Die Gartenlaube (1860)/Heft 14
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No. 14. | 1860. |
Ich will eine Rose pflücken,
Die letzte, die ich hab’,
Ich komm’ damit zu schmücken
Eines deutschen Dichters Grab,
Deß Lied wir oft gesungen,
Den Schläger in der Hand;
Wie das so hell geklungen,
Das Lied vom Vaterland!
Vor dessen Liederstimme
In dunkler, schwüler Nacht
In seinem starken Grimme
Das deutsche Volk erwacht!
Hinweg die Todtenklage,
Dies Lied soll Wächter sein
Mit seiner großen Frage
Beim Dichtergrab am Rhein;
Bis in der Schwerter Sausen
Die rechte Antwort grollt.
Wie wenn mit Sturmes Brausen
Das Meer die Wogen rollt;
Bis alle Fesseln springen
An einem heißen Tag,
Zerrissen sind die Schlingen,
Die Zwietracht und die Schmach.
Die Rose soll er haben,
Des Volkes Herz bleibt sein,
Den sie so schön begraben
Zu Bonn am deutschen Rhein.
Ein schöner, glanzvoller Frühlingstag war zu Ende gegangen. Zum ersten Male, seit der Winter sich über die Alpen zurückgezogen hatte, lag die Abendsonne warm und voll auf den herausbrechenden Knospen und Blättern; ein angenehmer Abendwind strich über die Gärten hin und trug den Duft der Blüthen, den kräftigen Wohlgeruch der frisch aufkeimenden Pflanzen in’s Weite. Es war, als ob Alles das Erscheinen des Frühlings und mit ihm ein Glück empfinde, an dessen Wiederkehr man gezweifelt, und das nun doch, und darum doppelt schön, ein wirkliches geworden.
In der kleinen Laube eines rings von Häusern umschlossenen Gärtchens saß unter halbbegrünten Ranken von wildem Wein und Jelängerjelieber ein rüstiger Mann von ernstem Ansehen, an dem nur die etwas stark weißschimmernden Haare verriethen, daß er bereits auf der Mittagshöhe des Lebens angekommen war. Ohne diese hätte weder der feurige, nur etwas unruhige Blick, noch die straffe Haltung darauf schließen lassen.
Auf dem Tischchen vor ihm lagen Schriften ausgebreitet, in denen er einige Zeit mit Eifer las und sich verschiedene Bemerkungen daraus aufzeichnete; bald aber schien diese Beschäftigung ihre Anziehungskraft zu verlieren, denn die Hand ließ den Stift achtlos entgleiten und erhob sich, um die Stirne zu stützen, die sich ihr schwer entgegen senkte. Nach dem tiefen Ernste in den Zügen zu urtheilen, mußten es unangenehme Gedanken sein, die hinter dieser bleichen Stirne hausten, und doch schien die Blässe, welche wie zuckend das Angesicht überflog, auch auf ein körperliches Leiden zu deuten. Manchmal wohl ging es darüber hin, wie der Versuch sich aufzuhellen an einem gewitterhaften Tage über den bewölkten Himmel. Es mochte das irgend eine freundliche Erinnerung aus vergangenen Zeiten sein, die wie ein Sonnenstrahl durchblitzte, aber immer wieder behielten die Wolken der Sorge und des Leidens die Oberhand.
Jetzt erscholl aus der andern Ecke des Gärtchens der helle, fröhliche Laut einer Kinderstimme und schreckte den Brütenden empor. Es war der Ruf eines kleinen Mädchens von etwa fünf Jahren, das sich dort im jung keimenden Grase unterhielt, Schneckchen und Würmer zusammenzulesen und die zierliche Verschiedenheit der Blätter und Pflanzentriebe kindisch zu bewundern.
„Sieh nur, Vater,“ rief das Mädchen, in der erhobenen Hand etwas hoch empor haltend, „sieh nur, was ich gefunden habe!“ Damit stürmte sie mehr, als sie lief, der Laube zu, flog die Stufen hinan und stand nun vor dem ernsten Manne, das runde Hütchen, das man ihr wegen des Sonnenbrandes aufgesetzt hatte, in den Nacken zurückgesunken, das blonde, reiche Haar über die Schultern hinabfallend, und die vollen Kinderwangen vom Laufe und von der Freude geröthet.
Mit dem Manne war inzwischen rasch eine sichtbare Veränderung vorgegangen. Der erste Laut der Kinderstimme hatte ihn wie ein Zauberton berührt; es war der Faden, den ihm ein gutes Geschick mitten im Labyrinthe zuwarf, um sich aus dem Irrsal seiner Gedanken zurecht zu finden; eine magnetische Berührung, vor deren erstem Strahle die schmerzlich zuckenden Nerven sich beruhigten. [210] Das Angesicht glättete sich, ein Schimmer von Freude breitete sich darüber und belebte es zu einem ungemein liebenswürdigen Ausdruck. Als das Kind zu ihm gelangt war, hatte er die Papiere zurückgeschoben und beugte sich nun auf die Kleine, die sich zwischen seine Kniee drängte, mit dem Blick unaussprechlicher Liebe herab.
„Was hast Du, meine Anna?“ fragte er. „Laß mich Deinen Fund bewundern!“ Das Kind zeigte eine kleine bunte Muschel, wie sie nur am Meeresstrand vorkommen, und die Ereigniß oder Zufall unter den Kies der Gartenwege gestreut hatte. Der Vater belehrte sie darüber, aber es gelang ihm nicht, die Wißbegierde der Kleinen völlig zu befriedigen, denn sie bestand durchaus darauf, zu erfahren, wie die Muschel, wenn sie im Meere daheim gewesen, bis hierher gekommen sei. Der Vater mußte die Erklärung schuldig bleiben und er that es dadurch, daß er die Aufmerksamkeit des Kindes auf einen andern Gegenstand ablenkte und sie befragte, wie sie den Tag zugebracht habe. Die gesprächige Kleine, an den Beinen des Vaters emporkletternd, ging rasch darauf ein und begann nun eine wohl etwas unklare, demungeachtet aber reizende Erzählung ihrer kleinen Tageserlebnisse.
„Anna ist gutes Kind gewesen,“ sagte sie, „Fräulein Amalie hat es gesagt und hat mich gelobt. Ich habe ihr auch recht sehr geholfen, in der Küche und wie sie Nachmittags am Nähtisch saß. O sie kann mich schon sehr gut gebrauchen, ich kann schon eine Nadel einfädeln und weiß schon, wie man es machen muß, um zu stricken!“
„Das Alles weißt Du, mein kluges Kind?“ erwiderte der Vater mit herzlichem Tone. „Da muß ich Dich allerdings auch loben. Und Du wirst auch so fortfahren? Wirst immer gut und fleißig sein, damit Du mir Freude machst?“
Das Mädchen schlang die Arme um den Hals des Vaters, küßte ihn und schmeichelte. „Anna hat Dich immer lieb – Anna wird Dich nie böse machen – Dich nicht und Fräulein Amalie nicht.“
„Auch die nicht?“ fragte der Vater. „Du bist ihr also sehr gewogen?“
„Ich habe sie fast so lieb wie Dich,“ erwiderte das Kind, „und sie hat mich auch lieb und sagt es mir alle Tage.“
Des Vaters Auge glänzte, als ob es feucht geworden. „Es ist mir lieb, das zu hören,“ sagte er, halb zu dem Kinde, halb vor sich hin. „Und doch – sage mir Anna, hast Du gar keine Erinnerung mehr an Deine Mutter?“
Das Kind wendete das reizende Köpfchen rasch und befremdet nach dem Vater, schwieg einen Augenblick wie nachdenklich, schüttelte dann und sagte: „Hab’ ich denn eine Mutter gehabt?“
Die schon wach gerufene Rührung des Mannes wurde durch die Rede des Kindes so sehr gesteigert, daß er die Thränen nicht zurückzuhalten vermochte. „Ja wohl,“ rief er mit unterdrückter Stimme, „Du hast eine gute, edle, vortreffliche Mutter! Wenn Du größer bist, werde ich Dir viel von ihr erzählen, und Du wirst Dein Leben lang glücklich sein, wenn Du Dich bestrebst, ihr zu gleichen.“
„Und wo ist meine Mutter?“ fragte das Kind. „Warum ist sie nicht bei uns? Ist sie gestorben?“
„Nein,“ antwortete der Vater, immer stärker erschüttert, „– aber krank, sehr krank!“
„Warum ist sie dann nicht bei uns?“ fragte das Kind neugierig wieder. „Laß sie kommen, wir wollen sie alle lieb haben und warten, ich und Du und Fräulein Amalie …“
„Das wird vielleicht noch geschehen,“ antwortete der Vater. „Es ist meine sehnlichste Hoffnung – aber ihre Krankheit ist leider von der Art, daß sie bei uns nicht sein kann. Frage nicht weiter, Dir würdest es doch nicht verstehen – und ich will Dein junges Gemüth nicht mit den Schrecken belasten, die in der Sache liegen und die Du noch früh genug erfährst!“
Das Gespräch wurde durch das Herannahen einer Dame unterbrochen, welche, aus dem Hause kommend, der Laube zuschritt. Es war eine hohe, feine Gestalt von angenehm gerundeten Umrissen und mit anmuthiger Bewegung. Das Gesicht, eben nicht schön, war regelmäßig, und wenn sich auch in den Zügen einige Schärfe ausprägte, that dies ihrem Ausdrucke keinen Schaden; vielmehr gewann sie dadurch ein bestimmtes und entschlossenes Wesen, das Vertrauen erregte. Sie war schlicht, aber mit Wahl gekleidet, hatte über dem einfachen Kattunkleid eine ziemlich grobe Schürze vorgebunden, an der ein Schlüsselbund klapperte, und gewährte so einen vollkommen wirthlichen Anblick, welchem das beinahe frauenhafte Häubchen auf dem dunklen Haare nicht widersprach.
Mit höflichem Gruße trat sie der Laube näher. „Guten Abend, Herr Assessor,“ sagte sie. „Hat der kleine Wildfang Sie wieder in Ihren Arbeiten gestört? Ich komme zu hören, ob Sie das Abendessen hier einnehmen wollen oder droben in der Stube?“
„Es dürfte doch zu kühl werden im Garten,“ antwortete der Assessor. „Die Kleine hat mich übrigens nicht gestört, sondern sehr lieblich unterhalten. Mischte sich auch der unvermeidliche herbe Tropfen darein, so machte mich ihr Geplauder doch auf Secunden lang meine Sorge und mein Kopfleiden vergessen, das sich heute wieder recht fühlbar angemeldet hat. Anna erzählte mir, wie Sie den heutigen Tag miteinander zugebracht haben, und gibt mir dadurch erwünschten Anlaß, Ihnen für die Liebe zu danken, mit der Sie Anna behandeln und in meinem Hause walten.“
Das Fräulein erröthete. „Das ist nicht mehr als meine Pflicht,“ erwiderte sie dann. „War Ihre Gattin nicht meine beste, meine einzige Freundin – ich darf wohl sagen, die Hälfte meines Lebens und meiner Jugend? Was konnte ich nach dem entsetzlichen Unglück, das Theresen betroffen, wohl Besseres thun, als mich ihres verwaisten Kindes und deshalb auch Ihres einsamen Hauses anzunehmen? Ich bin allein auf der Welt; ich habe keine verwandtschaftlichen Beziehungen – ein ähnliches Verhältniß des Dienens wäre überall mein Loos gewesen; ich muß also dem Himmel danken, daß er es mir in Ihrem Hause so freundlich gestaltet hat.“
„Das höre ich mit großem Vergnügen,“ antwortete der Assessor, „und ich kann nur den Wunsch hinzufügen, daß Sie diese Zufriedenheit immer bewahren und mich nie verlassen mögen!“
„An meiner Zufriedenheit wird es nicht fehlen,“ entgegnete Amalie, „aber ob ich Ihr Haus nicht doch verlassen muß, kann ich nicht bestimmen. Ich glaube vielmehr und fürchte, daß es bald geschehen wird und daß ich nicht die Macht habe es zu hindern.“
„Sie erschrecken mich und werfen mir auf einmal einen höchst betrübenden Schatten auf die Zukunft! Wenn Sie selbst zufrieden sind, was könnte Sie aus meinem Hause verscheuchen? Was könnte Sie hindern, das Freundschafts-Opfer, das Sie Theresen gebracht, zu vollenden?“
Das Fräulein schwieg und sah sinnend zu Boden. „Innere Verhältnisse,“ fuhr sie dann fort, „werden mich nicht zwingen, aber der Zwang dürfte wohl von außen kommen. Es ist übrigens gut, daß wir darauf kommen: einmal mußte es doch erörtert werden, und so will ich Ihnen denn sagen, was mir schon lange drückend auf dem Herzen gelegen.“
„Reden Sie.“
„Bezeugen Sie mir erst,“ begann Amalie, „daß ich mich in Ihrem Hause gegen Sie und jede Umgebung genau in den Schranken betragen habe, die meine Stellung mir vorgezeichnet.“
„Immer!“ war die Antwort. „Niemand kann Ihnen auch nur den leisesten Vorwurf des Gegentheils machen! Wohl aber haben Sie mehr gethan – Sie sind meiner Anna in Wahrheit eine zweite Mutter!“
„Ich danke Ihnen für dieses ehrende Urtheil: leider ist es nicht das der Welt, nicht das der Nachbarschaft. Erfahren Sie denn, so peinlich mir diese Mittheilung ist, daß das Gerücht von persönlichen Beziehungen wissen will, in denen ich zu Ihnen stehen soll ...“
„Wirklich? Solche Verleumdung wagt man auszustreuen?“ fuhr der Assessor auf. „Aber sie ist zu boshaft, um geglaubt zu werden! die Absichtlichkeit und Erdichtung liegt auf der Hand, denn weder ich noch Sie haben Anlaß zu dem Gerede gegeben!“
„Gewiß – aber das hindert böse Zungen nicht; sie messen Andere nach ihren eigenen Maßen. Es ist klar, daß etwas geschehen muß, diese Verdächtigung Lügen zu strafen – ich muß Ihr Haus verlassen!“
„Das kann nicht Ihr Ernst sein,“ rief der Assessor sich erhebend, „Anna kann Sie nicht missen, ich kann es ebenso wenig! Den größten Theil des Tages in meinen Beruf gezwängt, muß ich Kind und Haus lediglich Ihnen überlassen – was würde daraus, wenn Anna Ihre liebevolle Erziehung, wenn ich Ihre Klugheit, Ihre unersetzliche Umsicht verlieren müßte?“
„Sie sind zu gütig,“ entgegnete Amalie, „allein gegen die Nothwendigkeit läßt sich nicht ankämpfen. Heute Nachmittag erfuhr [211] ich durch eine Freundin, die mich besuchte, daß das schmähliche Gerede nicht mehr vereinzelt ist – Sie kennen kleine Städte wie die unsrige und die Schmähsucht ihrer Bevölkerung – ich habe daher meinen Entschluß gefaßt und bitte mir zu gestatten, daß ich Ihr Haus verlasse, sobald Sie Jemand gefunden haben werden, der an meine Stelle treten kann.“
Der Assessor schwieg, er konnte den Gründen Amaliens nichts Triftiges entgegnen, und doch war es ihm im höchsten Grade schmerzlich, sich das Gewicht derselben eingestehn zu müssen.
Anna hatte inzwischen mit ihrer Muschel gespielt und dem Gespräche nur halb zugehört – doch begriff sie aus der letzten Wendung, daß es sich um Amaliens Entfernung handelte. Sie hängte sich bittend an Amaliens Kleider und rief, indeß ihr Thränen über die vollen Wangen liefen: „Nicht fortgehn, Amalie! Du darfst nicht fort! Ich will gewiß gut sein, daß Du bleibst!“
„Lassen Sie die Bitte des Kindes auch die meinige sein,“ sagte der Assessor im Vorwärtsschreiten. „Ueberlegen Sie die Sache noch einmal, ein reines Bewußtsein hilft über Vieles hinweg, und ehe einige Tage vorüber sind, fassen Sie keinen festen Entschluß – darauf Ihre Hand!“
Das Abendmahl war kurz, einfach und einsylbig; Jedes war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Anna, von der ungewohnt genossenen Frühlingsluft rasch eingeschläfert, mußte bald zu Bette gebracht werden, und der Assessor blieb, nachdem Amalie mit dem Kinde sich entfernt, allein. Er zog sich in sein Schlaf- und Arbeitszimmer zurück, nachdem er Amalien beim Nachtgruß noch nachgerufen, sie solle das Gastzimmer in Bereitschaft setzen, er erwarte in den nächsten Tagen den Besuch eines alten Universitätsfreundes.
