und stieg auch hie und da eine kleine Erinnerung in ihm auf, die nach seiner Ansicht den heiligen Petrus hätte zögern lassen können, ihm die Pforten der ewigen Seligkeit zu erschließen, so beruhigte er sich mit dem Gedanken: „Oeffnet er sie Dir nicht, so thust Du es selber, und der alte Blücher, der mit so Vielen fertig geworden, wird auch schon mit dem Petrus zu Stande kommen!“
So verlebte denn Held Blücher froh und unbekümmert die letzten Jahre seiner irdischen Laufbahn. Er erfreute sich einer für sein Alter seltenen Gesundheit. Namentlich der Winter 1817 fand ihn wohlauf und kräftiger, als er sich die Zeit vorher gefühlt. Er bewohnte in Berlin jenes Haus am Pariser Platze, das ihm der König mit dem Bemerken geschenkt hatte, „der Siegesgöttin, deren Liebling er gewesen, und die er mit aus Paris heimgebracht habe, möglichst nahe zu sein.“
Ging Blücher auch selbst nicht mehr viel in Gesellschaft, so liebte er es doch, Leute bei sich zu sehen, und seine Freunde führten häufig Fremde bei ihm ein, die nach der Ehre strebten, im gastlichen Hause des Siegers von Waterloo aufgenommen zu werden.
Unter diesen fremden Gästen begegnete des Fürsten Auge eines Abends einer Gestalt, die ihm sofort bekannt erschien und in der er, trotz des langen Zwischenraumes vieler Jahre, jene schöne Frau von R…g wiedererkannte, die damals alle Herzen entzündet und auch das seinige – wenigstens auf Stunden – zum schnelleren, heftigeren Schlagen gebracht.
Die Wiedererkennung würde vielleicht nicht so schnell erfolgt sein, wenn nicht zwei Dinge wesentlich zu ihrer Erleichterung beigetragen hätten. Die hohe, edle Stirn der überaus stattlich aussehenden Dame schmückte nämlich ein Brillantdiadem von so antiker, seltsamer Fassung, daß, wer es einmal erblickt, nicht so leicht vergaß, es gesehen zu haben. Außerdem war das schwarze Sammetkleid, das sie trug, reich mit Diamanten verziert, die auch wie das Diadem den Stempel trugen, einem Familienschmucke zu entstammen, wie er nur noch in alten angesehenen Adelshäusern anzutreffen ist. Dieses kostbare Diadem, diese antiken Armspangen, das herrliche Collier – – Alles war einmal, wenn auch nur während weniger Stunden, des Fürsten Eigenthum gewesen, und der Feldmarschall entsann sich, was er als Rittmeister besessen! – – –
Ein ebenso schnell und gut wirkendes Erkennungszeichen war die zur Seite der ältern Dame stehende schlanke, jugendliche Erscheinung. Sie war das verkörperte Ebenbild ihrer entschwundenen Jugendzeit, und in lieblicher Anmuth waren in diesem zarten, feinen Antlitz all die edlen schönen Züge der einst so blendenden Mutter wiedergegeben.
„Frau von R…g! – Wie freue ich mich, Sie wiederzusehen!“ rief der Fürst, freundlich und ohne Groll derjenigen die Hand reichend, die ihn einst so schnöde behandelt.
„Ist’s möglich, Durchlaucht erkennen mich wieder?“ entgegnete die Freifrau, auf’s Aeußerste geschmeichelt, und ein Lächeln stolzen Triumphes umspielte die etwas eingesunkenen Züge des Mundes.
„Das kann Sie, die Sie die ewige Jugend zu besitzen scheinen, doch unmöglich in Erstaunen versetzen, gnädigste Frau.“
„Doch, doch, Durchlaucht, denn es sind länger als –“ Frau von R…g stockte. Sie konnte sich nicht entschließen, den ihr so widerwärtigen Zeitraum von dreißig Jahren anzugeben. Voll Gewandtheit sich zu helfen wissend, setzte sie schnell, hinzu: „Es sind viele Jahre seitdem vergangen, wo ich das Glück hatte, Ew. Durchlaucht zusehen!“
„Ich fühlte stets schmerzlich diesen langen Zeitraum, Gnädigste; doch – in diesem Augenblicke machte Ihre noch immer so blendende Schönheit mich die Reihe der Jahre vergessen.“
Die Straußfedern am Toque der stattlichen Freifrau wiegten sich anmuthig, als sie wohlfällig ihr etwas taubes Ohr den galanten Worten des Fürsten lieh. Ihr Lächeln verschwand aber, als er sie bald über ihre schöne Tochter vergaß, mit der er heiter plauderte und neckend scherzte. Nie fühlte sie es noch so scharf und bitter, welch gefährliche Nebenbuhlerin sie an ihrem reizenden Kinde besaß! – Ihre Stirne legte sich in schwere Falten, ernst und strenge, kalt und unerbittlich wurden ihre Züge, als sie sich, nachdem der Fürst gegangen, zu ihrer Tochter wandte und tadelnd sprach: „Du verstehst es noch immer nicht, Dich zu benehmen, bist stets zu laut, lachst zu viel, hast keine Manier, keinen Anstand! – Gehe daher im Augenblick zu Deinem Vater und laß Dich von ihm nach Hause geleiten, wo Du über Dich nachdenken magst!“
Die junge Schöne neigte demüthig ihr liebliches Köpfchen, wagte dann mit zitternder Stimme eine Entschuldigung, eine Bitte; doch die gestrenge Mutter beseitigte kurz jeden Einwand, und die reizende Tochter verschwand aus dem Salon des Fürsten, wo Frau von R…g allein zu herrschen beabsichtigte.
Daß der Feldmarschall der Neigung des Rittmeisters treu geblieben, zeigte Frau von R…g der sehr bald arrangirte Spieltisch. Auch sie hatte nie wieder der Leidenschaft entsagen können, die sie dreißig Jahre zuvor plötzlich mit Allgewalt erfaßt hatte. Im weitern Verlauf des Abends spielten der Fürst und die Freifrau wieder allein, denn jeder der übrigen Mitspieler war scheu vor den bedeutenden Summen zurückgewichen, um welche sie spielten.
[198] Plötzlich erinnerten sich Einzelne der Anwesenden an jene Spielscene vor dreißig Jahren auf dem Balle. Diejenigen, die damals zugegen gewesen, erzählten sie den Andern; und als man lachend des Endes erwähnte, das sie genommen, und von jenem verschmähten Kusse sprach, erreichten einzelne der Worte das Ohr des Fürsten. Der Gedanke an jene Niederlage färbte sein Gesicht mit dunkler Röthe, und mit scharfem Blicke musterte er seine Gegnerin, die wieder wie einst über dem Spiel völlig ihre Umgebung vergaß.
Dan Glück, das Frau von R…g vor dreißig Jahren am grünen Tische so gänzlich geflohen, schien ihr an diesem Abende zu lächeln. Sie gewann fortgesetzt die höchsten Summen und stand nach Ablauf einer Stunde vermöge ihres gewagten Pointirens auf dreißigtausend und mehrere hundert Thaler.
Die Summe genügte ihr noch nicht. Sie wollte ihren ganzen damaligen Verlust ersetzt haben! – –
Daß sich das Glück nicht zwingen läßt, bewährte sich auch bei ihr in auffallender Weise. Es verließ die von ihm Begünstigte, als es gefesselt werden sollte. Frau von R…g fing an zu verlieren, und der Verlust machte sie noch leidenschaftlicher, als das Glück. Nun wollte sie erhaschen, was sich ihr entzog; aber immer weiter floh es von der, welche es mit krampfhafter Hast zu erreichen strebte.
Frau von R…g kam erst zur Besinnung, als sie den Fürsten um neue Summen anging und er, um sie aus dem Taumel blinder Leidenschaft zu reißen, scherzend fragte: „Wollen Sie Ihren Verlust bis zu der damaligen Größe treiben, Gnädigste?“
„Nein, o nein!“ rief sie entsetzt aufspringend, und hastig fügte sie hinzu: „Wie hoch beläuft sich meine Schuld?“
„Zwanzigtausend Thaler, verehrteste Frau Baronin!“
„Das ist ja furchtbar, schrecklich, gräßlich!“ sprach sie zitternd.
Fürst Blücher mußte unwillkürlich daran denken, mit welcher Seelenruhe sie als junge Frau das Doppelte verloren! –
„Zwanzigtausend Thaler!“ wiederholte sie langsam und bedeckte das bleiche Gesicht mit beiden Händen. Er entfernte die schöne, mit Ringen geschmückte Hand von ihren Augen und entdeckte mit Bestürzung, daß sie weinte.
„Gnädigste Frau!“ sprach er erschrocken und hastig.
Ein Hoffnungsstrahl durchzuckte die Seele der im Laufe der Jahre geizig und geldgierig gewordenen Dame. Sie blickte auf und sah den greisen Helden zärtlich an, dessen edelmüthige Sinnesart sie aus Erfahrung kannte.
Der alte Feldmarschall hielt diesen Liebesblick mehrere Minuten tapfer aus und gerieth nicht in die Versuchung, in welche der junge Rittmeister damals nach flüchtigster Anschauung ihrer glänzenden Augen gebracht worden.
Als die Freifrau sah, daß ihre Blicke nicht mehr die alte Macht besaßen, griff sie zu einem andern Mittel, um den Edelmuth des Fürsten zu erregen. Seufzend sagte sie: „Mein Gott, wie werde ich es nur anfangen, meinen Mann von diesem ungeheuern Verluste in Kenntniß zu setzen?“
„Ungeheuern Verlust, Frau Baronin? – Sie sagten einst, das Doppelte würde Sie nicht zu ärgern vermögen und eine solche Summe könne Sie nicht ruiniren, da Sie sehr reich wären.“
„Ja damals, Durchlaucht! Doch jetzt sind dreißig Jahre vergangen, und die Zeiten sind anders und schlimmer geworden.“
„Wie seltsam klingen diese Worte in Ihrem schönen Munde!“ rief der Fürst lachend.
„Schöner Mund!“ – Das Wort elektrisirte Frau von R…g von Neuem. Mit einem unendlich freundlichen – fast zu süßen Lächeln trat sie dem Fürsten einen Schritt näher und hauchte leise: „Entsinnen Sie sich, lieber Fürst, also noch jenes Abends, wo wir zusammen als junge Leute spielten? – O die köstliche Jugendzeit! –“
„Er wird mir unvergeßlich bleiben, Frau Baronin!“
Das Lächeln Frau von R…g’s sollte immer bezaubernder werden, es gestaltete sich aber etwas fratzenhaft um die eingesunkenen Züge des Mundes.
„Auch mir ist er unvergeßlich, Fürst!“ flüsterte sie zärtlich.
Die schmale, weiße Hand der Freifrau legte sich auf den Arm des Feldmarschalls. Ein feines Lächeln umspielte seine Lippen, und seine Augen, die noch die Kraft besaßen, feurig zu strahlen, blickten nieder auf die zarten, schlanken Finger, die leicht seinen Arm drückten.
„Damals kränkten Sie mich tief, Frau von R…g.“
„O, ich weiß und – tausendfach habe ich es bereut!“
„Wirklich?“
„Ganz gewiß, und glücklich würden Sie mich machen, wenn Sie heute den einst verschmähten Kuß als Tilgung meiner Schuld annähmen!“
„Wie? – Sie wollten –“
„Gewähren, was Sie damals vergeblich wünschten!“
Frau von R…g näherte ihr Antlitz dem des Fürsten. Mit leichter Verbeugung wich er zurück und ernst sagte er: „Die Zeit der Jugend ist sammt ihren Thorheiten vorüber. Bedenken Sie, daß dreißig Jahre seitdem vergangen!“
„Wie? – Sie wollten “
„Verzicht leisten auf ein Glück, das mir einst nicht hold war, Frau Baronin!“
„Und meine Schuld? –“
„Bitte ich unterthänigst auf die Weise abzutragen, die Sie damals für allein passend erachteten.“
Eine fahle Blässe bedeckte das Gesicht Frau von R…gs; dann enteilte sie rasch dem Zimmer, und nichts in ihrem Wesen mahnte in dem Augenblick an die stolze Würde einer beleidigten Königin, mit der sie an jenem Abend den Spieltisch verlassen.
Ein lauter Applaus wurde dem alten Sieger zu Theil, nachdem sich die Thüre hinter der beleidigten Frau geschlossen.
Lächelnd verbeugte sich Blücher gegen die Anwesenden und heiter rief er: „Dies ist einer der glücklichsten Augenblicke meines Lebens und keiner meiner kleinsten Triumphe!“
Ein verschwundenes deutsches Lustschloß und die Vermählungsfeier des alten Fritz.
