Die Gartenlaube (1860)/Heft 15
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No. 15. | 1860. |
(Fortsetzung.)
Der Doctor zündete die ausgegangene Cigarre wieder an, und indem er einen Schluck aus dem Weinglase that, sagte er: „Das ist schlimm, sehr schlimm! Eine Milchversetzung vermuthlich … verkehrte Behandlung dazu … ich kenne das! – Nun, und weiter?“
„Das Weitere kannst Du Dir denken. Alles, was nur die Kunst der Aerzte vermochte, wurde von mir und Theresens Eltern aufgeboten, kein Opfer wurde gescheut, sie wieder herzustellen – es war vergebens. In sich gekehrt und still brütete sie fortwährend vor sich und hatte sogar für mich und ihre Tochter das Gedächtniß verloren. Zuletzt machten Anfälle von Tobsucht es unvermeidlich, sie in einer Irrenanstalt unterzubringen – war es doch zugleich die letzte Hoffnung, sie wieder hergestellt zu sehen …. O mein Freund, wie soll ich Dir den Auftritt schildern, als sie aus dem Hause schied, das durch sie eine Stätte des Glücks, ein Tempel der Freude gewesen! Als ich sie, die einst lächelnd, blühend, voll Frohsinn und Entzücken in dasselbe eingezogen war, nun verwelkt, gebrochen, zerstört hinausgeleiten mußte in den entsetzlichen Aufenthalt! Ich begreife noch jetzt nicht, wie ich es überlebte!“
Der Doctor blickte ihn theilnehmend an. „Ich glaube Dir’s, lieber Freund; Du bist allerdings bitter heimgesucht. – Aber was gedenkst Du nun zu thun? Was soll ich mit der ganzen Sache?“
„Der Arzt der Anstalt schildert Theresens Zustand unverändert als denselben und gibt keine Hoffnung, daß er ein Ende nehmen werde. Ich habe Zutrauen zu Deinem medicinischen Wissen; deshalb habe ich Dich gebeten, hierher zu kommen, um mit mir die Kranke in der Anstalt zu besuchen, zu beobachten, für ihre Heilung zu wirken und mir den Trost zu geben, daß nicht alle Hoffnung verloren ist.“
„Ich bin herzlich gern zu dem traurigen Dienst bereit,“ erwiderte der Doctor, indem er aufstand und dem Freunde die Hand schüttelte. „Du hast Recht, Du hast mich allerdings nicht wegen etwas Unbedeutendem bemüht, sei daher überzeugt, daß ich alle meine Kraft aufbieten werde, zu helfen oder doch zu lindern. Indessen thut es noth, daß Du Dich selbst zusammen nimmst und Dich Deinem Kummer nicht zu sehr hingibst – das Kopfleiden, von dem Du mir erzählt, verträgt solche Aufregungen nicht … Wann wollen wir aber hin?“
„Ich habe mich für den morgigen Tag vom Dienste frei gemacht; wenn es Dir also genehm ist, kann es morgen geschehen,“ antwortete Rudolph. Als der Doctor beistimmend nickte, erhob er sich und rief: „Laß uns nun die Ruhe suchen, wir werden gesammelter Kraft bedürfen!“
Am andern Morgen, eh’ es kaum hell geworden war, rollte ein Wagen mit den beiden Freunden der Irrenanstalt Wallhof zu, und hielt nach einigen Stunden in einem schönen waldumschlossenen Thalgrunde vor der Thür des verhängnißvollen Hauses.
Als auf das Glockenzeichen der Pförtner öffnete, und aus dem breiten lichten Hausgange, in welchen man hineinsah, ein kühler Luftzug strich, wankte Rudolph und drohte, vor innerer Erschütterung zusammenzubrechen. Weindler ermunterte ihn. „Fasse Dich,“ sagte er, „oder bleibe hier, wenn schon die Erwartung Dich so sehr angreift. Du verträgst den wirklichen Anblick nicht – also laß mich allein gehen, ich bedarf Deiner nicht.“
„Nein,“ rief Rudolph abwehrend, „es war nur ein vorübergehender Schwindel – ich will und muß sie sehen! Es war nichts als eine eigenthümlich beklemmende Empfindung, die mich beim Oeffnen der Thüre befiel … es ward mir so unheimlich, als ob sie sich für mich selbst öffnete! Gott, Gott, wie entsetzlich muß es sein, in solchem Zustande zu leben! …“
Nach einigen Augenblicken raffte er sich zusammen und schritt an des Doctors Seite gefaßt durch die hallenden Gänge. Die Gespräche mit dem Arzte und Vorstand der Anstalt waren bald beendigt, und in kurzer Zeit standen sie vor Theresens Zelle.
„Treten Sie immer ein,“ sagte der Arzt, „Nummer acht ist keine von den gefährlichen Irren. Die tobsüchtigen Anfälle haben sich längst verloren und einer tiefen Melancholie Platz gemacht, die bisher trotz aller Versuche nicht zu verscheuchen war. Alles, sogar die Musik, welche die Kranke so sehr geliebt haben soll, habe ich vergebens angewendet. Sie leidet an dem fixen Gedanken, daß sie bis zum Abend eine bestimmte Arbeit für ihr Kind zu Ende bringen müsse, und so sitzt sie den ganzen Tag über und zupft wortlos an irgend einem Fleckchen Zeug, das man ihr reichen muß, und beginnt morgen, wo sie heute aufgehört hat.“
Man trat ein. In der Fenster-Ecke des weißgetünchten unscheinbaren Zimmers saß, am Boden kauernd, eine weibliche Gestalt mit bleichem ausdruckslosem Gesicht, über das glänzend schwarzes Haar in wirren Flechten herunter fiel. Vor sich auf den Knieen hielt sie ein Stückchen Leinwand, das sie emsig und ohne aufzublicken, in feine Fasern zerzauste. Sie wurde durch den Eintritt der Kommenden nicht gestört und schien sie nicht im Geringsten zu beachten.
Rudolph hatte wieder eine Anwandlung, wie beim Eintritt in das Haus; ohne den stützenden Arm des Freundes wäre er zusammengesunken. „Sammle Dich!“ rief dieser. „Rede sie an; ich will sehen, welche Wirkung Deine Stimme auf sie hervorbringt.“
[226] Der Assessor war todtenbleich; er zitterte, und kalter Schweiß stand in großen Tropfen an seiner Stirn. „Es ist entsetzlich!“ murmelte er vor sich hin. „Dieses Jammerbild und die Engelsgestalt meiner Therese!“ Endlich ermannte er sich, trat ihr einen Schritt näher und rief in einem Tone, der allen Anwesenden in die Seele drang: „Therese! Mein theures, geliebtes Weib – erhebe Dich! Komm’ zu mir, Therese, kennst Du mich nicht mehr?“
Die Wahnsinnige hob beim ersten Laut den Kopf ein wenig nach der Seite empor, blickte aber nicht auf; im nächsten Augenblicke sank sie wieder zusammen und fuhr in ihrer Arbeit fort.
Rudolph ertrug den Anblick nicht länger; er schwankte hinaus, während Weindler mit dem Arzte des Hauses in der Zelle zurück blieb, die genauere Untersuchung der Kranken vorzunehmen und sich die Geschichte ihrer bisherigen Behandlung erzählen zu lassen.
Der Abend brach ein, als die Freunde zur Stadt zurück kehrten. Rudolph war sehr angegriffen und vermied es sichtlich, Weindler um seine Meinung zu fragen, er wollte halb unwillkürlich die Entscheidung so lange wie möglich verzögern. Weindler war der entgegengesetzten Ansicht; rasch sollte geschehen, was doch unvermeidlich war.
„Das Geschäft, wegen dessen Du mich berufen hast,“ sagte er, „ist zu Ende. Meine Kranken rufen mich wieder nach Hause; ich werde keinen Augenblick länger, als unumgänglich nöthig ist, fortbleiben und will morgen mit dem Frühesten abreisen. Laß’ uns daher Deine Angelegenheit noch heut’ in’s Reine bringen. – Du willst mein Urtheil über den Zustand Deiner Gattin hören und würdest mich nicht gefragt haben, wenn Du nicht gerade von mir offene, rückhaltlose Wahrheit zu hören hofftest – die sollst Du denn auch erfahren …“
Eine leidenschaftliche Bewegung Rudolphs hieß ihn inne halten; dann begann er wieder: „Ich habe Deine Frau genau untersucht und beobachtet, habe die trefflich geführten Tagebücher des Arztes geprüft und muß Dir sagen, daß ich hiernach den Zustand Deiner Frau als einen solchen erkläre, zu dessen Heilung Menschenkunst nicht ausreicht. Sie ist, was wir Aerzte sagen – unheilbar!“
Rudolph sank im höchsten Grade erschüttert in den Wagen zurück. „Also nie wieder!“ rief er schmerzlich. „Dieses schöne Leben unwiderruflich dahin, dieser herrliche Geist unerbittlich zerstört! O wie öde liegt nun mein Dasein vor wir – die letzte Hoffnung ist mir genommen!“
Eine kleine Pause trat ein, dann begann der Arzt auf’s Neue: „Sie ist unheilbar – das ist gewiß, und wenn Du die Aerzte der halben Welt zusammen riefest, ihr Urtheil wird das nämliche sein. Die Wissenschaft kann irren, wo es gilt, einzugreifen und die Natur zu bestimmen; aber ihr Ausspruch ist unerschütterlich, wo es sich nur darum handelt, eine Zerstörung festzustellen, welche die Natur selbst begangen hat. – Aber fasse Dich, ertrage das Unvermeidliche als ein Mann! Auch leuchtet mir nicht ein, warum mit diesem Verluste aus der Vergangenheit auch die ganze Zukunft verloren sein soll. Nimm Dich zusammen und betrachte die Verhältnisse ohne alle Sentimentalität und wie sie nun einmal sind. Du bist es Dir selbst und Deiner Tochter schuldig, Dich aus dieser Versunkenheit aufzuraffen. Denke lieber daran, wie Du Deine Verhältnisse ordnen und Dir das neue Glück gründen kannst, dessen Ihr Beide bedürft!“
„Ein neues Glück!“ seufzte Rudolph. „Es ist nicht möglich!“
„Ob es möglich ist, weiß ich nicht,“ rief Weindler, „aber zu versuchen ist es wenigstens. Als Rechtskundiger weißt Du selbst, daß der unheilbare Wahnsinn Deiner Frau Dir das Mittel an die Hand gibt, Dich von ihr zu trennen und ein neues Bündniß einzugehen, das Dich, wenn nicht eben so beglücken, so doch vergessen lassen kann, was Du verlorst.“
„Nein!“ entgegnete rasch der Assessor. „Soll ich mich von ihr lossagen, sie in ihrem entsetzlichen Zustand sich selbst überlassen?“
„Das sag’ ich nicht!“ antwortete der Arzt. „Sorge für sie, wie man für einen Menschen in diesem Zustande sorgen kann; sorge für sie, wie für eine Person, die Dir das Theuerste auf der Welt war, aber sorge dann auch für Dich! Wie kannst Du sagen, das hieße Dich von ihr lossagen? Ist sie nicht bereits von Dir durch eine Kluft geschieden, tiefer und unausfüllbarer als jede andere? Du hast keine Gattin, Deine Tochter keine Mutter an ihr; sie ist nichts mehr als ein vegetirender Körper, der kein Recht hat, Dich in Deinen Lebensentschlüssen zu hemmen, kein Recht, zu verlangen, daß Du um seinetwillen allen Ansprüchen an das Dasein entsagst. Ueberlege Dir die Sache, fasse sie fest in’s Auge: alle Dinge gewinnen ein anderes Ansehen, wenn man sie an sich heran rückt und genau und lange betrachtet. Ich gebe zu, daß der Gedanke Dich im ersten Augenblick verletzt, allein Du wirst finden, daß es im Grunde doch nur falsche Empfindsamkeit ist, wenn Du Dein volles berechtigtes Leben für immer an ein halb erstorbenes knüpfen willst.“
Der Wagen hielt vor dem Hause; Rudolph erwiderte nichts, und mit einem herzlichen Händedruck gingen Beide schweigend in ihre Zimmer. Am andern Morgen nach kurzem, herzlichem Abschiede der Freunde rollte der Wagen mit dem Arzte davon. Das Abends zwischen ihnen Besprochene war nicht mehr berührt worden.
Tage und Wochen gingen in gewohnter stiller Weise vorüber; nur daß Rudolph noch zurückgezogener, noch einsylbiger geworden war, als früher. Er blieb, wenn er zu Hause war, fast immer abgeschlossen in seinem Arbeitszimmer, in welches Niemand ungerufen kam, als Anna. Diese zog er denn auch in jeder Weise an sich, und suchte sie und sich allmählich von der bisherigen Art des häuslichen Lebens und insbesondere von dem Umgange mit Amalien zu entwöhnen. Es war am klügsten, wenn sie dieselbe nach und nach entbehren lernte, denn Rudolphs Entschluß stand fest. Er wollte dem Wunsche Amaliens, das Haus zu verlassen, kein Hinderniß entgegen setzen, und hatte schon seinen Plan gemacht, wie es nach ihrer Entfernung werden sollte. Er hoffte, mit einer zuverlässigen alten Dienstmagd, die ihm empfohlen worden, die Besorgung des Haushaltes selbst überwachen zu können; für sich selbst bedurfte er ja so wenig, und was Anna an dem bildenden und belehrenden Umgange der Erzieherin verlor, das sollte ihr seine ausschließende Liebe, seine verdoppelte Zärtlichkeit ersetzen.
Wohl waren die Mahnungen des Freundes in seinem Gemüthe nicht wirkungslos verhallt; unter der Frische des ersten Eindrucks erschien seine Darstellung als klar unwiderleglich. So sehr sein Gefühl sich dagegen sträubte, er mußte sich selbst gestehen, daß seine eigenen Gedanken schon hier und da denselben Weg eingeschlagen hatten, daß der Ausweg ein vor Recht und Gesetz tadelloser war – dennoch reichten nach Weindlers Abreise wenige Stunden des Alleinseins hin, ihn wieder umzustimmen und ihm das, was sein Verstand billigen mußte, als herzlose Härte erscheinen zu lassen. Erweicht blieb er vor dem Piano stehen, dem Therese so süße Töne zu entlocken gewußt hatte und das seit ihrer Entfernung stumm und verschlossen dastand – er langte von der Wand oberhalb seines Schreibtisches ein von Theresen gesticktes Uhrkissen herab, das aus ihren Haaren gebildet seinen Namenszug trug. – Beim Anblick der holden Liebespfänder gelobte er sich aufs Neue, das Unvermeidliche mit Fassung zu ertragen. Er verzichtete auf jedes weitere Lebensglück, als das, welches in Anna’s Entwicklung ihm entgegenblühte.
Diese fühlte die eingetretene Veränderung sehr schwer; sie hing an Amalien wie an einer Mutter und wollte durchaus den ständigen Umgang mit ihr sich nicht schmälern lassen. Sie liebte ihren Vater, aber sie liebte Amalien ebenso sehr, und wenn dessen Ernst trotz aller Güte und Herzlichkeit sie ferne hielt und einschüchterte, flog der mütterlichen Freundin alle Lust und Freude des Kinderherzens entgegen. Es gab Auftritte, denen alle Vorsicht Rudolphs den darin liegenden Stachel nicht zu nehmen vermochte, und wenn die Verhältnisse sich gleichwohl ruhig und anständig abwickelten, war es nur Amaliens Werk. Ohne die mindeste Gereiztheit oder Bitterkeit zu verrathen, verständig und besonnen und doch geschmeidig wie immer, wußte sie die schärfsten Kanten zu brechen oder zu umgehen und ging mit weiblicher Feinheit auf Rudolphs unausgesprochenen Plan beistimmend und fördernd ein, während sie andererseits wieder ihr ganzes Benehmen so einzurichten wußte, als geschähe all’ dieses absichtslos, und als habe sie keine Ahnung von dem, was man vorhabe.
Rndolph bemerkte und empfand dies mit lebhaftem Dank, und doch wieder mit Unbehagen, es machte Amalien nur um so mehr in seiner Achtung steigen und erhöhte seine Verbindlichkeiten gegen sie, deren er doch am liebsten sich entledigt hätte. Er nahm sich daher vor, bei Amaliens Abschied die Sache zur Sprache zu bringen.