Der lange Abend schlich dem einsam Wachenden träg dahin. Er fühlte sich müde und abgespannt und darum zur Arbeit nicht aufgelegt. Ein Buch, nach welchem er zur Unterhaltung griff, wurde bald wieder weggelegt, es vermochte den Ton nicht anzuschlagen, den seine Gemüthsstimmung verlangte. Er war nie gewohnt gewesen, diese Stunden außer dem Hause zuzubringen, wozu in dem kleinen und nicht sehr wohlhabenden Städtchen auch wenig entsprechende Gelegenheit geboten war. So versank er in träumerisches Brüten und gedachte der Zeit, wo gerade diese Stunden in den immergrünenden Kranz seiner Häuslichkeit die schönsten Blumen geflochten hatten – immer düsterer senkte sich die Schwermuth auf ihn herab, und erst die Lampe, welche zischend ihr Erlöschen ankündete, erinnerte ihn spät, sein Lager zu suchen.
Wenige Tage später saß der Assessor mit dem erwarteten Freunde in seinem Arbeitszimmer beisammen. Es war wieder Abend geworden, eine Flasche Wein hatte die Jugenderinnerungen beider Männer aufgefrischt und das Gespräch lebhaft und munter gemacht. Der Freund, Doctor Weindler, war ein Mann von vorherrschend jovialem Charakter und jener gutmüthigen Derbheit, wie sie bei den Aerzten einer frühern Schule nicht selten zu finden war.
Der Assessor erhob sein Glas, um mit dem Freunde anzustoßen. „Laß uns mit diesem Trunk noch einmal jener reizenden Vergangenheit gedenken,“ rief er, „und dann laß uns zu dem eigentlichen Zwecke dieser Unterredung kommen – zur Gegenwart.“
„Ach ja,“ erwiderte der Doctor, „Du hast mir ja geschrieben, Du hättest mir etwas so Absonderliches zu vertrauen, daß ich aus alter Freundschaft meine Kranken für einige Tage ihrem bessern Geschick anheim gab, um Dir zu Willen zu sein! Aber ich sage Dir, Rudolph, wenn es nicht der Mühe werth ist mit dem Geheimniß, wenn Du mich wegen etwas Unbedeutendem den weiten Weg hast machen lassen, so ist mir Deine übrigens sehr liebe Gesellschaft keine Entschädigung, weder für die weite Reise, noch für die Versäumniß. Also heraus damit, was hast Du auf dem Herzen? Aus Deinem Briefe bin ich nicht klug geworden.“
„So höre,“ antwortete der Assessor, „ich bin überzeugt, Du wirst nicht sagen, daß es sich um Unbedeutendes handelt.“
„Sei dessen nicht gar zu gewiß, Lieber,“ erwiderte lachend der Doctor, „Du warst immer ein etwas überspannter Kauz, und es waren nicht viele Dinge, worin wir sympathisirten – doch der Arzt ist bereit, also mag der Kranke reden.“
Der Assessor begann: „Ich darf als Dir bekannt voraussetzen, daß ich vor ungefähr sieben Jahren mich verheirathet habe …“
„Ich habe es aus der mir geschickten Trauungskarte erfahren,“ entgegnete Weindler, „aber unsere weite Entfernung, und wenn Du so willst, auch die durch Leben und Beruf hervorgebrachte Entfremdung ist Ursache, daß ich von Deinen Familienverhältnissen so viel als nichts weiß. Ich hielt Dich für einen glücklichen Hausvater, bis mich der Eintritt in Dein Haus belehrte, daß es darin nicht ist, wie es sein soll. Bist Du Wittwer? Oder was ist’s mit Deiner Frau? Ich meine, ich habe so etwas von einer Jugendliebschaft munkeln gehört …“
„Das war so recht eigentlich der Fall,“ entgegnete der Assessor; „Therese ist die Tochter eines wohlhabenden und geachteten Kaufmanns in derselben Stadt, wohin mein Vater von seinem Berufe als Gymnasiallehrer geführt worden war. Die Familien waren Wohnungs-Nachbarn; es traf sich also ganz natürlich, daß die Kinder in steten Verkehr und Umgang mit einander kamen, um so mehr, als wir annähernd von gleichem Alter waren. Ein drittes Kind, ein Mädchen, das armen Tagelöhnersleuten im Hause angehörte, schloß sich uns als freundliche Spielgenossin an und bildete zugleich eine Art unparteiischer oder vermittelnder Macht zwischen mir und Theresen. Sie war die beiderseitige Vertraute in unsern nicht selten vorkommenden kindischen Streitigkeiten; darum ward sie auch regelmäßig die Versöhnerin und schien eine Art Stolz darein zu setzen, in solcher Weise zu dienen und gewissermaßen doch zu herrschen. Sie war mehr zurückgezogen und beobachtend, Therese rasch, leidenschaftlich und von rücksichtsloser Offenheit. Es verstand sich unter uns von selbst, daß wir zusammen gehörten; ohne darüber gedacht und gesprochen zu haben, wußten, dachten und empfanden wir nichts Anderes, und unsere Freundin stand wie eine Art Wächter neben dieser Gewißheit. Die reiferen Jugendjahre machten gleichwohl dem liebgewordenen Umgange ein betrübtes Ende: ich mußte fort und kam, da mein Vater inzwischen wegen Beförderung seinen Wohnort veränderte, eine lange Reihe von Jahren hindurch nicht mehr in Theresens Heimath. So schwer mir die Trennung zuerst gefallen war: Studien, andere Erlebnisse und die Zeit drängten das Bild allmählich immer mehr zurück, bis es beinahe ganz verblaßte und nichts davon übrig blieb, als die Erinnerung eines Kinderspiels, wie man so manche gern mit sich herumträgt im Leben … Doch ich thue Unrecht, Dich mit solchen kindischen Dingen zu behelligen! Materiell gleich allen Aerzten wird Dir der Sinn für den feinen Duft eines solchen verwelkten Frühlings abgehen, der gleichwohl nun zu den kostbarsten Juwelen in der Schatzkammer meiner Erinnerungen gehört.“
„Ich werde es Dir nicht verargen, wenn Du Dich kürzer fassen kannst,“ erwiderte lächelnd der Arzt. „Derlei Bekanntschaften im Leben hat wohl Jeder gehabt! Auch ich könnte damit aufwarten; aber mich an diese Tölpeleien zu erinnern, macht mir ebensowenig Vergnügen, als wenn ich meine ersten Schreibhefte wieder durchgehen sollte!“
„Kurz gefaßt also,“ fuhr Rudolph fort, – „nach beendigten Studien, mit der ersten Anstellung in der Tasche, voll Lebenslust und Lebenshoffnung, führte mich eine Vergnügungsreise mit einigen Freunden wieder an die Stätte meiner Jugend. Natürlich gedachte ich dabei auch an Theresen, aber mit nicht mehr als kühler Neugierde, und wollte daher auch nur ganz kurze Zeit in dem Städtchen verweilen. Der Gedanke einer Heirath lag mir im Allgemeinen noch ganz und gar fern; wohl hatte ich hie und da meinen Blick auf Frauen- und Mädchen-Gestalten herumstreifen lassen, – er war immer zurückgekehrt, ohne das leiseste Herzklopfen zu verursachen. So sah ich Theresen wieder – ein blühendes, schönes Mädchen, herrlich entwickelt in jeder Beziehung, die Zierde ihres Geschlechts …“
„Auch damit kannst Du mich verschonen, mein Freund,“ entgegnete der Arzt. „Das versteht sich von selbst! Sie war ein Engel; Du verliebtest Dich in den Engel, der Engel in Dich, und das Ende vom Liede war der gewöhnliche Ausgang aller Lustspiele, eine höchst prosaische Hochzeit!“
„Allerdings war es ein Lustspiel,“ rief Rudolph seufzend, „aber eines der feinsten und entzückendsten Art! Leider, daß, nachdem der Lustspielvorhang gefallen war, die Bühne sich wieder zu einem Trauerspiele öffnete, das nicht erschütternder sein konnte.“
„So schieß’ endlich los!“ rief Weindler ungeduldig. „Du hast mit keinem Poeten zu thun, bei dem Du durch Spannung die Wirkung erhöhen kannst! Sage mir einfach, was es ist mit Deiner Frau – denn darauf kommt es doch hinaus, wie ich merke. Warum hab’ ich sie nicht gesehen? Wo ist sie?“
[212] „Habe nur noch eine kleine Geduld und spiele auch mir gegenüber den Arzt! Du mußt Dir ja doch die Schmerzen des Kranken und ihre Veranlassung erklären lassen! – Wir sahen uns wieder und erkannten Beide im ersten Augenblick, daß alle unsere Jugenderlebnisse nur das Vorspiel dieses Wiedersehens gewesen – wir wußten nun, daß wir uns schon damals geliebt hatten; das erste Wort dieses Bekenntnisses vereinigte uns nicht erst, es zeigte uns, daß wir, ohne es zu ahnen, einander schon angehörten. Unsere Verbindung, der keinerlei Hindernisse im Wege standen, wurde bald vollzogen, und ich führte mit Theresen das Glück in der schönsten Bedeutung dieses Wortes in mein Haus. Niemand war mehr über das Ergebniß erfreut, als unsere Jugendgespielin Amalie. Nach meiner Entfernung hatte sie sich noch inniger an Theresen angeschlossen; sie ward unzertrennlich von ihr und nahm dadurch – anfangs zufällig, dann mit Absicht, an ihrem Unterricht Theil. So wuchs sie mit Theresen heran, eine ernstere liebevolle Freundin, und verweilte in ihrem elterlichen Hause, bis ich Theresen daraus entführte. Wir zogen hierher, Amalie nahm eine Stelle als Erzieherin an, nachdem sie unseren Wunsch, auch ferner mit uns zusammen zu leben, hartnäckig zurückgewiesen hatte. – Meine Ehe mit Theresen war eine von den wenigen, in welchen ein vollendeter Zusammenklang der Gemüther, ein gegenseitiges Sichverstehen und Entgegenkommen zur Erscheinung kommt. Therese war nicht blos eine Hausfrau im tüchtigsten und zugleich im zierlichsten Sinne, sie war ein Musterbild edler Weiblichkeit, durch ihre bloße Berührung auch das Alltäglichste erhebend und verschönernd. Die Häuslichkeit ward meine Welt, und ich habe außer ihr zu leben verlernt. Im freundlichen Austausche unserer Ansichten, in gemeinsamem Lesen entwickelten sich unsere Herzen zu immer steigender Verwandtschaft, und was ja noch fehlte, ergänzte die Allzauberin – Musik. Therese besaß eine zwar nicht starke, aber wundersüße Altstimme, und so flog am Piano die Zeit wie spielend dahin! – Wie spielend – ja, das war der rechte Ausdruck, denn spielend begreift man nicht, wie kostbar die Minuten sind!“
Weindler streifte die Asche von der Cigarre und rückte mit einer Gebehrde der Ungeduld auf dem Stuhle.
„Ich bin am Wendepunkt angelangt,“ sagte Rudolph, es bemerkend, „abwärts zum Sturze geht es schneller, als hinauf zum Gipfel. – Unser Glück erreichte den höchsten Grad mit der Geburt meiner Anna; ich sah in ihr ein lebenden Pfand für dessen Beständigkeit, um nur zu bald enttäuscht zu werden. Zwei Jahre – sie werden der Kern und Inhalt meines ganzen Lebens bleiben – zwei himmelvolle Jahre gingen uns so dahin; die Geburt eines Sohnes vermehrte die Zahl unserer Lieben und unserer Freuden … da trat die Katastrophe meines Lebens ein …. Mutter und Kind befanden sich vollkommen wohl, als wir Nachts durch den Brand des Nachbarhauses aufgeschreckt wurden. Die Gefahr war plötzlich da, und in der drohendsten Gestalt, denn nach wenigen Minuten hatten die Flammen schon das Dach über uns ergriffen. Im eigentlichsten Sinne durch Rauch und Feuer, mußte das Kind und die noch zu Bette liegende Mutter weggebracht werden. Zwar gelang es bald darauf, des Brandes Meister zu werden; der größte Theil meiner Habe war gerettet – aber ich hatte verloren, was unersetzbar war. Die vernichtende Wirkung des Schreckens hatte Theresen in ein heftiges Fieber versetzt; sie erkannte Niemand mehr, phantasirte fortwährend und schien am Rande des Grabes zu stehen … Der Knabe starb nach wenigen Tagen … erlaß mir, Dir zu schildern, was ich litt – und doch, was war alles damals Empfundene gegen das, was meiner noch harrte! … Therese genas körperlich – aber vergebens hofften wir, die Klarheit ihres Bewußtseins zurückkehren zu sehen – nach wenigen Tagen blieb nur die entsetzliche Gewißheit … daß sie wahnsinnig geworden …“
Der Erzähler athmete tief auf, schlug die Hände vor’s Gesicht und machte eine Pause, um sich von der angreifenden Erinnerung zu erholen.
Deutsche Bilder.[2]
Nur selten verfehlt der Fremde, welcher zum ersten Male Berlin sieht, dem benachbarten Charlottenburg einen Besuch abzustatten, um das weitberühmte Denkmal der Königin Louise in Augenschein zu nehmen. Eine dunkle Allee von Trauerbäumen führt zu dem würdigen Mausoleum, in dessen Innerem das Marmorbild der hohen Frau, von der Meisterhand eines Rauch geschaffen, zu schlummern und zu athmen scheint. Eine unaussprechliche Anmuth ist über die rührende Gestalt ausgegossen, der Zauber der höchsten Weiblichkeit, gepaart mit der Würde der Königin und dem Frieden einer Heiligen. Man glaubt ein überirdisches Ideal zu erblicken, wie es die schaffende Phantasie in den Stunden der erhabensten Weihe vom Himmel borgt, und doch hat der Künstler, nach der Versicherung der Zeitgenossen, die Wirklichkeit kaum erreicht, geschweige übertroffen, obgleich dies Werk allein ihn schon unsterblich macht.
Aber nicht nur im Marmor lebt die Unvergeßliche, ein unvergänglicheres Denkmal hat sie selbst in den Herzen ihres Volkes, des an ihrer Seite ruhenden Gatten und ihrer Kinder hinterlassen. Die Königin Louise war und ist der Schutzgeist Preußens, ihre Tugenden knüpften das Band zwischen dem Fürsten und seinem Volke fest und unauflöslich; ihre Leiden und ihr Tod weckten das schlummernde Nationalgefühl und den Haß gegen die Unterdrücker des Vaterlandes, ihr abgeschiedener Geist umschwebte die Fahne der preußischen Krieger und führte sie zum Siege; ihr sittliches Beispiel, ihre Einfachheit und Bescheidenheit, ihr Sinn für Häuslichkeit, ihr Pflichtgefühl als liebende Gattin und Mutter wirkten veredelnd auf die Gesellschaft ein, welche bei ihrem Regierungsantritte, angegriffen und angefault von französischer Frivolität, einer moralischen Auflösung entgegenging. Sie weckte von Neuem die erstorbene Liebe zur Familie, sie hob die gesunkene Würde der Frauen, sie stellte durch ihr eigenes Walten die vielfach verletzte Heiligkeit der Ehe wieder her, indem ihre hohe Reinheit das Laster aus ihrer Nähe bannte und die verhöhnte Tugend schützte. Wie von Stein, Hardenberg und Scharnhorst die politische Wiedergeburt Preußens ausging, so war von ihr jene sittliche Regeneration schon früher eingeleitet, welche den am Rande des Abgrundes schwebenden Staat einzig und allein noch retten konnte. Ohne je die Schranken der Weiblichkeit zu überschreiten, indem sie stets in ihrem zugewiesenen Kreise blieb, nie in die Zügel der Regierung griff, gewann die hohe Frau einen mächtigen historischen und socialen Einfluß nicht nur auf ihre nächste Umgebung, sondern auf das ganze Volk. In ihrem Herzen wurzelte die Liebe zu dem großen deutschen Vaterlande, welche sie als ein Erbtheil ihren Kindern hinterließ; denn wie sie als Frau und Mutter an deutscher Treue und Sitte fest hielt, so fühlte sie sich auch auf dem Throne vorzugsweise als deutsche Fürstin. Nicht allein das Unglück und die Schmach Preußens, sondern des gemeinsamen Vaterlandes schlugen ihr die tiefsten Wunden, an denen endlich ihr Herz verblutete.