Ist eingeweiht, nach hundert Jahren klingt
Sein Wert und seine That dem Enkel wieder.“
Eine neue Ordnung hatte das neue Reichsgrundgesetz, der westphälische Friede, in Deutschland eingeführt. Es stand zwar noch ein Kaiser an dessen Spitze, aber dennoch ließ die gesteigerte Macht der unmittelbaren Reichsfürsten es mehr und mehr als einen Staatenbund erscheinen. Die alte, einfache, treuherzige Sitte, womit noch die Väter der Letztern Hof gehalten und wahrhaft patriarchalisch regiert hatten, fand nun keine Statt mehr. Die neue Ordnung erheischte, zum alten Ruhme des Fürstenhauses Pracht und Glanz zu gesellen in bis dahin kaum am Kaiserhofe selbst erhörten Maßen. Und da in diesem Zeitalter unbestritten Frankreich allen andern Staaten vorleuchtete durch verfeinerte Sitten, vervollkommnete Sprache, Institute für Wissenschaft und Künste, ausgezeichnete Dichter und Redner, überhaupt durch hohe Cultur und Gewerbfleiß, so kann es eben nicht verwundern, daß – fast mit alleiniger Ausnahme des preußischen – alle deutschen Höfe und besonders kunstsinnige Fürsten den französischen Sitten nacheiferten, wenn das auch kaum weniger zu beklagen ist, als daß sie zugleich sich mit beugen mußten vor Ludwig des Vierzehnten Macht, seit er die Garantie des westphälischen Friedens übernommen hatte. Zu den kunstsinnigsten, eifrigsten Freunden und Bewunderern des „großen Ludwig“ gehörte der Erbauer des Braunschweiger Versailles Salzdahlum, der unter den Schöngeistern seiner Zeit als Dichter und Romanschriftsteller bekannte Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel. Ein jüngerer Sohn des Herzogs August, des frommen und gelehrten Gründers der berühmten Bibliothek zu Wolfenbüttel, welcher Lessing von 1770 bis 1781 [199] vorstand, gelangte er zur Mitregentschaft, dann nach dem Tode seines Bruders Rudolph August zur Regierung des Herzogthums und damit zu der Gelegenheit, sein einnehmendes, galantes Wesen, seinen ungewöhnlichen Scharfsinn, sowie seinen unbegrenzten Ehrgeiz und seine Prachtliebe als Reichsfürst zur Geltung zu bringen.
Braunschweig verdankt der Kunstliebe dieses für seine Zeit fein gebildeten Herrn, neben dem nachherigen Herzog Karl I., dem Gründer des Carolinums und Beförderer der Landes-Universität Helmstedt, alles Schöne, was es an Kunstschätzen besitzt, sein Salzdahlum ward nicht nur der Ort, wo Lustbarkeiten der Art, wie sie jene Zeit gebar, den Hof ergötzten, es ward auch der Platz, der durch seine mit feinem Geschmack zusammengetragenen Kunst-Sammlungen einen großen Ruf erlangte. Diese Wiege der Kunstschätze Braunschweigs, das Lustschloß Salzdahlum, ward neben dem noch vorhandenen gleichnamigen Dorfe, welches einem erst unlängst eingegangenen Salzwerke seinen Namen verdankt und in einer fruchtbaren Niederung, 11/2 Stunde etwa von Braunschweig, etwas näher der damaligen Residenz Wolfenbüttel gelegen ist, errichtet.
Unter des Herzogs persönlicher Leitung führte Herrmann Korb den Bau aus. Dieser geniale Mann hatte sich vom einfachen Tischler in seines Herrn Umgebung zum Landesbaumeister empor gearbeitet, obgleich er nicht einmal eine Zeichnung anzufertigen, sondern seine Ideen und Entwürfe nur in rohen Umrissen mit Kreide anzudeuten verstand. Mit dem Hofmaler und spätern ersten Gallerie-Inspector Tobias Querfurt sandte ihn der Herzog nach Frankreich, dort wurde das elegante „Marly“ zum Muster genommen. Der Bau begann 1694, leider nur, wie auch Herrenhausen, von Holz, denn die sparsamen Braunschweiger begnügten sich, wie der Frankfurter Tourist von Uffenbach sagt – „allein vor sich zu bauen“ – und nicht wie der große Ludwig für die Nachwelt; dennoch war Salzdahlum ein imposanter, schöner Bau.
Durch zwei geräumige Vorhöfe gelangte man zu dem Hauptgebäude, welches in der Mitte und an den Ecken drei, dazwischen aber zwei Stockwerke hoch war, in den Frontispizen befand sich das braunschweigische Wappen, das Dach war reich mit Statuen geziert. Mittels der großen Haupttreppe, deren Wände al fresco gemalt waren, gelangte man in einen Pracht-Saal, der eine auf korinthischen Säulen ruhende Gallerie hatte; zwischen den Säulen standen Statuen von weißem Marmor, die Decke zierten Fresco-Gemälde. Zu jeder Seite dieses Saals lagen sechs große Gemächer, auf das Prächtigste ausgestattet, die Meubel-Ueberzüge, ja selbst die Tapeten, nach damaliger Mode, zumeist von den fürstlichen Damen mit kunstreicher Hand gestickt. Eins dieser Zimmer war dem bewunderten Ludwig besonders gewidmet, es hieß das französische Zimmer, seine Wände waren mit den Portraits des Königs, Mazarins, Richelieus und Anderer geschmückt. Das „Audienz-Gemach“ hatte sogar eine Gobelintapete, dazu der berühmte Lebrun die Zeichnung gemacht hatte. Den Glanzpunkt des Baues bildete die Gallerie. Sie befand sich in einem rechter Hand an die Colonnaden des zweiten Hofes stoßenden Gebäude, und stand durch einen Pavillon und ein Vorgemach, in welchem sich die Relief-Büsten des Herzogs und seiner Gemahlin über dem Kamin befanden, mit dem Schlosse in Verbindung. Die große Gallerie war 200 Fuß lang, 50 breit und 40 hoch; aus dieser gelangte man in eine zweite, 160 Fuß lange, an deren Ende sich das durch ein vergoldetes Gitter abgesperrte Cabinet befand, worin die jetzt auf dem Braunschweiger Museum befindliche berühmte Majolicen-Sammlung aufgestellt war. Damals schon zierte der größte Theil der die Kunstfreunde jetzt auf dem Museum anziehenden Bilder die Wände dieser Gallerien. Der Katalog führt vortreffliche Bilder von L. Cranach, Alb. Dürer, v. Dyck, Correggio, J. Jordaens, Rubens, Rembrandt, H. Holbein, Steen, v. d. Werff, Veronese, Corravagio, Ravenstein, G. Reni etc. etc. an.
In gleicher Linie mit dem Gallerie-Gebäude, linker Hand an der Colonnade, lag die Orangerie. Sie hatte ein schönes Deckengemälde, in Nieschen, der Fensterreihe gegenüber, standen die kolossalen Bildsäulen der zwölf ersten Kaiser, an beiden Enden des Saales befanden sich elegante Balcone, von denen ab man die Aufstellung der 400 Orangenbäume im Winter übersehen konnte.
Im Eckpavillon des linken Flügels lag die Schloßkirche. Zwölf auf einem römischen Hauptgesims stehende Engel trugen die perspektivisch wie eine Kuppel gemalte Decke, deren Gemälde die Ausgießung des heiligen Geistes darstellte. Die Sitze waren von Nußbaumholz, das Pflaster der Kirche von weißem und schwarzem Marmor. Der Kanzel gegenüber befand sich der fürstliche Stuhl, daneben Anton Ulrichs Betcabinet, die ganz vergoldeten Wände mit Schildereien behangen, welche die sieben Worte Christi am Kreuze veranschaulichten; die Inschriften hatte der Gründer aller dieser Herrlichkeiten selbst verfaßt. Ueber dem Betpulte hing das Bild, welches den oft gemalten schönen alten Herrn gar als Petrus glorificirte. Nach der in der Apostelgeschichte enthaltenen Erweckung der Tabea componirt, steht der Herzog am Sterbebette seiner als Tabea dargestellten Gemahlin, um ihn her seine Kinder und Enkel, darunter aber der Vers:
Tabea schlaft, – der Will’ ist da sie aufzuwecken,
Die Zeugen treten auf die Thaten zu entdecken,
Der nimmer müden Hand nur fehlet Petri Macht,
Sonst wäre was hier schläft schon wieder aufgewacht.
In dieser Kirche ward am 12. Juni 1733 der große König von Preußen mit der Braunschweig-Bevernschen Prinzessin Elisabeth Christine copulirt.
Hinter diesen Gebäuden, an die sich noch Wohnungen für Cavaliere, der Marstall, Küchen, auch ein Oekonomiehof schlossen, dehnte sich dann der große, im französischen Geschmack angelegte Garten aus, mit seinen hohen Hecken, schnurgeraden, sonnigen Alleen, Fontainen, Wasserfällen, Grotten etc. Die Haupt-Allee war 800 Fuß lang und zu beiden Seiten mit Statuen der Götter und Helden Roms und Griechenlands besetzt. Bei der spätern Demolirung dieser Anlagen ward die bedeutende Anzahl dieser Figuren der Art verschleudert, daß der größte Theil der Privatgärten um Wolfenbiittel und Braunschweig heute noch, oft in der abenteuerlichsten Zusammenstellung, damit ausgestaltet erscheint. Wenn der Hof in diesem Prachtwege bis zu der den Wasserstrahl fünfzig Fuß hoch werfenden Fontaine seine Staatspromenade hielt, bot derselbe einen imposanten Anblick dar. Zu beiden Seiten befanden sich kleine Seen mit eleganten Gondeln darauf, auch ein aus grünen Hecken gebildetes Theater. Die als Höhepunkte guten Geschmacks und sinnreicher Erfindung von der damaligen Welt angestaunten und gepriesenen Theile des Gartens aber waren „der Parnaß“ und „die Eremitage.“
Ersterer lag, den point de vue vom Schlosse ab bildend, am Ende der großen Allee; anscheinend ein rauher Felsen, barg er aber in seinem Innern elegante, kühle Zimmer, vom Hof in der heißen Jahreszeit besonders gesucht, Wasserfälle stürzten aus dem Felsen hervor und sammelten sich in einem Bassin, in welchem „Latona“ mit ihren Kindern saß, die sie umgebenden Frösche spieen das Wasser abermals als kleine Fontainen in die Höhe. Als Bewohner dieses Berges zeigten sich ferner Apollo, die neun Musen und Minerva, unter ihnen weilte auch die Brunonia, und auf dem Gipfel sprang der vergoldete Pegasus.
Die „Eremitage“ diente einem hölzernen Hieronymus zur Wohnung, der, mit dem Steine in der Hand, um sich wach zu erhalten, in der Kapelle betete, während sein Gesellschafter, der Löwe, aus dem nahen Quell trank. Außer der Kapelle enthielt dieselbe indeß noch einen Saal, dessen Wände mit Scenen aus dem Leben dieses Heiligen al fresco bemalt waren, ein Studirzimmer, Schlafkammer, Küche und einen sorgsam gepflanzten Gemüsegarten, Alles mit einem Comfort ausgestattet, in dessen Genuß der Bewohner hätte sehr angenehm leben können, wenn er nicht von Holz gewesen wäre.
Zu der Aufstellung der schönen Orangerie im Sommer diente der besonders eingehegte, sogenannte „kleine Orangerie-Garten“, mit einem Treibhause, worin man seltene ausländische Gewächse zog. Unter der Regierung Herzog August Wilhelms, Sohnes und Nachfolgers Anton Ulrichs, blühete hier 1720 zum ersten Male eine riesige amerikanische Aloe; die bei dieser Gelegenheit geschlagene Medaille trägt die wohl auf die Kinderlosigkeit August Wilhelms nicht ganz unbezügliche Inschrift:
„Wenn’s auch an Frucht gebricht,
Fehlt’s doch an Blüthen nicht.“
Vielleicht um dem dort herrschenden üppigen Freudenleben ein Gegengewicht zu geben, stiftete Anton Ulrichs fromme Gemahlin, Elisabeth Juliane von Holstein, das Kloster „zur Ehre Gottes“ zu Salzdahlum für zwölf protestantische Jungfrauen, deren Domina eine Adelige sein muß. Seil 1791 ist dies Stift nach Wolfenbüttel verlegt.
Dieses mit so vielem Geschmack ausgestattete Schloß blieb [200] auch, nachdem sein Gründer am 27. März 1714 dort gestorben war, der Hauptfreudenort des Braunschweiger Hofes. Das glänzende Leben wurde fortgesetzt und erreichte besonders unter Herzog Carl I., eine große Ausdehnung, bis sein Sohn, der weise, sparsame Carl Wilhelm Ferdinand, ihm ein Ende machte.
Neben dem Rufe aber, welchen Salzdahlum seiner Gemäldesammlung wegen im Auslande hatte, ist sein Name wohl in weiteren Kreisen am häufigsten als der Ort genannt, wo, wie erwähnt, im Jahre 1733 die Vermählung des damaligen Kronprinzen Friedrich, nachmaligen König Friedrich des Großen, mit der Bevernschen Prinzessin Elisabeth Christine, einer Urenkelin Anton Ulrichs, gefeiert wurde. Am 11. Juni trafen zu diesem Zwecke König Friedrich Wilhelm I. von Preußen, die Königin Sophie Dorothea, der Kronprinz Bräutigam mit einem glänzenden Gefolge, darunter auch die Speciale des Königs, von Grumbkow und Seckendorf, am Hoflager des regierenden Herzogs Ludwig Rudolph zu Salzdahlum ein.