Als er eines Abends vom Gerichte nach Hause kam, wo ihm [227] die neugedungene alte Wirthschafterin mit zudringlicher Höflichkeit die Thüre öffnete, traf er Anna in Thränen schwimmend und auf seinem Arbeitstisch ein versiegeltes Päckchen. Es enthielt die Schlüssel, welche Amalien übergeben gewesen waren, ihre Abrechnung bis zum letzten Augenblick und ein kurzes freundliches Abschiedsbillet. Sie traue sich, schrieb sie, die Festigkeit nicht zu, aus dem ihr so liebgewordenen Hause so ruhig zu scheiden, wie es um Anna’s willen nöthig sei; darum habe sie, auf seine Zustimmung zählend, es vorgezogen, dem Abschiede durch eine unvermuthete und etwas frühere Entfernung auszuweichen. Sie zeigte Rudolph an, daß sie auf dem benachbarten Gute einer adeligen Familie eine Stelle als Erzieherin angenommen habe, und schloß mit der Bitte, ihrer in liebender Freundschaft zu gedenken.
Rudolph konnte Amaliens Benehmen nicht mißbilligen; gleichwohl berührte es ihn unangenehm, denn es blieb dadurch so Vieles zwischen ihm und ihr unausgeglichen, was er sich für den Abschied vorgenommen hatte, zu thun. Auch liebte er, durch seinen Beruf an eine streng ordnungsmäßige Abwicklung aller Verhältnisse gewöhnt, derlei rasche und unvermuthete Ereignisse nicht, weil sie sich mehr oder minder störend in seine wohlüberdachten Pläne und Berechnungen drängten. Indessen, es war geschehen; er beruhigte Anna, so gut es gehen wollte, mit dem Versprechen, Amalien besuchen zu dürfen, und ging der Neugestaltung feines Hauses mit entschlossener Zuversicht entgegen.
Je fester aber diese Zuversicht gewesen, desto empfindlicher war die Reihe bitterer Enttäuschungen, die der neue Zustand ihm täglich, ja stündlich bereitete. Er fühlte sich beengt, ja geradezu verletzt durch die Menge und Art peinlicher Kleinigkeiten, die alle ihre Lösung von ihm, der in einer ganz andern Sphäre lebte, erwarteten – deren Nichtbeachtung sich empfindlich rächt, die aber, von der Sorge einer Hausfrau überwacht, gar nicht oder doch nur selten in den Gedankenkreis des Mannes hinüberspielen. Der Unterschied zwischen dem Walten einer liebenden Hausfrau und der eigensüchtigen Thätigkeit einer Miethlingshand war ihm nie so klar und überzeugend entgegen getreten. Während Amaliens Anwesenheit hatte er nichts davon empfunden; auch sie war mit Liebe an ihrer Stelle gestanden.
Unterschleif jeder Art begegnete ihm und widerte ihn unsäglich an, nicht sowohl wegen des Schadens, den er dadurch erlitt, als wegen des gemeinen Sinns, wegen des mißbrauchten Vertrauens, das sich darin kund gab. Bald konnte er sich auch der Wahrnehmung nicht verschließen, daß jene Pünktlichkeit und Sauberkeit des Hauses abnahm, welche, von Theresen geschaffen und von Amalien bewahrt, ein Lebensbedürfniß für ihn geworden war. Mit Grauen sah und bedachte er, welchen Einfluß solcher Umgang und solches Beispiel auf Anna haben müßte, und mußte zweifeln, ob seine angestrengteste Sorgfalt und Liebe auf die Dauer im Stande sein werde, denselben aufzuheben. Zwar hatte er, um während der Zeit, in welcher ihn der Dienst in Anspruch nahm, sein Kind gut aufgehoben zu wissen, dafür gesorgt, daß Anna eine nahe gelegene Erziehungsanstalt besuchte, allein er fühlte täglich schmerzlicher, daß sie dort, wie im Hause selbst, fremden Händen übergeben war. Sein einziger Trost war Anna’s Liebe und Anhänglichkeit an ihn, die sich nun, da sie allein auf ihn angewiesen war, mit jedem Tage steigerte. Sie konnte den Augenblick seiner Heimkehr fast nie erwarten und war dann unzertrennlich von ihm. Aber auch hier war ihm bald die Ueberzeugung unabweislich, daß das Mädchen zur vollen entsprechenden Entwicklung weiblicher Anleitung bedurfte, die auf weiblicher Anschauung und weiblichem Wesen beruht. Am peinlichsten waren ihm die vielen Fragen, mit denen ihn Anna gleich allen lebhaften Kindernaturen bestürmte, und worunter jene wegen Amalien und ihrer dem Kinde unbegreiflichen Entfernung am häufigsten und dringendsten wiederkehrten.
Die Sache erreichte ihren Gipfel, als Anna nicht unbedenklich erkrankte und nun doppelt die Sorge einer liebenden Mutter vermißte, während ihm der Gedanke, sie allein und hülflos daheim lassen zu müssen, geradezu unerträglich wurde.
So war es natürlich, wenn die frühern Gedanken, so ernst sie zurückgewiesen worden waren, unwillkürlich und in immer kürzeren Zwischenräumen wieder auftauchten. Ein über ganz andere Dinge geschriebener Brief Weindlers, der eben während Anna’s Krankheit eintraf, reifte die Entscheidung. In einer Nachschrift hieß es: „Ich habe noch immer nichts über eine Wendung Deiner Familienverhältnisse vernommen, muß also annehmen, daß Du noch nicht die Kraft des Entschlusses in Dir gefunden hast und Alles beim Alten ist. Habe ich ganz in den Wind geredet? Ich meine, das sollte schon um Deines lieben Kindes willen nicht sein!“
Damit hatte er den allerempfindlichsten Punkt getroffen; von ihm aus betrachtet, hatten alle Gründe des kaltblütigen Arztes, die jetzt mit neuer Stärke vor seine Erinnerung traten, ein anderes und zwar ein doppelt überzeugendes Ansehen. Fast jeder Tag legte ein Sandkorn neuer Unannehmlichkeiten in die schwankende Wagschale, bis sie sank. Der Plan einer Scheidung wegen Theresens unheilbarem Wahnsinn ward zum Entschlusse und sollte zur That werden.
Nach einer langen schlummerlosen Nacht trat Rudolph vor den Arbeitstisch, nahm das Uhrkissen mit Theresens Haaren herab und sah es lange mit den heißgewachten ermüdeten Augen an. „Ich werde Dir und Deinem Andenken nicht ungetreu!“ rief er, seine Lippen auf die verblichene Locke drückend. „Ich scheide nicht von Dir! Ich verbinde mich Dir noch inniger, denn es ist Dein geliebtes einziges Kind, Dein Ebenbild, wegen dessen ich den verhängnißvollen Schritt thue! Bleibe stets um mich als segnender Engel, wie Du nicht aufhören wirst, in meinem Herzen zu wohnen!“
Beruhigter hängte er das Kissen wieder an seine Stelle, schloß Anna, die zum Morgengruße hereingehüpft kam, mit innigem Kusse an sich und ging an’s Werk.
Die Zeugnisse der Aerzte über Theresens Unheilbarkeit waren bald in aller Form und vollkommenster Uebereinstimmung erlangt; die nicht zweifelhafte Entscheidung des Gerichts ließ ebenfalls nicht lange auf sich warten, und Rudolph war von seinen Banden befreit, ehe er auf den neuen Zustand noch vollständig sich vorbereitet hatte. Lange und mit eigenthümlich gemischten Empfindungen hielt er das inhaltschwere Blatt in der Hand. Er hatte besorgt, dieser Schritt werde ihn, wenn er gethan sei, wie ein begangenes Unrecht innerlich mit Theresens Andenken entzweien – zu seiner Ueberraschung fand er gerade das Gegentheil in sich. Sie stand ihm immer noch nahe, wie eine theure unglückliche Schwester, für die er in gleicher liebevoller Weise gesorgt haben würde – zugleich aber empfand er mit angenehmem Behagen, daß eine schwere Last ihm abgenommen war. Er war der Welt und sich selbst wiedergegeben.
Dem ersten Schritte folgte naturgemäß der zweite. Rudolph dachte an Wiederverehelichung, und es war wohl begreiflich, daß seine Gedanken sich zunächst auf Amalien richteten. Wohl hatte er flüchtig hier und da die bekannten Kreise überblickt, er fand nichts, was ihn zu fesseln vermocht hätte, und kehrte immer zu ihr zurück. Das Gefühl, das er für Theresen gehabt und noch in sich trug, konnte und wollte er seiner Erwählten nicht mehr entgegen bringen – von Amalien durfte er hoffen, daß sie, mit den Verhältnissen vertraut, sich mit dem freundlichen und herzlichen Wohlwollen begnügen werde, das ihn schon mit der Jugendgespielin vereinigt hatte und das in gleicher Stärke wie in gleicher Dauer unter allen Verhältnissen bewährt geblieben war.
Der inzwischen herangekommene Winter war vorüber; es war wieder Frühling, und Rudolph benutzte den ersten heitern Tag des wieder erwachten Naturlebens, um Anna den längst versprochenen Besuch bei Amalien machen zu lassen. Mit einer der Lehrerinnen, die er darum gebeten, ließ er das entzückte Kind nach dem Landgute fahren, wo sie sich befand, und übergab ihm den Brief, der seine Bewerbung enthielt. Es schien ihm bedeutungsvoll, daß sie ihn aus der Hand des Kindes empfange; dessen Stimme sollte es gleichsam sein, die sie in sein Haus und an seine Seite rief.
Rudolph glaubte an Amaliens Entschluß, so wie er sie kannte, nicht zweifeln zu dürfen; gleichwohl erwartete er mit Bangen den Augenblick, bis Anna Abends zurück kam, und mit ihm selbst befremdlichen Herzklopfen empfing er den Antwortbrief, den sie brachte. Er gewann es über sich, ihn uneröffnet bei Seite zu legen und dem freudig verworrenen Berichte des Kindes zu lauschen, das von den erlebten Herrlichkeiten und von dem Wiedersehen Amaliens nicht genug zu erzählen wußte. Erst als sie, müde von den überwältigenden Eindrücken, vorzeitig eingeschlafen, erbrach er in der Einsamkeit seines Zimmers das entscheidende Siegel.
Er kannte Amaliens Handschrift; der Brief war klar und fest geschrieben – höchstens hier und da verrieth ein minder ruhig geführter Strich, daß die Hand, die ihn führte, etwas gezittert haben mochte. „Sie bieten mir Ihre Hand,“ schrieb sie, „und verhehlen [228] mir nicht, daß Ihr Herz Theresen gehört und gehören wird. Entgegen mache auch ich Ihnen kein Hehl daraus, daß nach meiner Ueberzeugung eine ohne Zustimmung des Herzens eingegangene Ehe jederzeit zum Unheil führt; und wenn Sie das bei meiner sonstigen Anschauung – die Ihnen, wie Sie schreiben, als verständig bekannt ist – etwas befremdlich finden, werden Sie das Uebergewicht des Verstandes dennoch sogleich wieder erkennen, wenn ich Ihnen sage, daß ich, im Widerspruche mit dieser Ueberzeugung, die mir ohne Herz gebotene Hand nicht zurückweise. Ich habe drei Gründe, dies zu thun: das Andenken meiner theuersten und einzigen Freundin Therese, die Liebe zu ihrem einzigen mutterlosen Kinde und – doch den dritten Grund erlauben Sie mir bis nach der Hochzeit zurückzubehalten. – Bis nach der Hochzeit! Es ist also entschieden – ich will es mit Ihrem Wohlwollen wagen und nenne mich zum ersten Male, aber für immer – die Ihrige – Amalie.“
Der Brief war für Rudolph eine neue Beruhigung; eine Bestätigung, daß er in der verhängnißvollen Wahl nicht fehlgegriffen hatte – die ruhige Klarheit desselben machte einen günstigen Eindruck; er erinnerte sich mit Vergnügen, wie sie dieses Wesen während ihres frühern Zusammenlebens fortwährend ungetrübt und rein zu erhalten gewußt hatte, und es gab ihm Bürgschaft für die Wiederkehr eines, wenn nicht glücklichen, so doch nicht unseligen Zustandes.
Es überraschte Niemand, als sich im Städtchen die Nachricht verbreitete, Rudolph habe sich mit Amalien verlobt; wenn auch Manche den Kopf schüttelten, ging doch das allgemeine Urtheil dahin, daß es das Klügste war, was der Assessor hatte thun können. Die Hochzeit ward in der Stille gefeiert und die Trauung auf dem Landgute, wo Amalie gelebt hatte, vollzogen. Von dort führte Rudolph seine Gattin in sein Haus, in angenehm freudiger Stimmung und unter dem Jubel Anna’s, die sich vor Freude nicht zu fassen wußte, daß die geliebte Freundin wiedergekehrt war, daß sie nun für immer da bleiben sollte und daß sie nun sogar ihre Mutter geworden war. Es lag in den Verhältnissen, daß das Kind nur eine unklare Vorstellung davon hatte, was und wer eine Mutter sei; aber sie trug in dem jungen Gemüth einen so starken dunklen Drang nach der Liebe einer Mutter verschlossen, daß die bewiesene Liebe ihr Amalie längst zur Mutter gemacht hatte. Jetzt kam auch das ihr bis dahin versagte geheimnißvolle Wort hinzu und erfüllte das Kinderherz mit der reinsten Glückseligkeit.
Als Rudolph mit Amalien zum ersten Male in der wiederbetretenen Wohnung allein war, ergriff er ihre Hand und zog sie an die Brust. „Laß nun denn,“ rief er, „mit diesem ersten Kusse das Gelöbniß unseres Lebens erneuen! Möge der Himmel es hören und vor Stürmen bewahren, wie sie über uns schon dahin gegangen – der Name Therese aber sei sein Losungswort.“
„So sei es!“ erwiderte Amalie in Rudolphs Armen, den Kopf an dessen Brust gelehnt. Er blickte in ihre klaren, zu ihm emporschauenden Augen herab und schloß sie enger an sich.
„Und jetzt, nach der Hochzeit,“ sagte er lächelnd, „darf ich jetzt den dritten Grund erfahren, dem ich Dein Jawort verdanke und den Dein Brief mir verschwieg?“
Amalie antwortete nicht. Tiefer barg sie das Gesicht an die Brust des Gatten, und eine feine, tiefe Röthe flog über Wangen, Hals und Nacken.
„Nun?“ fragte er wieder und dringender. „Darf der Schleier vor diesem Geheimnisse noch nicht fallen?“
Amalie zögerte noch einen Augenblick; dann richtete sie sich auf und sah ihn mit offenen, freien Augen an. „O Ihr Blinden,“ sagte sie, „denen das Herz des Weibes ein ewiges Räthsel bleibt! – Der dritte Grund ist … weil ich Dich liebe, weil ich Dich geliebt habe, so lang ich Dich kenne, so lang ich denken kann …“
Ueberrascht blickte Rudolph auf das erröthende Weib, aber die Ueberraschung war eine freudige. Im Grunde seines Wesens trägt jeder Mensch eine Faser der Eitelkeit, und die Gewißheit, Liebe eingeflößt zu haben, ist die schönste Schmeichelei für sie. „Ist es möglich?“ rief er, „und diese Liebe hast Du in Dir verschlossen gehalten, daß auch nicht der schwächste Funken ihr Dasein verrieth?“
„O doch – ich kann mich solcher Standhaftigkeit vor mir selber nicht rühmen – aber es war gut, daß unachtsame Augen eben so wenig sehen – als blinde. Ohne die jetzt eingetretene Wendung wär’ es auch mit mir zu Grabe gegangen … Der Freundin habe ich den Geliebten geopfert; ich habe ihn dahin gegeben, um ihrem Kinde Mutter sein zu können – dem Gatten darf ich ja mein Geheimniß und mich selbst zum Opfer bringen …“
„Und es soll vergolten werden,“ erwiderte Rudolph mit weit wärmerem Kusse, als der erste gewesen war, und in seinem Herzen ging die Morgenahnung eines Gefühles auf, das er an seinem Horizonte längst für immer hinabgesunken geglaubt hatte.
Tags darauf traf ein Brief von Weindler ein, mit allerlei eingestreuten Spöttereien, aber mit entschiedner lauter Billigung des gemachten Schrittes und einem Anhängsel von jovialen, darum nicht minder herzlichen Glückwünschen. Diese erfüllten sich auch.