Sie wurde den 10. März 1776 in Hannover geboren, wo ihr Vater damals die Würde einen kurfürstlich hannoverschen Feldmarschalls bekleidete, indem er erst achtzehn Jahre später seinem unvermählten Bruder als Herzog von Mecklenburg in der Regierung folgte. Ihre Mutter, die Tochter des Landgrafen von Hessen-Darmstadt, wurde frühzeitig den Ihrigen durch den Tod entrissen, nachdem sie dem zehnten Kinde das Leben geschenkt hatte. Louise kam mit ihren Schwestern an den Hof der Großeltern, wo sie eine sorgfältige Erziehung unter der Leitung des Fräulein Gelieux[WS 1] aus der Schweiz erhielt. Frühzeitig lenkte die würdige Gouvernante den Sinn der begabten Schülerin auf das Höhere, obgleich
[213]die spätere Königin sich öfters beklagte, daß der Unterricht ihrer Jugend seinem ganzen Wesen nach mehr ein französischer als ein deutscher gewesen sei. Dieser Vorwurf traf jedoch weniger ihre hochgebildete Großmutter, deren Obhut sie anvertraut war, als den herrschenden Geist der Zeit, der seine Bildung aus Paris bezog. Herrlich aber entwickelte sich Louise an der Seite ihrer Schwestern, die Jean Paul in der Widmung seines Titans folgendermaßen feierte: „Aphrodite, Aglaja, Euphrosyne und Thalia sahen einst in das irdische Helldunkel hernieder und müde des ewig heiteren, aber kalten Olympos sehnten sie sich herein unter die Wolken unserer Erde, wo die Seele mehr liebt, weil sie mehr leidet, wo sie trüber, aber wärmer ist. – – Da beschlossen sie, den Erdenschleier zu nehmen und sich einzukleiden in unsere Gestalt. Sie gingen vom Olympos herab. – – Aber als sie die ersten Blumen der Erde berührten und nur Strahlen und keine Schatten warfen, so hob die ernste Königin der Götter und Menschen, das Schicksal, den Scepter auf und sagte: „Der Unsterbliche wird sterblich auf Erden, und jeder Geist wird ein Mensch!“ Da wurden sie Menschen und Schwestern und nannten sich Louise, Charlotte, Therese, Friederike.“
Kleinere und größere Ausflüge mit der Großmutter führten Louise nach Straßburg, wo sie den erhabenen Münster bestieg, und weiter nach den Niederlanden, deren sie sich später beim Lesen von Schiller’s Geschichte des Abfalls der vereinigten Staaten gern wieder erinnerte. Auch der Kaiserkrönung Franz des Ersten wohnte sie in Frankfurt am Main bei, wo sie mit Goethe’s Mutter bekannt wurde. Die wackere „Frau Rath“ verschaffte dem dreizehnjährigen Fürstenkinde das Vergnügen, sich im Hofe am Brunnen einmal satt zu plumpen und schloß die gestrenge Gouvernante, da diese die Prinzessin durchaus abrufen wollte, gewaltsam auf ihr Zimmer ein. Das vergaß auch Louise nicht und schenkte darum als Königin nach langen Jahren der lieben Frau Rath einen prächtigen, goldenen Schmuck, den sie nur bei außerordentlichen Gelegenheiten anlegte, wie bei dem ersten Zusammentreffen mit der berühmten Frau von Staël. Damals erschien sie, „den bekannten goldenen Schmuck der Königin von Preußen um den Hals geschlungen“, indem sie der Französin mit den erhabenen Worten entgegentrat: „Je suis la mère de Goethe!“
Aus der kleinen, Wasser plumpenden Prinzessin war schon nach wenigen Jahren eine blühende, mit allen Reizen des Körpers [214] und des Geistes geschmückte Jungfrau geworden, welche mit ihrer Großmutter und ihrer Schwester Friederike abermals nach Frankfurt reiste, wo der König von Preußen, Friedrich Wilhelm der Zweite, im Kampfe gegen das revolutionäre Frankreich sein Hauptquartier aufgeschlagen hatte. Dort erblickte der Kronprinz die siebzehnjährige Louise bei der Tafel nach dem Schauspiele, und eine innere Stimme rief ihm, wie er selbst als Greis noch bekannte, die Worte zu: „Die ist es, oder Keine sonst auf Erden!“ Von der unwiderstehlichen Anmuth der holden Erscheinung mächtig angezogen, warb der Königssohn um ihre Hand, welche sie, von gleicher Liebe durchdrungen, ihm freudig überließ. Nicht die gewöhnlichen Rücksichten der Politik, sondern die innigste Neigung schlang das ewige Band um die jugendlichen Herzen; ein Glück, wie es nur höchst selten auf der goldenen Höhe des Thrones gefunden wird. Und um das Maß der Wonne voll zu machen, fühlte sich auch der jüngere Bruder des Kronprinzen zu der Schwester Louisens in gleicher Weise hingezogen, und wie Beide von frühester Kindheit Ernst und Spiel getheilt, so theilten sie auch jetzt der Liebe Glück und Segen. An einem Tage wurde in Darmstadt das Fest dieser Doppel-Verlobung gefeiert, und zwei selige Brautpaare lächelten zur selben Stunde einander zu.
Am 22. December 1793 hielten die fürstlichen Schwestern unter dem Jubel der guten Berliner ihren feierlichen Einzug in die Hauptstadt. Die Ehrenpforte mit festlichen Sinnbildern war nach den Angaben des bekannten Odendichters Rammler errichtet, ein kleines liebliches Mädchen begrüßte die zukünftige Kronprinzessin mit einigen passenden Strophen. Von der Anmuth des Kindes entzückt, folgte Louise dem natürlichen Zuge ihres bewegten Herzens; sie schloß die Kleine in ihre Arme und küßte den niedlichen Mund.
„Mein Gott!“ schrie die förmliche Oberhofmeisterin, über solche Verletzung der vorgeschriebenen Formen entsetzt. „Was haben Ew. königliche Hoheit gethan? Das ist ja gegen alle Etikette!“
„Wie?“ entgegnete lächelnd die Fürstin, „darf ich das nicht mehr thun?“
Ihr natürlicher Sinn sträubte sich von vornherein gegen den höfischen Brauch; auch in der Nähe des Thrones bewahrte sie ihr rein menschliches Gefühl, wobei sie an dem schlichten Charakter des Kronprinzen eine mächtige Stütze fand. Beide führten im Gegensatz zu dem regierenden Könige, der mit seiner Lichtenau schwelgte, ein wahrhaft deutsches, inniges Familienleben. Am liebsten verweilten sie auf dem bescheidenen Landgute Paretz in ländlicher Abgeschiedenheit, umgeben von einigen Freunden, fern von dem Geräusch und dem Luxus der Residenz. Hier schaltete Louise als Hausfrau und bewirthete ihre Gäste an dem einfachen Tische, wie ihn besser jeder reiche Privatmann aufzuweisen hatte; hier streifte sie an der Seite ihres hohen Gatten ohne Zwang durch die grünen Felder, oder ruhte unter dem Schatten der Bäume mit einem Lieblingsschriftsteller in der Hand. Die Kinder des Dorfes kannten und liebten die „gnädige Frau von Paretz“, wie sie allgemein hieß, und empfingen manch kleines Geschenk von ihr, Näschereien und Kleidungsstücke. Wenn der goldene Erntekranz auf das Schloß gebracht wurde, mischte sie sich unter das Gesinde und tanzte den Reigen mit ihrem Hofstaat; selbst die gestrenge Oberhofmeisterin mußte dann ein Tänzchen wagen, zur nicht geringen Belustigung der hohen Herrschaften.
Ihre glückliche Ehe wurde mit Kindern gesegnet, welche sie nicht Fremden überließ, sondern selbst mit mütterlicher Sorgfalt bewachte und auferzog.
Diese Gesinnungen verleugnete sie auch als Königin nicht, als ihr Gatte nach dem Ableben seines Vaters den Thron bestieg. Ihre Liebenswürdigkeit, Herzensgüte und Häuslichkeit blieb unter allen Verhältnissen sich gleich; der Glanz der Krone blendete sie nicht, die Huldigungen, welche ihr allgemein zu Theil wurden, bestachen nicht ihr gesundes Urtheil. Sie war das Muster einer deutschen Fürstin, geschmückt mit allen Reizen der Natur, mit allen Gaben des Herzens und des Geistes. Mit ihr begann an dem verwilderten Hofe eine neue Aera, die Herrschaft der bis dahin verbannten und unterdrückten sittlichen Elemente, welche sich um die schöne, tugendhafte Fürstin schaarten. Lüge und Heuchelei mußten vor ihrem klaren Blicke schwinden, jedes Vorurtheil vor ihrer Gerechtigkeit verstummen. Bei einer großen Cour fragte sie eine junge Officiersfrau: „Was sind Sie für eine Geborene?“
Die verlegene Dame stammelte in der Angst ihres bürgerlichen Herzens: „Ach, Ihro Majestät! Ich bin gar keine – – Geborene.“ Die höfische Umgebung lächelte spöttisch, aber der ernste Blick der Königin verscheuchte den aufsteigenden Hohn der adeligen Gesellschaft.
„Ei, Frau Majorin,“ sagte sie, sich freundlich zu der jungen Frau neigend, „Sie haben mir naiv-satirisch geantwortet. Ich gestehe, mit dem herkömmlichen Ausdruck: „von Geburt sein,“ wenn damit ein angeborner Vorzug bezeichnet werden soll, habe ich nie einen vernünftigen, sittlichen Begriff verbinden können, denn in der Geburt sind sich alle Menschen ohne Ausnahme gleich. Allerdings ist es von hohem Werthe, ermunternd und erhebend, von guter Familie zu sein und von Vorfahren und Eltern abzustammen, die sich durch Vorzüge und Verdienste auszeichneten, und wer wollte das nicht ehren und bewahren? Aber dies findet man, Gott Lob! in allen Ständen, und aus den untersten selbst sind oft die größten Wohlthäter des menschlichen Geschlechts hervorgegangen. Aeußere glückliche Lagen und Vorzüge kann man erben, aber innere persönliche Würdigkeit, worauf am Ende doch Alles ankommt, muß Jeder für sich und seine eigene Person durch Selbstbeherrschung erwerben. Ich danke Ihnen, liebe Frau Majorin, daß Sie mir Gelegenheit gegeben haben, diese, wie ich glaube, für’s Leben nicht unwichtigen Gedanken unbefangen auszusprechen, und ich wünsche Ihnen in Ihrer Ehe viel Glück, dessen Quelle doch immer nur im Herzen liegt.“
Wie sie hier dem Vorurtheile der Geburt begegnete, so suchte sie ein andermal die Ungerechtigkeit der Natur durch ihre Milde auszugleichen. Bei der Huldigungsreise durch Pommern wurde sie in Stargard von einer Schaar weißgekleideter Kinder empfangen, welche vor ihr her Blumen streuten. Bald war sie die Vertraute der Kleinen, die ihr erzählten, sie seien eigentlich ihrer zwanzig Mädchen gewesen, aber die Eine sei wieder nach Hause geschickt worden, weil sie gar zu häßlich ausgesehen habe.
„Das arme Kind,“ rief die mitleidige Königin, „hat sich gewiß gefreut und muß nun zu Hause sitzen und wird seine bittern Thränen weinen!“
Sogleich ließ sie die zurückgesetzte Kleine holen, um sie vor Allen auszuzeichnen und mit reichen Geschenken zu beglücken. In diesen kleinen Zügen offenbarte sich das Herz der Königin.
Kein Wunder, daß sie geliebt und angebetet wurde! Das Volk war stolz auf die gute Landesmutter, Dichter, wie Novalis und Schlegel, besangen sie, die edelsten Männer blickten bewundernd zu ihr empor, während die ganze Frauenwelt in ihr ein unerreichbares Ideal sah; aber vor Allem beseligte sie die unaussprechliche Liebe des Königs, dessen größter Schatz Louise war.
So lebte sie schöne Tage des Glückes, bis das längst drohende Schicksal über Preußen hereinbrach, bis die hohe Frau unter den schwersten Leiden und Prüfungen ihre göttliche Natur bewähren und die goldene Krone mit dem Dornenkranz der Märtyrerin vertauschen sollte.
Der Staat des großen Friedrich war unter seinem nächsten Nachfolger durch Verschwendung und schlechte Verwaltung innerlich tief zerrüttet worden, obgleich er äußerlich durch trügerischen Glanz sein früheres Ansehen zu behaupten suchte. Durch die französische Revolution und das Genie Napoleons wurde das Gleichgewicht Europa’s und somit auch die Stellung Preußens bedroht. Friedrich Wilhelm der Dritte zeigte sich besonders im Anfange seiner Regierung den neuen, großen Verhältnissen nicht gewachsen. Aus Bescheidenheit und Mißtrauen gegen sich selbst, eine Folge seiner Erziehung, überließ er die Leitung des Staates seinen Ministern und Rathgebern, die nicht immer die Besten waren. An ihrer Spitze stand der schwache, charakterlose, hin und her schwankende Graf Haugwitz. Der friedliebende König wünschte so lange als möglich in dem großen, welterschütternden Kampfe neutral zu bleiben, während er von allen Seiten gedrängt wurde, Partei zu nehmen. Am Hofe selbst standen sich zwei entgegengesetzte Richtungen gegenüber: auf der einen Seite die Anhänger der Franzosen, Haugwitz, Lombard etc., welche auf eine enge Verbindung mit Napoleon drangen; auf der andern Seite die Gegner Frankreichs, zu denen die königlichen Prinzen, vor Allen der geniale Prinz Louis Ferdinand, die Generale Blücher, Rüchel und Pfuel, die Minister Stein und Hardenberg gehörten. Auch die Königin Louise neigte sich zu der letzteren Partei, weil sie Preußens Heil allein in einem engeren Anschlusse an das gesammte Deutschland und besonders an Oesterreich sah.
Noch zögerte der König mit seiner Entscheidung, als Napoleon [215] gegen jedes Völkerrecht das preußische Gebiet durch seinen Einbruch in die Ansbachischen Länder verletzte und somit allen bestehenden Verträgen Hohn sprach. Ein Schrei des Unwillens ging durch das ganze Land, das Heer brannte vor Begierde, sich mit dem Feinde zu messen. Oesterreich schickte den Erzherzog Anton nach Berlin und forderte zu gemeinschaftlichem Handeln auf. Der ritterliche Alexander von Rußland erschien selbst in der preußischen Residenz, um Friedrich Wilhelm zu einem Bündnisse zu bewegen. Es kam in Potsdam zu einem geheimen Vertrage, der an dem Sarge Friedrich des Großen besiegelt wurde. Um Mitternacht stiegen die beiden Monarchen in die erleuchtete Gruft, mit ihnen die holde Königin. Alexander neigte seine Lippen auf den Sarg des unsterblichen Todten und küßte ihn, dann reichten sich die Fürsten die Hände und schwuren sich ewige Freundschaft.
Aber der Sieg Napoleons über die vereinigten Russen und Oesterreicher bei Austerlitz und das feige Benehmen des im Lager befindlichen Haugwitz, welcher seinen Aufträgen zuwider einen schimpflichen Vertrag mit dem Sieger schloß, trennte Preußen von seinen Bundesgenossen und isolirte es völlig, so daß es widerstandslos zusammenbrach. Es folgten die Tage der Schmach von Jena, die Auflösung des Heeres, die schimpfliche Uebergabe der Festungen, die Flucht der königlichen Familie nach Königsberg. In seinen Bulletins entblödete sich Napoleon nicht, die unglückliche Fürstin zu verhöhnen und in gemeinster Weise zu verleumden, indem er sie als die alleinige Ursache des Krieges beschuldigte. Bei ihren Leiden suchte und fand sie Trost in dem unerschütterlichen Glauben an eine höhere Vorsehung, in dem Bewußtsein ihres edlen Herzens, in den Worten des Dichters, deren sie sich auf der Flucht erinnerte:
Wer nie sein Brod mit Thränen aß,
Wer nie die kummervollen Nächte
Auf seinem Bette weinend saß,
Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte.“
Unterdeß wüthete der Krieg in Preußen fort, bis endlich von russischer Seite der Abschluß des Waffenstillstandes und die bekannte Zusammenkunft der beiden Kaiser auf dem Memel folgte, wo Alexander seinen vertrauungsvollen Bundesgenossen rücksichtslos Preis gab. Die Räthe Friedrich Wilhelm des Dritten hofften durch die persönliche Anwesenheit der Königin von dem übermüthigen Sieger minder harte Friedensbedingungen zu erlangen. Sie willigte in das ihr zugemuthete Opfer, so schwer es ihr auch fiel, und erschien als eine Bittende vor dem stolzen Feinde, der sie durch sein wegwerfendes Benehmen zu demüthigen gedachte.
Eine Stunde nach ihrer Ankunft nahte Napoleon mit einem großen Gefolge. Er ritt einen kleinen arabischen Schimmel; Generäle hielten ihm den Steigbügel, als er abstieg. Der König und die Prinzen gingen ihm bis unten an die Haustreppe entgegen. Der Kaiser hatte eine kleine Reitpeitsche in der Hand, nahm den Hut ab, grüßte rechts und links und ging sogleich zur Königin hinauf. Sie empfing ihn mit dem feinsten Tacte, ohne ihrer weiblichen und fürstlichen Würde das Geringste zu vergeben. Nach der ersten Begrüßung kam sie sogleich auf den eigentlichen Beweggrund ihrer Reise zu sprechen; er unterbrach sie jedoch, indem er unter andern die unzarte Frage an sie richtete: „Aber wie konnten Sie den Krieg mit mir anfangen?“
„Sire,“ entgegnete Louise würdevoll, „dem Ruhme Friedrichs war es erlaubt, uns über unsere Kräfte zu täuschen, wenn anders wir uns getäuscht haben.“
Im Laufe der ferneren Unterhaltung erfuhr auch Napoleon den unwiderstehlichen Zauber ihrer Persönlichkeit, den Reiz der edelsten Weiblichkeit; die Stärke des Geistes und des Charakters der hohen Frau machten einen tiefen Eindruck auf den stolzen Sieger; er überhäufte sie mit allerdings nichtssagenden Artigkeiten und lud sie zur Abendtafel ein. Während der Mahlzeit war es ihr einziges Bestreben, ihm wenigstens ein Wort zu entreißen, woraus sie Hoffnung schöpfen konnte; besonders ließ sie es sich angelegen sein, mindestens die Rückgabe von Magdeburg zu erlangen. Aber Napoleon, dem der schlaue Talleyrand zur Seite stand, war nur zu sehr auf seiner Hut; er benahm sich zwar artig und stets achtungsvoll, aber ausweichend und zurückhaltend; sein Widerstand glich einer fortwährenden Flucht vor dem Geiste und der Liebenswürdigkeit der Königin. Es war gewiß ein ebenso eigenthümliches, als interessantes Schauspiel, diesem Kampfe der weiblichen Anmuth und Feinheit mit dem männlichen Trotze und politischen Egoismus beizuwohnen.