Abends wurden die Festlichkeiten mit einem Schäferspiele auf dem grünen Theater eröffnet; sämmtliche dabei mitwirkende Herren und Damen des Hofes, fünfzig Paare, auch das Musikcorps, waren in Schäfertracht. Drei junge Arkadier, darunter auch Friedrich, erschienen vor einem Hirtenfürsten, um die Hand seiner Tochter zu werben. Der Vater erklärte, er werde sie nur dem geben, welcher am schönsten die Flöte blase. Der Wettstreit der Bewerber begann, ließ aber den Kunstrichter in seinem Urtheil unentschieden. Da rauschten die Büsche, die goldene Lyra erklang, Apoll erschien und erbot sich, den Streit zu entscheiden; abermals ertönten die Flöten, der schöne Gott erklärte Friedrichs seelenvolles Spiel unübertroffen und führte dem Sieger die Braut zu. Fröhlicher Tanz im Freien beschloß diese Vorfeier. An einem die Gärten von Salzdahlum im schönsten Grün zeigenden Frühlingstage, Freitag den 12. Juni, fand, nachdem die Ehepacten im Zimmer der Königin-Mutter vollzogen waren, die Trauung in der Schloßkirche durch Abt Dreyßigmark statt. Von dort begab sich der Hochzeitszug, unter dem das Ereigniß dem Lande verkündenden Kanonen Donner und Trompeten-Schall, in das Audienz-Gemach, wo die gebräuchliche Gratulations-Cour stattfand, dann folgte Tafel und Ball. Sonnabend war Ruhetag. Am Sonntage, früh zehn Uhr, versammelte sich der Hof in der Kirche, wo der berühmte Kirchenhistoriker Lorenz von Mosheim, Abt zu Marienthal und Professor zu Helmstedt, eine „besonders verordnete“ Einsegnungspredigt: „von dem Segen des Herrn auf die Ehen der Gerechten“, hielt. Abends dirigirte der berühmte Componist des „Tod Jesu“, Graun, damals noch fürstlich braunschweigischer Vice-Kapellmeister, seine neue Oper „lo Specchio della fedelta“ – der Spiegel der Treue – der am Montage die Aufführung von Händels „Parthenope“ und die französische Komödie „le Glorieux“ von Destouches folgten. – Am 16. Juni reisete der preußische Hof nach Potsdam ab, wohin am 24. die Braunschweiger Fürstlichkeiten folgten; am 27. hielt Friedrich seinen glänzenden Einzug in Berlin.
Nachdem Salzdahlum hundert und zehn Jahre etwa der glänzende Sammelplatz des braunschweigischen Hofes gewesen war, machte das Unglücksjahr 1806 seiner Pracht ein Ende. Schon der letzte Aufenthalt seines Besitzers war ein tragischer. An der Spitze des bei Jena geschlagenen preußischen Heeres hatte der greise Herzog Carl Wilhelm Ferdinand gestanden, der Erlasser des unglücklichen Manifestes von 1792. Mit der Todeswunde am Haupte, kam er fliehend am 20. October, Mittags ein Uhr, in Saldahlum an. Der mit Wachsleinwand überspannte Tragkorb, in welchem er seiner Wunde wegen transportirt werden mußte, wurde in dem ehemaligen Wohnzimmer seines Vaters Carl niedergesetzt, und nachdem er hier eine Traube aus dem Salzdahlumer Garten genossen, erquickte „den armen blinden Mann“, wie er sich selber nannte, zum letzten Male auf heimathlichem Boden und im eigenen Hause ein vier Stunden langer Schlummer, dann ward die Flucht, ohne die Residenz zu berühren, nach Ottensen fortgesetzt, wo der Held am 10. November starb.
Das Herzogthum ward nun dem neu geschaffenen Königreiche Westphalen einverleibt, und unter einem Regimente, das keine Pietät für das Alte hatte, ging Anton Ulrichs Schöpfung rasch ihrem Verfall entgegen. Am Tage nach seinem glänzenden Einzuge in Braunschweig – am 18. Mai 1808 – kam der junge König Jerome von dort ab auch nach Salzdahlum und durchwanderte die schon verödeten Prachträume. Dann traf Denon ein, um eine Auswahl unter den Kunstschätzen des Schlosses für den Imperator zu treffen und sie als Trophäen nach Paris zu senden; erst mit dem Siegeswagen des Brandenburger Thores zu Berlin kehrte das Geraubte in den rechtmäßigen Besitz zurück.
Die westphälische Commun der alten Welfenstadt Braunschweig hatte dem Könige für den Fall, daß er gelegentlich von Cassel ab dort einspräche, das Residenzschloß ausbauen lassen, und für die daraus entstandenen Kosten schenkte die Majestät derselben huldvoll das wohlfeil erworbene Schloß – zum Abbruch. – Sodann begann im Herbste 1811 die Versteigerung des von Denon Zurückgelassenen; Hunderte von interessanten Portraits wurden damals für einige Groschen das Stück verschleudert, Gleiches geschah mit dem Rococo-Meublement, und die jetzt herrschende moderne Passion, sich Zimmer mit diesem Hausrathe voriger Jahrhunderte auszustatten, hat eben durch die seit der Demolirung des geräumigen Schlosses über das Land zerstreuten Gegenstände der Art nicht unbedeutende Befriedigung aus Braunschweig erhalten. Im Jahre 1812 wurde das also geplünderte Schloß selbst abgebrochen, sein kunstreicher Garten, welcher vielleicht noch jetzt zu den sehenswerthesten Umgebungen der Residenz zählen könnte, ward, in Ackerland verwandelt, der Domaine zugelegt, und wo einst der von den Musen bewohnte Parnaß stand, da zieht jetzt der Pflüger seine Furchen, und im Herbst pfeift der Wind über die Stoppeln, wo sonst Fürsten und Edelfräulein wandelten.
Gar treue Gespielen, wie Kind und Kind,
Wir hatten uns lieb, wir hatten uns gern.
Als ich während meines Aufenthaltes in Charthum einmal meinen Freund und Gönner Latief-Pascha besuchte, zeigte mir dieser eine junge, allerliebste Löwin, von der Größe eines halberwachsenen Pudels, welche er vor Kurzem als Geschenk von einem der „Aschiách“ oder Befehlshaber der ihm untergebenen Araberstämme erhalten hatte. Das Thierchen war im höchsten Grade zahm, sehr liebenswürdig, possierlich und dabei vollkommen an den Menschen gewöhnt, hatte gelernt, diesen als seinen Herrn, Gebieter, Ernährer und Beschützer anzusehen, und ließ sich deshalb alle Unbilden, welche der Mensch seinen ihm untergebenen Hausthieren angedeihen zu lassen pflegt, ohne Murren gefallen. „Bachida“, zu Deutsch die Glückliche, so hatte man die Löwin benannt, spielte nach Art junger Kätzchen dreist und furchtlos mit dem Beherrscher eines ganzen Landes, dessen Befehl Leben gewähren oder Tod bringen konnte, und sprang auf dem ernsten Manne tollkühn mit aller ihr angeborenen anmuthigen Leichtfertigkeit und Dreistigkeit herum, als sei er eben auch nur ein gewöhnliches Menschenkind; und Latief-Pascha hatte seine große Freude an dem zierlichen Geschöpfe.
Ich will nicht leugnen, daß die Löwin augenblicklich auch mein Herz gewonnen hatte; allein ich bedachte im Stillen, wie viel mich ihre Unterhaltung und später ihre Fortschaffung kosten würde, und konnte bei meiner damaligen Armuth den Gedanken nicht in mir aufkommen lassen, das liebenswürdige Wesen mir zur Gesellschafterin zu erwerben. Mein Freund Bauerhorst aber, welcher mich begleitete, kannte solche Bedenken nicht, und da ihn, wie mich, die [201] Liebenswürdigkeit Bachida’s bezaubert hatte, gab es bald für ihn nur einen Wunsch: das Thier sein eigen nennen zu können. Er bestürmte mich fortwährend, meinen „Einfluß beim Pascha“, wie er es nannte, hier geltend zu machen und für ihn die Löwin mir zu erbitten. Ich aber, wohlbewußt dessen, was ich dem großartigen Manne, meinem väterlichen Freunde und Gönner, Alles verdanke, und schon damals ahnend, daß er allein es sein würde, durch dessen Hülfe es mir gelingen könnte, die heimathliche Erde jemals wiederzusehen, ich wollte anfangs nicht recht daran, meinem Beschützer das Gesuch meines Freundes zu unterbreiten, bis mich dieser endlich doch für sich gewann, und ich dem eines Tages besonders gut gelaunten Pascha sagte, seine Löwin habe das Herz meines Freundes gewonnen, und er sei förmlich verliebt in sie. Für einen Türken ist eine solche Aeußerung genug, um den betreffenden Gegenstand sofort als Geschenk anzubieten, und Latief-Pascha war viel zu sehr Türke, als daß er eine solche Artigkeit hätte unterlassen sollen. Kurz nach meiner Heimkehr erschien ein Arnaut mit der Löwin im Arme und der Botschaft im Munde, sein Herr mache sich ein großes Vergnügen daraus, dem Gaste in seinen Landen, seinem Freunde, hiermit diese geringfügige Gabe als Zeichen seiner Achtung zu übersenden. So waren wir in den Besitz des allerliebsten Thieres gelangt, und ich meinerseits fühlte nun auf einmal Wünsche in mir rege werden, vornehmlich aber denjenigen, allein und ausschließlich der Erzieher und Beschützer des jugendlichen Thieres sein zu dürfen. Bauerhorst war damit natürlich vollständig einverstanden, und so erhielt denn ich die Löwin zu ganz besonderer Pflege und Wartung anvertraut. Und ich glaube, diesem Vertrauen keine Schande gemacht zu haben.
Es währte nicht lange, bis das Thier in unserem Gehöfte vollkommen eingewohnt war, obwohl sie sich noch lange Zeit ihres früheren Herren erinnerte. Denn wenn dieser einmal bei unserm Hause vorüberritt, und Bachida zufällig in der Thür stand, unterließ sie es nie, ihn bis zu seinem Palaste, der Hokmodarïe Charthums, zu begleiten, und mußte von dort aus regelmäßig zu uns zurückgebracht werden. Wir ließen die Löwin natürlich frei herumlaufen, wie dies bei allen meinen Thieren, welche sich eines solchen Vorrechts würdig zeigten, zu geschehen pflegte. Sie durchstreifte nach Belieben Haus und Hof, Kammern und Speicher, Stallungen und Schuppen, wenn ich von den verschiedenen Höhlen unseres Hauses überhaupt derartige Unterscheidungen gebrauchen darf; sie ging in den Garten, bestieg zuweilen die niedrigen, platten Dächer der untergeordneten Räume unseres Hauswesens und benahm sich bald mit sehr großer Sicherheit und Zuversichtlichkeit.
Nach kurzer Zeit hatte ich ihre Freundschaft mir zu erwerben gewußt. Bachida liebte mich zärtlich, folgte mir wie ein Hund, liebkoste mich bei jeder Gelegenheit und wurde nur bisweilen lästig, nämlich wenn sie Nachts auf den Einfall kam, mich auf meinem Lager zu besuchen und durch ihre Liebkosungen aufzuwecken. Dann war sie gewöhnlich so leicht nicht wieder wegzubringen und raubte mir in dieser Weise manche Stunde Schlafs.
Sehr bald hatte sie sich die Herrschaft über alles Lebende auf unserem Hofe zu erringen gewußt. Die Affen schnitten entsetzliche Gesichter, wenn sie sich zeigte, oder wurden gänzlich außer Fassung gebracht, wenn sie gar nach ihnen hinsprang, um mit ihnen zu spielen; die Kameele, welche bei uns vorübergingen, machten verzweiflungsvolle Sätze, wenn sie das in ihren Augen furchtbare Wesen gewahrten; und oftmals kam es vor, daß die vorübergehenden Kameele eines Zuges sich plötzlich ihres Gepäckes entledigten, wenn Bachida in einer Mauerluke oder auf der Mauer erschien und mit einigen, nach unsern Begriffen gar nicht entsetzlichen Lauten die Kameele von der Anwesenheit eines so furchtbaren Raubthieres belehrte. Die gute Löwin erntete dann oft Fluchen und Schellen in reichem Maße seitens der Kameeltreiber, obwohl selbstverständlich keiner der Sudahnesen es wagte, sich ihr in böswilliger Absicht zu nähern. Es kam vielmehr bald dahin, daß Jedermann in Charthum die Löwin als den Wächter unseres Hauses betrachtete und fürchtete oder wenigstens achtete; und wir hatten so das Glück, von allem lästigen Gesindel für immer befreit zu sein. Ich muß dabei allerdings im Voraus bemerken, daß die gutgesittele Bachida sich zuweilen Scherze erlaubte, welche den Sudahnesen über den Spaß gingen und sie vollkommen berechtigten, in ihr ein wahres Ungeheuer zu erblicken.
Als sich die Zahl meiner zahmen Thiere nach und nach vermehrte, bekam Bachida Gelegenheit, sich unter ihnen nach Herzenslust zu vergnügen. Sie brachte oft den ganzen Hof in Unordnung, weil sie keines der mit ihr dort lebenden Thiere in Ruhe ließ. Es war dies keineswegs Böswilligkeit von ihrer Seite, sondern blos eine unbegrenzte Lust, die anderen Geschöpfe zu necken und zu foppen. Zu den Antilopen, welche wir hin und wieder bekamen, aber immer nur kurze Zeit am Leben erhielten, durfte sie allerdings nicht gelassen werten, weil diese Thiere bei ihrem Erscheinen verzweiflungsvoll gegen die Wände rannten und sich selbst so beschädigten, daß sie zu Grunde gingen. Dagegen waren die Affen und unsere Raubvögel die beständige Zielscheibe ihres Uebermuthes. So lange sie klein war, ging die Sache; denn Bachida fand in einem allen Pavian einen würdigen Gegner, jedoch nur dann, wenn sie besonders zudringlich wurde. Auch er zitterte bei ihrem Erscheinen und verzog das Maul auf grauenvolle Weise, griff sie aber, wenn sie sich näherte, ohne Weiteres muthvoll mit seinen Händen an und rieb ihr die Ohren dergestalt um den Kopf herum, daß ihr Hören und Sehen vergehen mochte und sie gewöhnlich eiligst das Weite suchen mußte. Mit der Zeit jedoch wurde die Löwin so stark, daß der Pavian ihrer nicht mehr Herr werden konnte und nunmehr, wie sämmtliche Thiere, von ihrem Uebermuthe zu leiden hatte.