In Rudolphs Hause war mit Amalien, wie die Ordnung und das Gedeihen, so auch der Friede und die Heiterkeit wieder eingezogen. Er lebte und athmete wieder auf; die Schwermuth entschwand allmählich, das quälende Kopfleiden ward seltener – die Arbeiten seines Berufs, bis dahin nicht selten eine widrige, erdrückende Last, wurden ihm wieder Bedürfniß und Freude, und das Gefühl ihres Gelingens steigerte den Erfolg. Amalie blieb sich immer gleich; nie leidenschaftlich, aber immer warm, theilnehmend und anregend waltete sie wie ein freundlicher Geist in dem neu erstandenen Hause.
Am allerschönsten zeigte sich aber ihr günstiger Einfluß in der Entwicklung und Ausbildung Anna’s, die geistig und körperlich in der erwünschtesten Weise fortschritt. Sie blühte förmlich auf in dem warmen Luft- und Licht-Strom von Liebe, der das Haus durchdrang und sie umwehte. Verstand und Gemüth erschlossen sich immer bedeutender und harmonischer in ihr und ließen immer mehr die Ähnlichkeit hervortreten, die sie im ganzen Wesen mit ihrer unglücklichen Mutter hatte. Unter den hervortretenden Zügen machte sich auch ein hartnäckiger Trotz geltend, der indeß unter so kluger Leitung zu weiser Festigkeit sich zu gestalten versprach. Da die neue Ehe kinderlos blieb, trat auch kein Zwischenfall ein, welcher dabei irgendwie zu stören vermocht hätte, und Anna erhielt und verdiente die ungetheilte Aufmerksamkeit, Sorge und Liebe beider Gatten.
Mehr als zwei Jahre waren in dieser Weise ungestört und vergnügt vorübergegangen; das alte Verhältniß befestigte sich immer mehr, und mit Rudolphs Beförderung zum Rath wurde auch die äußere Stellung der Familie eine noch behaglichere. Treu wurde auch das Gelöbniß gehalten, daß das Andenken Theresens in dem Hause ein heiliges bleiben sollte; ihr Name war wirklich in gewissem Sinne dessen Losungswort, und selten verging ein Tag, an welchem nicht Rudolph und Amalie im Gespräche ihrer gedachten; keiner aber verfloß, ohne daß Amalie dem Kinde von seiner Mutter erzählte, sobald sie einmal im Stande war, das ganze Verhältniß und das Unglück zu begreifen, von dem ihre Mutter betroffen worden war. Sie hielt es für ihre Pflicht, in dem Kinde das Bild der Mutter zu erwecken und so recht lebendig zu machen, damit sie ihr wenigstens im Bilde bekannt und von ihr geliebt würde. Anna ging auch mit der ganzen ererbten Leidenschaftlichkeit ihres Wesens darauf ein, und die arme nie gesehene Mutter in ihrem bejammernswürdigen Zustande, in der schrecklichen Einsamkeit des Irrenhauses wurde bald die stete stille Sehnsucht ihrer Gedanken, der stehende dunkle Hintergrund ihrer Vorstellungen. Mit Begier hatte sie es daher auch aufgegriffen, als der Vater ihr das verwaiste Piano der Mutter übergab, und ihre Fortschritte auf demselben gehörten wirklich in’s Gebiet des Unglaublichen.
In der geistigen Entwicklung des Menschheitslebens hat Thüringen von alter Zeit her eine wichtige Rolle gespielt, und eine wunderbare Gegenseitigkeit der Dichtkunst, vorzüglich der lyrischen, mit dem Ringen nach freierer Gestaltung der Form des Lebens in seinen beiden Hauptausläufen, dem politischen und dem religiösen, strahlt von dem Herzen Deutschlands aus in die übrige Welt, und von dieser zum Herzen zurück. Am Hofe des kunstsinnigen Landgrafen Herrmann I. auf der Wartburg war es, wo die größten Meister
[229]der deutschen Dichtkunst, Heinr. v. Waldecke, Walther von der Vogelweide und Wolfram v. Eschenbach, gemeinschaftlich sangen und die Blüthen mittelalterlicher christlicher Bildung nach allen Seiten hin ausstreuten; Thüringens größter und kühnster Sohn, der Doctor Martin Luther, warf von dort aus zuerst die zündenden Funken seines Protestes gegen geistige Knechtung und Verdummung in die Welt; und in Thüringen wieder war es, wo sich Ende des achtzehnten Jahrhunderts ein Kreis von Dichtern und Philosophen zusammenfand, wie er zum zweiten Male schwerlich wieder in Deutschland zusammentreten wird. Mitten in dem blutigen Kampfe der Autorität gegen das aufstrebende Geistesleben sehen wir im kleinen Thüringerlande die echte und wahre Flamme des Geistes auftauchen, nicht die wilde, düstere, fanatisch zerstörende, sondern die sanft erwärmende und bildende, und was einer der Hauptträger dieser edlen Geistesflamme, Friedrich Schiller, in seinem lyrischen Lebenspanorama, dem herrlichen Liede von der Glocke, vom materiellen Feuer sagt, das paßt Wort für Wort auch auf das Feuer des Geistes:
Wohlthätig ist des Feuers Macht,
Wenn sie der Mensch bezähmt, bewacht;
Denn was er bildet, was er schafft,
Das dankt er dieser Himmelskraft.
Doch furchtbar wird die Himmelskraft,
Wenn sie der Fessel sich entrafft,
Einhertritt auf der eignen Spur,
Die freie Tochter der Natur!
Während in Paris die hohe Himmelskraft des Geistes nach gesprengter Fessel furchtbar einherschritt auf der eignen Spur, wurde sie in dem kleinen bescheidenen Jena von keuschen Händen zur „wohlthätigen“ Bildnerin des künftigen Geschlechtes gepflegt und genährt. Wieder fand die heilige Geistesarbeit unter dem Schutze eines Fürsten statt, dessen Ahnherr der Landgraf Hermann gewesen und dem die Wartburg als Eigenthum gehörte.
Und wie die schönsten Gebilde des schaffenden Genius in der letzten Verlaufszeit des Mittelalters an jenen sittlich und politisch verkommenen Höfen Italiens in’s Leben traten, so fällt die Blüthe der deutschen Poesie, der Aufschwung zur sittlichen Freiheit mit der tiefsten Erniedrigung des deutschen Reichs und der Fäulniß des politischen und socialen Lebens in unserm Vaterlande zusammen. [230] Während in Deutschland die abgestorbenen Formen des öffentlichen Lebens noch in peinlicher Beengung und Bedrückung bestanden, und in Frankreich sie in chaotischer Auflösung zusammenstürzten, bauten in Jena und Weimar die Priester der Poesie und Wissenschaft am Tempel der Geistesfreiheit, von welchem die reine Altarflamme in die Zukunft erleuchtend und erwärmend ausstrahlte. Der Kreis jener Männer ist für alle Zeit von der höchsten Bedeutung. Als Persönlichkeit war ohnstreitig Goethe das wichtigste Glied desselben, als Träger einer die Welt befruchtenden Idee – Schiller.
Eine höchst interessante Erscheinung in dem jenaischen Kreise jener Fackelträger des Geistes ist auch Wilhelm von Humboldt, der nachher so berühmt gewordene Gelehrte und Staatsmann, der ältere Stern des am deutschen Geisteshimmel so prächtig glänzenden Dioskurenpaars. Die beiden Brüder, Wilhelm, geb. 22. Juni 1767, und Alexander, geb. 14. Septbr. 1769, hatten durch die Mutter, eine geborene v. Colomb – der Vater, preußischer Major und Kammerherr, war schon 1778 gestorben – eine sehr sorgfältige Erziehung genossen. Die ausgezeichnetsten Männer der Wissenschaft waren ihre Lehrer gewesen. Nach beendigten Studien in Frankfurt a. O. und Göttingen, wo er neben den Rechtswissenschaften mit Liebe und Eifer der Alterthumskunde obgelegen und mit den hervorragendsten Männern in persönliche Verbindung gekommen war, hatte Wilhelm mit seinem ehemaligen Lehrer Campe die stereotype Reise der Söhne der deutschen Aristokratie nach Paris gemacht, wo er am Tage nach seiner Ankunft jener welthistorischen Sitzung der Nationalversammlung vom 4. August 1789 beiwohnte, in welcher der einst so mächtige Feudalstaat mit all seinen wunderlichen Schnörkeln und Anhängseln unter dem Zujauchzen der Betheiligten zusammenstürzte. Auf den zweiundzwanzigjährigen preußischen Baron machte dieses Erlebniß einen unauslöschlichen Eindruck, doch trübte es seine klaren und besonnenen Auschauungen vom echten und fruchtbringenden Entwickelungsgange der Cultur nicht. Weder der feurige Georg Forster, den er auf der Rückreise in Mainz aufsuchte, vermochte ihn auf die schlüpfrige Bahn der sich überstürzenden Revolution mit fortzureißen, noch der eitle, geniesüchtige Lavater in Zürich ihn über die innere Hohlheit seiner Mystik zu täuschen.
Ebenso glücklich entging er in Berlin den Verlockungen des hypergenialen, lüderlichen Gentz, der damals den salopen Jakobiner spielte, und verfolgte im Kreise der edlen und liebenswürdigen Henriette Herz, der Gattin des jüdischen Arztes Dr. Marcus Herz, das ihm vorschwebende Ziel edelster Humanitätsbildung, deren Ideal er bei den alten Griechen zu finden glaubte. Unablässig mit dieser idealen Selbstbildung beschäftigt, verließ er sogar den Staatsdienst, in welchen er getreten war, bald wieder und vermählte sich mit einer geist- und gemüthreichen, liebenswürdigen und begüterten Thüringerin, einer Freiin von Dacheröden, und lebte auf dem ihr gehörigen Rittergute Burgörner bei Mansfeld in Nordthüringen seiner höhern Ausbildung und dem Glück der häuslichen Liebe. Die scharfen Extreme, die sich auf der Lebensbühne zum wilden und erbitterten Kampfe gegenüber traten, vermochten ihn, den Mann der rechten Mitte in allen Lebensbeziehungen, sich vom Streite fern zu halten.
Durch seine Gattin, eine Freundin der Familie von Lengefeld in Rudolstadt, wurde Humboldt zur persönlichen Bekanntschaft mit Friedrich Schiller, dem Gatten Charlottes v. Lengefeld, geführt, und die beiden Männer lernten sich bald als nahverwandte Geister verstehen, schätzen und lieben, so daß diese Verbindung zu Anfang des Jahres 1794 zu einer Uebersiedelung W. von Humboldt’s nach Jena führte. Ein und ein viertel Jahr lang lebten die beiden edlen Geister sich ineinander, und durch Schiller wurde Humboldt auch Körner’s in Dresden vertrauter Freund. Diese drei hochbegabten edlen Männer bilden eine engverbundene Trias, welche die höchsten Güter der Menschheit mit reiner Hand pflegen und die Flamme der Freiheit auf dem unentweihten Altare des Herzens nähren, sie aber auch hüten, daß sie nicht, wie in Frankreich, den massenhaft aufgehäuften Brennstoff veralteter oder abgestorbener Zustände ergreife und zum wilden, verheerenden Brande ausarte.
W. v. Humboldt wurde im Sommer 1795 von Familienangelegenheiten nach seinem Familiengute Tegel bei Berlin gerufen, aber im November 1796 kehrte er zu seinem geliebten Schiller nach Jena zurück.
In diesen zweiten Aufenthalt Humboldt’s in Jena, bis zum April 1797, drängt sich ein großer Theil des Schönsten zusammen, was dieser herrliche Schillerkreis genossen und erzeugt hat. Denn nicht nur, daß Goethe sich mit Humboldt befreundete und, in den Kreis getreten, vielfache Anregung empfing (besonders zum „Wilhelm Meister“, namentlich aber zu „Hermann und Dorothea“) und gab, auch Körner kam mit seiner Gattin von Dresden, und Schiller’s geist- und gemüthreiche Schwägerin Caroline hatte sich im August 1796 mit dem weimarischen Oberhofmeister Wilhelm Frecheren von Wolzogen vermählt und kam öfter nach Jena, wo sie die Anregung zu ihrem trefflichen Romane „Agnes von Lilien“ empfing, der anfangs, da er anonym erschienen war, allgemein für ein Werk Goethe’s gehalten wurde. So bildete sich jener herrliche Frauenbund um Schiller: Frau von Humboldt, Frau von Wolzogen, Frau Schiller, Frau Körner – auch sie hatte die Freundschaft zwischen Schiller und ihrem Gatten vermittelt –, der ihn mit dem „beglückenden Bande“ hoher idealer Liebe umschlungen hielt und in sein „irdisches Leben“ „himmlische Rosen flechten und weben“ durfte, jener Bund, dem er seine unsterbliche, das deutsche Frauenthum für alle Zeit verherrlichende „Huldigung der Frauen“ sang.
Von diesem Kreise empfing der große Dichter der Menschenwürde die Impulse zu seinem höheren Auffluge, zur sittlichen Verklärung der Idee der Freiheit im Lichte der Schönheit und Wahrheit. Er wurde von seinen Freunden und Freundinnen von der Philosophie hinweg wieder der schaffenden Poesie zugeführt. Er gab den Musenalmanach heraus, den er mit seinen und Goethes Dichtungen schmückte und in dem beide das prächtige Gewitter der Xenien losließen, das so heilsame Erschütterungen brachte und die alten literarischen Zustände in Deutschland zertrümmerte. Man kann wohl sagen, daß er schon damals der Mittelpunkt des großen Kreises ausgezeichneter Menschen war, welche sich in dem lieblichen kleinen Jena zusammengefunden hatten. Die „Allgemeine Literaturzeitung“, die von den Professoren Schütz und Hufeland herausgegeben wurde, stand in ihrer Blüthe; auf fast allen Kathedern lehrten ausgezeichnete Professoren; Fichte begeisterte die Jugend; Schelling kam; die Brüder Schlegel ließen sich danieder; Woltmann war thätig; Gries fand sich ein; Knebel lebte stillwirkend in seiner schönen Besitzung; bedeutende Fremde strömten fortwährend nach dem Städtchen an der Saale, und alle bemühten sich in Schillers Gesellschaft zu gelangen. In der bescheidenen Wohnung desselben, bei Butterbrod und einer Tasse Thee, saß oftmals ein Kreis von Männern, die alle heute noch bewundert werden. Man erging sich da ungezwungen in Gesprächen über die wichtigsten Fragen, und Alle bewunderten namentlich Schiller, der fast so schön gesprochen haben soll, als er schrieb. Am liebsten unterhielt er sich mit Wilhelm von Humboldt über philosophisch-ästhetische Gegenstände, während Goethe, der gar häufig von Weimar herüberkam, vorzugsweise gern die Natur und deren Gesetze zum Gegenstande der Unterhaltung wählte. So kam es, daß er sich mehr zu dem jüngern Humboldt hingezogen fühlte, mit dem er namentlich oft über die Erfüllungen des Galvanismus sprach, der damals großes Aufsehen machte und über den Alexander von Humboldt sein erstes Werk schrieb. Er hatte seine dienstliche Stellung als Oberbergmeister am Fichtelgebirge in Bayreuth aufgegeben, um sich auf eine große wissenschaftliche Reise vorzubereiten und war zu seinem Bruder nach Jena gekommen. Oftmals saß man bis spät in der Nacht in Schillers Stube, in Knebels Garten, in dem Garten, den Schiller im nächsten Jahre kaufte, oder sonst im Freien, oder man machte in Gesellschaft Spaziergänge. Und war Schiller recht angeregt, oder wollte er die Meinung der Freunde hören, so trug er ihnen eines seiner neuen Gedichte vor, oder wohl auch Einzelnes von dem „Wallenstein“, an dem er ernstlich zu arbeiten begonnen hatte. Eine solche Vorlesung in solchem Kreise stellt unser Bild vor. Wir freuen uns, den Lesern der Gartenlaube versichern zu dürfen, daß der Künstler die Abbildung der beiden Humboldt’s nach Originalgemälden auf Holz übertrug, welche sich jetzt noch auf Schloß Tegel befinden und die beiden Brüder in ihrer Jugend vorstellen.
Es sind unstreitig Tage hohen Genusses und geistiger Förderung gewesen, welche die großen Menschen, Goethe, Schiller, Wilhelm und Alexander v. Humboldt, zusammen und im Kreise Anderer verlebten. In Alexander von Humboldt namentlich ist der vom Umgang mit Schiller empfangene sittliche Eindruck und geistige Aufschwung nachhaltig geblieben bis an sein spätes Lebensende, und stets erinnerte er sich der in seiner Jugend mit Schiller und Goethe verlebten Tage mit hoher Freude.