„So wollen Sie mich,“ klagte Louise nach aufgehobener Tafel, „scheiden sehen, ohne eine Erinnerung in meinem Herzen zurückzulassen, die mir gestattete, mit der Bewunderung für den großen Mann auch eine unauslöschliche Dankbarkeit gegen den großmüthigen Sieger zu verbinden?“
Statt ihr zu antworten, nahm Napoleon aus der vor ihm stehenden Blumenvase eine Rose von seltener Schönheit, die er ihr mit einer galanten Verbeugung überreichte. Sie schien erst geneigt, seine Gabe abzulehnen, besann sich jedoch und nahm sie, wenn auch zögernd.
„Zum Mindesten,“ fügte sie bittend hinzu, „mit Magdeburg.“
„Belieben Euere Majestät zu bedenken,“ entgegnete er ausweichend, „daß ich es bin, der darbietet, und daß Euere Majestät nur anzunehmen haben.“
Nur mit Mühe unterdrückte die Königin ihre hervorbrechenden Thränen; sie hatte sich umsonst gedemüthigt. Der Friede wurde geschlossen, der Preußen fast die Hälfte seiner Länder kostete und unerschwingliche Opfer auferlegte. Niemand empfand die Schmach des Vaterlandes so tief, wie die hohe Frau, vor Allen aber den schimpflichen Verlust von Magdeburg. „Wenn man mein Herz öffnen könnte,“ sagte sie, „so würde man darin in blutigen Zügen den Namen Magdeburg finden.“ – Aber sie überließ sich nicht einer dumpfen, hoffnungslosen Verzweiflung; mitten im Unglücke bewahrte sie den ihr eigenen Muth, sie richtete den gebeugten König auf, sie tröstete ihre Umgebung, sie erkannte die Nothwendigkeit, durch sittliche Hebung des Volkes, durch Weckung des nationalen Bewußtseins, durch Erziehung der kommenden Geschlechter eine neue, bessere Zeit heraufzuführen. Zu diesem Behufe suchte sie die edelsten Männer und Vaterlandsfreunde in die Nähe des Königs zu bringen; sie erkannte den Werth eines Stein und Hardenberg, sie beschützte Beide gegen die Intrigue der franzosenfreundlichen Höflinge.
Mit dem berühmten Jugenderzieher Pestalozzi in der Schweiz trat sie in unmittelbare Verbindung, um durch sein System einen besseren Unterricht für die preußischen Schulen anzubahnen. Vor allen Dingen aber lebte in ihrem Herzen der Glaube und die Liebe für das deutsche Volk, die sie mitten in dem größten Trübsal und in der allgemeinen Verwirrung nicht verlor. Sie las fleißig die Geschichte ihrer „lieben Deutschen“, unter denen sie besonders der Ostgothe Theodorich ansprach. „Dieser war ein echter Deutscher,“ schreibt sie an einen Freund, „die Geradheit seines Charakters, die Tiefe seines Gemüths und die Großmuth seines Herzens bezeugen es. Der Charakter Karls des Großen trägt schon ein Gepräge des Frankenthums, welches mich etwas abschreckt.“
Bitter klagte sie über die Zerrissenheit des deutschen Vaterlandes, nach Kräften war sie bestrebt, den unseligen Zwiespalt zu beseitigen, sodaß ihr Sohn als König Friedrich Wilhelm der Vierte mit Recht sagen durfte: „Die Einheit Deutschlands liegt mir am Herzen. Sie ist das Erbtheil meiner Mutter.“
Von diesen Gesinnungen, der sittlichen Größe, der Klarheit ihres Geistes und der Richtigkeit ihres Urtheils legt ihr Briefwechsel, den Friedrich Adami in seiner trefflichen Biographie der Königin Louise theilweise veröffentlicht, das schönste Zeugniß ab. So schreibt sie an ihren Vater: „Es wird mir immer klarer, daß Alles so kommen mußte, wie es gekommen ist. Die göttliche Vorsehung leitet unverkennbar neue Weltzustände ein, und es soll eine andere Ordnung der Dinge werden, da die alte sich überlebt hat und in sich selbst abgestorben zusammenstürzt. Wir sind eingeschlafen auf den Lorbeern Friedrich des Großen, welcher, der Herr seines Jahrhunderts, eine neue Zeit schuf. Wir sind mit derselben nicht fortgeschritten, deshalb überflügelt sie uns. – – – Gewiß wird es besser werden, das verbürgt der Glaube an das vollkommenste Wesen. Aber es kann nur gut werden in der Welt durch die Guten. Deshalb glaube ich auch nicht, daß der Kaiser Napoleon Bonaparte fest und sicher auf seinem jetzt freilich glänzenden Throne ist. Fest und ruhig ist nur allein Wahrheit und Gerechtigkeit, und er ist nur politisch, das heißt klug, und er richtet sich nicht nach ewigen Gesetzen, sondern nach Umständen, wie sie eben sind. Dabei befleckt er seine Regierung mit vielen Ungerechtigkeiten. Er meint es nicht redlich mit der guten Sache und mit den Menschen. Er und sein ungemessener Ehrgeiz meint nur sich selbst und sein persönliches Interesse. Man muß ihn mehr bewundern, als man ihn lieben kann. Er ist von seinem Glücke [216] geblendet, und er meint Alles zu vermögen. Dabei ist er ohne alle Mäßigung, und wer nicht Maß halten kann, verliert das Gleichgewicht und fällt. Ich glaube fest an Gott, also auch an eine sittliche Weltordnung. Diese sehe ich in der Herrschaft der Gewalt nicht; deshalb bin ich der Hoffnung, daß auf die jetzige böse Zeit eine bessere folgen wird. – – Wie Gott will; Alles wie er will. Aber ich finde Trost, Kraft, Muth und Heiterkeit in dieser Hoffnung, die tief in meiner Seele liegt. Ist doch Alles in der Welt nur Uebergang! Wir müssen durch. Sorgen wir nur dafür, daß wir mit jedem Tage reifer und besser werden.“
Kurz nach dem Frieden folgte Louise mit dem Könige einer Einladung des Kaisers Alexander nach Petersburg, wo ihr die glänzendste Aufnahme bereitet wurde. Aber die Pracht und der Luxus der Höfe konnte sie nicht blenden, sie hatte die Nichtigkeit der irdischen Größe nur zu sehr kennen gelernt. Tiefer ergriff und freute sie der Jubel ihres Volkes bei ihrer Rückkehr nach Berlin. Die Treue und unerschütterte Liebe, die ihr hier zu Theil wurde, rührten sie bis zu Thränen.
Aber die vorangegangenen Leiden und die fortdauernden Kränkungen hatten ihre zarte Gesundheit untergraben. Wohl ahnte sie mit prophetischem Geiste die künftige Erhebung des Vaterlandes und trug nach Kräften dazu bei, aber ihr selbst sollte es nicht vergönnt sein, den Tag der Befreiung zu erblicken.
Schon lange war es ihr Wunsch gewesen, ihren Vater und die herzogliche Familie in Strelitz zu besuchen. Rührend war das Wiedersehen, aber bald getrübt durch ein leises Unwohlsein, das sich mit überraschender Schnelligkeit in ein lebensgefährliches Brustleiden verwandelte. Ihr Gatte, selbst krank, eilte mit den beiden ältesten Söhnen an das Lager der Sterbenden. „Ach!“ klagte der Unglückliche, „wenn sie nicht mein wäre, würde sie leben, aber da sie meine Frau ist, stirbt sie gewiß.“
Fortwährend hielt er ihre Hand in der seinigen, als wollte er sie nicht scheiden lassen.
„Herr Jesus!“ flehte sie in banger Todesangst, „mach es kurz!“
Fünf Minuten später, am 18. Juli 1810, hatte sie ausgelitten; ihr bleiches Gesicht war das einer verklärten Heiligen. Zu ihren Füßen kniete der schwer geprüfte König mit seinen Kindern, die Hände der Entseelten mit ihren heißen Thränen benetzend.
Nicht nur Preußen, ganz Deutschland trauerte um Louise; jedes Haus wurde ein Klagehaus, und ihr Tod weckte in jeder Brust den tiefsten Schmerz, aber auch den Haß gegen den fremden Unterdrücker, um dessen willen sie so viel gelitten.
„Wir wissen“ – sagte der berühmte Schleiermacher in seiner Gedächtnißrede auf die geschiedene Königin – „wie innig sie, ohne jemals die Grenzen zu überschreiten, die auch für jene königlichen Höhen der Unterschied des Geschlechtes feststellt, Antheil genommen hat an allen großen Begebenheiten; wie sie sich eben durch die Liebe zu ihrem königlichen Gemahl, durch die mütterliche Sorge für die theueren Kinder Alles angeeignet hat, was das Vaterland betraf; wie lebendig sie immer erfüllt war von den ewig herrlichen Bildern des Rechtes und der Ehre; wie begeisternd ihr Bild und Name, eine köstlichere Fahne, als welche die königlichen Hände verfertigt hatten, den Heeren im Kampfe voranging!“ –
Darum lebt Louise in den Herzen ihres Volkes und aller Deutschen jetzt und immerdar, als die Erste der Frauen, als die beste Königin.
Während sich Wilhelmine mit leidenschaftlichem Eifer ihren musikalischen und dramatischen Studien hingab, blieb ihr doch Sinn und Zeit für die kleinen Aufgaben des täglichen Lebens. Sie sorgte für die Pflege der jüngeren Geschwister, für die Ordnung im Hause, und wer sie Abends auf der Bühne bewundert hatte, konnte ihr Morgens zwischen den Körben der Marktweiber begegnen, wie sie emsig nach dem Guten und Wohlfeilen suchte, oder trotz Sonnengluth und Regenschauern große Körbe voll Proviant nach Hause trug, Hier war es dann ihr größtes Vergnügen, die Vorräthe in Keller und Speisekammer auf’s Schönste zu ordnen. „Der Keller war mein Garten,“ erzählte sie oft; „jede Kohl- und Rübensorte hatte ihr eigenes Beet von weißem Sande. Mein Schmerz war nur, daß sich die Mutter so wenig für diese Herrlichkeiten interessirte.“
Auch die Gesellschaft nahm die junge schöne Künstlerin mehr und mehr in Anspruch, und sie gab sich mit voller Jugendlust den Freuden und Huldigungen derselben hin. Sie war die unermüdlichste Tänzerin, sang, so oft sie dazu aufgefordert wurde, freute sich wie ein Kind, wenn sie selbst und ihre Lieder gefielen, und war durch Heiterkeit, Reiz und Anmuth die Seele jedes Kreises, in dem sie sich bewegte.
Aber sie hatte auch schwere Stunden, und was sie quälte, war nicht nur die unbestimmte Sehnsucht, die der Jugend fast immer den Genuß des Augenblicks verkümmert. Eine Schauspielerin kann nicht behütet werden, wie andere Mädchen. Als halbes Kind schon hatte Wilhelmine Leidenschaften und Laster in ihrer häßlichsten Gestalt sehen müssen. Instinctiv bebte ihre reine Seele vor der Berührung mit dem Schlechten zurück, und wo sich diese Berührung nicht vermeiden ließ, wurde sie ihr eine Quelle bittersten Leidens. Auch das Intriguenwesen, das sich um jede Bühne, um jede Berühmtheit der Theaterwelt drängt und in das sie nur zu bald einen Einblick gewann, war ihrer groß angelegten Natur, ihrem durchaus offenen Charakter im tiefsten Innern zuwider. Die Begeisterung für die Kunst erhob sie zwar über diesen Wust, und im Feuer der Arbeit konnte sie ihre Umgebung ganz vergessen – aber es kamen Tage der Ermattung, der Muthlosigkeit, und dann drang alles Schlechte, Häßliche, Unwahre mit erdrückender Gewalt auf sie ein. Das ganze Leben erschien ihr in solchen Momenten wie ein Gewebe von Lüge und Niederträchtigkeit. Sie verzweifelte an sich selbst, an ihrer Aufgabe, fühlte sich von unbezwinglichem Ekel am Dasein, von unerträglicher Angst vor der Zukunft erfüllt und wußte nicht, wohin sie sich retten sollte.
Oft, wenn sie aus den Proben kam, trennte sie sich von den plaudernden Cameraden, um sich verstohlen in die nächste Kirche zu schleichen, wo sie sich zitternd im Schatten eines Pfeilers auf die Kniee warf, das Gesicht verhüllte und weinte und betete. Schon damals erwachte in ihr jene Sehnsucht nach Ruhe, nach einem engbegrenzten, einfachen Leben, die sie wie ein verzehrendes Heimweh bis zum Tode verfolgen sollte, während ihrem Schaffensdrang, ihrem rastlosen Vorwärtsstreben die ganze Welt noch zu eng war. „Wenn ich katholisch gewesen wäre,“ sagte sie oft, „so hätte ich mich damals in ein Kloster geflüchtet.“
Es war anders über sie beschlossen. Sie lernte den Schauspieler Karl Devrient kennen; er war ein schöner Mann, von einschmeichelndem Benehmen, der ihr Herz schnell gefangen nahm. Die Ehe mit dem geliebten Manne, das war das Asyl, die Heimath, nach der sie sich sehnte! Im Sommer 1823 wurde das Bündniß in der Jerusalemerkirche zu Berlin geschlossen, und nach einigen Reisen übersiedelte das Künstlerpaar nach Dresden, wo Beide engagirt waren.
Es ist nicht meine Absicht, hier auf die intimen Lebensverhältnisse der Verewigten einzugehen, deshalb werde ich die Geschichte dieser Ehe nicht näher berühren. Aber wenn es wahr ist, was Wilhelmine Schröder-Devrient so oft tief schmerzlich aussprach – wenn es wahr ist, daß der Künstler unglücklich sein muß, um die volle Weihe des Genius zu empfangen, so ist diese Verbindung eine der mächtigsten Stufen gewesen, auf welcher sie zur künstlerischen Vollendung emporschritt.
Die Ehe war in jeder Beziehung eine unglückliche und wurde schon im Jahre 1828 wieder getrennt. „Ich mußte mich frei machen,“ sagte Wilhelmine, „um nicht als Weib wie als Künstlerin unterzugehen.“ Um frei zu werden, brachte sie jedes Opfer; selbst von den Kindern, die sie leidenschaftlich liebte, riß sie sich los, aber von den Erinnerungen an jene Zeit hat sie sich nie befreien können; bis zur Todesstunde haben sie einen tiefen, dunkeln Schatten über ihr Leben geworfen.
Auch die Freude an ihren Kindern – zwei Söhne und zwei Töchter waren ihr geschenkt – hat sie nicht so rein genießen dürfen, [217] wie andere Mütter. Ihr ältester Sohn war kaum ein paar Monate alt, als sie ihn fremden Händen anvertrauen mußte, um den Gatten auf einer Kunstreise zu begleiten, und das wiederholte sich auch bei den andern Kindern. „Wie oft habe ich damals mit mühsam verhaltenen Thränen gesungen!“ sagte sie, und nach so langen Jahren noch wurden ihr bei der Erinnerung daran die Augen naß. Das Schrecklichste aber war, daß ihr jüngstes Töchterchen, die kleine Louise, der unachtsamen Wärterin vom Arme fiel, während die Mutter in den Proben war. Sie fand das arme kleine Wesen in Convulsionen liegend, in denen es, dem Anschein nach unter entsetzlichen Qualen, verschied. Dies Unglück hätte jede Mutter treffen können; aber Wilhelminens verdüstertem Gemüth erschien es wie ein Fluch ihres Standes, und jahrelang verfolgte sie das Bild des sterbenden, wie sie sich ausdrückte, „für ihre Kunst gemordeten“ Kindes.