Da erhielt ich neuen Zuwachs zu meiner Thiergesellschaft, und zwar einen Marabu. Dieser gewaltige Vogel wurde augenblicklich von der Löwin angegriffen, war sich jedoch des Gewichtes seines furchtbaren Schnabels so bewußt, daß er den Angriff nicht nur ruhig abwartete, sondern auch siegreich zurückschlug. Bachida hatte lange Zeit lauernd und ganz nach Katzenart mit dem Schwanze wedelnd auf dem Boden gelegen und den neuen Ankömmling starr betrachtet, welcher sie seinerseits gar nicht zu beachten schien und ruhig auf und niederstolzirte: jetzt gedachte sie, ihn in ihrer gewöhnlichen Weise zu erschrecken, und machte, als er sich ihr hinreichend genähert hatte, einen gewaltigen Satz nach ihm. Der Vogel erschrak allerdings und sprang hoch in die Höhe, besann sich aber keinen Augenblick lang, sondern schritt muthig mit halbgebreiteten Schwingen auf die verwunderte Löwin zu und versetzte ihr rasch hinter einander mit seinem gewaltigen Keilschnabel mehrere Püffe in so nachdrücklicher Weise, daß er sie wenigstens gründlich überzeugte, hier sei ohne ernsten Kampf kein Sieg zu erringen. Zum ersten Male sahen wir jetzt das sonst so sanfte Thier in Wuth gerathen. Ergrimmt über die erlittene Schmach stürzte sie sich brüllend auf den Vogel, welcher sich inzwischen schon zu einem neuen Angriffe vollkommen vorbereitet hatte. Bachida versuchte, ihn mit den Tatzen anzugreifen; allein der Marabu ließ sie dazu gar nicht kommen, sondern brachte ihr wiederum mit außerordentlicher Schnelligkeit und Sicherheit eine Anzahl von Schnabelhieben bei. Wuthbrüllend antwortete die Löwin und stürzte sich nochmals auf den gefährlichen Gegner; dieser aber, vielleicht ahnend, daß der jetzige Angriff ein entscheidender sein würde, nahm seine ganze Kraft zusammen und bediente den Vierfüßler nochmals so reichlich, daß dieser plötzlich umdrehte und die Flucht ergriff. Schnabelklappernd verfolgte sie der übermüthige Sieger in alle Winkel und Ecken, durch alle Gebäude des Hofes. Bachida wußte schließlich keinen Ausweg mehr und kletterte endlich, bestürzt über dieses Ereigniß, an der Wand eines niedrigen Gebäudes empor. Diese empfangene Lehre vergaß die Löwin allerdings nicht wieder und ließ fortan stets den Storchvogel achtungsvoll in Ruhe, trieb es jedoch mit den anderen Thieren wie früher.
Nur mit einem einzigen ihrer Hofgenossen schien sie in besonderer Freundschaft zu leben. Derselbe war ein muthiger Widder und stets geneigt, einen Strauß mit ihr auszufechten. Es war allerliebst, dem Spielen und Kämpfen dieser Beiden zuzusehen. Sobald sich Bachida dem Widder näherte, erhob sich dieser und stellte sich mit niedergebeugtem Kopfe zum Gefecht. Die Löwin legte sich nieder, sah ihn starr an, und schlich dann entweder an ihn heran, oder sprang mit einem, höchstens zwei Sätzen auf ihn zu. Gewöhnlich bekam sie gleich beim ersten Zusammentreffen mit ihm einen tüchtigen Hornstoß von ihrem Spielgefährten, und schien dann vollkommen befriedigt zu sein; in einzelnen Fällen aber gelang es ihr auch, dem Widder einen Tatzenschlag beizubringen, und dann war sie natürlich übermüthiger, als je. Dieses schöne Verhältniß wurde grausam zerrissen. Bei einem der Zweikämpfe mochte der Widder etwas zu derb zugestoßen und die Löwin erzürnt haben, wenigstens [202] war sie, wie meine Diener mir erzählten, plötzlich wüthend auf denselben losgestürzt und hatte ihm derb mit Tatzenschlägen zugesetzt. Am andern Tage war er todt!
Einen großen Spaß bereitete uns Bachida eines Tages, freilich sehr zum Nachtheile eines Mitbewohners unseres Hauses. Im zweiten Theile unserer Wohnung, in dem sogenannten Harehm oder der Frauenabtheilung desselben, war nämlich ein dicker griechischer Kaufmann eingezogen, welcher uns durch sein eingebildetes Wesen schon vielfach geärgert hatte. Er besaß einen dicken Esel zu seinen Spazier- und Geschäftsritten, welchen wir unserseits als Reitpferd für unsere Paviane zu benutzen pflegten und dadurch den guten Mann bisweilen sehr in Harnisch brachten. Es war während der Regenzeit, als Bachida sich einmal mit diesem Griechen besonders beschäftigte. Halb Charthum und unser Hof war durch die Regengüsse eines Gewitters überschwemmt, und die Löwin machte sich ein Vergnügen daraus, durch Dick und Dünn mit mächtigen Sätzen zu springen und die übrigen Thiere dadurch in Angst zu versetzen. Wir saßen unter der Vorhalle des Hauses, weil wir bei diesem Wetter nicht ausgehen konnten, und erfreuten uns nun an den Sprüngen unseres Lieblings. Da tritt plötzlich durch die Hinterthür eine weiße Gestalt heraus; es ist unser Grieche, in der frischgewaschenen, blendenden Jellabïe, dem talarähnlichen Obergewande aller vornehmen Sudahnesen, welcher sich in diesem sauberen Anzuge zu „seinem Freunde“, dem Pascha, begeben will. Mühsam schleppt er sich durch den Koth, um nach dem Stalle zu gelangen, in welchem sein Reitthier eingesperrt ist. Bachida liegt im dicksten Schmutze und sieht verwundert lange Zeit starr auf diese weiße Gestalt. Plötzlich duckt sie sich platt auf den Boden, nimmt den Griechen fest in’s Auge, macht einen furchtbaren Satz auf ihn und bewirkt dadurch, daß der gute Mann halb ohnmächtig vor Schreck ohne Weiteres die schöne, reingewaschene Jellabïe mit dem Lehmwasser des Hofes übertüncht, bezüglich rückwärts in die Schmutzpfütze stolpert.
Bachida hätte genug an dem bereiteten Schrecken gehabt, hätte der Mann nicht laut zu schreien angefangen. Auf dieses Zeichen hin mußte das neckische Thier seinen Muthwillen fortsetzen. Noch ein zweiter Satz bringt unsern Griechen völlig zum Liegen, und nun sitzt ihm das Ungeheuer mit beifälligem Gebrüll auf dem Leibe, umarmt ihn sehr zärtlich, wälzt ihn dabei aber, da er entrinnen will, dergestalt im Kothe herum, daß von der blendenden Kleidung auch nicht ein handgroßer Flecken mehr rein bleibt. Alle Heiligen fleht er um Hülfe an, allein keiner hilft ihm; endlich wendet er sich an uns, und wir entwinden ihn auch glücklich den Klauen seines Peinigers, welcher ihn natürlich nicht im Geringsten verletzt hatte. Der dicke Herr kam wieder auf seine Beine, allein er begann jetzt so furchtbar zu schimpfen, daß wir ihm die erlittene Unbill als ganz gerechte Strafe von ganzem Herzen gönnten. Er schwor, sich zu rächen und diese Fahrlässigkeit von unserer Seite sofort dem Pascha zu berichten, sobald er nur wieder frisch angezogen sein werde. Nach einer halben Stunde erschien er denn auch wieder, noch immer Wuth schnaubend, und begab sich zum Pascha. Leider aber traf das alte Sprüchwort: „Wer den Schaden hat, darf für den Spott nicht sorgen“, dies Mal auch bei unserm Griechen ein; denn der Pascha war nicht weniger ergötzt über den geistreichen Einfall der Löwin, und Channa Sabuâ hatte das Vergnügen, anstatt der gehofften Rache gegen uns, den Spott und das Gelächter seines Freundes und des Hofstaates zu ernten.
Gegen uns benahm sich Bachida immer sehr liebenswürdig, und nur einmal mußte sie von mir derb gezüchtigt werden, was mir freilich beinahe übel zu stehen gekommen wäre. Bachida hatte meinen Lieblingsaffen anfangs erschreckt, später gemißhandelt, und zuletzt getödtet und gefressen, und ich mußte fürchten, daß sie sich mit der Zeit noch an andere Thiere machen und mir großen Schaden verursachen würde. Ich führte sie also, mit der Peitsche in der Hand, zu den einzigen Ueberbleibseln ihres Schlachtopfers, welche ich noch vorfand, zum Kopfe und Schwanze des Affen, und prügelte sie tüchtig ab. Sie suchte zu entfliehen, wurde jedoch von mir verfolgt und schließlich bin in einen der Räume unseres Gehöftes getrieben. Als sie einsah, daß sie nicht entrinnen konnte, nahm sie plötzlich eine andere Miene an, als früher, und stellte sich mir so herzhaft zur Wehr, daß ich fürchten mußte, von dem zu jener Zeit mehr als halberwachsenen Thiere erheblich verletzt zu werden. Ich bin überzeugt, daß sich die im höchsten Grade erzürnte Löwin sofort auf mich gestürzt haben würde, wenn ich auch nur einen Schritt zurückgewichen wäre, allein gleichwohl lag mir Alles daran, ihr freien Ausweg zu verschaffen. Ohne Unterlaß mit der Peitsche ihr Fell bearbeitend, drückte ich mich auf die Seite, und öffnete so der Löwin den Ausweg, welchen sie auch schleunigst benutzte. Schon nach einer halben Stunde war ihr Zorn verraucht, und sie kam wieder, freundlich, wie immer, gleichsam abbittend, mich liebkosend wie vorher, so daß mich jetzt die ihr ertheilte Strafe fast ebenso schmerzte, als dieselbe sie geschmerzt haben mochte. Das war der einzige Streit, welchen wir Beide jemals mit einander gehabt hatten. Ich wiederhole nochmals, daß Bachida sonst nie sich eine Unart gegen uns erlaubte, oder in irgend einer Weise die Wildheit eines Raubthieres bekundigte.
Meine Armuth zwang mich, zu meiner Rückreise die gefährlichste Straße zu wählen, d. h. ein gerade nach Egypten abgehendes Schiff zu benutzen, auf welchem ich über alle Stromschnellen des Nils hinwegtanzen sollte. Der Thiere wegen, welche wir bei uns führten, war dieser Weg in gewisser Weise den andern Straßen durch die Wüste vorzuziehen, da wir auf ihm niemals Mangel an Wasser verspürten. Auf unserm Boote lebten wir nun in sehr inniger Gemeinschaft mit unserem sämmtlichen Vieh zusammen, und namentlich Bachida war der erklärte Liebling aller Bewohner des Schiffes. Ihre Reinlichkeitsliebe war merkwürdig. Niemals verunreinigte sie ihren Käfig während der Fahrt; sie wartete vielmehr mit Schmerzen des Augenblickes, welcher das Schiff dem Ufer zuführen und ihr die gewohnte Freiheit gewähren sollte. Ihretwegen legten wir gewöhnlich ziemlich entfernt von den Dörfern an, und ließen dann sofort nach der Landung das liebe Thier aus seinem Käfig. Sobald dies geschah, stürzte Bachida eiligst auf’s Land, um sich zu entleeren, was stets an einer verborgenen Stelle und ganz nach Katzenart geschah, indem die Löwin für ihre Losung jedesmal eine Grube scharrte und dieselbe, nachdem sie ausgefüllt worden war, auch regelmäßig wieder mit Erde bedeckte. Nach Beendigung dieses wichtigen Geschäftes wurde sie lustig und übermüthig. Wie ein junges Füllen sprang sie mit mächtigen Sätzen umher, kürzere oder längere Ausflüge machend, kehrte aber immer bald wieder zum Schiffe zurück. Unsere Ankunft bei einem Dorfe brachte in demselben stets die freudigste Aufregung hervor. Alt und Jung strömte herbei, um die Frendjis zu sehen, welche ein ganzes Schiff mit „wilden Thieren“ oder „Söhnen des Waldes “ befrachtet hatten. Gewöhnlich war schon eine halbe Stunde nach unserer Landung das Schiff mit einer so großen Menschenmenge umgeben, daß der Besuch uns zuweilen recht lästig wurde. Dies schien auch Bachida einzusehen, und da sie jedenfalls die gute Absicht hegen mochte, uns solcher Last zu entheben, erlaubte sie sich oft tolle Scherze nach ihrer Art, indem sie plötzlich den Einen oder den Andern durch einen wilden Satz erschreckte, sich hinter Buschwerk oder Felsen auf die Lauer legte und unverhofft brüllend hervorschoß oder andere Streiche vollführte, welche den Muth der guten Dorfbewohner jener Gegenden auf allzuharte Proben stellten. Ich muß hervorheben, daß Bachida hier wirklich mit Verständniß handelte und stets sehr erfreut schien, wenn ihr ein solcher Schreck besonders gelungen war.