[231] Im Frühling 1797 verließen die Brüder von Humboldt Jena, um nach Italien zu gehen, Alexander blieb aber, von der revolutionären Bewegung zurückgehalten, mit Leopold von Buch in Salzburg und Berchtesgaden, wie Wilhelm in Paris, wo er später mit dem Bruder zusammentraf. Beide sahen den theuren Schiller nur noch einmal flüchtig wieder; Alexander unternahm seine Reise nach Amerika, Wilhelm blieb wenigstens in Briefwechsel mit dem Dichter bis zu dessen Tode, und er hat diesen Briefwechsel, ein Denkmal ihres beiderseitigen Hochsinns, der Oeffentlichkeit übergeben, wie überhaupt mit Körner und Frau von Wolzogen das Meiste dazu beigetragen, uns ein klares Bild von der Geistes- und Seelengröße unsers geliebtesten Dichters aufzustellen. Gleich auf die Nachricht von dem Tode des großen Freundes schrieb er in einem erst vor Kurzem bekannt gewordenen Briefe aus Rom vom 20. Juli 1805: „Mich hat sein Tod unendlich niedergeschlagen. Ich kann wohl behaupten, daß ich meine ideenreichsten Tage mit ihm zugebracht habe. Ein so rein intellektuelles Genie, so zu allem Höchsten in Dichtkunst und Philosophie ewig aufgelegt, von so ununterbrochenem edlen und sanften Ernst, von so parteilos gerechter Beurtheilung, wird eben so wenig in langer Zeit wieder auferstehen, als eine solche Kunst im Reden und Schreiben.“
London ist der Mittelpunkt alles festen Landes der Erde, wovon sich Jeder durch eigenes Experiment an einem Globus überzeugen kann. Theilt man ihn so in zwei Hälften, daß auf die eine Hälfte so viel festes Land fällt, als überhaupt auf eine Hälfte zu bringen ist, und sucht dann den Mittelpunkt dieser Halbkugel, so finden wir London. In Handel und Wandel ist’s auch Brennpunkt aller Meere und wird es in viel höherem Grade in Folge der großen Cobden-Brightschen Revolution in Paris: Cobden und Bright, die blutlosen Helden von 1846, die den Engländern zum ersten Male unbesteuertes Brod verschafften, haben 1860 auch den von ganz Europa feig gefürchteten Napoleon besiegt, ihn zu dem englisch-französischen Handelsvertrage überredet und so die seit zehn bis zwölf Jahren erste, einzige, vernünftige historische That in Europa gethan, alle Handelsartikel – bis auf funfzehn – von Besteuerung und Vertheuerung befreit und so England zum Emporium der Welt, zum Freihafen der Bedürfnisse, Fabrikate, Producte und Lebensfreuden civilisirter Menschen erhoben. London wird nun erst recht Mittel- und Brennpunkt der Güter dieses Lebens, Bank und Börse aller Reichthümer der Erde.
Mittelpunkt im Mittelpunkte des Handels und Verkehrs, Brennpunkt und Herz Londons ist die Bank. Alle Wege, alle Omnibus in London, jeder City-Kaufmann, alle Herzen und Bestrebungen gehen bankwärts. Die Reichen und Mächtigen der Erde in allen civilisirten Theilen derselben pochen gleichsam im Geiste auf diesen Felsen ihres Vertrauens, und Potentaten, die fürchten, eines schönen Abends weggejagt zu werden, wie südamerikanische Republiken-Präsidenten und selbst der schwarze Faustin, deponiren vorher der Zukunft wegen ihre „sauern Ersparnisse“ in diese Herzkammer des Welthandels und Credits.
Die Bank zieht sich düster und augenlos an Fenstern als nördliche Seite der Hauptverkehrsschwingungsknoten im Londoner Verkehre. Diese Knoten werden in der Regel durch fünf zusammenlaufende große Verkehrsadern oder Straßen gebildet. Die fünf Straßen, welche hier in dem von Bank, Börse und Mansion-Haus (Wohnung des Lord-Mayors) gebildeten Dreieck zusammen- und wieder auseinanderlaufen, sind die Hauptschlagadern aller andern. In der Mitte vor der Börse reitet Wellington, umgeben von rothjackigen, numerirten Schuhputzerjungen, als wär’ er zu deren Director herabgesunken. Nördlich gegenüber führt ein einziger, enger, unscheinbarer Eingang in die ersten innern Höfe des ungeheueren, solarisch über die Erde strahlenden Mauerwerks, das die Reichthümer und den Credit des Welthandels enthält, erwärmt und befruchtet, die englische Bank. Sie bildet architektonisch ein unregelmäßiges, nordwestlich ausschwellendes, einstöckiges Viereck und bedeckt über vier Morgen Landes. – Ich war wohl gelegentlich in der Bank gewesen, aber nur in diesem oder jenem Bureau. Alles Uebrige war mir bis zu einem Märzmorgen dieses Jahres Geheimniß. Jetzt aber hatte ich einen „Paß“ für die ganze Bank von einem Director in den Händen, lautend für mich und fünf Freunde. Solch eine Karte – und nur eine solche – sichert uns einen officiellen Führer in erbsengrüner Uniform und öffnet alle Räume und deren Thätigkeit. Durch den engen Eingang von der Börsenseite her in den ersten Hof tretend, besuchten wir erst den größeren zweiten links mit dem immer muntern, trichterförmig sich drehenden Springbrunnen in der Mitte von Bäumen und Blumen. Seltsames Geplätscher in der plötzlichen Stille, da das ewige Knattern, Donnern und Krachen des Verkehrs draußen nicht durch die dicken Mauern hierher dringt und nur als ein allgemeines, dumpfes Beben und Schüttern, ein schwaches Brummen und Brausen, wie ein fernes Erdbeben mehr durch die Füße, als durch die Ohren vernehmbar wird. Springbrunnen, Blumen und Bäume und sogar zwitschernde Spatze zwischen deren noch kahlen Zweigen! Naturleben mitten zwischen diesem düsteren Gestein, ringsum meilenweit fern von Feld und Flur, hier wo die bescheidene Krokuszwiebel ungestört den Raum einnimmt, der zehnfach mit Gold belegt wird, um ihn in dieser Nachbarschaft nur als leere Baustelle nur zu pachten!
Ringsum in den Höfen öffneten und schlossen sich immerwährend ganz schweigend und von selbst Flügelthüren hindurchlaufenden, eifrigen, schweigenden Menschen links nach innen, rechts nach außen, sodaß die Leute immer, ungestört durch einander, geräuschlos durch die Thüren hinein- und herauslaufen, wie durch alle die Hunderte von Thüren und Räume der ganzen Bank.
Wir wußten nicht, durch welche wir unsern Führer suchen sollten, und wandten uns wieder an den Eingang zurück, wo links in einem engen Kasten ein ungeheurer, betreßter Dreimaster über die Times etwas hervorragte. Wir entdeckten dahinter einen dünnen Mann mit einem dicken, langen, schwerbesetzten, rothen Schlafrock, den Portier (alle Beamten-Uniformen in England sind nach unseren straffen, preußischen Begriffen komisch, schlotterig, reich und geschmacklos). Er wies uns durch verschiedene Corridors und Gänge in ein Bureau, wo unsere Karte geprüft, unsere Namen eingeschrieben und uns in einem Nebenzimmer Stühle angewiesen wurden, zum Warten auf den noch nicht disponiblen Führer. Durch die offene Thür hatten wir Gelegenheit, den ganzen Corridor der Directoren-Zimmer und ihres Salons zu besichtigen: dunkel marmornes Mauer- und Säulenwerk, schön gemalte Decken mit Glasdächern, die blos Licht von oben herein lassen und den Räumlichkeiten unten, Menschen und Decorationen darin eine angenehm gedämpfte Licht- und Farbentönung geben, wie uns hernach in unzähligen anderen Räumen mit „Himmelslichtern“ auffiel. Unten lagen kostbare Teppiche, die marmornen weißen Gänge waren mit regelmäßigen Figuren von Strohgeflechten belegt, so daß jeder Schritt der wichtig und geheimnißvoll schweigend hin und herschreitenden Personen geräuschlos hinglitt. Auch die lebensgroßen Portraits oben (darunter das von Abraham Newland, der erst Bäcker, hernach 60 Jahre lang Buchhalter der Bank war) sahen wichtigthuend und mysteriös herab aus ihren weißen Perrücken.
Der graugrün beleibrockte Führer, mit einem den lebendigen beinahe vollkommen ersetzenden künstlichen Arme, hielt mit uns zuerst draußen vor einem Balkon, von welchem man auf einen inneren offenen Hof hinabsah. Unten von einem eisernen Lastwagen warf ein gewöhnlicher Arbeiter schwitzend Kohlköpfe, wie es erst schien, auf den Balkon herauf. Es waren aber Säcke neuen gemünzten Goldes, eben von der Münze mit einem Fuhrmann und einem Schreiber durch die dickbevölkerten Straßen hergebracht (ohne Dragoner und sonstige Vorsichtsmaßregeln). Eine gewöhnliche Fuhre von 175,000 Pfund in Säcken à 701 Pfund. „Warum gerade à 701 Pfund?“ fragte ich. „Ist so immer gewesen, jeder Sack muß 701 Pfund enthalten,“ war die Antwort. Also eine jener Sonderbarkeiten, die sich in tausenderlei komischen, alten Gerechtigkeiten durch alle Labyrinthe des englischen Lebens ziehen. – Unten hielten noch mehr Lastwagen mit Goldstaub von Australien, andere, die Gold luden, scheinbar ohne alle Vor- und Aufsicht, da gewöhnliche Arbeiter, je 2–3, auf den Wagen und um dieselben beschäftigt waren.
[232] Weiter. Durch Corridore und Labyrinthe von Gängen hinunter durch die Buchbinderei und Druckerei, wo alle Bücher und Drucksachen für die Bank und nur für die Bank gemacht werden, bis an die Glasthür der Banknoten-Druckerei. Bis an die Thür und nicht weiter. Kurz vorher war einem Besucher von dieser Oldham’schen Notendruckmaschine ein Arm abgerissen worden. Deshalb und um das Wunder besser geheim zu halten, war kurz vorher jeder Besuch Fremder streng verboten worden. Durch die Thür sahen wir eben blos eine complicirte, feine, ruhig und leicht arbeitende Maschinerie mit geheimnißvollen Uhrwerken und Chiffreblättern, durch welche die gedruckten Noten – Fünf- bis Einhunderttausendpfundnoten – genau controlirt und gezählt werden, so daß kein Betrug möglich bleibt. Wir sahen eben, wie zunächst nasse Papierstückchen erst mit mysteriösen Wasserzeichen, dann, von selbst weiter getragen, auf einem, später auf anderen Theilen bedruckt wurden und nach etwa zehnfachen Druckoperationen an einer Stelle von selbst herauskamen und sich vor den Augen eines controlirenden Beamten übereinander legten. Die Maschinerie druckt in ihren verschiedenen Abtheilungen zugleich die verschiedensten Noten, von der Fünf- bis Funfzigpfundnote. Blos die höheren bis zu 100,000 Pfund haben bestimmte Tage.
Im Uebrigen werden hier täglich viel mehr Exemplare dieser größten „Credit-Zeitung“ der Welt gedruckt, als von der Times, da die Bank immer nur neue Noten und keine zum zweiten Male ausgibt.
Wieder durch verschiedene Bureaux und Corridors, deren Merkwürdigkeiten wir bei Seite liegen lassen, kamen wir an einer zahllosen Reihe von langen abgefächerten Arbeits-Pulten voller Menschen vorbei, die zum Theil hinter Stößen von alten Banknoten (die hier zum „Löschen“ gebucht und in großen Bündeln der „Bank-Bibliothek“ für zehnjährige Verwahrung und endliche, tägliche Verbrennung überliefert werden) versteckt waren und hier und da blos mit dem Scalp hervorragten, in den großen Salon des Hauptcassirers, der selbst nicht sehr bei Casse zu sein, sondern nur die Gold- und Notenmassen untergebener Beamter neben und um sich zu dirigiren und zu controliren schien. Rechts neben ihm durften wir durch eine große Spiegelglasthür in das Allerheiligste schauen, aber es nicht betreten. Wir sahen links eine lange Reihe von Glaskasten, in denen niedliche Mechanismen von Rädern, Hebeln und Federn mit goldenen Sovereigns oder Pfundstücken spielten. Diese Sovereigns waren oben an einer schräg in den Kasten führenden Rinne angebracht und wurden von da ruhig und regelmäßig mit feinster Präcision einer nach dem andern – 30–40 in der Minute – über feine, äußerst empfindliche Blättchen oder Plättchen in einen Kasten links geworfen. Nur manchmal – dann und wann – aber selten, bekam einer dieser mechanischen Genien den Einfall, einen Sovereign rechts in einen andern Kasten zu werfen, d. h. jedesmal, wenn ihn die Münze (bis zu einem Hundertstel Gran) zu leicht gemacht hatte.
Dies war also die berühmte Cotton’sche Goldwage. Wir können dieses patentirte, kostbare Geheimniß natürlich nicht schildern und begnügen uns blos mit Andeutung der Operation, so weit sie aus einiger Entfernung zu beobachten war. Ueber jedem Wägekasten befindet sich ein schräg ableitender Cylinder oder Schneller, der die Sovereigns einzeln vor die Oeffnungen des Kastens herabschiebt. Hier operiren zwei Aufnehmeplättchen oder Recipienten für die vollwichtigen und leichten Goldstücke. Dies geschieht durch zwei in rechten Winkeln neben einander angebrachte feine Kolben, die genau so groß sind, daß sie über den Recipienten hinstreichen und das darauf geschobene Goldstück entfernen können. Der eine Kolben streicht über den anderen, der eine just da, wo das vollwichtige Goldstück auf der Wageplatte liegt, der andere darüber weg durch die Spalte, wo der zu leichte Sovereign auf der mit ihm gestiegenen Platte sich befindet. So streicht der eine Kolben die vollwichtigen Stücke links, der andere die leichten rechts weg und spart dadurch die nicht so genaue Wäge-Arbeit von mehr als funfzig Menschen, die früher Tag für Tag ein Stück nach dem andern auf den feinsten gewöhnlichen Goldwagen zu prüfen hatten. Neben diesen still und sicher arbeitenden Reihen von Mechanismen, die täglich bis 100,000 Goldstücke sortiren, schaufelte ein Mann in ungeheuere Haufen von Goldstücken hinein, um immer je 500 Stück auf der Wage zu zählen und immer je zwei Wagschalen in einen Tausendpfundsack zu binden. Solcher Tausendpfundsäcke standen schon ganze große Phalangen neben einander, und der Mann fügte mindestens in jeder Minute einen neuen hinzu, so schnell und sicher arbeitete er mit seiner kostbaren Wage. Wagen sind überhaupt ein Stolz der Bank. Sie rühmt sich der besten in der Welt, namentlich einer, welche schon ein Hunderttausendstel eines Grans und sogar die Wärme einer darunter gehaltenen Hand (als Störung) angibt. Auch sind alle die Hunderte von Gold- und Silberwagen, die in den verschiedenen Bureaux vertheilt sind, so genau und präcis, daß sie nicht nur den Gewichtsmangel des einzelnen Geldstücks allein, sondern mitten in einem Sacke von Tausenden verrathen.