Trotz ihrer Berufspflichten that sie übrigens mehr für ihr Haus und ihre Kinder, als tausend andere Frauen. Wer sie damals gekannt hat, spricht noch heute mit Bewunderung von ihrem unermüdlichen Fleiße, ihren häuslichen Talenten, ihrer zärtlichen Sorgfalt für die Kleinen. Da sie während ihrer Ehe zu großer Sparsamkeit gezwungen war, verrichtete sie selbst die gröbsten Arbeiten, um ihrem Hauswesen jene Sauberkeit zu erhalten, die ihr so nothwendig war, wie Luft und Licht. Die pedantische Ordnungsliebe, die sie vom Vater geerbt hatte, steigerte sich bei ihr zu einer Art von Fanatismus. So freigebig sie später große Summen hingab – wegwarf, darf man wohl sagen – so genau berechnete sie die kleinen Ausgaben des täglichen Lebens, und der Gedanke, um einen Groschen betrogen zu sein, erregte ihren höchsten Zorn. Die Haarnadeln, die sie trug, hatte sie seit mehr als dreißig Jahren. Sie zeigte sie mit einer Art von Zärtlichkeit und sagte dabei: „Wäre mir jemals, während ich als Euryanthe oder Vestalin mit aufgelöstem Haar auf der Bühne stand, der Gedanke gekommen, diese Nadeln könnten in der Garderobe weggeworfen werden, so wäre ich nicht im Stande gewesen, weiter zu singen,“ und oft hat sie uns erzählt, daß sie selbst in den Zeiten ihres angestrengtesten künstlerischen Schaffens nicht im Stande gewesen wäre, sich niederzulegen, ohne sich vorher zu überzeugen, daß Alles am bestimmten Orte lag und stand. Die Gläser mußten im Schranke nach dem Muster geordnet sein, die Küchenhandtücher nach der Nummer über einander liegen. Noch in den Tagen der letzten schweren Krankheit habe ich sie oft ein vom Kammermädchen gereichtes Taschentuch zurückweisen sehen, weil diese Nummer noch nicht an der Reihe war. „Wie hätte ich wohl die Ruhe und Sammlung finden können, die dem Künstler unentbehrlich ist,“ pflegte sie zu sagen, „wenn ich um mich her Unordnung geduldet hätte?“
Es war dies im Grunde eine nothwendige Folge ihres empfindlichen Schönheitssinnes. Etwas Häßliches, Unharmonisches in ihrer Umgebung verursachte ihr ein Unbehagen, das sich bis zum physischen Schmerze steigern konnte. Prunkliebend war sie gar nicht. Das Einfachste genügte ihr, wenn es sich harmonisch zum Ganzen fügte, und zur Herstellung einer solchen Harmonie besaß sie ein seltenes Talent. Sie brauchte nur ein Möbel anders zu rücken, einen Vorhang in ihrer Weise zu drapiren, ein paar Blumen zusammen zu stellen, und das kahlste chambre-garni wurde behaglich und war vom Hauch der Individualität durchweht.
Nach der Scheidung, als sie ihr Leben nach eigenem Geschmacke gestalten konnte, war die Einrichtung ihrer Zimmer berühmt; aber sie glänzten nicht durch blendende Farben, kostbare Stoffe, Vergoldungen oder jene Anhäufung moderner Spielereien, die eine Wohnung zur Raritätenbude macht, in der wir kaum zu athmen wagen. Da war Raum für Luft und Licht und freie Bewegung; ein künstlerisches Auge hatte die Farben zum wohlthuendsten Einklang vereinigt, jeden Hausrath in schöner Form gewählt und jedem Dinge den rechten Platz gegeben, so daß es eben so zweckmäßig, als schön erschien. Selbst die Bilder und Statuen, die Blumengruppen und Epheulauben erschienen nicht wie ein zufälliger Schmuck, sondern wie nothwendige Bestandtheile des Rahmens, der das häusliche Leben der Künstlerin umschloß.
Auch ihr Anzug war immer in diesem künstlerischen Geschmack gewählt; immer in Schnitt und Farbe ihrer Persönlichkeit angemessen; immer – selbst wenn er prächtig sein mußte – so einfach, daß er nur als Fassung für ihre Schönheit, nie als ein prunkendes Zurschautragen von Schmuck oder modischem Putz erschien. Eine unschöne Mode, selbst wenn sie allgemein verbreitet war, nahm sie nicht an. So war es ihr Stolz, daß sie nie eine Crinoline getragen hatte. Mit komischem Entsetzen schilderte sie die Gefahren großer Gesellschaften, „in denen man sich mit den Reifröcken die Augen aussticht“. Auch zu einem Kopfputz von Band oder Spitzen konnte sie sich nicht verstehen. Sie wußte, daß ihr Kopf nur für den Kranz oder das Diadem gemacht war. „Und für eine Dornenkrone“, fügte einer ihrer Freunde hinzu, in dessen Gegenwart sie dies aussprach.
Ihre Straßentoilette war von gesuchter Einfachheit; im Hause trug sie in der letzten Zeit vorzugsweise dunkle Farben, schwere Stoffe ohne allen Ausputz und wenig einfachen Schmuck. Selbst in der Krankheit war ihr Anzug schön. In einem weiten, weißgrundigen Peignoir lag sie auf ihrem Ruhebette, und nie habe ich dies Gewand zerdrückt oder gar befleckt gesehen. Es war als ob das Unschöne, Unreine äußerlich so wenig wie innerlich an ihr haften könnte.
Auch ihre Handarbeiten waren, wie Alles was ihr angehörte, geschmackvoll und von höchster Sauberkeit. Sie machte die feinsten russischen und türkischen Stickereien, und nie habe ich schönere Strickereien gesehen, als die von ihrer Hand – derselben Hand, die so oft Romeos Degen gezückt und Armidens Fackel geschwungen hatte. Mit der peinlichsten Ordnung ging sie dabei zu Werke; ich werde nie vergessen, wie eifrig sie wurde, als wir sie eines Abends zum Ausgehen abholen wollten und nicht gleich einsahen, daß sie ihre Tour fertig stricken müsse, ehe sie den Strumpf zusammenlegen konnte. Daß die Handarbeit nicht nur ein Zeitvertreib war, den sie in den letzten Jahren zur Ausfüllung müßiger Stunden hervorgesucht hatte, geht aus einem Briefe des Großherzogs Georg von Mecklenburg-Strelitz vom Jahre 1845 hervor, worin es heißt:
- „Also alle Talente sind Ihnen eigen, liebe Schröder-Devrient! Ist denn das recht, und muß denn die Muse auch das noch besitzen, was sonst nur zum Schmuck der gewöhnlichen Erdenkinder gehört? Aber so sind die Götter. Wen sie einmal zu ihrem Liebling erkoren, über den gießen sie die ganze Fülle ihrer himmlischen Gaben aus, als wenn sie davon nicht genug zu geben hätten, und so umgekehrt: wer einmal das Unglück hat ihr Stiefkind zu sein, der steht umsonst am Eingang des Olymps, es fällt kein göttlicher Strahl auf ihn herab. Dies sind die Gedanken und Gefühle, die mich durchströmten, als nach Lesung eines unendlich liebenswürdigen Briefes der Anblick eines ebenso unendlich schönen Geschenkes mich beglückte. Es vereint in der That Alles, was der feinste Geschmack und die geschickteste Hand nur liefern können, und ich wiederhole es, nie würde ich geglaubt haben, daß die Muse, die ich so hoch verehre und liebe, auch in Führung der Nadel zu excelliren vermöchte.“
Wilhelminens fürstlicher Freund hatte Recht: sie besaß jedes Talent. Obwohl sie niemals Unterricht im Zeichnen gehabt hatte, warf sie während einer Rheinreise die reizendsten landschaftlichen Skizzen auf’s Papier, indeß das Dampfschiff sie stromaufwärts trug. Nach zweistündigem Unterricht im Modelliren war sie im Stande den Fuß einer Venus nachzubilden. Die Lieder, die sie componirt hat, athmen die ganze Wärme ihrer Empfindung, und fremde Sprachen machte sie sich im Fluge in Klang und Geist zu eigen.
Wenn ihre Freunde diese Gaben bewunderten, gab sie immer traurig zur Antwort: „Es ist ja nichts in mir ausgebildet; ich habe niemals Zeit zum Lernen gehabt, und so habe ichs in allen diesen Dingen zu nichts gebracht.“ Um die ganze Bescheidenheit dieses Ausspruchs zu verstehen, mit dem es ihr völliger, schmerzlicher Ernst war, muß man sie persönlich gekannt, muß ihr nahe gestanden haben. Ihre Bildung war eine ganz außergewöhnliche; ihr reicher Geist umfaßte das Große wie das Kleine, nichts lag ihr zu fern oder zu unbequem, und was sie einmal interessirte, das riß sie mit einer Art von Ungestüm an sich. Sie wurde dazu – wie zu ihrem künstlerischen Streben – durch ein unabweisliches Bedürfniß ihrer Natur getrieben. Ihr ganzes Leben war ein Suchen nach Wahrheit. In einem ihrer Tagebücher sagt sie darüber: „Das Forschen des Geistes nach Klarheit und Wissen ist die Erleichterung der Seele, damit sie die Kerkerthüren des Körpers mit weniger Mühe sprengen kann und durch ihre Schwerfälligkeit nicht dem Körper Unterthan wird. Bei dummen, geistig ungebildeten Menschen, denke ich, muß die arme Seele wie angeleimt sein, darum kann sie sich auch nicht gleich zur selben Höhe schwingen, wie die Seelen derer, die durch Geist und Wissen schon mehr Durchsichtigkeit und Klarheit erhalten haben. Jene muß erst noch durch reinigende Elemente durchgehen, indessen diese sich, wie ein leichter Luftballon, in reinere Sphären aufschwingen.“
[218]
Der Zusammenhang und Zusammenhalt unsers geistigen Lebens ist durch das Gedächtniß bedingt. Denn da wir stets nur in der Gegenwart leben, nur der gegenwärtige Augenblick unser ist: so würde uns die Vergangenheit unsers Daseins ganz verloren gehen, wenn wir sie nicht im Gedächtniß, in der Rückerinnerung aufzubewahren vermöchten. Wir würden gleichsam jeden Augenblick von vorn anfangen zu leben, und somit wäre unser ganzes Leben Nichts, als eine Folge von lauter vereinzelten, zerstückelten Momenten, ohne allen Sinn und Zusammenhang. Ob wir in diesem Falle tausend Jahre oder nur eine Minute lebten, bliebe sich für unser Bewußtsein ganz gleich, denn in jedem folgenden Momente wäre ja der vorhergegangene schon vergessen. Wir müßten uns in jedem Augenblick als ein ganz neues Individuum erscheinen.
Doch nicht blos die Einheit unserer Person käme uns ohne das Gedächtniß nicht zum Bewußtsein, sondern auch die uns umgebenden Gegenstände müßten uns in jedem Augenblick neu und unbekannt erscheinen. Es wäre keine zusammenhängende Arbeit, keine folgerechte Unternehmung möglich ohne das Gedächtniß. Alles Lernen, sei es in der Schule oder aus dem Leben, würde überflüssig oder richtiger unmöglich; denn was wir soeben gelernt, davon würden wir schon im nächsten Augenblick, geschweige denn in der nächsten Stunde, im nächsten Monat, im nächsten Jahre, nichts mehr wissen.
Das Gedächtniß hat zwei Stufen, eine niedere und eine höhere. Die niedere besteht in dem Haftenbleiben der einmal empfangenen Eindrücke oder in dem Behalten derselben. Die höhere Stufe besteht in der Fähigkeit, die haften gebliebenen oder die behaltenen Eindrücke willkürlich wieder in die Erinnerung zurückzurufen. Denn Unzähliges hat unser Gedächtniß behalten, das wir uns doch nicht in jedem Augenblick zum Bewußtsein bringen; Unzähliges wissen wir, ohne davon zu wissen, daß wir es wissen. Wir müssen uns oft erst mühsam auf ein Wort, auf einen Namen, auf eine Person erinnern, die in unserm Gedächtniß schlummert – ein Beweis, daß das Behalten im Gedächtniß und das Zurückrufen in dasselbe zwei verschiedene Thätigkeiten sind, wovon die erstere bestehen kann ohne die letztere.
Die niedere Stufe des Gedächtnisses, das bloße Behalten einmal empfangener Eindrücke, finden wir auch schon in der Natur, und zwar nicht blos bei organischen, sondern auch bei unorganischen, leb- und bewußtlosen Wesen. Jessen bemerkt in seiner Psychologie mit Recht, daß das Gedächtniß keine bloße Eigenschaft der Seele, sondern eine allgemeine Eigenschaft der Nerven sei, und in gewissem Sinne können wir sogar leblosen Dingen ein Gedächtniß zuschreiben, insofern gemachte Eindrücke in ihnen haften und Spuren zurücklassen. Bei luftförmigen oder flüssigen Körpern ist dies nicht der Fall, wohl aber bei allen festen Körpern mehr oder weniger. Es beruht darauf z. B. das Einspielen von musikalischen Instrumenten, und die größere Reinheit und Leichtigkeit, womit alle Töne auf gut eingespielten Instrumenten reproducirt werden. Ist eine Flöte falsch eingeblasen, so ist es unmöglich, ganz reine Töne auf derselben hervorzubringen; ist ein bestimmter Ton immer auf eine ungewöhnliche Weise gegriffen worden, so kann man ihn manchmal nachher nur auf diese, nicht auf die sonst gewöhnliche Weise erzeugen. Die Atome des Holzes bringen die gewohnten Schwingungen wieder hervor. Was aber das Holz vermag, das vermögen natürlich die Nerven in einem viel höheren Grade. Von jedem Eindruck bleibt in den Nerven eine Spur zurück, und je öfter und stärker dieselben Eindrücke wiederkehren, desto leichter und tiefer prägen sie sich ein, da jeder nachfolgende in den vorangegangenen gleichsam schon gebahnte Wege vorfindet.
Auf dieser Eigenschaft der Nerven beruht die Macht der Gewohnheit, beruht das Erlangen von Fertigkeiten durch wiederholte Uebung. Alle Bewegungen geschehen mit desto größerer Leichtigkeit, Sicherheit und Gewandtheit, je öfter sie wiederholt werden. Auf diesem Gedächtniß der Nerven beruht die oft erstaunliche Fertigkeit von Künstlern und Virtuosen in Hervorbringung ihrer Kunststücke, sei es auf dem Seil, oder auf dem Pferde, oder auf der Violine und dem Clavier etc.
Außer der Wiederholung ist es besonders auch die Stärke der empfangenen Eindrücke, wodurch das Haftenbleiben derselben bedingt ist. Da nun aber die Stärke eines Eindrucks zum Theil abhängt von dem Grade der Aufmerksamkeit, den man auf denselben richtet, und dieser wiederum bedingt ist durch den Grad des Antheils und Interesses, den man an demselben nimmt, so leuchtet ein, wie großen Einfluß auf das Behalten empfangener Eindrücke der Antheil und das Interesse daran hat. Je mehr man sich für einen Gegenstand interessirt, desto geschwinder und leichter behält man ihn, desto tiefer prägt man ihn sich in das Gedächtniß ein.
Hieraus läßt es sich erklären, warum wir für alle persönlichen, unser eigenes Wohl und Wehe betreffenden Angelegenheiten ein so vortreffliches Gedächtniß haben. Wer oder was uns auf unserm Lebenswege gefördert oder gehemmt, wer uns freundlich oder feindlich begegnet, welche Wendungen unsers Geschickes günstig oder ungünstig waren, das vergessen wir nicht leicht.
Aus diesem Einfluß des Interesses auf das Gedächtniß erklärt es sich auch, warum wir oft entfernter liegende Ereignisse unsers Lebens besser behalten und leichter in die Erinnerung zurückrufen, als näher liegende. Es geschieht dies, weil jene uns lebhafter interessirten, als diese.
Aus der Abhängigkeit des Gedächtnisses vom Interesse erklärt es sich ferner, warum der Eine für diese, der Andere für jene Dinge ein gutes Gedächtniß hat. Was der Eine leicht behält und in die Erinnerung zurückruft, macht dem Andern oft entsetzliche Mühe zu behalten und rückzuerinnern. Frauen haben für ganz andere Dinge ein gutes Gedächtniß als Männer; Gelehrte für andere als Soldaten oder Gewerbtreibende etc. Denn allemal, wofür sich Einer vermöge seines Geistes und Charakters besonders interessirt, wofür er ein entschiedenes Talent oder einen entschiedenen Trieb hat, das behält und reproducirt er am leichtesten und sichersten im Gedächtniß. Es hat Feldherrn gegeben, die sich die Namen aller Soldaten einer zahlreichen Armee, Gelehrte, die sich die Titel aller Bücher einer zahlreichen Bibliothek merkten. Themistokles wußte die Namen aller seiner Mitbürger auswendig. In neuester Zeit soll der berühmte englische Geschichtschreiber Macaulay ein erstaunliches Gedächtniß für geschichtliche Namen, z. B. für die Reihenfolge der Päpste, gehabt haben.
Im Greisenalter nimmt zwar das Gedächtniß ab; doch bleibt auch bei Greisen das Gedächtniß für solche Dinge, die sie interessiren, noch immer ungeschwächt. Ich habe nie gehört, sagt Cicero (in seiner Schrift über das Greisenalter, Capitel 7), daß ein Greis den Ort vergessen hätte, an dem er einen Schatz vergraben. Die Greise denken immer an Das, was ihrer Sorge obliegt, an den Termin, wo sie als Bürgen sich vor Gericht zu stellen haben, an ihre Schuldner und Gläubiger.