Zwei Male ging sie jedoch zu Thätlichkeiten über, welche ich nicht ganz billigen konnte, und daher einschreiten mußte. Das eine Mal war sie vom Nilufer hinauf in ein ärmliches Dorf geklettert und hatte dort die eben heimkehrende Schafheerde nicht nur vollständig zersprengt, sondern sich auch einen Zoll aus ihr erhoben, nämlich ein Lamm ergriffen, jedenfalls in der guten Absicht dasselbe abzuwürgen. Die Dorfbewohner erhoben förmlich ihr Kriegsgeschrei, jenes zitternde, durch unnachahmlichen Zungenschlag und gellende Töne hervorgebrachte, weit hörbare Tonunwesen, welches Goltz mit „wildem Waldvogelgesang in Urwäldern vor der Sündfluth und Einführung eines geläuterten Naturgeschmackes“ vergleicht. Aus allen Hütten hervor stürzten die erregten Bewohner des friedlichen Dorfes mit Waffen allerlei Art, um dem schauderhaften Feinde zu Leibe zu gehen. Die brüllenden Weiber hielten sich allerdings in entsprechender Entfernung, um sicher zu sein, und die muthigen Männer berathschlagten glücklicher Weise noch, wie sie es anfangen möchten, das Ungeheuer in möglichst gefahrloser Weise zu besiegen, als ich ankam und der ganzen Aufregung dadurch ein Ende machte, daß ich, wie weiland Simson, meine Löwin am Kopfe packte, ihr den Rachen aufriß, und das erfaßte [203] Lamm mit einem Fußtritte fortschleuderte. Von der Dorfbewohnerschaft erntete ich allerdings Schmeicheleien und Bewunderung für meine Heldenthat, nicht so aber von Bachida, welche Lust zu haben schien, störrisch zu werden und ihre rechtmäßige Beute unter allen Umständen wiederzuerobern. Um auch sie zu befriedigen, wurde deshalb das ohnehin etwas mitgenommene Lamm für baare sechs Silbergroschen unseres Geldes erhandelt und nach dem Schiffe gebracht, wo es Bachida noch selbigen Abend wohlgemuth verspeiste.
Der zweite Fall war ernster. Wir lagen bei Theben, und Bachida ward der großen Menschenmenge wegen mit ihrer Kette an eine der Säulen des Tempels von Luksor gefesselt. Natürlich sammelten sich außer den stets dort sich findenden neugierigen Reisenden aus aller Herren Ländern auch sämmtliche Dorfbewohner, um „die Tochter Abu Fathmes“, wie die Sudahnesen die weiblichen Löwen nennen, in gehöriger Nähe gefahrlos betrachten zu können. Unter ihnen befand sich ein kleiner zudringlicher Negerknabe, welcher Bachida wohl zu nahe gekommen oder sie gar erzürnt haben mochte; denn plötzlich theilte sich der dichte Kreis, der sie bisher umgeben hatte, unter entsetzlichem Geschrei und Geheul, Verwünschungen, Fluchen und Jammern, und mir wurde schleunigst die Nachricht hinterbracht, daß mein „Scheusal“ soeben einen kleinen Adamssohn erfaßt habe und im Begriff stehe, ihn ohne Umstände zu verschlingen. Es sei zwar nur ein Sclave, allein ich möge bedenken, daß er 1000 Piaster gekostet habe, und ich ihn entschieden bezahlen müsse, wenn die Löwin ihn fressen würde. Daß dieser letztere Satz, nach dortiger Ansicht jedenfalls der wichtigste, auch bei mir seine Wirkung nicht verfehlen würde, schien natürlich, und diese Meinung ward auch vollkommen gerechtfertigt; denn ich stürzte diesmal mehr als eilig zu meiner Freundin, um den gefangenen Buben zu befreien. Bachida spielte mit ihm, wie eine Katze mit der Maus, drehte ihn in ihren Pranken hin und her, beroch ihn, zog ihn zu sich heran, ließ ihn wieder los, um ihn augenblicklich von Neuem zu halten, hatte ihm aber bisher auch nicht das geringste Leib zugefügt und nirgends ihn auch nur geritzt. Meine Ankunft brachte sie augenblicklich zur Besinnung, daß der schwarze Schreihals kein Spielzeug für sie sei; sie ließ denselben fahren, noch ehe ich Miene machte, ihr ihn zu entreißen.
In Egypten wurde der Zudrang der Menge zu unserm Schiffe so arg, daß wir öfters unsere Bachida zur Abwehr benutzen, das heißt, sie am Stricke führend die Leute zurücktreiben mußten. Gewöhnlich half blos dieses Mittel, dann aber auch gründlich. Kein Mensch konnte begreifen, daß ein Löwe in dieser Weise gezähmt werden könne, wie es hier ersichtlich war; Jedermann schien vielmehr zu glauben, ein Opfer des Ungeheuers werden zu müssen, und auch die Zudringlichsten machten sich eiligst auf die Socken, wenn wir mit der Löwin auf sie zukamen.
Während unseres Aufenthaltes in Kairo gab Bachida den „Söhnen der Begnadigten“ mehrere Male ein ganz außergewöhnliches Schauspiel. Um ihr zuweilen den Genuß von freier Luft zu verschaffen, führte ich sie nämlich an der Kette spazieren, und einige Male bin ich mit ihr über die stets von Spaziergängern erfüllte Esbekie gegangen. Man kann sich denken, welche Menschenmenge augenblicklich sich versammelte, um solches nie Gesehene gehörig betrachten zu können. Unter den Ausrufen der vollsten Bewunderung folgte Jeder, welcher uns sah, sodaß unsere Schleppenträger bald zu Hunderten anwuchsen. Ihre Bewunderung schien jedoch vorzugsweise der Löwin, nicht aber meiner Wenigkeit, zu gelten, da ich Ausrufe, wie: „Bewahre uns der Allmächtige vor dem aus seinen Himmeln herausgestürzten Teufel!“ „Behüte uns der Herr vor allem offenbaren Zauber!“ „Gott verdamme diesen Christen!“ und andere öfters zu hören bekam. Gewöhnlich wurde der Zulauf zuletzt so unerträglich, daß ich nach kurzem Spaziergange zurückkehren mußte. Dabei wurde ich aber keineswegs durch die Menge der Zuschauer gehindert; denn wie in Oberegypten machte auch hier Jedermann eiligst Platz, wenn das bewunderte Thier erschien, auf dessen Gutmüthigkeit man sich dennoch nicht ganz verlassen zu können glaubte.
Bauerhorst schenkte die Löwin dem Thiergarten in Berlin, und ich übernahm gern die Begleitung von ihr und einer ganzen Menge anderer Thiere, welche der preußische Generalkonsul Dr. v. P. derselben Anstalt geschenkt hatte, obwohl sich unter den Thieren auch ein erwachsener, männlicher Löwe befand, mit welchem nicht gerade zu scherzen war. Unsere Ueberfahrt von Alexandrien war rasch und glücklich, wenn sich auch die Thiere mit dem finstern Schiffsraume nicht recht befreunden konnten. Selbst Bachida schien sehr mißmüthig und ärgerlich darüber geworden zu sein, obschon ich sie tagtäglich zum großen Ergötzen und Erstaunen der Reisenden auf’s Verdeck heraufholte. Sie mußte dabei eine leiterartige Treppe heraufsteigen, und dies schien ihr stets viel Beschwerde zu verursachen, wurde jedoch nach Katzenart mit vielem Geschick bewerkstelligt. So oft sie auf Deck erschien, war sie artig und liebenswürdig, wie immer; in den dunkeln Schiffsraum kehrte sie aber stets mit großem Verdrusse zurück. Einmal verkannte sie mich gänzlich und ließ ihrem Grolle freien Lauf, als ich an ihrem Käfig vorüberging. Ich wollte sie streicheln, wurde aber von ihr plötzlich so heftig am Arme gepackt, daß ich heute noch die Narben der dabei erlittenen Verletzungen an mir trage. Allerdings war sie außer sich, als ich sie anrief, und sie ihr Unrecht erkannt hatte; ich aber merkte, daß in dieser Lage mit ihr nicht zu spaßen sei. Sogleich nach unserer Ankunft in Triest war sie wieder das liebe gute Thier, wie früher, und als ich sie nach viertägigem Getrenntsein wiedersah, kannte ihre Zärtlichkeit gar keine Grenzen. Es wurde für mich fast gefährlich, zu ihr in den Käfig zu gehen, da sie mich mit Gewalt dort festhalten wollte, und ich jedesmal nur durch List von ihr loskommen konnte. Unser Abschied ging mir sehr nahe, und ich muß offen bekennen, daß ich von Hunderten von Menschen mich getrennt habe, ohne auch nur entfernt so ergriffen worden zu sein, als ich es in jenem Augenblicke war, welcher mich für Jahre von meiner treuen Freundin scheiden sollte. Auch sie schien es zu ahnen, daß wir nun getrennt werden würden; denn sie jammerte fast kläglich, als ich zuletzt von ihr gehen wollte und doch immer noch einmal zu ihr zurückkehren mußte, um sie von Neuem zu liebkosen.
Und in der That vergingen Jahre, ehe ich Bachida wiedersah. Erst zwei Jahre nach meiner Rückkehr aus Afrika kam ich nach Berlin, und meine erste Frage war natürlich nach Bachida. Ich erfuhr zu meiner Freude, daß sie sich wohl befinde, groß und schön geworden sei und ihre alte Liebenswürdigkeit sich noch bewahrt habe. Da trieb es mich denn fast mit Gewalt zu ihr. Ich bedurfte keiner neuen Vorstellung seitens eines Aufwärters, denn ich erkannte meine Löwin auf den ersten Blick wieder. Eine ziemlich zahlreiche Gruppe von Neugierigen stand vor ihrem Käfig, als ich mit einem Freunde mich näherte. Man warnte mich freundlich, nicht zu nahe zum Käfig zu gehen, allein ich glaubte diesmal dieser Warnung nicht zu bedürfen und beruhigte die Besorgten, indem ich sagte, daß ich die Gewalt habe, die Thiere durch den Blick meines Auges zu bändigen, und ihnen gleich beweisen würde, daß es wahr sei. Und wirklich war das höhnische Gelächter einiger Anwesenden, welches die Entgegnung dieser Worte war, zu früh, denn der Erfolg bestätigte das, was ich erwartet hatte. In der völlig veränderten Kleidung, in welcher ich vor Bachida stand, erkannte sie mich augenblicklich zwar nicht, allein beim ersten Worte, welches ich an sie richtete, lauschte sie hoch auf, ihre Augen funkelten, sie legte sich wie zum Sprunge zurecht und lauschte nochmals. Und als ich dann wie in alten Zeiten zu ihr sagte: „Bachida, ja Bachida, Habibti, kef chalak, kef salamtak?“ das heißt, als ich sie begrüßt hatte, wie man eine theure Freundin begrüßt, in der Sprache, in welcher man zur Freundin redet, da war Bachida mit einem Satze an dem Gitter und reichte mir durch dasselbe beide Pranken. Ich gab ihr furchtlos meine Hand, sie zog sie an sich, legte sich nieder und auf den Rücken, wie sie es zu thun pflegte, wenn sie sich recht glücklich fühlte, und ließ sich nun mit der höchsten Befriedigung von meiner Seite streicheln und hätscheln wie in vergangenen Tagen. Es bedurfte einer großen Ueberwindung, um mich wieder von diesem Thiere trennen zu können, und ich nahm noch einmal ebenso traurig Abschied von ihr, als ich ihn in Wien genommen hatte.
Es war der letzte; denn Bachida ist todt.
[204]Die dunkeläug’gen Wüstenkinder trieben
Zusammen ihre Heerden für die Nacht.
Die Zelte wurden abgesteckt; es bogen
Die müden Dromedare ihre Hälse,
Demüthig bittend knieten sie im Sand.
Die Jäger theilten bei dem Lagerfeuer
Die Beute von der Jagd am Tigrisufer,
Und all der bunte Lärm des Abends tönte
Im Schammarlager rings. Die kühle Luft
Flog auf den weichen, thaugetränkten Schwingen
Durch’s blühende Gefilde; und wie nun
Der Schnee der Kurdenberge in dem Strahl
Der Sonne rosig glühte, hob sich ab
Vom safranfarbnen Westen breit und schwarz
Der alte Hügel Nimrod’s. Dunkler wurden
Die blauen Schatten, und die Sterne kamen
Im Purpuräther schwimmend. Allgemach
Entflammten rings die rothen Lagerfeuer.
Die dämmrigen Gestalten schlanker Pferde
Und bärt’ger Reiter huschten an den Zelten
Vorbei mit wirrem Schrein und hast’gen Rufen
Und ungeduld’gem Wiehern. Kinder rannten,
Den Zaum zu halten, während jeder Reiter
Die Lanze in die Erde trieb, sein Roß
Vor seiner Thür zu fesseln. In der Mitte
Stand Schammeriyah – frei von jedem Band –
Das Füll’n der stolzen Kubleh, und dem Scheikh
Viel theurer, als die schönste Odaliske. –
Doch als das Mahl beendigt, heller strahlten
Die Feuer und das Hundebellen schwieg;
Als Schammarjäger mit den Knaben saßen,
Die Waffen reinigend – kam Alimar,
Des Stammes Dichter, dessen Liebeslieder
Noch süßer als Bassora’s Nachtigallen, –
Deß Kampfgesänge schon den Wüstenkindern
Ein halber Kampf – wer kennt nicht Alimar?