Von unserer Spiegelglasthüre weg traten wir durch verschiedene Gänge, Thüren und Mauerwerke in den „strong-room“, die feuer-, wasser- und bombenfeste Vorrathskammer disponibler Baarschaft, einen langen, schmalen Saal mit einem langen, massiven Zahltische in der Mitte entlang. An beiden Seiten und an der Hinterwand eine einzige, neben einander ununterbrochen fortlaufende Reihe von doppeleisernen, dicken, feuerfesten Wandschränken für Noten oder Gold. Der eine Hüter dieser Schätze, ein freundlicher, dicker Kahlkopf, schloß uns mit Hülfe seines Collegen (deren Jeder einen besondern Schlüssel für die je zwei Schlösser jedes Wandschranks hatte) eine Schatzkammer nach der anderen auf und hatte die Freundlichkeit, Jedem von uns eine ganze Million Pfund Sterling (in zwei Päckchen à 500 Eintausendpfundnoten) ein Weilchen in die Hand zu geben, „just,“ sagte er, „um uns in Stand zu setzen, sagen zu können, daß wir einmal eine Million Pfund gehabt hätten, die in gemünzten Goldstücken 180 Centner wiegen würden.“
Es waren eine ziemliche Menge Schränke mit solchen Papierchen angefüllt; in den andern schien es erst, als wären zusammengeknüllte Strümpfe dicht neben einander aufgeschichtet; es waren aber lauter Tausendpfundsäcke, in jedem Schranke 75, hübsche, schwere Säcke, nicht gut mit einer Hand zu heben, wie man uns probiren ließ, und eine lange, lange Reihe von Schränken, alle eben so hübsch und solid ausgefüllt. Mehreren von uns wurde sehr andächtig, sogar fieberisch zu Muthe in dieser Festung der Sovereigns, welche die Welt regieren und vor welchen sich auch die absolutesten Souveraine beugen; der freundliche Kohlkopf meinte aber, wir solltens uns nicht so zu Herzen nehmen. Das sei Alles Lumperei hier. Respectabel dagegen nenne er die circulirenden Tausende von Millionen, die hier vertreten und solid verbürgt seien im großen, goldenen Keller unten, wo die Goldbarren à 16 Pfund schwer (= 800 Pfund Sterling) wie Feuerholz aufgeschichtet in langen Stößen und Reihen neben einander ständen, ohne die Silberbarren-Gänge und die Haufen ungemünzten Goldes, das die Bank auf Vorrath und Speculation kaufe. Großartig und vielleicht ohne Gleichen sei das Geschäft der Bank, die täglich 1000 Beamten und Dienern (à 50 bis 2000 Pfund Jahresgehalt) vollauf und in der Regel schwere, Kopfnerven anstrengende Arbeit gebe. Sie hat, um einige Hauptgeschäftszweige anzudeuten, unter Anderem über 1,500,000,000 von Potentaten und Privatleuten deponirte Sovereign-Werthe zu wachen, sie zu verwalten und zu verzinsen und muß jeden Tag bereit sein, Geld und Leute haben, Exchequer-Bills, d. h. die auf Autorität des Parlaments ausgegebenen Staatscreditbriefe, die jeden Tag Zinsen tragen (11/2 bis 21/2 Penny auf je 100 Pfund täglich) mit Baar zu honoriren; sie muß über 450 Millionen Pfund Actien-Capital (von Eisenbahnen, Bergwerken, Compagnien verschiedener Art) sichern, verwalten und verzinsen und endlich ganze tausend Millionen Pfund Stocks, Fonds, Consols und verschiedene „Annuitäten“ (verschiedene Namen für die verschiedene Zinsen tragenden Papiere der Staatsschuld)[1] bewirthschaften und immer am 5. Januar und 5. Juli, am 5. April und 10. October mit 3 oder 31/2 Procent, d. h. mit jährlich baaren 30 Millionen Pfund an die Tausende von Inhabern verzinsen. Sie druckt und verbürgt alle in der weiten Welt circulirenden Banknoten, sie kauft, und münzt alle die fabelhaften Massen englisches Gold und Silber, vor welchem sich die Menschen jedes Standes, jeder Farbe und Race beugen, sie thut mit ihren tausend Beamten täglich tausenderlei Dinge, von denen wir schwachen Sterblichen mit unsern paar Groschen klein Geld in der Tasche keine Ahnung haben, uns keine Vorstellung machen können.
[233] Als wir durch den großen, runden Saal, wo auf der einen Seite Gold, auf der andern Silber gezahlt wird, gingen, stießen und drängten sich die Menschen massenweise mit schweren Gold- und Silbersäcken auf den Schultern. Etwa 30 Beamte warfen immer Gold, immer Silber hin, dem Einen Hunderte, dem Andern Tausende von Pfunden und immer mit derselben Gleichgültigkeit, wie sie diesem und jenem armen Schlucker eine einzelne Fünfpfundnote wechselten. Unser Führer verabschiedete sich höflich und machte sogar mit seinem künstlichen Arme eine graciöse Schwenkung des Abschieds. Wir aber sahen uns draußen stumm an, bis der Lustigste von uns ausrief: „Noch sind wir freie Bürger und Herren auf diesem goldenen englischen Boden, aber von nun an, börslich und pecuniär betrachtet, unerlösbare ausgemachte Proletarier.“
Im Canton Zürich lebte noch vor wenigen Monaten der reichste Fabrikenbesitzer der Schweiz; er gehörte zu den reichsten des Continents. Seine Spinnereien verbreiteten sich durch einen großen Theil des Schweizerlandes. Sie sind vor einigen Tagen unter seine Erben vertheilt, und man las da von 150,000 und noch mehr Spindeln.
Sein Vermögen wurde schon bei seinen Lebzeiten zu ungeheuren Summen angegeben. Anderswo hört man im Munde des Volkes von einem sehr reichen Manne oft sagen: „Er ist so reich, daß er selbst sein Vermögen nicht zählen kann.“ In der Schweiz können sie zählen, und der Oberst Kunz, so war der Name des Krösus, gab selbst zum Zwecke der Versteuerung – in der Schweiz schätzt man für die Versteuerung sich selbst ab – sein Vermögen zu sechs Millionen Franken an. Nach seinem Tode stellte es sich zu siebenundzwanzig Millionen heraus. Seine Erben haben, nebenbei bemerkt, den – Rechnungsfehler dadurch wieder gut gemacht, daß sie dem Lande zu wohlthätigen[WS 1] Stiftungen 750,000 Franken schenkten.
Der Oberst Kunz war unverheirathet, auch nie verheirathet gewesen. Er lebte sparsam, vielleicht mehr als sparsam, und man erzählt von ihm, daß er einen Fabrikinspector entließ, weil er den Mann im Weinhause hatte einen Schoppen Wein für 36 Centimes trinken sehen, während er selbst seinen Schoppen nur für 30 Centimes trank; Leute, die so verschwendeten, könne er nicht gebrauchen. Gegen seine fast zahllosen Fabrikarbeiter soll er mitunter hart gewesen sein. Doch werden ihm auch manche Züge von Wohlthätigkeit gegen die Armen nacherzählt.
Er hatte als armer Fabrikarbeiter zu arbeiten und zu wirken begonnen und sein kolossales Vermögen durch Fleiß, durch Sparsamkeit, durch Klugheit und durch Glück erworben. Nie hat man eine Unredlichkeit von ihm behauptet. Daß ein solcher Mann schon bei seinen Lebzeiten der Gegenstand der Neugierde, der Bewunderung, des Geheimnisses, des Aberglaubens im Volke wurde, ist begreiflich.
Er hieß fast allgemein nur der Spinnerkönig, und man erzählte die wunderbarsten Geschichten von ihm. Nach seinem Tode vermehrten sich diese. Er hatte kein Testament hinterlassen, und entferntere Verwandte – ich glaube, vier Neffen – waren seine gesetzlichen Erben. Allerlei Gerüchte wollten diesen lange Zeit die Erbschaft streitig machen. Bald sollte doch noch ein Testament da sein; bald eine plötzlich aufgetauchte Frau; bald gar ein in geheimer, aber rechtmäßiger Ehe geborener Sohn. Wahr war aber nichts davon.
Begreiflich ist auch, daß der Spinnerkönig, gleichfalls schon bei seinen Lebzeiten, zu mancher Speculation dienen mußte. Nicht gegen ihn selbst; – ich glaube, kein Mensch kann sich rühmen, den Oberst Kunz überlistet zu haben – aber Schwindler beschwindelten Andere unter Mißbrauch seines Namens. Einen interessanten Beleg dazu liefert der Proceß Leuthold, der im Januar dieses Jahres (1860) vor den Geschworenen in Zürich verhandelt wurde. Ich erzähle ihn hier. Ich erzähle ihn in seiner Entwickelung vor den Geschworenen, denn er ist reich an dramatischen, psychologischen und juristischen Momenten. Er ist zugleich ein Bild von dem in mancher Beziehung eigenthümlichen Züricher Schwurgerichtsverfahren.
Im Anfang August 1859 war der Oberst Kunz gestorben. Erst mehrere Monate später verbreitete sich das Gerücht, daß sein Name bei seinem Leben und nach seinem Tode von einem verschmitzten Weibe in fast unglaublicher Weise zu einem großartigen Betruge mißbraucht sei. Bei Gelegenheit der Entdeckung und Untersuchung des Verbrechens waren mehrere andere Verbrechen desselben Weibes zur Sprache und Untersuchung gekommen, namentlich eine ganz eigenthümliche Betrügerei gegen einen jungen, hübschen Arzt. Bei dem Betruge durch Mißbrauch des Namens Kunz war der Mann des Weibes Gehülfe gewesen, bei den anderen Verbrechen andere Personen, unter diesen ein hübsches, junges Mädchen, von dem man bisher nichts Nachtheiliges wußte und nur wissen wollte, daß sie gern Männer sähe.
Am 20. und 21. Januar standen die Angeklagten vor dem Schwurgerichte. Es waren ihrer sechs. Sie wurden zusammen in den Gerichtssaal eingeführt. Bevor ich die Verhandlung der Sache erzähle, muß ich einige Bemerkungen über einige Eigenthümlichkeiten des Züricher Schwurgerichtsverfahrens vorausschicken.
Es ist im Ganzen das französische, das sie leider seit einigen Jahren zur Genüge auch in Deutschland haben kennen lernen müssen, mit aller seiner Ostentation von Recht und Schutz der Unschuld, und mit allem Gegentheil in der Wirklichkeit. Es ist hier nur durch einige Modificationen im republikanischen und demokratischen Sinne gemildert, und es findet hier Institutionen und Beamte, die ein Ausbeuten im französischen Sinne nicht zulassen können und nicht zulassen mögen. Auswüchse kommen vor, aber selten. Das eigentliche Schwurgericht besteht nur aus einem Präsidenten und zwei Richtern. Der Präsident ist ein Mitglied des „Obergerichts“ (des obersten Landgerichts); die Richter werden gewöhnlich aus Mitgliedern der Bezirksgerichte oder Ersatzrichtern des Obergerichts genommen. Sämmtliche Richter des Landes werden bekanntlich vom Volke und aus dem Volke und nur auf wenige Jahre gewählt. Sie sind deshalb auch nicht immer Juristen, bei den Bezirksgerichten sogar selten.
Die Geschworenen sind Männer aus dem Volke, wie anderswo. Sie werden kirchengemeindweise gewählt und in öffentlicher Sitzung des Obergerichts durch Ausloosung bestimmt, die gewöhnlich für eine Reihe von Sachen der jedesmaligen Schwurgerichtssitzung gilt. Dauert die Sitzung längere Zeit, so pflegt für jede Woche eine besondere Abtheilung gebildet zu werden. Der Staatsanwalt ist – leider – mit großer obrigkeitlicher Macht ausgerüstet, wie auch anderswo. Aeußerlich steht seine Stellung freilich der des Vertheidigers gleich. Er sitzt in der Schwurgerichtssitzung mit den Vertheidigern in einer und derselben Bank; er vertritt den klagenden Staat, wie diese den Angeklagten. Er hat auch in der öffentlichen Verhandlung um kein Haar breit mehr Rechte, als der Vertheidiger. Er befragt die Zeugen, das thun auch die Vertheidiger. Das englische Kreuzverhör durch die Parteien ist auch hier eingeführt. Der Präsident des Gerichts verhört nur die Angeklagten, aber auch nur er, und so wenig wie ein Vertheidiger, darf auch der Staatsanwalt unmittelbar an einen Angeklagten eine Frage richten.
Eine große Garantie liegt in der großen äußeren Einfachheit der hiesigen öffentlichen Schwurgerichtssitzungen. Keine Spur von Prunk, von gemachter Feierlichkeit, wie die Franzosen das Alles sehr pomphaft eitel zur Schau tragen, und die Deutschen vielfach mit bureaukratischem Hochmuth es ihnen nachmachen. Richter und Staatsanwalt und Vertheidiger, selbst Geschworene, Alles verkehrt in der Sitzung, auch amtlich, ohne alle steifen Formeln, fast wie in einer Privatgesellschaft mit einander. Sie sind ja auch in der Republik Alle einander gleich, und wissen das, und darum kann Keiner suchen, sich über den Anderen überheben zu wollen, und Keiner sucht es. Solche Einfachheit, solcher nahezu vortrefflicher Verkehr läßt auch die Leidenschaft, das falsche Pathos, das gebieterische Einschüchtern der Geschworenen und manche andere anderswo herrschende ähnliche Uebelstände nicht wohl aufkommen. Richter und Staatsanwalt unterscheiden sich von den Anderen nur dadurch, [234] daß sie zu ihrem schwarzen Frack einen Degen tragen. Es soll das aber nicht feierlich sein, es ist nur die alte, in der Schweiz conservirte deutsche Sitte, daß die Männer in den Versammlungen bewaffnet erschienen.
In dem Proceß Leuthold fungirte als Präsident des Schwurgerichts der Oberrichter von Orelli, ein eben so tüchtiger Jurist, wie humaner Mann. Beisitzer waren ein Bezirksgerichtspräsident und ein Bezirksrichter aus dem Canton. Die zwölf Geschworenen waren meist vom Lande, ein paar Bezirksgerichtsschreiber, mehrere Gemeindevorsteher und Gemeinderäthe. Aus der Stadt Zürich war nur ein Particulier da. Die sechs Angeklagten waren und saßen auch so in der Reihe:
Jacob Leuthold, ein Mann von etwa sechzig Jahren, der aber wie ein Siebenziger aussah. Er war früher ein vermögender Mann gewesen, aber ein träger, schlechter, liederlicher Wirth, der Alles durchbrachte, dann Betrügereien machte, mehrmals in’s Zuchthaus kam und im Jahre 1854 seine jetzige Frau, die Hauptangeklagte, heirathete, um mit ihr in Gemeinschaft das Geschäft des Betrügens desto besser fortsetzen zu können. Er war ein hagerer Greis, saß auf der Angeklagtenbank immer unbeweglich und mit einem unbeweglichen, freundlichen und nichtssagenden Gesichte. Man konnte aus seinem Äeußeren während der ganzen Verhandlung nicht entnehmen, ob er in höchstem Grade bornirt, oder ein alter Gauner war, der den Idioten spielt. Der Fall zeigt freilich deutlich genug das Letztere.
Die Frau Leuthold, eine schon bestrafte Betrügerin, 39 Jahre alt, etwas corpulent, von Gesicht schön; der sinnlich stark aufgeworfene Mund trat unangenehm hervor. Ihre Kleidung war einfach; ihre Haltung durch und durch gemacht und berechnet. Am ersten Tage saß sie ununterbrochen still vor sich hin, die Hände über den Knieen gefaltet, die stets niedergeschlagenen Augen unverwandt auf die Hände gerichtet. Man konnte nur einmal in diese Augen blicken, und da sah man denn freilich hell glühende Katzenaugen. Ihr Mann, vom Präsidenten befragt, hatte sich als völlig unschuldig und von seiner Frau ohne sein Wissen zum blinden Werkzeug mißbraucht darstellen wollen. Da hob sie ihre Augen zu ihm auf, kein Wort sprechend, aber mit einem Hohne, mit einer Verachtung und mit einer Bosheit, wie nur ein recht böses Weib ihrer fähig ist. Es war das einzige Mal, daß sie während der zwei Tage, die sie unmittelbar an seiner Seite saß, ihn ansah. Gesprochen hat sie kein Wort mit ihm. An dem ersten Tage war es auch das einzige Mal, daß sie überhaupt aufblickte. Selbst wenn sie dem Präsidenten antworten mußte, erhob sie sich zwar – wie das Gesetz es befiehlt – aber ihr Auge blieb unbeweglich zur Erde niedergesenkt. Am zweiten Tage verfuhr sie anders. Sie blickte freier umher, aber mit der Miene des stillen und tiefen innerlichen Leidens. Man würde an eine Miene der gekränkten Unschuld gedacht haben, wenn sie nicht – in der Hauptsache – schuldig plaidirt hätte. Leidend, sanft, einschmeichelnd und unschuldig war auch ihre Stimme und ihre Sprache, und ruhig und langsam waren ihre Bewegungen. Sie war eine äußerst verschmitzte und gewandte Betrügerin.
Auf sie folgten in der Reihe der Angeklagten die Eheleute Mobiliarhändler Kambli. Beide im mittleren Lebensalter, gewöhnliche Menschen, gewöhnliche Gesichter; der Mann wegen Betrugs schon bestraft.
Die unverehelichte Anna Messerschmidt, ein junges, hübsches Mädchen, „ein hübsches Frätzchen“, wie ihr Vertheidiger sagte; eine Verbrecherin, eine Betrügerin sah man ihr wahrhaftig nicht an. Sie war es auch nicht. Sie ernährte sich als Weißnäherin bei der sechsten und letzten Angeklagten.