Könnten Traumerlebnisse uns so interessiren, wie die Erlebnisse des wachen Lebens, dann würden wir sie ebenso leicht behalten, wie diese. Diejenigen Träume, die vorbedeutend für unser Leben waren und in Erfüllung gingen, vergessen wir nicht leicht.
Wenn Wahnsinnige ihre Vergangenheit vergessen und sich in ihrer fixen Idee für einen ganz Andern ansehen, als der sie wirklich sind, für einen König oder Kaiser, für den Heiland, für Gott: so rührt auch dieses Vergessen ihrer Persönlichkeit daher, daß sie in ihrem leidenschaftlichen Stolz, in ihrem maßlosen Ehrgeiz und Hochmuth ihre geringfügige Persönlichkeit ihrem Interesse so sehr zuwiderfanden, daß sie sich in eine höhere hineinlogen. Ihr überspanntes Interesse brachte sie um das Gedächtniß für ihre Vergangenheit.
Auch bei Thieren ist das Interesse von großem Einfluß auf ihr Gedächtniß. Die Biene findet die alten Sammelplätze, den Baum und die Blume, wo sie Honig fand, wieder; unter den vielen Stöcken erkennt sie den ihrigen wieder. Schwalben und Störche nehmen, wenn sie im Frühling wiederkehren, Besitz von ihren alten Nestern. Vögel, die man im Winter füttert, stellen sich beim Eintritt der rauhen Jahreszeit wieder ein. Finken, die man den Sommer über vor dem Fenster eines Hauses gefüttert hatte, kamen alle Jahre wieder. Tauben, Katzen, Hunde und Pferde kehren oft aus großen Entfernungen zu ihrem Aufenthaltsorte [219] zurück. Ziegen, Schafe, Schweine etc. finden den Weg zum Stalle, und unter hundert Ständern erkennt das Pferd den seinigen wieder; es kennt noch nach Jahren seinen Cameraden, seinen Wärter, seinen Reiter oder das Wirthshaus, in dem es ihm wohlgegangen ist; nach langer Zeit weiß es, wer ihm Gutes gethan oder es mißhandelt hat, erkennt nach geraumer Zeit den Thierarzt, der an ihm eine Operation vorgenommen hat, und schlägt nach ihm; sowie der Pudel den, der ihn geschoren hat, erkennt und sich verkriecht, wenn dieser wieder kommt.
Daß die in der Kindheit empfangenen Eindrücke sich so tief dem Gedächtniß einprägen, rührt zum Theil von dem lebhaftern Interesse her, das wir in der Kindheit an Allem nehmen, und von der gespanntern Aufmerksamkeit, die wir auf Alles richten; zum Theil aber auch daher, daß wir, wie Arthur Schopenhauer richtig bemerkt, als Kinder nur wenige und hauptsächlich anschauliche Vorstellungen haben und wir diese daher, um beschäftigt zu sein, unablässig wiederholen. Bei Menschen, die zum Selbstdenken wenig Fähigkeiten haben, ist dieses ihr ganzes Leben hindurch der Fall, daher solche bisweilen ein sehr gutes Gedächtniß haben. Dagegen hat das Genie bisweilen kein vorzügliches Gedächtniß, wie z. B. Rousseau dies von sich selbst angibt. Es ist dies nach Schopenhauer daraus zu erklären, daß dem Genie die große Menge neuer Gedanken und Combinationen zu vielen Wiederholungen keine Zeit läßt; obwohl dasselbe sich nicht leicht mit einem ganz schlechten Gedächtniß verbunden findet, weil hier die größere Energie und Beweglichkeit des Geistes die anhaltende Uebung ersetzt. Es ist eine sehr interessante Bemerkung Schopenhauer’s, daß Menschen, die unablässig Romane lesen, dadurch ihr Gedächtniß schwächen, weil nämlich auch bei ihnen, wie beim Genie, die Menge rasch vorüberziehender Vorstellungen und Zusammenstellungen keine Zeit noch Geduld zur Wiederholung und Uebung läßt. Die lesegierigen Abonnenten der Leihbibliotheken werden dies aus eigener Erfahrung bestätigen können. Ueber jeden neuen Roman vergessen sie schnell die alten.
Wenn Genies leicht die kleinen Angelegenheiten und Vorfälle des alltäglichen Lebens vergessen, beschränkte Köpfe hingegen hiefür ein sehr gutes Gedächtniß haben, so rührt dies daher, daß jene mit ihrem Interesse auf größere Dinge gerichtet sind, diese hingegen mit ihrem Interesse am Kleinen und Kleinlichen kleben bleiben. Das Genie behält sich dafür die ihm wichtigen Dinge auf eine leichte, mitunter erstaunliche Weise.
Schüler, die leicht lernen und begreifen, pflegen eben so leicht zu vergessen; dagegen behalten die, welche mit Mühe und Anstrengung lernen, das Erlernte in der Regel besser. Dies erklärt sich einfach daraus, daß der leicht und schnell Lernende mit der kürzern Zeit auch einen schwächern Grad von Aufmerksamkeit auf den Gegenstand richtet, der mühsam Lernende hingegen länger und stärker mit der Aufmerksamkeit dabei verweilt. Also auch in Bezug auf das Gedächtniß gilt das Sprüchwort: „Wie gewonnen, so zerronnen.“
Bemerkenswerth ist es, daß zusammenhängende Vorstellungen sich leichter behalten, als vereinzelte, in keinem Zusammenhang stehende. Ein Satz z. B. behält sich leichter, als eine Reihe unzusammenhängender, unverbundener Wörter, Namen oder Zahlen. Es verräth sich hierin die auf Sinn und Zusammenhang gerichtete Natur des Geistes.
Selbst eine Reihenfolge von Vorstellungen, die nur durch das äußere Band der Ideenassociation (Vergesellschaftung der Ideen), nicht aber durch einen inneren Sinn verbunden sind, behält sich leichter, als eine Reihenfolge völlig unverbundener Vorstellungen.
Auf diesem Gesetze, daß verbundene Vorstellungen sich besser behalten lassen, als isolirte, beruhen die Regeln der Mnemonik (Gedächtnißkunst). Es soll z. B. die Bezeichnung der fünf Notenlinien e. g. h. d. f. dem Clavierschüler auf eine leicht zu behaltende Weise beigebracht werden. Man bildet den Satz: „Es geht hurtig durch Fleiß,“ und der Schüler hat dann nur den Anfangsbuchstaben eines jeden dieser Wörter sich in die Erinnerung zu bringen, um die verlangte Bezeichnung e. g. h. d. f. zu behalten. Auf ähnliche Weise erleichtert man sich das Behalten von Zahlen; man substituirt den Zahlen Buchstaben, verwendet diese zu Worten und Sätzen und erinnert sich dann mittelst dieser der Zahlen. Dies war das Verfahren eines Gedächtnißkünstlers, der vor mehreren Jahren zu Berlin Vorlesungen über Gedächtnißkunst hielt. Die Regeln der Mnemonik laufen alle im Wesentlichen darauf hinaus, Einzelnes, Ungebundenes durch Anknüpfung an eine im Gedächtniß vorhandene zusammenhängende Reihe von Vorstellungen in die Erinnerung zurückzurufen. „Das Bestreben des Geistes,“ sagt Jessen, „den Zusammenhang der Dinge zu erfassen, wohnt auch dem Gehirne mehr oder weniger ein, und selbst die Sinne suchen Alles im Zusammenhange aufzufassen. Auf dem Zusammenhange der Vorstellungen beruht die Ideenassociation, und was im Zusammenhang mit Anderem steht, reproducirt sich am leichtesten in der Erinnerung. Wenn wir von einem vergessenen Worte oder Namen erst den Anfangsbuchstaben wissen, so knüpft sich an diesen sehr leicht das Hervortreten des ganzen Wortes, und unsere Bemühungen, einen gesuchten Namen zu finden, bestehen immer in dem Hervorrufen von Erinnerungen, die mit demselben in irgend einer Verbindung stehen. Ein gelesener Name kann uns wieder einfallen, wenn wir daran denken, ob er oben oder unten auf der Seite des Buches stand.“
Um die Erscheinung zu erklären, daß manche Menschen ein gutes Namen-, Andere ein gutes Zahlen-, wieder Andere ein gutes Ortsgedächtniß, noch Andere ein gutes Personen- oder ein gutes Sachgedächtniß haben, nehmen bekanntlich die Phrenologen besondere Organe des Gehirns als den Sitz dieser verschiedenen Arten von Gedächtniß an. Richtiger aber dürfte die besondere Stärke des Gedächtnisses in einer speciellen Richtung als Folge des Interesses und der Uebung zu betrachten sein. Wir stimmen Jessen bei: „Wer für Personen, für Namen, für Zahlen, für Verwandtschaftsverhältnisse ein außerordentliches Gedächtniß hat, der hat zugleich für diese Dinge ein besonderes Interesse, er hat in seinem Leben viele Zeit und Aufmerksamkeit darauf verwandt, und sein Gedächtniß in diesen besondern Richtungen sehr geübt.“
Aber daß man nicht nöthig hat, mit Gall und den andern Phrenologen bei den Virtuosen im Rechnen ein besonderes Organ für Zahlen anzunehmen, sondern diese Virtuosität einfacher und natürlicher erklären kann, das lehrt Dahses Entwickelungsgeschichte. Mit Recht sagt Jessen, der Dahse beobachtet und befragt hat, und dem wir manche schätzbare Mittheilungen über denselben verdanken: „Aus der ganzen Art und Weise, wie die Fähigkeit und Fertigkeit des Rechnens sich bei Dahse entwickelt hat, geht hervor, daß diese bei ihm nicht entstanden sind durch einen angeborenen Zahlensinn, sondern erworben durch beharrliche, mit eisernem Fleiße fortgesetzte Uebung, in einer ähnlichen Weise, wie sie bei Equilibristen und sonstigen Virtuosen zu einem ähnlichen Ziele führt. Wer mit dem siebenten Jahre anfängt, Clavier zu spielen, und täglich sieben Stunden übt, der muß es nach dem Ausspruche eines berühmten Fortepianospielers zu großer Virtuosität bringen. Und warum sollte nicht ebenso, wer mit dem siebenten Jahre anfinge zu rechnen, und zehn bis zwanzig Jahre lang täglich sieben Stunden rechnete, ein zweiter Dahse werden können? In der That schlagen die Phrenologen den Einfluß beharrlicher Uebung und ausschließlicher Beschäftigung mit einem Gegenstände zu gering an.“
Schwerer zu erklären, als die Virtuosität des Gedächtnisses in besonderen Richtungen, ist der oft beobachtete theilweise Verlust des Gedächtnisses. Manche vergessen ihren oder anderer Leute Namen, Manche finden das rechte Wort zur Bezeichnung einer Sache nicht und brauchen dafür ein anderes, das eine von ihnen nicht gemeinte Sache bezeichnet, so daß eine Art babylonischer Sprachverwirrung entsteht. So soll z. B. die Frau des berühmten Professors der Mathematik Hennert zu Utrecht, die selbst Mathematiker und Astronom wie ihr Mann war, plötzlich nach einer Krankheit in eine solche Sprachverwirrung gerathen sein, daß sie, wenn sie einen Stuhl begehrte, einen Tisch forderte, oder wenn sie ein Buch haben wollte, einen Spiegel verlangte. In einem andern ähnlichen Falle von Sprachverwirrung sagte eine Frau, als sie ein Glas haben wollte: „Gieb mir doch den Hund.“ Der gelehrte Director S. zu C. erholte sich von einem hitzigen Fieber, und eines der ersten Dinge, die er nach wiedererlangter Vernunft verlangte, war Kaffee. Allein er hatte in dieser Krankheit nicht nur den Buchstaben f vergessen, sondern er gebrauchte dafür den Buchstaben z, so daß er nun nicht Kaffee, sondern Kazze verlangte, und so in allen andern mit f zusammengesetzten Wörtern. Bisweilen vergessen Personen nach Schlaganfällen oder Betäubungen das kurz vorher oder auch in den letzten Jahren Vorgefallene, das Frühere wissen sie aber noch sehr wohl.
Derartige Erscheinungen sind schwer zu erklären; aber wie [220] sich Alles natürlich erklären läßt, so wird sich auch für sie eine natürliche Erklärung finden lassen. Jessen hat in seiner Psychologie bereits eine solche versucht. Das Unvermögen, die richtigen Worte für die auszusprechenden Gedanken zu finden, das Verwechseln von Wörtern oder Buchstaben, so wie der Verlust des Gedächtnisses für die Eigennamen von Personen und Sachen beruht nach ihm vielleicht auf einer gestörten Thätigkeit der Hirn-Ganglien. Diese Erscheinungen seien nur höhere Grade dessen, was jedem Menschen häufiger oder seltener begegnet. Wir suchen oft vergebens nach einem Namen, der uns nicht einfallen will, so bekannt er uns auch ist; wir sind manchmal nahe daran, ihn zu finden, er schwebt uns gleichsam auf der Zunge, aber er will doch nicht zum Vorschein kommen, und wenn wir aufhören, uns darum zu bemühen, so kommt er vielleicht ungerufen. Man sieht, daß dies nicht sowohl ein Vergessen, als eine Schwierigkeit des Rückerinnerns bekannter Namen ist, – eine Schwierigkeit, die mit dem Alter zunimmt und in krankhaften Zuständen einen sehr hohen Grad erreichen kann. Ueberhaupt ist angeblicher Verlust des Gedächtnisses sehr oft nur ein Mangel des Rückerinnerungs-Vermögens. Diese Art von Vergeßlichkeit entsteht häufig nach Schlagflüssen und andern Gehirnaffectionen; sie tritt vorübergehend ein, wo das Gemüth von einer Sache so ergriffen ist, daß der Mensch an nichts Anderes denkt, für nichts Anderes sich interessirt. Das Vergessen des kurz vor einer eingetretenen Bewußtlosigkeit Geschehenen läßt sich nach Jessen vielleicht dadurch erklären, daß hier keine innerliche Wiederholung der aufgenommenen Eindrücke stattfindet, während man sonst das Erlebte in der Erinnerung zu wiederholen und dadurch dem Gedächtniß fester einzuprägen pflegt.
Auf diese Weise lassen sich auch die außerordentlichsten Erscheinungen im Gebiete des Gedächtnisses ganz natürlich erklären, und man hat nicht nöthig, besondere Fächer im Gehirn für diese oder jene Art von Gedächtniß anzunehmen. Das Gedächtniß ist kein todtes Behältniß, sondern eine lebendige Kraft, die der Uebung bedarf und die mannichfachen Hemmungen unterliegt.
Die Victoriabrücke in Canada.
Zu den Vortheilen, welche die neue Welt vor der andern voraus hat, gehört die Mannichfaltigkeit und riesige Ausdehnung ihrer Stromsysteme. Wir haben nichts, was sich den Gebieten des Plata, Amazonas, Orinoco, Mississippi und St. Lorenz ebenbürtig an die Seite stellen ließe. Im Süden des Welttheils hat die romanische Bevölkerung von ihren prächtigen Wasserverbindungen noch
[221] wenig Nutzen gezogen. Im Norden, wo auch die klimatischen Verhältnisse günstiger sind, beutet man nicht blos aus, was die Natur geschaffen hat, sondern man verbessert ihr Werk und fügt zu ihren Straßen künstliche hinzu. Nirgends sonst ist man in der Entfernung oder Umgehung von Wasserfällen und Stromschnellen, in der Reinigung der Flußbetten, im Canal- und Schleußenbau so thätig, wie hier. Insbesondere hat das große Becken der Seen im Norden zu Werken Veranlassung gegeben, welche eben so beispiellos sind, wie jenes wahrhafte Süßwassermeer selbst. Nicht nur von New-York, auch von Neu-Orleans gelangt man zu Schiff in jene Seen, die zusammen eine Küste von 2500 Wegstunden Länge haben, die Wellen werfen, wie der Ocean, und deren Oberfläche 300 Fuß höher als das Becken des obern Mississippi liegt, während ihr Grund eine merkwürdige Einsenkung, tiefer als der Wasserspiegel des atlantischen Meeres, darstellt.
Der amerikanische Nordwesten, der die großen Seen umgibt, entwickelt sich in einer Weise, die man fast Schwindel erregend nennen könnte. Die Union besitzt viele Städte, die wie Pilze aus der Erde geschossen sind, aber wenige können sich an Schnelligkeit des Wachsthums mit Chicago vergleichen. Vor zwanzig Jahren dehnte sich an dem Ufer des Michigansees, wo jetzt dieser Haupthafenplatz des Staates Illinois sich erhebt, Urwald aus, von wenigen Lichtungen mit Blockhütten unterbrochen, und jetzt wohnen hier mehr als 100,000 Menschen, von denen 1855 schon 6610 Schiffe von zusammen 1,608,000 Tonnen Gehalt mit Getreide und Mehl befrachtet wurden. In einem Jahre (1858) sind dort zweitausend neue Häuser entstanden, und auch an allen übrigen günstigen Punkten der Seen regt es sich mächtig. Die ungeheure Menge von Ackerbauerzeugnissen, welche dieses Gebiet versendet, greift bereits stark in den Getreidehandel der alten Welt ein. Man wird dies begreiflich finden, wenn man weiß, daß allein Chicago in den Jahren 1855–1858 mehr als 90 ½ Millionen Bushel (zu 60 Pfund Weizengewicht) in seine Speicher aufgenommen hat.