Die Männer baten: „Dichter, sing’ von Kubleh!“
Und Knaben legten hin die Messer, baten:
„Sing uns von Kubleh, die wir niemals sahn,
Der schönen Kubleh!“ Und sie drängten sich
Mit glüh’nden Augen um das Lagerfeuer,
Als Alimar im Angesicht der Sterne
Jetzt sang den Wüstenkindern:
„Gott ist groß!
O, Araber, seitdem Mohammed ritt
Aus Yemens Sande und vor Mekka’s Thor
Das Flügelroß bestieg, deß Flammenmähne
Zur Sonne aufschlug, als auf Allahs Ruf
Es den Propheten trug zum hohen Himmel,
War keins gleich Kubleh – Sofuks stolzem Roß.
Nicht die milchweißen Hengste, deren Hufe
Das Feuer schlug aus Bagdad’s Marmorställen,
Die durch den schimmernden Bazar stolzirten,
Am Purpurzaum gelenkt von Raschid’s Hand;
Noch jenes Streitroß von mongol’scher Zucht,
Das durch die halbe Welt trug Tamerlan;
Noch jene flücht’gen Renner, die vor Zeiten
Aus Ormuz brachten schwarze Indier
Zu Persiens Kön’gen – Füllen heil’ger Stuten,
Die sich vermählt den stolzen Wellenrossen!
Wer nannte je im ganzen Wüstenland
Die vielen Thaten Kubleh’s? wer erzählte,
Woher sie kam! wer ihre Ahnen waren?
O Araber, ein Märchen Scherezade’s,
Gehört im Lager, wenn die Lanzenschäfte
Ihr prüft am Abend einer heißen Schlacht,
Ist die Geschichte unsrer schönen Kubleh.
Fern in des Südens Wüste, sagt man sich,
Fand Sofuk sie bei einer hohen Palme.
Es war versiecht der Quell; ihr rastlos Auge
Geröthet – hohl; die schlanken, jungen Glieder
Vom Durst erschlafft. Er hemmte sein Kameel,
Und als es kniete, band er ab den Schlauch;
Und da das Füll’n getrunken, folgt es ihm –
Deshalb durft’ Sofuk nur den Sattel gürten
Um ihren Leib, und mit dem Kopfputz schmücken
Ihr glänzend Haupt, das kein Gebiß ertrug –
Selbst nicht von ihm; sie war so stolz, wie er.
Ihr Wuchs war schlanker in der leichten Anmuth,
Wie einer Bajadere, wenn der Tanz
Den Gürtel lockert und die weißen Knöchel
Hell schimmern aus dem fließenden Gewand;
Stets hob sie hoch den feinen, freien Kopf;
Das Stirnhaar wehte zwischen ihren Ohren,
Den dünnen, hell-durchsicht’gen, seidenweich.
Der Nüstern Bogen, rund und weit gezogen,
Sog ein den Wüstenwind; ihr schöner Hals
Gekrümmt zur Schulter, wie des Adlers Flügel;
Die wunderbaren Linien ihrer Flanken
Und Glieder wie geformt aus weicher Luft
Von Geisterhänden. Wenn der Schlachtruf tönte
Von Zelt zu Zelt, erglänzten ihre Augen
Blutroth, wie ein Rubin – ihr helles Wiehern
Klang wilder, schärfer, als der Speere Klirr’n.
Der Tigris und die Wüste kannten sie;
Trug sie nicht Sofuk vor den Schammarkriegern
Zum Kampfe mit den Gebern, die nicht harrten,
Willkommen ihr zu bieten? Sah der Kurde,
Als wir den frechen Eindringling verjagten,
Nicht ihre Hufspur in der Berge Schnee?
Leicht wie die dunkeläugige Gazelle
Auf steilen Klippen, über jähe Schlünde
Auf Sindjar’s Hügeln überholte sie
Den wilden Esel in der vollen Flucht.
Durch manches Kampfgetümmel stürmte sie
Rauchend von Schweiß und Staub, und fesseltief
Im dicken Blute. Wenn der Feuernebel
Die Sonne roth verhüllte, jagte sie
Her vor der Trombe, bis im Sturm die Mähne
Sich wirbelnd drehte, während die Kameele
Stöhnend und hülflos auf dem Sande lagen.
Der Taurus und Cirkassien kannten sie;
Georgiens Fürsten hörten ihr Gewieher
Vor Tiflis’ Wällen. Auf dem Libanon,
Dem Alten, schirmten sie die heil’gen Cedern,
Als sie mit Sofuk schlief in ihrem Dunkel;
Die Woge Trebizond’s umspülte sie,
Als sie vom Ufer sah das weiße Segel,
Das heim ihn trug von Stambul. Nie,
O Araber, gab es der Kubleh Gleichen.
Und Sofuk liebte sie; sie war ihm mehr,
Als alle seine üpp’gen Odalisken.
Vor seinem Zelte stand sie lange Jahre,
Der Stolz des Stammes. – Endlich starb auch sie, –
Starb, als das Feuer noch in ihren Gliedern,
Starb für das Leben Sofuk’s, den sie liebte.
Die falschen Gebern – Allah’s Fluch auf sie! –
Verlegten einst den Pfad ihm, fern vom Lager,
Und hätten ihn getödtet, wär’ nicht Kubleh
Gesprungen gegen ihre Speere. Sie durchbrechend
Gewann die offne Wüste sie. Verwundet
Trieb sie sich selbst zu sinnverwirr’nder Hast,
Den Wind zur Schnecke machend. Fort und fort
Glitt unter ihr der rothe Sand dahin,
Und hinter ihr zog eine Säule Staubes,
Wie wenn ein Stern von Eblis, abgeschleudert
Von Allahs Hand, fegt mit dem Flammenhaar
Des Dunkels Oede. Fort und fort erhoben
Die nackten Hügel sich – sie kamen – schwanden –
Es färbte jeder flücht’ge Sprung die Nüstern
Mit frischem Blut, bis Brust und Stirne Sofuk’s
Benetzt mit rothem Schaum. Den Schatz zu retten,
Wär’ gern er umgekehrt zum sichern Tod,
Doch Kubleh riß die Zügel wild entzwei.
Zuletzt, als durch den abgehetzten Körper
Die scharfen Schmerzen zuckten – sieh! da zeigten
Sich unsre Zelte, und mit einem Wiehern
Deß jauchzend Uebermaß von Lust
Die Todesqual besiegte, hielt sie an und fiel.
Die Schammarmänner kamen, als sie lag,
Und Sofuk hob ihr Haupt und hielt es fest
An seiner Brust. Ihr trüb’ verglastes Auge
Traf seins – sie zuckte einmal noch und starb.
Da, wie ein Kind, brach Sofuk aus in Thränen,
In glühend heiße Thränen; mit ihm weinte
Der ganze Stamm.
Sie gruben ihr das Grab
An Nimrod’s Wall, wo sie begraben liegt
Bei alten Helden; und seit jener Zeit
Sah niemals man, und wird auch niemals sehen,
O Araber, und stünd’ so viele Monde
Die Welt, als Körner zählt der Wüstensand,
Der schönen Kubleh Gleichen. Gott ist groß!“
[206]
Mit heiliger Rührung betraten sie den vaterländischen Boden nach langer Verbannung und mit Entzücken hörten sie den theueren Laut der Muttersprache. Tausend Herzen schlugen ihnen entgegen; sie waren in Königsberg Zeugen jener großen Begeisterung, deren Andenken uns für immer heilig sein soll, wie sich Männer von Weib und Kind losrissen, um in den blutigen Befreiungskampf zu ziehen, wie Mütter ihre Söhne waffneten und das höchste Opfer brachten; denn „was begeistert das Lied gesungen, jetzt ward es in schöner Wirklichkeit wahr.“ – „Noch bin ich,“ preist der alte Arndt von jener herrlichen Zeit, „dieser Königsberger Tage in der Erinnerung froh, ja ich könnte stolz sein, wenn ich bedenke, wie ich zehnmal und hundertmal mehr, als ich werth war, von den besten Menschen hier auf den Händen, ja nach russischer und altdeutscher Weise fast auf den Köpfen und Schultern und Schilden getragen wurde.“
In solch gehobener Stimmung schrieb Arndt auf Stein’s Veranlassung sein „Wort an die Preußen“, den „Soldatenkatechismus“ und das Büchlein über „Landwehr und Landsturm“, das auf fruchtbaren Boden fiel und die geharnischte Saat der Vaterlandsvertheidiger erwachsen ließ.
Unterdeß hatte Friedrich Wilhelm der Dritte seinen Aufruf an das Volk erlassen, das sich in Breslau um den König sammelte. Dorthin war auch Stein mit seinem treuen Begleiter geeilt, um an der allgemeinen Erhebung Theil zu nehmen. Mit dem Heere der Verbündeten zogen Beide nach Dresden, wo Arndt bei dem Appellationsrath Körner, dem Vater des patriotischen Dichters, eine gastliche Aufnahme fand. Hier traf er auch mit Goethe zusammen, der die allgemeine Begeisterung nicht zu theilen vermochte. „Schüttelt nur,“ rief damals der zaghafte Dichterfürst, „an Eueren Ketten. Ihr werdet sie nicht zerbrechen, der Mann ist Euch zu groß.“
Ihm antwortete der Sänger Arndt mit seinen scharfschneidigen Liedern, welche noch heut im Munde des Volkes leben und damals die Krieger zum Kampf und Tode führten. Vor Allem klang sein herrliches Gedicht: „Was ist des Deutschen Vaterland?“ das Hohelied der deutschen Jugend; hieran schlossen sich die patriotischen Gesänge voll Mark und Kern: „Der Gott, der Eisen wachsen ließ“ – „Sind wir vereint zur guten Stunde“ – „Wer ist der Mann? Wer beten kann“ und die Gedichte zur Feier der todten Helden Scharnhorst und Schill.
Diese Lieder sind und bleiben die heiligen Zeugen einer großen Vergangenheit, entsprungen aus dem hohen Geist jener schönen Tage, in ihrer Wirkung mächtiger als alle Proclamationen der Fürsten und der Diplomaten; sie lebten und leben noch heute in der Brust des deutschen Volkes, die Geisterstimmen der jungen Freiheit und Einheit, welche er fortwährend pries:
Nicht Baiern und nicht Sachsen mehr,
Nicht Oestreich oder Preußen;
Ein Land, ein Volk, ein Herz, ein Heer,
Wir wollen Deutsche heißen;
Als echte deutsche Brüder
Hau’n wir die Feinde nieder,
Die unsre Ehr’ zerreißen. –
Nach der Völkerschlacht bei Leipzig, wo Gottes Strafgericht über Napoleon hereinbrach, verwandelte sich der Sänger wieder in den fernblickenden Volkstribun; in dieser Eigenschaft erließ er jene bedeutende Flugschrift: „Der Rhein, Teutschlands Strom, aber nicht Teutschlands Grenze.“ – Mit überzeugenden Gründen wies er darin nach, daß ohne den Rhein die deutsche Freiheit nicht bestehen kann; denn behält Frankreich den Rhein, so hat es das Uebergewicht über ganz Europa, so ist ihm der Rhein „ein vorgebeugtes Knie, das es, wenn es ihm gefällt, auf Deutschlands Nacken setzen und womit es dasselbe erwürgen kann.“ Ebenso sind dann die Schweiz und Italien von ihm bedroht. Der Rhein ist ein deutscher Fluß und die Lande jenseits des Rheins, Belgien und die Niederlande mit eingeschlossen, sind deutsch.
Leider wurde Arndt’s Stimme auf dem Congresse nicht gehört, so wenig wie seine Wünsche und Ansichten „über künftige ständische Verfassungen in Teutschland“.
Nach geschlossenem Frieden ging Arndt von Berlin nach Köln, wo er in demselben Geiste des besonnenen Fortschritts die Zeitschrift: „Der Wächter“ in drei Bänden herausgab, worin er den eigentlichen Begriff der politischen Freiheit als „die höchste und ausnahmelose Herrschaft des Gesetzes“ auffaßte. Besonders redete er dem Bauernstand, den er von jeher hoch stellte, das Wort in seiner Schutzrede „über Pflege und Erhaltung der Fürsten und Bauern im Sinne einer höheren, d. h. menschlichen Gesetzgebung.“
Im Jahre 1817 ließ er sich, nachdem ihm der Staatskanzler Hardenberg ein Wartegeld bewilligt und die Aussicht auf eine Professur an einer preußischen Universität eröffnet hatte, in dem reizenden Bonn nieder. Hier an den Ufern des deutschen Rheins, aus dessen Wellen die Sagen der Vorzeit rauschen, erwachte in Arndt von Neuem der Geist der Poesie; nachdem er sich von dem wilden Kriegsgetümmel ausgeruht, schrieb er seine lieblichen „Märchen und Jugenderinnerungen“ voll zarter Innigkeit und Gemüth, das Erbtheil seiner milden, liederkundigen Mutter. Zugleich erfaßte ihn die Sehnsucht nach der stillen Häuslichkeit; er hatte in Berlin die Schwester seines Freundes Schleiermacher kennen und lieben gelernt. Diese führte er jetzt, nachdem er eine Anstellung als Professor der neueren Geschichte an der Universität zu Bonn erhalten, in sein Haus, und sie wurde seine „treue, tapfere“ Frau.