Dies war eine Wittwe Suter, Lohnwäscherin, 40 Jahre alt, früher hübsch gewesen, jetzt mager, mit einem Gesichte, aus dem man nicht viel herauslesen konnte. Ihr Ruf sollte kein besonderer sein.
Sämmtliche Angeklagte waren wohnhaft in Zürich. – Der ihnen schuldgegebenen Verbrechen waren fünf, alle als Betrug charakterisirt. Der erste war der durch den Mißbrauch des Namens Kunz verübte. Sein Betrag war zu 14,000 Franken angegeben. Der Betrogene war ein Militair-Instructor aus dem Canton Zürich, Namens Weidmann. Angeklagte waren die Ehefrau Leuthold, und als ihr Gehülfe ihr Mann. Der zweite sollte an dem Silberarbeiter Knecht in Zürich zum Betrage von 1158 Franken verübt sein. Die Frau Leuthold war allein angeklagt. Das Opfer des dritten sollte ein Dr. A. aus dem Canton Zürich sein. Er war als „unbenannter Betrug“ bezeichnet. Theilnehmer waren die sämmtlichen Angeklagten, mit Ausnahme des Ehemanns Leuthold.
Außerdem war die Ehefrau Leuthold allein noch zweier Betrügereien zum Betrage von 300 und 400 Franken angeklagt, die sie unter lügenhaften Vorspiegelungen zweien Aufwärterinnen im Spitale zu Zürich, beziehungsweise dem Gastwirth zum Bären in Bern als Darlehen abgeschwindelt hatte. Dieser beiden letzten war die Angeklagte geständig. Sie kamen daher nach dem Zürcherischen Strafproceßgesetze vor den Geschworenen nicht weiter zur Verhandlung. – Der Betrug gegen Weidmann war der schwerste und wichtigste Fall. Er wurde zuerst verhandelt. Die Ehefrau Leuthold hatte auch hier schuldig plaidirt. Aber ihr Ehemann leugnete. Deshalb die Verhandlung vor den Geschworenen, in der die Frau nur als Zeugin (Kronzeugin im englischen Recht) vernommen werden konnte.
Das Zürcherische Strafverfahren unterscheidet sich von dem französischen (und diesem nachgebildeten neuen deutschen) unter Anderem auch dadurch, daß keine ausführliche Anklage verlesen wird. Das Verbrechen wird von dem Präsidenten des Gericht nur mit wenigen Worten ganz allgemein bezeichnet, nicht mehr, als ich es oben gethan habe. Es wird dann auch nicht der Angeklagte verhört. Es beginnt vielmehr sofort die Vernehmung der Zeugen (durch die Parteien selbst), und erst nach deren Vernehmung hat der Präsident die Verpflichtung, an den Angeklagten Fragen zu richten, hauptsächlich zum Zwecke der Vertheidigung. Die Vorzüge dieses Verfahrens leuchten Jedem ein, der von den leidenschaftlichen, von vornherein auf Captivirung der Geschworenen und moralische Vernichtung der Angeklagten berechneten Anklagen des modernen Verfahrens, sowie von den nur zu oft mit empörender Einseitigkeit vorgenommenen inquisitorischen Verhören der Angeklagten, namentlich durch französische Assisenpräsidenten, nur einmal etwas gehört hat. In Zürich entwickelt der Fall sich dramatisch von selbst, ohne alle jene Uebelstände.
Der Damnificat, Jacob Weidmann, wurde zuerst als Zeuge aufgerufen. Verheirathet, Vater von fünf Kindern, lebte er in dem Dorfe Unter-Embrach, ein paar Stunden von Zürich, in bescheidenen Vermögensverhältnissen, als Landmann und zugleich als Militair-Instructor (Exercirmeister – Unterofficier). Der Mann war auf eine unglaubliche Weise, durch die plumpsten Mittel von der Welt um 14,000 Franken betrogen, um sein ganzes Vermögen. Er war mit Frau und Kind Bettler geworden. Alles war gespannt auf seine Erscheinung. Ein großer, magerer Mann in mittleren Jahren trat ein, mit einem feinen Gesicht, stillem, anspruchslosem Wesen. Welch ein Contrast gegen stolze, ihrer Würde bewußte Unterofficiere anderswo! Aber auch den entsetzlich dummen Betrogenen sah man ihm nicht an. Im Gegentheil, das prüfende Gesicht, das aufmerksame Auge schien recht gut jeden Fehlgriff der Rekruten sehen, jeden Knopf an der Uniform zählen zu können. Warum hatte er der Betrügerin gegenüber so schlecht gesehen und gezählt? Die Habsucht vermag die Menschen arg zu verblenden.
Er erzählte ruhig, wie sein Wesen war. Im Herbst 1858 besuchte er einmal seine Schwester. Diese war an einen Landmann, Namens Boller, verheirathet. Die Eheleute Boller wohnten im Balgrist, unweit Zürich. Er traf bei ihnen eine arme Frau, die sehr leidend war, und klagte, sie sei lange im Spital zu Zürich gewesen, die Aerzte hätten ihr aber nicht helfen können. Er fragte seine Schwester, wer die Frau sei. Es sei eine arme Frau, war die Antwort, die von der Armenbehörde bei ihr, der Schwester, in Kost gegeben sei. Es war die Frau Leuthold. Weidmann sprach damals nicht weiter mit ihr. Aber zu Fastnacht 1859 kam er wieder zu seiner Schwester, und nun erzählte ihm diese, sie werde sehr glücklich werden, jene arme Frau habe zur Belohnung für die Krankenpflege ihr 500 Franken, ihrer Tochter ein Clavier und jedem ihrer Kinder ein einschläfiges Bett und noch mehr versprochen. Woher das Alles? Die Frau Leuthold stehe mit dem Obersten Kunz in Verbindung.
Der Name Oberst Kunz hatte ausgereicht, die Frau Boller zu verblenden. Er hatte auch den Weidmann verblendet. Ob er [235] da nicht auch etwas abbekommen könne? Er sagte es zwar nicht vor den Geschworenen, aber gewiß hatte er mit der Schwester so gesprochen. Nach einiger Zeit, im Mai, kam die Frau Leuthold in einem Wagen bei ihm in Embrach angefahren. Mit ihr waren die Eheleute Boller. Es war an einem Sonntag. Sie blieben zu Mittag da. Vor Tisch erzählte die Frau Boller, auch er, der Weidmann, solle glücklich werden. Der Oberst Kunz wolle ihm „einen Gewerb“ (eine Besitzung) schenken, der mindestens 15,000 Franken werth sein müsse. Nach Tisch fragte die Frau Leuthold selbst den Weidmann, ob er nicht „einen guten Gewerb“ wisse, der zu verkaufen sei; es sei für ihn selber. Weidmann zweifelte. Aber die Leuthold versicherte, sie sage nichts als die Wahrheit, der Oberst Kunz sei zwar geizig, aber er sei „Präsident der Freimaurer“, und die Freimaurer seien unendlich reich, die hätten über zweitausend Millionen Franken, und der Herr Oberst habe das Geld für die Freimaurer an brave Leute zu vertheilen und auch von ihm, dem Weidmann, gehört. Und Weidmann glaubte. Er sah sich noch an dem nämlichen Tage in der Nachbarschaft nach einem „Gewerbe“ um, und theilte das Resultat der Leuthold mit. Von da an war es mit dem Mann vorbei. Der Teufel der Habsucht hatte ihn gefangen und verblendet, obgleich seine eigene Frau fortwährend zweifelte und ihn fortwährend warnte.
Schon am nächsten Donnerstag kam die Leuthold wieder angefahren. Sie war allein. Sie traf zuerst nur die Frau Weidmann. Sie las dieser einen Brief vor, den ihr der Oberst Kunz geschrieben habe. Der Oberst versprach darin dem Weidmann 70,000 Franken; vorläufig aber sollte dieser monatlich 120 Franken bezahlen. Der Oberst hoffe nicht, daß Weidmann sein Glück mit Füßen treten werde. Was das heißen sollte? Die Frau Leuthold forderte von der Frau Weidmann 100 Franken, und als die Frau die nicht geben wollte, 80, und dann 60. Und wozu? Ein anderer hätte dem Herrn Obersten nur 5 Franken geben sollen, er habe es aber nicht gethan und darauf von dem Herrn Obersten nichts erhalten, denn dieser habe sich überzeugt, daß der Mann nicht „freigebig“, und also nicht brav sein könne. Die Frau Weidmann wolle sich dennoch auf nichts einlassen. Aber zu Mittag kam Weidmann nach Hause und er gab her, er gab sogleich die vollen 100 Franken, zu denen er die Hälfte in der Nachbarschaft leihen mußte. Er wollte nur als ordentlicher Mann einen Handschein. Allein: „das dürfe nicht sein, sonst sei alles umsonst; er dürfe auch keinem Menschen ein Wort davon sagen; er dürfe nicht einmal wissen, wozu das Geld bestimmt sei.“
Und vier Tage später war die Betrügerin schon wieder da, um Geld zu holen und zu empfangen. Sie brachte diesmal einen Brief des „Obersten Kunz“ an Weidmann selbst. „Werthgeschätzter Herr Weidmann,“ schrieb der Oberst und Besitzer von siebenundzwanzig Millionen an den Exercirmeister, „ich danke Ihnen ehrerbietigst für die empfangenen 100 Franken.“ Er verspricht ihm dann „ein schönes Heimwesen“ (Besitzthum) zu 70,000 Franken, um Zürich herum: er werde selbst nach Embrach kommen und das Geld bringen. Für heute aber müsse Weidmann der Frau Leuthold 50 Franken oder etwas mehr geben, je mehr, desto besser. Es dürfe aber Niemand davon wissen. „Dem Verlangten entgegensehend, grüßt Sie freundschaftlich Kunz, Oberst.“ Der Brief war bei den Acten und wurde verlesen. Die Frau Leuthold erhielt die 50 Franken. Aber schon am nächsten Tage mußte sie wieder Geld haben, und jetzt hatte sie einen anderen Vorwand. Der Oberst Kunz habe eine Tochter, die in Morgenthal krank liege und nur durch Geld gesund werden könne, das von einem braven Manne komme. All das eigene Geld des Obersten könne nicht helfen. Sie forderte nur 35 Franken, und Weidmann gab sie. Schon nach wenigen Tagen war sie abermals bei ihm. Die 35 Franken hätten nicht gewirkt, weil Jemand (seine Schwester, die Frau Boller) zugegen gewesen, als er sie hergegeben habe. Sie forderte und erhielt 150 Franken.
Auch die hatten jedoch nicht gewirkt, „weil es Wirthschaftsgeld gewesen sei; sie müsse anderes Geld haben.“ Sie forderte 250 Franken. Freilich ließ ihm der Oberst Kunz dafür zu dem „schönen Heimwesen“ noch „12 einschläfige Betten“ versprechen, und das Heimwesen sei auch schon für ihn gekauft, es dürfe das nur noch Niemand wissen, und es sei der bestimmte Wille des Herrn Obersten, daß Weidmann sich nicht länger als Instructor plage. Leuthold gab die 250 Franken, ging dann zu seinem Bataillonscommandanten und forderte seinen Abschied als Instructor, „er wolle keinen Dreck mehr stampfen.“
Welch ein Leben und Treiben, wenn in Petersburg der Winter eintritt! Welche Veränderung haben einige Grade Frost und einige Zoll hoch Schnee auf Alles hervorgebracht!
Gestern noch keuchte der durch das schlechte Wetter in tiefe Melancholie verfallene Droschkengaul, bis an die Fessel in den schmutzigen Wasserlachen pantschend, durch die Straßen; der sonst so lustige Kutscher hatte nur verdrießliche harte Worte und manchen kräftigen Fußtritt, von einem echt russischen Kernfluch über die schlechten Zeiten begleitet, für sein treues Roß, während der fröstelnde Fahrgast, bis über die Ohren in einem großen Mantel steckend, vorsichtig Mund und Nase zu verstopfen schien, um sich nicht durch das Einathmen der feuchten, ungesunden Atmosphäre einen tüchtigen Schnupfen oder gar die hier, besonders in den Herbstmonaten, stark grassirende Halsbräune zuzuziehen.
Heute saust der leichte Schlitten unhörbar über die weiße Fläche dahin; der melancholische Gaul scheint neubelebt in seinem wahren Elemente zu sein und gibt seine Freude durch ein geräuschvolles Prusten und Wiehern zu erkennen; der Kutscher hat sein freundlichstes Gesicht aufgesteckt, er hat seine Stiefeln heute von den während der drei vergangenen Jahreszeiten darauf abgelagerten Kothschichten gesäubert und mit dem besten Birkentheer eingeschmiert, daß vor diesem alle andern Odeurs und Essenzen an Liebreiz überbietenden Geruche selbst der verhärtetste Stockschnupfen fliehen würde; kokett auf einem Ohr sitzt ihm die viereckige, blaue oder rothe Pelzmütze, und seine fröhliche Laune macht sich durch lautes Schnalzen mit der Zunge oder durch lärmende Ermunterungen in allen Tonarten Luft. Der Fahrgast hat den Mantel, der ihn noch gestern vor dem feinen, durchdringenden Regen schützte, mit dem nationalen Pelze vertauscht, und in kräftigen Zügen athmet er die reine, stärkende Winterluft ein.
Das Vergnügen, das Behagen ist auf allen Gesichtern zu lesen; einen Jeden treibt es aus der engen Behausung auf die belebten Straßen, und die breiten, von dem Schnee gesäuberten Trottoirs des Newsky-Prospectes, dieses Boulevard des Italiens Petersburgs, fassen schon zu ungewöhnlich früher Stunde kaum mehr die Menge von Spaziergängern beiderlei Geschlechts.
Auf die sonst so blassen, fast krankhaft aussehenden Gesichter der Damen scheint die frische Luft die schönsten Rosen gezaubert zu haben, und man liest das Vergnügen in ihren Augen, welches sie empfinden, einmal wieder das Parquet ihres Salons mit dem Trottoir vertauschen zu können, ein Vergnügen, welches ihnen nur selten zu Theil wird. Ich könnte sagen, um mich doch einigermaßen dichterisch auszudrücken und mir vielleicht einen Dank von dieser oder jener Schönen zu verdienen, man sehe sie in ihren eleganten, mit kostbaren Pelzen besetzten Wintermänteln dahinschweben, oder in irgend einer anderen poetischen Art und Weise von ihrem leichten graciösen Gange sprechen, doch muß ich zu meiner Schande gestehen, daß ich lieber auf den Dank dieser schönen Spaziergängerinnen verzichte und, der Wahrheit die Ehre gebend, rundweg erkläre, daß die Petersburger Damen weder dahinschweben, noch den Boden nur so mit ihren Füßen berühren, sondern so recht nach Herzenslust dahinwatscheln, ein Watscheln, welches um so stärker wird, je vornehmer sie sind oder sich wenigstens dünken. Es ist nicht jenes leichte Hüpfen der munteren Französin, jenes weiche geschmeidige Durchbiegen des Körpers, wo jeder Muskel Leben, jedes Glied Elasticität zu haben scheint; nicht das üppige, wollüstige Sichgehenlassen der spanischen Sennora; nicht der stolze, [236] abgemessene Gang der kalten Tochter Albions; nicht der edle, kühne Schritt der schönen Polin. Nichts von alle dem, und vor allem nicht der sinnende, liebreizende Gang der deutschen Frau, wo jede Bewegung Gefühl, jede Gebehrde Grazie und Anmuth athmet; es ist ganz einfach ein mühsames Sichdahinschieben, ein schwerfälliges Vorwärtskommen ohne Leben, ohne Reiz. Man sieht es der Petersburger Dame auf den ersten Blick an, sie ist nicht gewohnt, sich auf den Trottoirs einer belebten Straße oder auf den Gängen einer freundlichen Promenade zu bewegen. Ihre Promenade ist das Parquet der Salons, wo sich ihre Bewegungen auf die einstudirten ceremoniösen Verbeugungen des Empfanges oder auf die künstlerisch schmachtende Stellung des Tanzes beschränken, und die frische Luft genießt sie in der Regel nur auf die weichen Kissen ihres Wagens hingestreckt, um, wenn sie nach Hause kommt, sich um so ermüdeter und gelangweilter, in eine womöglich noch weichere Sophaecke zu werfen und dort, aller häuslichen Beschäftigung fremd, entweder eine höhere geistige Speise in irgend einem französischen Romane zu suchen, oder sich den Träumen an ein Glück hinzugeben, das ihr indessen doch so nahe liegt, wenn sie es nur nicht immer in dem Strudel der Bälle und Gesellschaften, in dem Taumel der sinnlichen Lüste und Vergnügungen suchen wollte.