Die Vereinigten Staaten und England wetteifern, diese Handelsbewegung an sich zu ziehen. Beide theilen sich in die Ufer der Seen so, daß den Engländern etwa 1000, den Nordamerikanern 1500 Wegstunden derselben gehören. Bis jetzt waren die Nordamerikaner ihren Gegnern voraus. Sie bauten zugleich Eisenbahnen und Canäle, so daß es ihnen gelang, den Handel jener Gegenden zu beherrschen, da die Engländer sich längere Zeit darauf beschränkten, den St. Lorenz schiffbarer zu machen. Dieser mächtige Strom ist der Ausfluß der Binnenseen. Sucht man seine Quelle da, wo der längste von den Zuflüssen des Obern Sees entspringt, so erhält man für seinen Lauf mindestens neunhundert Stunden. Berechnet man seinen Lauf von da an, wo er, aus dem östlichen Ende des Ontario-Sees heraustretend, den Namen St. Lorenz annimmt, so erhält man nicht viel mehr als 300 Stunden. Immerhin eröffnet er auch in der letztern Ausdehnung dem Handel ein bedeutendes Gebiet, das durch seine Zuflüsse noch erweitert wird. Die bedeutendsten der letzten, sind der Ottawa und der [222] Saguenay, die von Norden kommen, und der St. John (Richelieu, Sorel), der von Süden her einmündende Abfluß des Champlain-Sees. Die Wasserfälle und Schnellen des St. Lorenz hatte man durch Canäle unschädlich gemacht, den berühmten Niagarafall durch den Welland-Canal, die gefährlichen Stromschnellen zwischen Dickinson’s Landing und Montreal durch den St. Lorenz-Canal, die Hindernisse zwischen dem Francis-See und dem St. Louis-See durch den Beauharnais-Canal und die Stromschnellen von La Chine durch den La Chine-Canal. Der Schifffahrt war durch diese Arbeiten, zu denen noch die mannichfachen Wasserbauten im seichten Peterssee zu rechnen sind, geholfen, aber beim Eisenbahnbau hatte man eine große Saumseligkeit bewiesen, und diese eben war es, die den thätigeren Nordamerikanern das Uebergewicht verschaffte.
Vor zwölf Jahren befaß Canada nicht mehr als zwei Eisenbahnen, welche beide blos eine örtliche Bedeutung hatten. Die eine, die von Montreal nach Laprairie, gegenüber von St. Johns, führt, wurde im Winter nicht benutzt und beförderte die Reisenden, die sich im Sommer einstellten, mit einer Schnelligkeit von drei preußischen Postmeilen in der Stunde. Die zweite Bahn hatte ebenfalls Montreal zum Ausgangspunkte und endete bereits anderthalb deutsche Meilen weiter in La Chine. Wer die für den Handel so wichtige Straße von Montreal nach Toronto bereisen wollte, hatte sich in der schlechten Jahreszeit nicht blos auf Beschwerden, sondern selbst auf Gefahren gefaßt zu machen. Im Winter brauchte die Post auf dieser Strecke in der Regel sechs Tage. Von dem Augenblicke an, wo der Lorenz Eisschollen trieb, kam der Handel so ziemlich in’s Stocken.
Die Kaufmannschaft von Montreal hat das Verdienst, auf die großen Nachtheile dieser mangelhaften Verbindung unaufhörlich aufmerksam gemacht und die Ausführung eines kanadischen Eisenbahnsystems angeregt zu haben. Der Plan einer kanadischen Hauptbahn, die eine Länge von 215 deutschen Meilen erhalten und in sieben Abtheilungen ausgeführt werden sollte, wurde entworfen und vom kanadischen Parlament genehmigt. Die größte Schwierigkeit lag in der Ueberbrückung des St. Lorenz, und vielleicht wäre der ganze Eisenbahnbau daran gescheitert, daß die Meisten eine Brücke über den Riesenstrom für unmöglich erklärten, wenn ein Kaufmann aus Montreal, John Young, die Regierung und das Parlament, dem er als Mitglied des Oberhauses angehörte, nicht überzeugt hätte, daß der Bau allerdings ausführbar sei.
In der Sitzung von 1853 genehmigte das kanadische Parlament unter der Verwaltung von Sir Francis Hinks, des jetzigen Statthalters von Barbados, den Bau der Brücke, ungefähr eine halbe englische Meile von Montreal westlich entfernt, unterhalb der Lachine-Stromschwelle, für die der Name der Victoriabrücke gewählt wurde. Robert Stephenson hatte ein günstiges Gutachten eingeschickt und das Röhrensystem empfohlen, das er erfunden und bei der Britanniabrücke der Meerenge von Menai zuerst angewendet hat. Ob er Pläne einschickte, welche so weit in’s Einzelne gingen, daß man ihn den Urheber der Vietoriabrücke nennen kann, wie dies von Seiten seiner englischen Landsleute geschieht, vermögen wir nicht zu entscheiden. Die Canadier widersprechen seinen Ansprüchen auf diesen Namen mit Eifer. Nach ihrer Darstellung sind alle Pläne von Alexander Roß entworfen worden, der auch die Oberleitung aller Arbeiten der großen kanadischen Bahn hatte. Roß ist übrigens ein Schüler von Robert Stephenson und hat unter dessen Aufsicht an der Britanniabrücke mitgearbeitet. Ausführender Baumeister war James Hodges, in die einzelnen Arbeiten theilten sich die Bauunternehmer Peto, Brassay und Betts. Die Kosten wurden auf 8,340,000 Thaler angeschlagen. Für die ganze Eisenbahn, einschließlich der Brücke, waren 63,300,000 Thaler ausgesetzt worden.
Die Vorarbeiten begannen noch im Winter des Jahres 1853. Sie bestanden darin, daß man auf dem Eise des Flusses die Richtung feststellte, welche die Pfeiler von Ufer zu Ufer nehmen sollten. Man bezeichnete die Lage jedes derselben durch einen sogenannten Führer, das heißt einen langen eisernen Pfahl, der in das Felsbett des Flusses eingetrieben wurde. Die eigentlichen Brückenarbeiten begannen 1854 und wurden 1859 vollendet. Man würde trotz der Schwierigkeiten des Werks und trotz der Unmenge von Arbeiten, welche ausgeführt werden mußten, um volle zwei Jahre früher fertig geworden sein, wenn nicht die letzte Handelskrisis ein Stocken der Geldzuflüsse und mithin auch des Baues herbeigeführt hätte. Erst 1859 wurden die Arbeiten energisch wieder aufgenommen und rasch zu Ende geführt. Man verfügte jetzt über sechs Dampfschiffe von 450 Pferdekräften, über 72 Prahmen und eine große Anzahl kleinerer Fahrzeuge. Die Dampfschiffe und Prahmen hatten zusammen einen Gehalt von 12,000 Tonnen. Die Arbeiter bestanden in 500 Schiffern, 450 Steinbrechern und 2090 Bauhandwerkern und Tagelöhnern, also zusammen aus 3040 Mann. Die Arbeitskräfte wurden durch vier stehende Dampfmaschinen und 142 Pferde vervollständigt. Die täglichen Kosten für Arbeiter, Pferde und Maschinen stiegen jetzt auf 6250 Thaler. Der ganze Bau wurde mit einem Aufwand von 8 3/7 Millionen Thaler ausgeführt. Der Voranschlag wurde allerdings überschritten, aber in einer Weise, die man sehr mäßig nennen muß, da es sich um einen Wasserbau handelte, der in der Regel weit höhere Kosten verursacht, als vorher angenommen wird.
Große Ströme, wie der St. Lorenz, lassen sich nicht abdämmen. Damit man an den Pfeilern arbeiten könne, werden besondere Vorrichtungen zum Fernhalten des Wassers nöthig. Hier wendete man vorzugsweise den schwimmenden Damm an, d. h. einen wasserdichten eisernen Kasten, der mit einer Thür versehen ist und vom Lande aus mit einem Dampfschiffe an die Stelle gezogen wird, wo er gebraucht werden soll. Dort öffnet man die Thür, das Wasser dringt ein und der Kasten sinkt auf den Grund des Flusses, über dessen Spiegel sein oberer Rand hervorsteht. Man pumpt nun das Wasser mit einer Dampfmaschine heraus und kann den Grund legen und die Mauer nach oben weiter führen. Bei dieser Grundlegung machte man die unangenehme Entdeckung, daß das Bett des Stromes nicht unmittelbar aus Felsen bestehe, sondern mit einer Lage großer runder Steine, die durch Thon zu einer Masse verbunden waren, bedeckt sei. Da man auf einen solchen Untergrund den Bau nicht stützen konnte, so mußte man Steine und Thon, die eine Dicke von sechs bis zehn Fuß hatten, völlig entfernen.
Das System der Röhrenbrücken können wir als bekannt voraussetzen. Diese Tunnel in der Luft sind viereckige Gallerien, die wie der hölzerne Steg über einen Bach flach auf Stützen liegen. Trotzdem ist ihre Festigkeit so groß, daß der schwerste Eisenbahnzug sie nicht im Mindesten beschädigt. Bei der Victoriabrücke ist jede der fünfundzwanzig Pfeileröffnungen 242 Fuß und die mittlere Oeffnung sogar 330 Fuß lang. Rechnet man die Fortsetzung auf beiden Ufern hinzu, so erhält man für die Länge der ganzen Röhre 9480 Fuß, oder etwa 1¾ englische Meilen. Diese Länge hat die Britanniabrücke bei weitem nicht, wenn sie auch bedeutend höher ist. Sie erhebt sich nämlich 105 Fuß über das Meer, während die Victoriabrücke nur 36 Fuß über dem Spiegel des Sommerwassers liegt und in ihrem höchsten Punkte, bei dem mittleren Pfeiler, bis zu 60 Fuß ansteigt. Daraus entsteht eine Steigung von den Seiten zur Mitte hin, die 1 Fuß auf 132 Fuß beträgt. Dieser Mittelpfeiler ist 24 Fuß breit, jeder andere Pfeiler nicht mehr als 16. Der Grund liegt zum Theil 23 Fuß unter dem Spiegel des Sommerwassers. Die Festigkeit der Brücke wird durch Strebepfeiler erhöht, gegen den Eisgang schützen Eisbrecher. Die letztern bestehen aus vollem Mauerwerk, während man die Strebepfeiler aus Mauern und Zwischenwänden aufgeführt und die hohlen Räume mit Kies und kleinen Steinen ausgefüllt hat. Einige Zahlen werden von der Großartigkeit des Baues einen Begriff geben. Die Pfeiler der Brücke enthalten drei Millionen Cubikfuß Mauerwerk, in den Kästen der Röhre stecken 10,000 Tonnen oder 200,000 Centner Schmiedeeisen, zur Verbindung der Kasten unter einander hat man zwei Millionen Bolzen gebraucht, und der Oelanstrich ist über eine Fläche von 168 Acker oder 302 Morgen auszubreiten gewesen.
Ehe die Brücke eröffnet wurde, unterzog man sie einer entscheidenden Prüfung. Man ließ nämlich von zwei Dampfwagen ein Gewicht hinüberziehen, welches dasjenige eines gewöhnlichen Frachtzugs um das Fünffache übertraf. Als die Brücke diese Last ausgehalten hatte, konnte man am 20. December 1859 unbedenklich zur Einweihung schreiten. Manchem der Gäste mochte etwas ängstlich zu Muth werden, als der mit Fahnen und Immergrün geschmückte Dampfwagen in die Röhre einlenkte, wo eine solche Dunkelheit eintrat, daß die Lampen angezündet werden mußten. Zu der Fahrt über die Brücke brauchte man neun Minuten. Auf die Fahrt folgte das hergebrachte Zweckessen, das in diesem Falle bedeutend abgekürzt werden mußte, da die meisten Gäste lieber einen Spaziergang in der Röhrenbrücke machen wollten. Beim Scheiden konnte Jeder die Ueberzeugung mitnehmen, der Einweihung eines Werkes beigewohnt zu haben, welches zu den größten der Erde gehört. Die [223] Actieninhaber erhielten wenige Tage später die Gewißheit, daß die aufgewendeten Millionen sich verzinsen werden. Die Güterzüge, welche in den ersten fünf Nächten über die Brücke gingen, beförderten 11,723 Faß Mehl, 1552 Faß Fleisch, 140 Ballen Baumwolle, 170 Tonnen Eisen, 644 Tonnen gemischter Güter und 39,000 Fuß Balken. Diese Zahlen beweisen zugleich, welche ungemeine Förderung der canadische Handel von der großen Hauptbahn und ihrer Riesenbrücke zu erwarten hat.
„Punte“ Jagd in England.
„Die geheimnißvollen englischen Lockteiche“ sind den Lesern der Gartenlaube aus einer früheren Nummer bekannt geworden und hoffentlich geblieben. Wir vergaßen damals, glaub’ ich, zu erwähnen, daß jeder solcher Lockteich eine gute jährliche Ausbeute von allerlei wildem Geflügel liefern muß, wenn sich Boden, Wartung, Wärter und Fänger bezahlt machen sollen, und je nach Lage und Größe und nach den Marktpreisen der wilden, gefiederten Braten von 200 bis 800 Pfund Sterling jährlich aus je einem einzigen solchen Teiche erlistet werden. Ein Geistlicher, Bate Dudley in Essex, steht nicht im Weinberge des Herrn, wohl aber als Vogelfänger auf seinem Teiche oben an und rühmte sich, vor einigen Jahren nicht weniger als zehntausend wilde Enten verschiedener Art binnen zwölf Monaten in die Falle gelockt, erwürgt, verkauft und verzehrt zu haben. Die Eisenbahnen und Dampfschlote und Fabriken und das Geräusch civilisirten Lebens, womit sich England immer dichter bedeckt, haben diese kostbaren, künstlichen Wildnisse allerdings bedeutend eingeengt und die menschenscheuen, listigen, wachsamen Schaaren derselben vertrieben; aber noch immer überlistet der listigere Mensch noch jährlich solche Tausende und Millionen wilden Sumpf- und Wassergeflügels, daß, obgleich alle höheren Classen täglich ihren „Geflügel-Gang“ auf der Tafel haben müssen, doch oft noch ein paar wilde Enten für zwanzig, ein Paar Schnepfen für einen Silbergroschen verkauft werden. Die Menge der Waare und deren Wohlfeilheit hängt großentheils von der Härte und Dauer des Winters ab. Mit dem fallenden Thermometer und Schnee füllen sich die Fallen und Märkte und fallen die Preise.
Die Lockteiche allein würden’s freilich nicht thun. Es blüht daneben noch eine sehr beliebte Art von wilder Geflügel-Jagd, die wegen ihrer Abenteuerlichkeit und Gefährlichkeit und der damit verbundenen Aufregung der verschiedensten Leidenschaften einen ganz besondern Reiz ausübt und deshalb von muthigen Jüngern der Jagd mit vieler Vorliebe ausgeübt wird. Außerdem ist’s ein Vergnügen in schweigender, dunkler, kalter Nacht, ein Kampf der List und Kraft gegen Naturhindernisse und die feinste Diplomatie der wilden Enten und Gänse, wahrer Genies im Vergleich zu unseren dummen Schnatterern auf Bauermisthöfen. Es blitzt und donnert kanonenartig im entscheidenden Momente durch die nächtliche Stille. Lauter Genüsse, die besonders für den noch nicht zum Philister abgematteten, civilisationsmüden Gentleman ungemein einladend sind.
Diese Specialität der wilden Geflügeljagd heißt „punting“, weshalb wir ohne Weiteres „punte Jagd“ sagen, weil sich das Wort eben so wenig in deutsche Sprache, wie das Donnerbüchsen-Boot, genannt „punt“, von welchem aus diese Jagd prakticirt wird, auf deutsche Flüsse übersetzen läßt.
„Punting“ ist die Kunst, wildes Geflügel in einem kleinen Boote, genannt „Donnerbüchsen-Punt“, zu verfolgen und zu erlegen. – Das ist die wahre, wissenschaftliche Definition aus dem „Wildvogel-Buche“ des Henry Coleman Folkard, der das Neueste und Praktischste über diesen interessanten, pyramiden- und mumien- uralten Zweig des edeln Waidwerks geschrieben.
Das Boot des Wild-Voglers ist eine Art Kanonen-Boot, mit der Schrot-Kanone an seiner Spitze, wo sie, auf einem Punkte befestigt, an zwei andern beweglich ist zum Richten. In der Regel wird ein halbes Pfund Schrot geladen, der, im entscheidenden Momente richtig in die Mitte einer wilden Heerde geschleudert, in einem Augenblicke lange Mühsale und gefährliche Kunststücke bezahlt.