Das Glück schien ihm zu lächeln, aber neue Prüfungen brachen bald herein, in denen sich der Mann wie das echte Gold im Feuer bewähren sollte.
Auf die allgemeine Erhebung und Begeisterung folgte eine natürliche Reaction, welche zunächst gegen die Freiheit gerichtet war. Die Fürsten vergaßen nur zu schnell die in der Noth ihren Völkern gegebenen Versprechungen. Einer der Ersten, der sie daran erinnerte, war der unerschrockene Arndt. Im vierten Bande von seinem „Geist der Zeit“ ließ er kühn seine Mahnung erschallen; er zog sich dadurch das Mißfallen der Machthaber und eine Verwarnung des Königs von Preußen zu. Vergebens vertheidigte er sich in einer an den Staatskanzler Hardenberg gerichteten Rechtfertigungsschrift, worin er sich einen alten, treuen, königlich gesinnten Patrioten mit Recht nennen durfte. Er war derselbe geblieben, aber die Ansichten der Regierung hatten sich geändert.
Immer frecher erhob die Partei des Rückschrittes in Preußen, mit einem Kamptz und dem zweideutigen Schmalz an der Spitze, ihr Haupt, schlau die Ermordung Kotzebue’s und das Wartburgfest für ihre Zwecke ausbeutend, die furchtsamen Fürsten und Staatsmänner durch Gespenster schreckend, die besten Patrioten verdächtigend. Die Zeit der Demagogenverfolgungen war gekommen; auch Arndt schien verdächtig, weil er die Sprache der Wahrheit redete. Mitten in der Nacht wurde er von der Polizei überfallen, sein Haus durchsucht, seine Bücher, Papiere und vertrauten Briefe der Freunde und der Familie mit Beschlag belegt, er selbst aber am 10. November 1820 von seinem Amte suspendirt. Im Bewußtsein seiner Unschuld, denn von jeher war er ein Feind aller geheimen Verbindungen, schrieb er tief gekränkt an den Staatskanzler: „Was soll das nichtige und blöde Gefecht gegen die Geister, die durch leibliche Fäuste nicht zu besiegen sind? Was sollen die Streiche gegen das Unvermeidliche und die Banne und Achte gegen das Unsichtbare und Allenthalbene? Wehe uns Allen, wenn, was über der Erde entschieden und geschlichtet werden soll, in den gemeinen Staub des Faustkampfes hinabgerissen wird! Das war von jeher der Weg, aus Wasser Blut zu pressen und fliegenden Sand zu Granitfelsen zu verhärten.“
Aber Hardenberg, von den Intriguen der Reaction umgarnt und selbst in seiner Stellung bedroht, blieb taub für den Ruf der Unschuld und Wahrheit. Gegen Arndt wurde eine eben so quälende, als lächerliche Untersuchung eingeleitet wegen „Theilnahme an burschenschaftlichen Umtrieben“, wobei ihm verschiedene unter seinen Papieren gefundene Randglossen, welche der König selbst über die Einrichtung des Landsturmes verfaßt hatte, zum Verbrechen angerechnet wurden. Zu seiner Rechtfertigung schrieb er „Abgenötigtes Wort aus meiner Sache.“ Zu seiner Vertheidigung drängten sich Männer wie Welker, Mittermaier, Esser, Leist und Ammon, aber der Schmerz über ein solches Verfahren drückte ihn zu Boden. „Ich wäre längst untergegangen,“ schrieb er darüber, „wenn ich mich an der eisernen Mauer eines guten Gewissens nicht hätte aufrecht erhalten können.“
[207] Zwar mußte er wegen gänzlichen Mangels an Beweisen nach anderthalbjährigem Inquiriren frei gesprochen werden, aber zugleich wurde er von seinem Amte ohne jeden Grund suspendirt. Mitten im Vollgefühle seiner Kraft sah er sich zu einer gezwungenen Unthätigkeit verdammt, willkürlich aus seiner ihm lieb gewordenen Stellung als Lehrer herausgerissen und, wenn auch nicht moralisch, so doch polizeilich in seiner bürgerlichen Ehre gekränkt. Dazu kam noch der Tod seines jüngsten Söhnleins, das er außerordentlich geliebt; der sechsjährige Knabe war in den Fluthen des Rheins ertrunken.
Herzzerreißend war seine Klage über die „Zerreißung und Zermürsung“ seiner Kräfte; er verglich sich mit dem Thurme, dem man, so lang er steht, nicht ansieht, wie Sturm, Regen und Schnee seine Fugen und Bänder allmählich gelöst und gelockert haben. Still „wie rostiges Eisen“ saß er in seinem Häuschen vor dem Koblenzer Thore, traurig, aber nicht gebrochen. An der Seite der „tapferen“ Gattin erhob er sich von den furchtbaren Schlägen des Schicksals und kehrte zu seiner früheren schriftstellerischen Thätigkeit allmählich zurück. Er verfolgte die Geschichte seiner Zeit und gab sein Votum in allen wichtigen Tagesfragen ab; so schrieb er „Christliches und Türkisches“, „Belgien und was daran hängt“, eine Reihe von Flugschriften, die den Stempel seines Geistes trugen.
Endlich nach zwanzig Jahren unfreiwilliger Muße setzte Friedrich Wilhelm der Vierte beim Antritt seiner Regierung den nun „alten Arndt“ in seine frühern Würden ein, „den Greis, der, von der Last des Alters und andern Lasten zusammengedrückt, im Schimmel der Unthätigkeit und Vergessenheit gelegen hatte, der aber noch immer gern die alten, zusammengeschrumpften Blätter regen und entfalten wollte.“ Durch ganz Deutschland wurde die That des Königs mit Jubel begrüßt, der alte Arndt aber von seinen Collegen in Bonn zum Rector magnificus für das Jahr 1840–41 gewählt, von der akademischen Jugend mit Begeisterung empfangen. Die allgemeine Freude verjüngte auch den alten Stamm, daß er, wie in milder Frühlingsluft, neue Sprossen und Knospen trieb. So erschienen jetzt seine gesammelten Gedichte in neuer verminderter und doch vermehrter Auflage und „die Erinnerungen aus dem äußeren Leben“, im Gefolge einer Reihe kräftiger Flugschriften „an und für seine lieben Deutschen“, in denen sich der „Geist der Zeit“ noch einmal frisch wie in den ersten Jugendtagen folgendermaßen aussprach: „Oeffentlichkeit und gerade Gerechtigkeit in allen unseren Dingen, freie Presse, freie Verhandlungen des Bundestages, freies Aussprechen unserer Schmerzen und Freuden vor ganz Europa, wie die anderen großen Völker es thun dürfen, freier offener Mund unserer Landtage und Gerichte“ sind die Forderungen, zu denen er das deutsche Volk berechtigt glaubte.
So lautete gleichsam sein politisches Testament, da er seine Laufbahn für geschlossen hielt; zugleich kehrte jetzt wunderbarer Weise der Greis zu den Neigungen und Erinnerungen seiner Kindheit zurück; eine geheime Sehnsucht zog ihn nach der nordischen Heimath; er beschäftigte sich jetzt fast ausschließlich mit skandinavischen Alterthümern und Uebcrsetzung von schwedischen Gedichten. In seinen Briefen kam es sogar öfter vor, daß er statt eines deutschen Wortes oder Wendung eine schwedische Redeweise gebrauchte.
Da kam das Jahr 1848 mit seinem Völkerfrühling, seinem Sonnenschein und wilden Stürmen, seinen Hoffnungen und Täuschungen. Vater Arndt durfte dabei nicht fehlen. Denn an ihm und in ihm verkörperte sich gleichsam das Schicksal des deutschen Volkes, dessen Glück und Unglück er vor Allen zu tragen berufen schien. Er trat in die Paulskirche, wie er selbst, zum Sprechen aufgefordert, sagte, „gleichsam wie ein gutes altes deutsches Gewissen“ und weil er an „die Ewigkeit seines Volkes“ glaubte.
Seine kurze Rede wurde von dem stürmischen Jubelruf der Versammlung unterbrochen, die auf Soiron’s Antrag dem Dichter des Liedes: „Was ist des Deutschen Vaterland“ ein dreimaliges donnerndes Lebehoch ausbrachte.
So huldigte der Reichstag dem Deutschesten der Deutschen und ehrte ihn, als die Geister der Parteien wild auf einander platzten. Auch Arndt träumte von einem deutschen Kaiser und stimmte für die Erwählung Friedrich Wilhelm des Vierten zum Herrn des Reiches; er selbst war einer der Abgesandten, welche die deutsche Kaiserkrone nach Berlin trugen und abgewiesen wurden. Damals sang der edle Dichter in seinen „Bilder der Erinnerung, meistens um und aus der Paulskirche in Frankfurt“:
Kaiserschein, Du höchster Schein,
Bleibst Du denn im Staub begraben?
Schrein umsonst Prophetenraben
Um den Barbarossastein?
Nein! und nein! und aber nein!
Nein, Kyffhäusers Fels wird springen.
Durch die Lande wird es klingen:
Frankfurt holt den Kaiser ein.
Sein letztes Wort auf der Tribune galt der Einheit des deutschen Volkes, „das, wenn es auch nur halb einig wäre, die Welt überwinden müßte, wie weiland.“ Einige Wochen später verließ er, seiner Ueberzeugung treu, die Paulskirche mit der Partei Gagern, der er sich angeschlossen. Die nachfolgende Zeit der Schmach erschütterte nicht seinen Glauben, seine Treue, seinen Muth. Wieder griff er zu der Feder, der getreue Eckard seines Volkes, und hielt mit offenen, hell glänzenden Augen Wacht gegen die inneren und äußeren Feinde. Wo er Gefahr sah, ließ er seine Stimme erklingen, so gegen die übermüthigen Dänen in seinem „Mahnruf an alle deutsche Gaue in Betreff der schleswig-holsteinschen Sache,“ dem er sein herzliches Buch: „Pro populo germanico“ und „Meine Wanderungen und Wandelungen mit dem Reichsfreiherrn von Stein“ folgen ließ, ein Denkmal dem großen Freunde errichtet, wodurch er ihn und sich ehrte.
Solch ein reiches, schönes Leben, bis in’s höchste Alter von Thatkraft und Segen geschwellt, konnte nicht ohne äußere Anerkennung bleiben. Ganz Deutschland kannte und liebte den alten Arndt, dem das Volk den höchsten Ehrennamen „Vater“ beilegte. Noch bei seinem Leben setzte ihm die Universität Greifswald zu ihrer vierhundertjährigen Jubelfeier ein Denkmal von Marmor, seine Reliefbüste, wofür er seinen Dank in den schönen Worten ausprach: „Ich habe nach dem Ruhm eines ehrlichen Mannes gestrebt. Will man durch das Denkmal in mir eine gewisse Beständigkeit und Festigkeit des Lebens ehren, was man den nordischen, altsächsischen, pommerschen Charakter nennt, so ist das eine Ehre, die ich mit Stolz annehme, mit dem Stolze, ein Sohn Pommerns zu sein. Möge der Name Pommern als der Name der Tapferkeit, Redlichkeit und Treue ein unsterblicher Name bleiben.“
Am klarsten aber sprach sich die allgemeine Liebe bei Arndt’s neunzigstem Geburtstage aus, den er in voller Geistesfrische als jugendlicher Greis im Kreise der Seinigen, aber von ganz Deutschland beglückwünscht, feierte.
Der Tod fand ihn noch mit dem Lächeln des eben erst genossenen Glückes auf den Lippen; sanft nahm er die Hand, welcher die nimmer rastende Feder entsank, womit er noch die letzten Dankesworte schrieb, und führte den Sterbenden zur Unsterblichkeit. Das deutsche Volk wird aber seinen „Vater Arndt“ nie vergessen, der für deutsche Freiheit und Einheit gelebt, gekämpft, gelitten und gesungen hat: „Was ist des Deutschen Vaterland?“
Blätter und Blüthen.
Aus dem Leben Tamburinis. In Palermo, wo sich der berühmte Sänger zwei Jahre aufhielt, gab er einen Beweis von Geistesgegenwart, der ihn für immer zum Liebling des Publicums machte. In jener Stadt herrscht der eigenthümliche Gebrauch, daß das Publicum am letzten Tage des Carneval mit Kindertrompeten, Trommeln, Schellen, kupfernen Kasserolen und andern Lärminstrumenten im Theater erscheint, um während der Vorstellung eine Katzenmusik aufzuführen. Tamburini wurde, sobald er auftrat, mit einem betäubenden Tusch empfangen. Man hätte in dem Getöse kaum einen Donnerschlag, vielweniger die Stimme eines Sängers vernehmen können, und Tamburini, welcher augenblicklich verstand, daß heute Alles erlaubt sei, blieb ruhig stehen, um eine Pause der Erschöpfung abzuwarten und sich dann durch einen Scherz Gehör zu verschaffen. Man spielte Elisa und Claudio, und sobald das Publicum einen Moment schwieg, um Athem zu schöpfen, begann der Sänger seine Baßarie mit Frauenstimme vorzutragen. Die Fistelstimme Tamburini’s war von merkwürdiger Reinheit und Biegsamkeit, und die überraschte Menge legte ihre Lärminstrumente vorsichtig bei Seite, um mit Aufmerksamkeit zuzuhören. Der Scherz gefiel; das Publicum, das den hingeworfenen Handschuh so heiter aufgenommen sah, erlaubte Tamburini die Arie ohne Unterbrechung zu Ende zu singen. Aber die übrigen Sänger hatten kein Recht auf gleiche Nachsicht, und als Madame Liparini, welche die Elise spielte, auftrat, begann der Charivari womöglich noch ärger als zuvor. Die Künstlerin hielt [208] diesen Empfang für eine ihrer Person geltende Beleidigung und nahm sich diese so sehr zu Herzen, daß sie nach einigen Versuchen, sich Gehör zu verschaffen, bewußtlos zu Boden sank. Man trug die gekränkte Sängerin in ihre Garderobe, wo sie die Besinnung nur wieder gewann, um in Verwünschungen gegen das undankbare Publicum auszubrechen, sich die Kleider vom Leibe zu reißen und trotz aller Gegenvorstellungen das Theater zu verlassen.