Es ist indeß auch nicht Mode, zu Fuß zu gehen; das sähe aus, als hätte man keine Equipage; höchstens kann ein erster Wintertag, wie der eben beschriebene, sie die Convenienzen, den guten Ton so weit vergessen lassen, einen Spaziergang zu wagen.
Und welche Wohlthat ein solcher Spaziergang in der frischen reinen Winrerlust für diese verzärtelten Treibhauspflanzen ist, sieht man alsdann an den lieblichen, frischen Farben, welche diese blassen, nur an die Stubenluft gewöhnten Wangen überziehen.
Es ist übrigens nur der Reiz der Neuheit, die Wiederkehr des Winters, was sie heraustreibt; in einigen Tagen hat sich die blasirte Dame daran gewöhnt, es scheint ihr schon unschicklich, daß sie sich so oft auf der Promenade gezeigt, und bald sehen wir sie daher, auf die weichen Kissen eines eleganten Schlittens gestreckt, sausend an uns vorüberfahren.
An solchen schönen Wintertagen bietet der Newsky-Prospeet einen der interessantesten Anblicke dar: an beiden Seiten die gefüllten Trottoirs, das langsame Hin- und Herwogen der müßigen Fußgänger, und in der Mitte auf der breiten Straße das rasende Durcheinanderstürmen der leichten, von feurigen Rossen gezogenen Schlitten. Wie ein Blitz gehen sie an uns vorüber, und ehe wir noch Zeit gehabt, irgend ein schönes Frauengesicht näher ins Auge zu fassen, ist es schon weit verschwunden und verloren in der Menge; wie ein reizendes Phantom ist es an uns vorübergegangen, und läßt uns nur die Erinnerung an ein schönes Bild, eine Erinnerung, für die wir indessen stets glücklich genug sind, unsern Lethe zu finden. Nur ab und zu sieht man in diesem sturmwindartigen Wogen, wie einen festen Punkt in diesem Rennen, Gekreuze und Gejage, irgend einen altersmüden Droschkengaul keuchend seinen Schlitten hinter sich herschleppen. Den Lenker dieses invaliden Vierfüßlers hört man in der Regel alles andere Schreien und Rufen durch sein schrilles „beregis“ (Nehmt Euch in Acht) übertönen, nicht etwa weil er befürchte, irgend Jemand in seinem Schneckengange zu überfahren, sondern weil er, mehr für seine eigene Sicherheit und die seines Gefährtes besorgt, von den hinter und an ihm vorbeisausenden flüchtigen Rennern in Grund und Boden gefahren zu werden befürchtet.
Ein Versuch, an solchen Tagen, besonders gegen zwei oder drei Uhr, den Prospect zu kreuzen, ist ein waghalsiges Unternehmen, und man hat es jedenfalls nur der Geschicklichkeit des russischen Kutschers zu verdanken, wenn man unbeschadet die andere Seite erreicht. Es wäre übrigens ein so rasendes Fahren auch gar Petersburger Schlitten nicht möglich, wenn nicht das Begegnen der Fuhrwerke dadurch vermieden würde, daß sich dieselben stets auf der rechten Seite halten müssen, und man riskirt daher höchstens von einem uns überholenden Fuhrwerke, im Fall es das unsrige faßt, eine Strecke weit gratis mitgenommen zu werden. – Doch nicht allein die Straßen und öffentlichen Plätze haben ein anderes Aussehen erhalten. Die Newa, dieser breite, majestätische Strom wälzt nicht mehr ihre tiefen Wasser schwer und bedächtig dem Meere zu. Einige Tage lang hat sie freilich, als empöre sich ihr Stolz gegen die ihr angelegten Fesseln, die aus dem Ladogasee einhertreibenden Eisschollen, ohne ihnen einen längeren Aufenthalt in ihrem weiten Becken zu gestatten, dem Meere zugeführt; doch immer dichter wird das Getreibe, Massen auf Massen folgen; hier und dort setzen sich schon einige umfangreiche Schollen hartnäckig an das Ufer an, jeden ihrer vorbeitreibenden Cameraden aufhaltend, um so, mehr und mehr verstärkt, endlich den Stolz des schönen Stromes zu brechen und auch ihn in die winterlichen Fesseln zu schlagen. Noch einige scharfe Frostnächte, und es ist gelungen. Die Newa steht; ihre blauen Fluthen sind gebannt, und bald sehen wir ihre feste Decke in einen wahren Tummelplatz verwandelt. Es sind freilich nur erst Fußgänger, die jetzt, die Brücken von Menschenhand verschmähend, nach allen Richtungen sich kreuzen, um so den Weg von dem einen zum andern Ufer abzukürzen. Man sieht es Jedem an, er setzt mit einem gewissen stolzen Selbstbewußtsein [237] den Fuß auf den Rücken dieses verräterischen Stromes, und Manchem fällt dann, wenn er ihn so, einem gefangenen Riesen gleich, unter seinen Füßen sieht, wohl ein, wie furchtbar dieser Riese in seiner Entfesselung ist, wie verderbenbringend er schon in solchen Wuthanfällen in das Herz Petersburgs, Alles vor sich niederwerfend, eingedrungen ist. Welcher Petersburger hätte z. B. den 19. November 1824 vergessen?
Noch kurze Zeit, und die schon stark gefrorene Decke der Newa wird immer belebter. Die Schlittschuhläufer erscheinen auf den von Schnee gesäuberten und rund herum mit Tonnen eingefaßten Plätzen, und schlagen künstlich verschlungene Kreise auf der spiegelglatten Fläche. Bald wagen es auch die Fuhrwerke, und dann beginnt erst das wahre Leben und Treiben. Die eleganten Schlitten, von ihren scharf beschlagenen Pferden gezogen, sausen in allen Richtungen über die ebene Fläche, Wettrennen werden veranstaltet, der Petersburger Dandy, denn Dandies gibt es nun einmal überall, metamorphosirt sich zum Sportman, und mancher blasirte Sohn Albions, der mit großem Eigendünkel von seinen Vollblutrennern spricht, würde alsdann über die Leichtfüßigkeit eines russischen Trotters mit Recht erstaunt sein.
Der Petersburger beschränkt sich indeß nicht auf diese Vergnügungen in den Grenzen der Stadt. Es treibt ihn hinaus in die winterliche Landschaft. Wie der Pariser im Sommer das Bedürfniß empfindet, nach Passy oder Fontainebleau zu wandern, um dort im Grünen aus üppigem Rasen ein frugales Mahl zu verzehren, der Berliner in Saatwinkel oder Tegel seinen traditionellen Familienkaffee trinkt, und der gemüthliche Dresdner in Loschwitz hinter seinem „Dräsner“ Waldschlößchen sitzt, so hat der Petersburger seine Picknicks in Serpia, Strelna oder sonstigen zu diesem Zwecke auf das Eleganteste eingerichteten Etablissements. Doch müssen wir bemerken, daß diese Vergnügungen nicht, wie die eben genannten, allgemeine Volksvergnügungen sind, sondern im Gegentheile nur die haute volée und Alle die, welche sich für berechtigt halten, sich unter diese zu zählen, an diesen Ausflügen Theil nehmen, aus dem einfachen Grunde, weil ein solches Vergnügen, wenn sich die Theilnehmer auch mit dem größten Anstande auf demselben ennuyiren, stets mit bedeutenden Ausgaben verbunden ist.
Bei derartigen Partien spielt das nationale russische Dreigespann, die sogenannte „troika“, die Hauptrolle. Zu einer bestimmten Zeit, in der Regel gegen die Mittagsstunde, versammelt sich eine zahlreiche Gesellschaft an einem Orte, und bald jagen die zahllosen Schlitten auf der Straße dahin, welche nach dem zwei bis drei Meilen von der Stadt entlegenen Orte führt.
Aufrecht steht der Kutscher in dem Vordertheile des Schlittens, sein Dreigespann durch lautes Rufen zu einer größeren Eile anspornend; Einer sucht dem Andern den Rang des Ersten streitig zu machen, und gleich höllischen Dämonen fliegen die dampfenden Pferde, mit ihren tief eingreifenden Hufen den losen Schnee hoch hinter sich auswerfend, über die ebene Fläche. In kurzer Zeit hat die Gesellschaft ihr Ziel erreicht; ein warmer Imbiß, oder auch eine elegant besetzte Mittagstafel empfängt sie, und wenn die Gesellschaft gut gewählt, und besonders die steife Etiquette einer vertraulichen ländlichen Gemüthlichkeit Platz macht, so kommt es wohl vor, daß man von einem solchen Picknick die heiterste Erinnerung mitnimmt. Besonders wenn manch’ Gläschen Wein während des Diners vollkommen alles steif Ceremonielle verscheucht hat, und ein einladender Walzer oder Contre-Danse im Tanzsaale erschallt, kann man mit Recht sagen, daß ein derartiger Ausflug ein sehr gemüthliches Vergnügen ist. Getanzt wird, und zwar tüchtig, denn oft bricht die Gesellschaft erst gegen drei bis vier Uhr Morgens auf.
Ist nun schon die Hinfahrt ein wahrhaft dämonisches Rennen gewesen, so ist dies noch weit mehr bei der Heimfahrt der Fall. Wie Gespenster sausen die Schlitten über die in hellem Mondschein erglänzende Bahn, und weit durch die stille Nacht hin hört man das Gejauchze der fröhlichen Kutscher. Denn diese haben nicht, wie man wohl glauben könnte, eine Tasse Kaffee getrunken, während ihre Herren hinter feurigen Weinen und schäumendem Champagner saßen, sondern so recht nach Herzenslust einen kräftigen Zug aus der Schnapsflasche genommen, und mancher von ihnen glaubt, während er so an dem andern vorbeirast, wenigstens ein Dutzend Pferde vor seinem Schlitten und mehrere Dutzend Personen in demselben zu haben.
Doch nicht immer thaut das Eis der Etiquette und des steifen Ceremoniells auf; die Petersburger Salondame kann einmal das Künstliche, Gemachte, dieses Positionenstudium und ästhetische Gliederverrenken nicht leicht ablegen, und – o weh – dann, welche Ungemüthlichkeit, welche Langeweile, welche fade, einschläfernde Verdrossenheit! Mögen sie aber schlecht oder gut ausfallen, diese Picknick’s, Jeder, der das Vergnügtsein in der wahren, ungezwungenen Gemüthlichkeit suchen will, wird jedenfalls immer eine echte deutsche Gesellschaft, und sei es auch nur hinter der traditionellen Bunzlauer Familienkaffeekanne oder der schäumenden Weißen, diesem Künstlichen, Gemachten vorziehen.
Auf dem Lande geboren und erzogen, hatte ich schon als Kind mannichfache Wunderdinge und Spukgeschichten vom wilden Jäger und seinen nächtlichen Zügen durch die Luft mit feuerschnaubendem Roß und kläffender Hundemeute, von verführenden Irrlichtern, erschienenen Geistern und dem unheimlichen Umgehen des leibhaftigen Bösen mit Hörnern, Pferdefuß und Kuhschweif gehört. Ein besonderes Capitel aber, welches nur im engeren Kreise, in stillen Winterabenden, wo die Hausthüre verriegelt war, abgehandelt wurde, war das Capitel von den Freibriefen. Die Knechte, die in der Hölle hinter’m Ofen oder auf der Ofenbank Spähne schliffen, ließen dann wohl das Messer ruhen und spitzten die Ohren länger, die Mägde am Spinnrade vergaßen zu treten, ließen den Faden in die Spille gerathen und horchten mit offenem Munde, wenn erzählt ward, daß eben diese Briefe die geheime Macht hätten, frei von allen Gefahren durch Schwert oder Geschoß jeglicher Art zu machen. Wer einen Freibrief bei sich habe, der könne durch einen Kugelregen gehen, er werde unverletzt bleiben, denn kein Metall werde ihm etwas anhaben. „Aber,“ fügte man halblaut hinzu, „die Polizei – – sie suche und fahnde überall nach solchen Briefen, und habe die meisten schon weggenommen, sodaß leider Freibriefe jetzt nur noch höchst selten seien. Es sei das mit dem sechsten Buch Mosis gerade so gewesen. Der Rath der Stadt Z. habe alle Bibeln wegnehmen lassen, welche auch das sechste Buch enthalten hätten. Darin ständen aber eine unzählige Menge von Moses selbst beschriebener Mittel und Geheim-Recepte, Gold zu machen, edles Metall in der Erde sofort zu entdecken, wo es liege, übernatürliche Kräfte in seine Gewalt zu bekommen, die heut noch wie ehedem vorhanden, aber nicht mehr gekannt seien. Was hätten früher nicht alle Leute Alles gekannt!, jetzt wisse Niemand etwas mehr, außer etwa der Scharfrichter oder die Zigeuner und Seiltänzer. Die Hexen seien ersäuft oder gehangen worden, und die Bibeln mit dem sechsten Buch Mosis lägen zehnfach verschlossen auf dem Rathhause zu Z.“
Als ich später von einer auswärtigen Universität zurückkehrte, fand ich mein Elternhaus ziemlich verändert. Meine Mutter hatte sich in’s Ausgedinge zurückgezogen und ein Bauer des Nachbardorfes unser Gut gekauft. Ich sollte in dessen Weibe eine der originellsten Frauen kennen lernen. Anne-Rose besuchte uns bald, zunächst aus Neugier, manches von fremden Ländern, die ich unterdessen gesehen hatte, zu hören, eine Neugier, die bei den untern Ständen meist in einer gutmüthigen Naivetät auftritt. Sie brachte mir als Willkommen ein „Sträuchel“ (Blumenstrauß) und eine Wurst mit und entwickelte durch tausend Fragen und hingeworfene Scherze über ihr geschilderte Menschen und Gewohnheiten sehr bald eine lebhafte Unterhaltung. Wir wurden ziemlich rasch näher bekannt, und ich war über ihre geistige Begabung oft nicht wenig verwundert. [238] Sie machte sehr witzige Spottverse und gereimte Charaden und kam oft mit ihrem Rocken eigens zu diesem Zwecke des Abends zu uns, um sich von mir darin secundiren zu lassen, Was sie aber besonders originell erscheinen ließ, war nicht nur dieses Talent und ihre Kenntniß der Heilkraft jeder Feld- und Wiesenblume, sodaß sie allmählich der geheime Arzt des Dorfes geworden war, sondern ihr großer Aberglaube und ihre Gespensterfurcht. Dies machte sie gerade für mich besonders interessant, weil sie alle Geschichten, die in der Gegend umher durch die Geister, böse und gute, verübt worden waren, genau kannte und somit eine lebende Chronik von Erzählungen für mich wurde, welche sich Jahrhunderte von der erzählenden Großmutter im Lehnstuhl auf die horchenden Enkel vererbt und erhalten haben mochten. Sie blieb Abends nie allein, seitdem ihr selbst der letzte Spuk am Heerde passirt war.
Das hatte sich so zugetragen. Ihr Großvater, längere Jahre irrsinnig, durfte, da er lediglich fixe Ideen verfolgte, ohne Jemandem zu schaden, frei umhergehen und machte dabei allerhand Schwänke. So warf er sein Taschentuch auf den Weg und lauerte versteckt wohl stundenlang, bis es Jemand aufhob. Alsdann folgte er unbemerkt dem Finder. Erkundigte sich dieser in der nächsten Nachbarschaft, ob Jemand ein Tuch verloren, so war der Großvater befriedigt. Er trat dann herzu und meldete sich als Verlierer. Wehe aber, wenn der Finder Miene gemacht hatte, das Tuch ohne Weiteres still beiseit zu sich zu stecken und, ohne in der Nachbarschaft zu fragen, zu behalten! Der Großvater erklärte, als er wegen eines Vorfalls zur Rede gesetzt wurde, bei dem er einen verdächtigen Finder mit Schimpfreden überschüttet hatte, „daß er ehrliche Menschen suche und deshalb diese Proben mache.“ Sein Stübchen sah aber nicht anders aus, als Faust’s Küche. Er hatte nämlich mehrere Schock Pflanzenbündel an den Wänden hängen, meist solche von einer irgendwie eigenthümlichen Form, die seine Phantasie gereizt haben mochte, Bündel von Pilzen, Disteln, Dornen etc., und versicherte, daß der Teufel sich vor seiner Stube sicher hüten werde. Der gutmüthige Alte verfiel zuletzt in Schwermuth und erhängte sich an einem Bret auf dem Heuboden.