Der „Punt“-Jäger legt sich im Boote auf den Bauch, Gesicht nach vorn, und treibt es mit ein Paar sehr kleinen, unter dem Wasser gedrehten „Schädeln“, d. h. kleinen, hohlen Rudern. Das ist in dieser Position im nächtlichen Winter auf einem der englischen, stark fluthenden und ebbenden Flüsse schon ein Kunst- und Kraftstück. Während dieser Ebbe darf er sich, in ein paar tüchtigen, mit „Splashers“ oder achtzehn Zoll langen und breiten dünnen Bretern untersohlten Wasserstiefeln, die Mühe nicht verdrießen lassen, das Boot watend und schlammtretend am Ufer leise hinzuschieben, immer oder wenigstens häufig in Lebensgefahr, da er stolpernd und fallend nur dann wieder auf die Beine kommen kann, wenn er genau weiß, wie man’s machen muß und ihm außerdem die Kraft dazu nicht abhanden kam. Mancher, der mit dem Boote glücklich war, fiel hernach bei Verfolgung angeschossener Beute in den Schlamm und wurde Zoll für Zoll von der anbrausenden, mit jeder Minute ein klein Wenig steigenden und erst nach stundenlanger Qual über seinem Haupte zusammenschlagenden Fluth begraben.
„Die einzige sichere Methode, aus dem Uferschlamme wieder auf die Beine zu kommen, ist, sich auf den Rücken zu wenden, die Hände frei zu machen, einen Fuß anzuziehen und fest und flach mit dem „Splasher“ auf den Schlamm zu fixiren, dann mit beiden Händen die Kniee zu umklammern und sich mit einem Sprunge aller Muskeln auf dem so fixirten Fuße empor zu schnellen. Ganz nutzlos ist es, mit Händen und Füßen, knieend und platschend, sich empor bringen zu wollen. Die Arme sinken nur tiefer und tiefer, und wenn der Schlamm sehr verwittert ist, reicht keine Kraftanstrengung hin, sich auf diese Weise zu retten, so daß die Fluth einen bis zum Tode Ermatteten und Halberstickten zu begraben haben wird.“ – Trotz dieser Gefahren und sehr unangenehmen Schlammbäder gilt das „Punten“ doch für eine fashionable Jagdlust.
Der „Punter“ bricht mit dem Abende auf, gut versorgt mit Victualien, Pulver und Schrot. Alle seine Kleidung ist wasserdicht und gut mit Wolle unterlegt. Es muß aber eine ruhige und mondhelle Nacht zu erwarten sein, sonst kehrt er bald um. Der Wind kräuselt und bewegt das Wasser, in dessen Lichtbrechungen dann das Wild nicht zu unterscheiden ist. Der Mond ist nöthig, weil er die Vogel blendet, und an der einen Seite des Ufers schattet. Der Punter legt sich in voller Länge in sein Flach-Boot und treibt es mühsam und langsam, leise und vorsichtig entlang in schattigen Stellen. Die verschiedenen Wasservögel haben jede Art ihre eigene Sprache, die der Punter wohl kennen und unterscheiden muß. Er weiß denn auch, daß jedes verdächtige Geräusch, das er machen würde, daß jeder Wind, der den Geruch eines Menschen in eine Nachtherberge der Vögel wehete, den Warnungsruf des nie fehlenden oder schlafenden Wachpostens zur Folge haben und die ganze Vogel-Colonie davon jagen würde. Hört oder sieht er Beute auf der „unrechten Seite des Mondes,“ d. h. an einer dunkleren Stelle von seiner lichteren aus, muß er oft stundenlang schleichen und laviren, um sie in das rechte Licht zwischen dem Punte und dem Monde zu bringen. Sodann muß er die in der Nacht kommende Fluth zu benutzen wissen. Die Fluth rippelt und dunkelt das Wasser. Die noch unbedeckten Schlammstellen sehen pechschwarz aus, während die leicht bedeckten und die seichten Stellen silbern blenden. Die Vögel bleiben auf den unbedeckten Schlammhaufen, bis das steigende Wasser sie immer mehr zusammendrängt. Erst wenn das Wasser sie wirklich zu heben anfängt, brechen sie auf. Der rechte Moment für den Punter ist nun der, wenn das scheinige Wasser sie auf ihrer dunkeln Ruhestätte zusammendrängt und sichtbar macht. Hat er jetzt Wasser genug unterm Boote, um bis zur gehörigen Schußweite zu nahen, macht er jetzt sein Meisterstück katzenartigen Heranschleichens. Alles ist mäuschenstill, selbst der Schildwachvogel merkt nichts. Auf einmal knallt die Donnerbüchse durch die stille Nacht, mit deren Blitze die ganze schlafende Colonie auffliegt – mit Ausnahme der Getroffenen, 40 – 60 – 100 mit dem einen Schusse, wenn er gut gerichtet war. Freilich das sind nur Früchte der günstigsten Bedingungen und der höchsten Punt-Kunst.
Der Punter muß ein eben so feines Ohr für die Tonsprache der Vögel haben, wie der beste Musiker für Harmonie und Melodie. Jeder Wildvogler kennt die gewöhnliche Umgangssprache jeder Art von wilden Enten und Gänsen, das trompetenartige Gegackel der letzteren, das in der Ferne wie Chorgebell aufgeregter Fuchshunde klingt, das sonore und kecke Quakquak der gewöhnlichen wilden Ente, das milde, anmuthige Whiu, Whiu der rothhalsigen, [224] scheckigen Pfeifente, den scharfen melancholischen Pfiff des Regenvogels, den schrillen, unheimlichen Schrei des Steinwälzers, das simple Kibit des Kibitzes und das majestätische Frank! – Frank! des hochbeinigen Reihers. – Das ist bekannt und keine ornithologische Philologie, keine Vogelsprachgelehrsamkeit. Aber die Vögel reden von Lust und Schmerz, von Sicherheit und Gefahr, von Hunger und Fülle und halten ihre Parlamente und stimmen ab, wenn es gilt, etwas Gemeinsames zu thun. Nur Wenige verstehen etwas Weniges von dieser Sprache und die Besten nicht mehr, als um eben zu merken, was für Art von Vögeln Töne der Warnung oder der Beruhigung ausstoßen. Doch wird man mit der Zeit auch in dieses Sprachgebiet näher eindringen. Jetzt kennt der gewöhnliche Punter nicht viel mehr, als die Warnungs- und Sicherheitsrufe, z. B. daß die Solan- oder schottische Rothgans nur von steifem „Grog! Grog!“ spricht, wenn sie sich sicher fühlt und auch ihren Colleginnen Vertrauen einflößen will. Der Vogler erfährt damit auch, daß er sicher ist und weiter fortschreiten darf. Aber ein „Birr! Birr!“ der Schildwache trifft ihn wie ein tödtender Blitz. So wie er die Wächterin „birren“ hört, steht oder liegt er wie todt, bis ein tröstendes „Grog! Grog!“ ihm wieder sagt, daß sie sich für sicher halten und wieder schlafen. Der Warnungsruf des Schildwachvogels (die wilden haben immer eine Wache, Nacht und Tag, die so regelmäßig abgelöst wird, wie der Posten an einem preußischen Schilderhaus) durchzuckt immer wie ein galvanischer Ruck in einem Augenblicke die ganze Gesellschaft auch im tiefsten Schlafe. Im Nu sind alle Köpfe in der Luft, alle Ohren horchend, alle Augen blitzschnell in allen Richtungen forschend und prüfend. Bestätigt sich der Warnungsruf nur in einem Auge oder Ohre der Hunderte durch die leiseste Entdeckung einer Gefahr, ist die ganze Gesellschaft sofort auf Flügeln der Flucht, und der Vogler hat das Nachsehen.
Der erfahrene Punter oder Lockteich-Mann versteht so viel von seinen Untergebenen, daß er weiß, wenn diese oder jene Art von Wasser- oder Sumpfvögeln vom Aufbruche, von Ruhe, von Gefahr, von Sicherheit, Liebe, Zorn etc. redet. Vor dem üblichen Aufbruche des Morgens (vor Tagesanbruch) nach dem Meere, nach Sümpfen und Wiesen findet in der Regel eine lebhafte Discussion statt, wobei die Damen von wilden Enten immer das große, lauteste Wort führen und auch immer, wie viele Schönen unter den Menschen, das letzte Wort haben zu müssen scheinen. Die Discussion dauert freilich nicht so lange, wie in unseren Kammern: nach 10–20 Minuten ist immer Alles abgemacht und geordnet, sodaß sofort gehandelt wird. In Häufchen von 10 bis 20 Stück, jedes mit einem Anführer, verlassen sie nach einander ruhig den Fluß oder Lockteich und kommen Abends ebenso ordentlich und vorsichtig wieder. Mr. Folkard, der Wild-Vogel-Schriftsteller Englands, meint sogar, daß die Menschen viel von diesen Wilden lernen könnten. Im Uebrigen bedauert er häufig in seiner wissenschaftlichen Genauigkeit, daß gewöhnliche Dilettanten die edle Waidsprache auf diesem Gebiete so barbarisch verhunzen und z. B. überhaupt von Heerden wilder Vögel sprechen, da doch für jede Art mindestens doppelte Bezeichnungen zum Unterschiede, ob sie auf Flügeln seien oder säßen, gebraucht werden müßten. Ein Heerde wilde Gänse auf dem Wasser ist ein „Gaggle“, auf den Flügeln ein „Skein“. Wilde Enteriche unter sich bilden ein „Gefolge“, Schnepfen einen „Gang“, Brausenhähne und Kragenhühner „Hügel“. Und so geht es fort. Doch das ist uns zu waidlich. Wir begnügen uns damit, kurz und vorübergehend gesehen zu haben, wie die Engländer in kalten Winternächten auf Sumpf und Wasser „punte Jagd“ machen.
Gewalt der Mutterliebe. Von F. wird uns Folgendes berichtet: Eine Schwalbe hatte ihr Nest an dem Balken eines Schuppens angebracht, welcher durch das Oeffnen und Schließen der Thüre oft heftig erschüttert wurde. So kam es, daß das Nest schließlich allen Halt verlor und trotz der Nachbesserungen seitens der Schwalben mehr und mehr sich loslöste. Die Eltern wagten zuletzt beim Füttern gar nicht mehr den Rand des Nestes zu betreten, sondern erhielten sich durch rasche Flügelschläge fliegend
vor demselben. Allein der Verfall des Nestes nahm überhand, und endlich stürzte es mit sammt den Jungen zu Boden, glücklicher Weise jedoch nur bis auf einen sich fast bis zu dem Balken erhebenden Holzstoß. Allein hier wartete der armen Thiere neue Gefahr. Eine Katze, welche eben in den Schuppen gekommen war, schickte sich an, die leicht zu erlangende Beute wegzunehmen. Ohne Besinnen stürzte sich die geängstigte Mutter auf das Raubthier, stieß es, so kräftig sie konnte, auf den Kopf, verwirrte
es durch Flügelschläge und hielt es wirklich von ihrer Brut entfernt. In diesem wichtigen Augenblicke erschien auch das Schwalbenmännchen, sah und erkannte die Gefahr, flog eilend zurück, stieg rasch hoch empor und stieß das Gefahr verkündende „Bihwist, Bihwist, Dewihlik, Dewihlik“ aus, um andere ihrer Art herbei zu locken, kehrte mit einer ganzen Schaar Hülfsgenossen zurück und brachte die Katze jetzt so in Verwirrung, daß sie trotz alles Pfauchens, Brummens und Hauens mit den Tatzen ihren
Zweck doch nicht erreichen konnte. Mitleidige Menschen kamen den muthigen Schwalben rechtzeitig zu Hülfe, um den Erfolg des ersten Zurückschlagens des Feindes zu sichern, und trugen die jungen Schwälbchen in ein leerstehendes, sicheres Nest, in welchem sie von den treuen Eltern auch glücklich großgezogen wurden.
Freiligrath und Marx. Von London aus werden wir um Aufnahme der nachfolgenden Zeilen ersucht:
„Verehrter Herr Redacteur!
„Die Biographie F. Freiligrath’s in Ihrem geschätzten Blatte ist hier mit großem Interesse von zahlreichen Freunden desselben gelesen worden. Wir alle wissen Ihnen und Ihrem geehrten Herrn Mitarbeiter Dank für die zeitgemäße Besprechung. Schmerzlich fiel jedoch ein Mißton auf. Ich meine die Art und Weise, wie der Beziehungen zu Marx erwähnt wurde. Ich will das Urtheil, das der Biograph über Marx selbst fällt, keineswegs anfechten. Jedoch die Aeußerung, Freiligrath habe unter dem Einfluß von Marx seine Stimmung, seine Freiheit, seine Charakterstärke verloren, muß ich als eine ungerechte bezeichnen. Wenn Freiligrath’s Muse Jahrelang schwieg, so liegt doch die Erklärung aus den Londoner Verhältnissen, in die er, des nöthigen Lebenserwerbes wegen, gebannt ist, nahe genug. Seine Freiheit und Charakterstärke hat er sich stets gewahrt. Die Feindseligkeiten von Marx sind nicht die seinigen. Er isolirt sich nicht in kleinliche Sectirerei, absolute Negation und trauriges Coteriewesen. Den besten Beweis dafür liefert sein Verhalten zu Kinkel, auf dessen heroische Frau er den schönen Todtengesang gesungen, während Marx zu Kinkel die feindseligste Stellung einnimmt. Andererseits verhält sich Freiligrath zu Kinkel ganz ebenso frei; er steht mit einem Worte unabhängig da. Doch genug davon. Diese Bemerkungen sollten Ihren geehrten Mitarbeiter nicht verletzen, sondern nur eine Steuer der Wahrheit sein. Ich bin überzeugt, daß Sie zahlreiche Deutsche hier verbinden werden, wenn Sie in einer Ihrer nächsten Nummern einen „Nachtrag zur Biographie“ geben, worin diese Andeutungen in der Ihnen passend scheinenden Form eingeflochten werden könnten.“
Französische Gewissenhaftigkeit. Daß die Franzosen schlechte Geographen und Geschichtsforscher sind und den heitersten Blödsinn zu Tage fördern, ist genugsam nachgewiesen worden, daß sie aber ihre eigene Geschichte nicht einmal kennen und in „kaiserlichen Almanachen“ die gröbsten Verstöße gegen die Wahrheit drucken lassen, dürfte doch neu sein. In dem „Petit-Almanach-Imperial pour 1860. Paris. H. Plon. Impr. Editeur de S. M. L’Empereur. pag. 131“ steht wörtlich: „Polen schloß sich von Herzen dem Kaiser Napoleon I. an und hielt beständig bei ihm aus, in der Hoffnung, sich als selbstständiges Reich wieder hergestellt zu sehen. Die Ergebenheit des Fürsten Poniatowski gegen Napoleon inmitten der feigen Abtrünnigkeit derjenigen, die ihm Alles verdankten, und wie dieser tapfere polnische Fürst beim Uebergange über die Beresina verunglückte, als er den glorreichen und schmerzlichen Rückzug aus Rußland deckte, ist bekannt.“
gingen weiter bei dem Unterzeichneten ein: 1 Thlr. Seifarth, Obergerichtsrath in Gera – 5 Thlr. Albert Heinrich Müller in Leipzig – 2 Thlr. Ferber und Seybel in Leipzig – 4 Thlr. Lusatia in Zittau, erste Sendung – 1 Thlr. Thomas, Lehrer in Leipzig – 1 Thlr. Claire von Glümer in Dresden – 1 Thlr. Auguste Scheibe in Dresden. – 3 Thlr. S. in Schrimm. – 1 Thlr. Nicolaus von Urbanstadt in Eger (der erste Beitrag aus Oesterreich).
- ↑ Von seinem Schmerzenslager sendet uns der leidende Dichter diese Blume für das Sängergrab am Rhein. „Leider,“ schreibt man uns aus Oldenburg, „vermag ich nicht, Ihnen günstigere Nachrichten über des armen Mosen körperliches Befinden zu geben, indem dasselbe von den qualvollsten Schmerzen belastet ist. Sein Dulden ist wahrhaft groß und verehrungswürdig, und das Gedicht gibt Ihnen sicheres Zeugniß seiner Geistesfrische.“ Die Redaction.
- ↑ Wir beginnen mit diesem Artikel die früher versprochenen „Deutschen Bilder.“ Sie sollen ein Spiegelbild unseres deutschen Geschichtslebens abgeben, eine ungeschminkte Darstellung unserer Größe und Schwäche, unseres Besten und Niederträchtigsten, Bilder zur Beschämung und zum Troste. Wir werden viel Schmerzliches, Bitteres, Schmachvolles, aber auch viel Hohes, Schönes und Glorreiches erzählen können. Aus Deutschlands großer Geschichte wollen wir lernen, uns eine bessere Zukunft zu bauen. Die Redaction.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Gemeint ist die im Fürstentum Neuenburg beheimatete Salomé de Gélieu (1740–1820).