Die Abwesenheit der Primadonna machte die Fortsetzung der Oper unmöglich, und die Befürchtung, daß das unzufriedene Publicum Alles in Stücke schlagen würde, lag sehr nahe. Tamburini lief nach der Garderobe der Sängerin, um ihr diese Gefahr vorzustellen, aber es war zu spät. Sie hatte das Haus bereits verlassen, und die einzelnen Theile ihres Anzugs lagen auf dem Fußboden umher. Tamburini’s Schreck bei diesem Anblicke war vielleicht fast ebenso groß, als der des unglücklichen Pyramus, als er den Schleier der geliebten Thisbe fand. Alles schien verloren, und rathlos stand er mit herabhängenden Armen und gesenktem Kopfe vor diesem wirren Haufen weiblicher Kleidungsstücke, während das Publicum im Saale mit ungeheuerm Geschrei die Primadonna verlangte. Die „Primadonna! die Primadonna!“ rief man in den Gängen. „Die Primadonna!“ heulte die tobende Menge. „Die Primadonna!“ wiederholte der muthlose Sänger. Da taucht plötzlich die tollste Idee in seinem Gehirn auf. „Nun, Ihr Rasenden, wenn Ihr durchaus eine Primadonna haben wollt, so will ich Euch eine verschaffen, wie ihr sie noch nicht gesehen habt,“ sagt er, indem er seinen Rock abwirft. Stück für Stück nimmt er nun den Nachlaß der flüchtigen Sängerin vom Boden auf, zieht das Kleid über, auf die Gefahr hin, es von oben bis unten aufzuschlitzen – wo Armlöcher und Einfassungen nicht nachgeben, bringt ein Ruck sie in Ordnung – die Manschetten passen vortrefflich zu den weiten Atlasärmeln und halb mit Geschicklichkeit, halb mit Gewalt gelingt es ihm endlich, sich in die Schale zu zwängen, welche die Sängerin soeben abgestreift hat. An das Zuhaken des Kleides ist natürlich nicht zu denken. Die gestickte Weste dient der falschen Primadonna als Chemisette; der Atlashut der Liparini wird auf die Perrücke à la Brigadier gestülpt, der Schleier so graziös als möglich befestigt, und so springt Tamburini durch die Gänge, um die Wünsche des ungeduldigen Publicums zu befriedigen. Das Kleid hindert ihn dabei nicht im Geringsten, denn es geht ihm nur bis über die Kniee und läßt ein Paar kräftige Waden sehen, welche sich in den seidenen Strümpfen vortrefflich ausnehmen, und den größten Fuß, welchen je eine Primadonna den Bewunderern ihrer Reize zeigte.
Das Publicum lärmte nach Kräften; das Orchester hatte das Ritornell zu der Cavatine zum zehnten Male gespielt, und einige der ungeduldigsten Zuschauer machten bereits Anstalt, die Bühne zu erklettern, als Tamburini in seiner Verkleidung erschien. Es ist unmöglich, das Klatschen und Stampfen, das Schreien und Trommeln auf alten kupfernen Kesseln zu beschreiben, das sich bei seinem Eintritte erhob. Die falsche Primadonna gab durch zahllose Verbeugungen und Knixe und dankbare, bald zum Himmel, bald auf die Zuschauer gerichtete Blicke ihre Erkenntlichkeit für diesen feierlichen, unerhörten Empfang zu erkennen und drückte ihre Rührung aus, indem sie die eine Hand auf’s Herz legte, während sie sich mit der andern die Augen trocknete. Dann begann sie ohne alle Uebertreibung die Cavatine zu singen. Das Costüm allein genügte, das Publicum bei guter Laune zu erhalten. Tamburini zeigte bei dieser Gelegenheit, wie sehr er allen den Damen überlegen war, von welchen man die Rolle bis dahin gehört hatte. Neue Ausbrüche des Entzückens Seitens des Publicums folgten, aber der Enthusiasmus entsprang aus dem wirklich hohen Kunstgenusse, welchen man seinem tollen Einfalle verdankte.
So lange Tamburini nur die einzelnen Stimmen zu singen hatte, erfüllte er seine Aufgabe mit Leichtigkeit. Wenn Elisa sich in Fisteltönen ausgesprochen hatte, antwortete der Graf mit der Baßstimme der edeln Bäter, aber beim Duett des Grafen mit Elisa wurde die Sache schwieriger. Dessen ohngeachtet ließ sich Tamburini nicht abschrecken – er sang beide Partien. Der Baß antwortete dem Sopran mit vollkommner Präcision, und umgekehrt. Der Darsteller hatte selbst die Aufmerksamkeit, je nachdem er Vater oder Tochter sang, den Platz zu wechseln und sich auf diese Weise zu verdoppeln. Dies Kunststück krönte seine Leistung. Man hörte die Oper ohne Störung bis zu Ende; erst als der letzte Ton verklungen war, brach der Charivari von Neuem los, aber nicht zur Entschädigung für das lange Schweigen, sondern als Dank für den Künstler, welcher zwölf bis fünfzehn Mal gerufen wurde.
Damit hatte der tolle Abend sein Ende indessen noch nicht erreicht. Tamburini ruhte in seinem Ankleidezimmer von der doppelten Anstrengung aus, als die Signori, welche die Oberleitung des Theaters führten, sowie der Impressario erscheinen, um ihm für den Dienst zu danken, welchen er ihnen an diesem Abende geleistet, und ihn zu bitten, nun auch in dem Ballet mitzuwirken, das der Oper folgen soll. Vergebens erklärt der Künstler, daß er von Entrechats und Pirouetten nicht das Geringste verstehe, daß er sich erkälten würde und dann vier Wochen nicht singen könnte – die Herren meinen, wer so gut als Dame zu singen verstände, müßte auch vortrefflich tanzen, und um eine Erkältung zu vermeiden, soll er den Anzug des Grafen beibehalten. Kurz, man läßt nicht nach mit Bitten und Vorstellungen, bis er eine goldgestickte Tunika von Mousseline überwirft, in Begleitung des ähnlich costümirten Bouffo Tacci auf der Bühne erscheint und zur großen Befriedigung der Zuschauer mit Taglioni und Mlle. Rinaldini die wunderbarsten Pas ausführt. Das Publicum von Palermo hat diesen Abend nie vergessen.
Noch einmal hatte später Tamburini Gelegenheit, sein Talent in einer Damenrolle zu zeigen. Er war damals in Neapel, und man brachte eine kleine Oper von Donizetti sehr oft zur Aufführung. Eines Tages befand sich die darin beschäftigte Primadonna unwohl und bat, das Repertoir zu ändern. Der Impressario Barbaja wollte sich dazu nicht verstehen – die Sängerin mußte auftreten, aber man hörte, daß sie mit Anstrengung sang, der Aerger darüber vermehrte ihr Unwohlsein und sie erklärte endlich, die Cavatine im Finale nicht singen zu können. Aber der Impressario war unerbittlich. Mme. Boccabadati betritt weinend die Bühne und singt ihr komisches Duett mit Tamburini unter strömenden Thränen. Endlich kommt die Cavatine. Die Sängerin schluchzt während des Ritornell, ihr Kopf verwirrt sich und sie ist unfähig, zur rechten Zeit einzusetzen. Tamburini nähert sich der unglücklichen Primadonna und fängt, um ihr Zeit zu geben, sich zu sammeln, ihre Arie mit Sopranstimme an: aber statt die Noten im Fluge zu erhaschen, läßt die Sängerin ihren Stellvertreter fortfahren, lehnt sich schluchzend an seine Schulter und bleibt regungslos in dieser Stellung, bis Tamburini die Cavatine mit allen möglichen kühnen und glänzenden Fiorituren und Cadenzen zu Ende gesungen hat.
Mericourt’s Broschüre: Napoleon III. ist so eben in einer gelungenen Uebersetzung in Berlin erschienen. Zur Charakteristik dieses in Brüssel erschienenen interessanten Büchleins, das in fabelhaften Massen in England und, obwohl dort verboten, auch in Frankreich gekauft worden ist, führen wir den Schluß desselben an: „Napoleon III. trägt unter seinem Hemde einen Panzer, der so ausgezeichnet gearbeitet und von einer solchen Feinheit ist, daß ihm selbst das feinste Gewebe nicht gleichkommt, und welcher nichts desto weniger Kugel und Dolch abhält. Diejenigen, welche der Vorsehung
danken, daß sie ihn vor den Streichen seiner Feinde bewahrt hat, kennen wahrscheinlich diesen kleinen Umstand nicht. Mr. Bonaparte entging drei Mal einem gewissen Tode durch die glückliche Gewohnheit, niemals seine Aegide zu verlassen. Pianori’s Kugel, beinahe von der nächsten Nähe abgeschossen,
plattete sich auf dem Panzer in der Höhe der linken Lunge ab, und hinterließ kaum eine Quetschung.
Kurz vorher, als der Polizeipräfect durch eine unerwartete und geheimnißvolle Ueberwachung den republikanischen Anschlag zu Schanden machte, dessen Urheber M. Bonaparte in die Luft sprengen wollten (es war in einer jener famosen Nächte, wo er glaubte, incognito durch den Garten der verführerischen Gräfin von C… gehen zu können), hatte ein Verschworener, der es weniger eilig hatte, zu entfliehen, als die anderen, Zeit, dem kaiserlichen Liebhaber einen Dolchstoß beizubringen, aber die mörderische Klinge stumpfte an dem Stahlnetze ab. Endlich wurden drei Bombensplitter, die durch diesen geschmeidigen Küraß aufgehalten waren, in den Kleidern Sr. Majestät an dem Abende gefunden, als der düstere Orsini seinen Exbruder im Carbonarismus für den Bruch des gemeinschaftlichen Eides bestrafen wollte.
Aus allem diesen geht hervor, daß er seinem Panzerhemde viel mehr Dank schuldig ist als der Vorsehung. Wir haben den Charakter des Menschen gezeichnet, wir kennen das Verdienst des Kriegers, wir haben das Werk des … gesehen, sprechen wir noch von den Handlungen des Despoten. Man kann sie in einige Zeilen zusammenfassen: Niederreißung der Rednertribüne, Strangulirung der Presse; einen doppelten Knebel für den Deputirten, einen vierfachen Knebel für den Journalisten. Keine Geschworenen mehr. Der Schriftsteller und der Schwindler stehen auf derselben Anklagebank, der Anklagebank der Correctionstribunale, wo der ungerechte Richter zu Gericht sitzt, dessen Gewissen verkauft ist, der Richter, der auf Befehl verurtheilt. Außerdem ein Senat von Kammerdienern, eine Kammer von Sclaven. M. Bonaparte entriß alle Güter der Familie Orleans: der Senat hat nichts dagegen, die Kammer billigt es, und Frankreich steckt die Schande ein. Aus Aerger gegen die Fürsten Europa’s, heirathete er die Erste die Beste. Man kann dabei nur seine Absicht tadeln, die Wirkung ist ihm nicht ungünstig gewesen, und das Volk mit seinem revolutionairen Instinct hat „Bravo“ geschrieen. Wenn ein böser Dämon, der sich unter die Flügel eines Engels flüchtet, dadurch seiner Strafe entgehen kann, so würde vielleicht Napoleon durch seine Gefährtin gerettet werden. Gott wird es nicht erlauben, denn er hat getödtet, bombardirt … um das Scepter zu erlangen, und wir glauben an die Gerechtigkeit des Himmels.“
Mit dieser Nummer schließt das erste Quartal, und ersuchen wir die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das zweite Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.
Im nächsten Quartal dürfen wir unsern Lesern außer den trefflichen Beiträgen von Bock, Roßmäßler, Beta, Brehm, v. Sternberg, Max Ring, W. Hamm, Guido Hammer etc. etc. etc. folgende bereits vorliegende Arbeiten versprechen: Die drei Großmächte, Erzählung von L. Schücking – Die Geschiedenen, Novelle von Hermann Schmid (Verfasser der Huberbäuerin) – Novelle von Theod. Mügge – Erinnerungen an die Schröder-Devrient (Fortsetzung) – Der Prozeß Leuthold von Temme – Dosenstücke und beschworene Schatten von Bogumil Golz – Italienische Geschichten von Moritz Hartmann – Vom Reisen von Fr. Gerstäcker – Eine Erinnerung an Goethe’s letzte Stunden – Die Holzschnitzerei im Berner Oberlande von Berlepsch – Der Tugendbund von Max Ring – Psychologische Studien von Frauenstedt.
Mit den ersten Nummern des neuen Quartals beginnen auch die bereits früher angekündigten
Leipzig, im März 1869.
- ↑ Uebersetzt von Friedrich Spielhagen, dessen bereits früher avisirte Sammlung: „Amerikanische Gedichte“, wir unsern Lesern bei dieser Gelegenheit empfehlen.Die Redaction.