Anne-Rose versicherte leise, man könne nie vorsichtig genug mit möglichst baldiger Vertilgung desjenigen Holzes sein, an welchem ein solcher Mensch gehangen, da der Teufel auch damit seinen Spuk treibe. Unglücklicherweise war jenes Bret mit zu Brennholz verhackt worden. Sie ahnte dies nicht und wollte eines Abends spät, nachdem schon alle Anderen sich schlafen gelegt, noch für den folgenden Tag Kaffee brennen. Das Feuer fängt an zu flackern, kaum hat sie die Kaffeetrommel einige Male gedreht, da – ein furchtbarer Knall und – die Holzscheitel fliegen brennend zur Esse hinaus! – – Sie waren von dem Bret, an dem sich der Großvater gehängt!
Einfache Bauersfrau, hatte sie doch ein warmes deutsches Herz und fragte bald, ob ich auch Schleswig und Holstein gesehen hätte. Sie trug einen tiefen Dänenhaß in sich, der ihr in der schönen, wenn auch schlichten Weise, in welcher sie vom letzten Kriege der deutschen Truppen sprach, sehr wohl anstand und manche stolze Frau der Städte beschämte, deren ganzes Vaterland im Putzzimmer liegt. Sie hatte mir schon früher offenbart, daß sie mehrere Sprüche besäße, welche mich gegen Gefahren jeder Art schützen würden. Ich hatte mir allmählich ihre Liebe erworben. So oft ich von der Universität kam, schickte sie mir des Sonntags früh zur Kirche ein „Sträuchel“ (jeder Mann nimmt auf den dasigen Dörfern einen Blumenstrauß mit in die Kirche, der während des Gottesdienstes die Runde unter den Kirchnachbarn neben der Tabaksdose macht); so oft ich wieder zurückging, mußte ich jederzeit eine Wurst oder sonst etwas aus der Esse zum Abschied nehmen; das eine Mal sogar, da es ihr an Consumtibilien fehlte, – ein Fläschchen Magentropfen aus ihrer eigenen Apotheke.
Ich hatte also auch ihr mütterliches Vertrauen, und diesem verdanke ich den folgenden Freibrief. Bei allen diesen Dingen halten solche Leute ungemein zurück, und es wird einem Culturhistoriker sehr schwer werden, zu diesem oder jenem Aberglauben in seiner wahren Gestalt zu gelangen, wenn er nicht, auf dem Lande selbst geboren, schon hierdurch dem Volke näher steht.
Sie zeigte mir nun eines Tages mehrere schmale Papierstreifen, auf denen ich zu meiner Verwunderung griechische Buchstaben geschrieben sah. Die Zettel waren also jedenfalls ursprünglich von einem gelehrten Betrüger und mochten vielleicht viele Menschenalter hindurch von den Landleuten nachgemacht worden sein. Es ließen sich nämlich die Worte nicht mehr entziffern. „Die Zettel helfen,“ sagte mir meine alte Freundin, „gegen gewisse Fieber, bei deren Epidemien man sie bei sich zu tragen habe, vollständig alsdann gegen Ansteckung geschützt.“
Im Vertrauen theilte sie mir nun mit, daß, wenn ich einmal Nachts durch einen Wald oder sonst in einem fremden Lande reise, ich nur einen der folgenden Sprüche sagen möge:
„Gott der Vater vor mir,
Gott der Sohn über mir,
Gott der heilige Geist hinter mir,
Wer mehr Macht hat, als diese drei Personen,
der greife nach mir!“
oder ich solle vor mich Hinsprechen:
„Zu jeder Zeit und Stelle
Sei Gott Vater mein Geselle,
Christi Kreuz mein Schild und Schwert,
So ich überall wohlbewehrt!“
Ich möge nur daran glauben, so werde mich kein Räuber anzufallen wagen. Sie habe genügende Beweise der Kraft solcher Sprüche. Die sämmtlichen aus dem Dorfe gebürtigen Soldaten seien aus dem schleswig-holsteinschen Kriege unversehrt zurückgekehrt, und zwar – mit ihrer Hülfe. Sie offenbarte mir nun auf mein Befragen, daß sie noch einen uralten Freibrief besitze, der kugel-, hieb- und stichfest mache. Auf meine Bitte brachte sie ihn mir eines Tages, und ich theile ihn hier der Merkwürdigkeit wegen mit, da ich glaube, daß es wenig solcher Documente mehr geben, seltner aber noch eines derselben zu Gesicht der gebildeteren Stände kommen wird. (Für Culturhistoriker hier gleichzeitig das Anerbieten, daß ich auf weitere etwaige Anfragen unter Vermittlung der geehrten Redaction gern bereit bin.)
im
Namen Gottes des Vaters und des Sohnes
und des heiligen Geistes,
Amen.
„Das Blut Jesu, der wahrer Mensch und Gottes Sohn ist, behüte mich.
vor allen Waffen und Geschoß, langen oder kurzen Schwerdtern und Degen, Karbienern und Feltpanzern, Bley und dergleichen. So sei der Herr Christus bei uns und verschone uns vor allen, es sei von Eisen oder Stahl, Metall oder Ertz, es sei Kugel, Messing oder Holz. Jesus Christus, der behüte mich. †. †. †. vor allen bösen Brauchstücken. (?) O Heiland Jesu, verlaß mich nicht und laß mich nicht verdammet werden, noch verloren gehen und sei bei mir bis an mein letztes Ende und laß mich nicht sterben ohne Dein heiliges Sacrament. Das helfe mier die Heilige Dreifaltigkeit und Gottheit; sey bei mir auf Wasser und Lande, in den Haus, in derselben Stadt oder Dorf oder wo ich mich befinde, gehe oder stehe, wo ich bin.“
„Der Herr Jesus Christus, der behüte mich †. †. †. vor allen sicht- und unsichtbaren Feinden, es bewahre mich die ewige Gottheit und Heilige Dreifaltigkeit, durch das bittere Leiden und Sterben Jesu Christi und sein rosinfarbenes Blud, das er am Stamme des heiligen Kreuzes vergossen hat. Jesus Christus, vom heiligen Geist empfangen, zu Bethlehem gebohren, zu Jerusalem gekreuziget worten und gestorben, das sind wahrhaftige Worte, also müssen auch wahrhaftige Worte sein, welche hier geschrieben sind, (!) daß es helfe den Menschen vom Gefangenen und Gebundenen, oder, wenn ich in Gefahr komme, so müssen weichen von mier † † †[2] daß Geschütz, Gewehr und Waffen keines an mir hafte, daß sie von mier weichen und ihre Kraft verlieren, wie Pharao sein Gewand verloren hat. (?) Blut und Geschoß (?), meine Schutzheit müsse ganz an seine heilige fünf Wunden angereimet und gebunden sein, alles Geschütz müsse verschwinden, wie der Mann, der dem Herrn Jesum seine rechte Hand both. (?) Geschoß, behalte (beachte?) den Schutz bei dem gemelteten Heiligen Band, (?) wie der Sohn Gottes gehorsam war bis in den Tod †. †. †.“
„Es müsse von mier alles weichen und alles Geschütz und Geschoß verschwinden im Namen Jesu. Jesus ging über das Rote Meer, er fuhr in das heilige Land, er sagt, es müssen zerreißen alle Strick und Band, zerbrechen alle Geschoß und Gewehr, Herr Jesu, behüte mich, daß mich kein Feindfall (Feindüberfall) [239] bedrift, daß mich kein Wassers- noch Feindesnoth übereilt, daß mich alle Waffen scheuen, es sei Stahl oder Eisen, Metall oder Blei, Kanonen oder Flinten, Kugeln, Messing oder Kupfer,
„daß ich so voll gesegnet sey
„als der Kelch und der heilige Wein
„als das ware Himmels Brodt,
„das Herr Jesu Jüngern both. †.†.†.
„Den Segen, den Gott über den ersten Menschen that, da er ihn erschaffen hat, den Segen, den Gott über den Ertz-Engel that, da er Maria den Genuß bezahlte. (– – –).
„Gehe durch das Feindes Land
„trag das Rohr in Deiner Hand.“
„Daß mich kein Wolf zerreiße, deß behüte mich †. †. †. Jesus von Nazareth.“
Sohnes, des Heiligen Geistes, Amen.
†. †. †.
Rex.“
Diejenigen Leser, welche die Worte den Freibriefes etwas genauer prüfen, werden zu erkennen vermögen, daß der Verfasser desselben ein gelehrter Schalk gewesen sein muß, den man hinter den Zeilen über den Betrug an dem thörichten Volk, welches ehemals diese Briefe jedenfalls um theures Geld kaufte, lachen sieht. Der Schluß läßt auf einen Juristen schließen.
Der Brief ist jedenfalls alt, wie die Erwähnung des „Feltpanzers“ und reißenden Wolfes, außerdem auch die juristische Sprachweise des Schlusses, welche nicht ganz verständlich erscheint, beweisen. Jedenfalls mag er oft wieder abgeschrieben und so der Text verunstaltet worden sein. „Ehelich“ heißt ursprünglich rechtlich, wie das Wort „Ehe“ Recht, Gesetz, „Titel“ Erwerbungsart. Die Erklärung des Satzes muß ich indessen Culturhistorikern überlassen. Der Brief ist vielleicht anfänglich in lauter Versen geschrieben gewesen, wenigstens finden sich noch eine Anzahl Reime darin, der mir vorliegende Text ist indessen in fortlaufenden Zeilen, und habe ich nur, wo die Verse noch ganz unverkennbar waren, dieselben als solche angeführt.
Schamyl in Kaluga.[3] – – Nachdem ich in mein Zimmer zurückgekehrt war, überlegte ich vor allen Dingen, in welcher Stimmung sich der Gefangene nach seiner Trennung von einer so anziehenden Persönlichkeit, wie Herr v. Boguslawsky, befinden müsse, und kam bald zu dem Schlusse, daß es am gerathensten sein dürfte, ihn für’s erste seinen eigenen Gefühlen zu überlassen. Deshalb beschloß ich, Schamyl in den ersten Augenblicken meine Gegenwart nicht aufzudringen, sondern mich um meine eigenen Angelegenheiten zu bekümmern. Aber kaum hatte ich meine Papiere zur Hand genommen, als sich die Thüre öffnete und Schamyl in Begleitung seines Dolmetschers Gramoff und meines Freundes Chadshio eintrat. „Chosch giāldü!“ sagte ich, indem ich aufstand, „sei willkommen. Setze Dich, ich bitte.“
Schamyl setzte sich, entschuldigte sich aber vorher sehr artig, daß er mich vielleicht gestört habe. Auf meine Versicherung vom Gegentheil fügte er hinzu, er wünschte mit mir über einen wichtigen Gegenstand zu sprechen, möchte aber vor Allem wissen, ob ich Zeit hätte, ihn vollständig anzubören. Dazu war ich natürlich vollkommen bereit, und so begann er eine lange Rede, in welcher er mit ebensoviel Würde als Klarheit seine Ansichten über unsere nunmehrigen gegenseitigen Beziehungen auseinander setzte. Nach orientalischem Gebrauche holte er ziemlich weit aus.
„– Wenn es Gott gefällt,“ sagte er, „ein Kind zur Waise zu machen, so gibt man demselben an Mutterstatt gewöhnlich eine Wärterin, welche das Kleine füttert, anzieht, wäscht und vor Schaden bewahrt. Ist nun das Kind gesund, sieht vergnügt und reinlich aus, so lobt man die Wärterin und meint, sie pflege das Kind gut und habe es lieb. Ist aber das Kind krank, unreinlich und unartig, so tadelt man nicht das Kind, weil es noch klein und unverständig ist, sondern die Wärterin, welche sich vermuthlich nicht darum gekümmert, es nicht gelehrt und nicht geliebt hat … Ich bin ein Greis,“ fuhr Schamyl fort, „aber hier bin ich in der Fremde; ich kenne weder eure Sprache, noch eure Gewohnheiten, und deshalb kommt mir’s vor, als sei ich nicht mehr der alte Schamyl, sondern jenes kleine Kind, welches nach Gottes Willen zur Waise geworden ist und der Pflege einer Wärterin bedarf. Indem der Kaiser Sie mir als Begleiter zugewiesen, hat er wahrscheinlich nur die besten Absichten; daher bitte ich Sie, wenn auch nicht, eine zärtliche Wärterin zu sein, aber mich wenigstens so zu lieben, wie eine gewöhnliche Wärterin ihr Kind zu lieben pflegt; und ich meinerseits verspreche Ihnen, mich an Sie anzuschließen, nicht nur so, wie das Kind sich an seine Wärterin hängt, sondern wie der alte Schamyl den zu lieben pflegt, der mit ihm Gutes im Sinne hat.“
Schamyl hatte geendigt; aber während Gramoff mir dessen Worte verdolmetschte, richtete er sein blitzendes Auge auf das meinige und verwandte keinen Blick von mir, gleich als wollte er aus meinem Gesichte auch die kleinste Gemüthsbewegung erspähen, die seine Rede in mir erregen könnte; er wußte, daß er in diesem Augenblicke Worte gesagt hatte, die er nie wieder ansprechen würde. Bei den ersten Worten des Dollmetschers hatte ich errathen, worum es sich eigentlich handelte, ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, den Schamyl’s grünliche Augen auf mich machten, und gab mir Mühe, diesen Blick bis zum letzten Augenblicke zu ertragen. Es bedurfte dazu auch keiner großen Anstrengung, denn in Form und Ausdruck seiner Gedanken und Wünsche lag soviel Gutmüthiges, soviel Kindlich-Naives, daß auch der entschiedenste Misanthrop darin keinen Anlaß hätte finden können, eine saure Miene zu machen, noch weniger ich, der zu einem ganz entgegengesetzten Schlage von Menschen gehört. Dennoch nahm ich mich zusammen, besonders da ich bemerkte, daß auf Chadshio’s bleichem Gesichte sich ein ähnlicher Ausdruck kund gab, und daß selbst Gramoff’s bronzefarbene Züge fast noch dunkler wurden, gleichsam als empfände er eine schmerzliche Rührung.
„Schamyl,“ sagte ich, indem ich ihn fest und ruhig anblickte, „ich werde Dich lieben, nicht nur weil es mir anbefohlen ist und ich eine „gute Wärterin“ sein möchte, sondern auch, weil ich Dich persönlich achte.“
Meine Antwort brachte augenscheinlich eine günstige Wirkung hervor, denn sein prüfender Blick nahm bald den Ausdruck freundlicher Erwiderung an, die er mit einem so kräftigen Drucke seiner kriegerischen Hand bestätigte, daß mir alle Finger davon schmerzten.
„Als ich Dich zum ersten Male sah,“ erwiderte er, „und man mir sagte, daß Du mein Begleiter werden würdest, blickte ich Dich lange, lange an, und endlich sagte ich zu mir selbst und dann zu Kasü-Mahomed: „Cy adàm, jāchschi bulùr“ (das muß ein guter Mann sein).“
Auf dieses Compliment antwortete ich mit dem bekannten Syllogismus, „daß das Aeußere trügt.“
„Das ist wahr,“ antwortete Schamyl. „aber es ist ebenso wahr, daß der alte Schamyl sich nie in einem Menschen getäuscht hat, auf den er lange seine Augen heftete … Ich weiß, daß ich auch jetzt mich nicht getäuscht habe.“
Auf meine Versicherung, daß ich mein Möglichsten thun würde, um seine Freundschaft zu gewinnen, und daß er mir durch unsere erste Unterhaltung die Mittel dazu gegeben hätte, entgegnete er: „– Kop jāchschi! was hätte ich nun noch zu thun?“ Hier neigte er den Kopf vorwärts und blinzelte mit den Augen.
Ich kannte Schamyl’s Vorliebe für jede Art sonderbarer Einfälle, Sprüchwörter, Fabeln, und nahm dazu meine Zuflucht. „Sieh,“ sagte ich, „wir haben ein Sprüchwort: wenn das Kind nicht weint, so glaubt die Mutter es brauche Nichts.“
„Wir haben dasselbe Sprüchwort,“ erwiderte Schamyl, „ein sehr wahres Sprüchwort … Eh! biljāman! (ich verstehe)“ rief er aus, „das heißt, wenn ich nicht weine, so wirst Du nicht wissen, was ich wünsche?“
Ich bestätigte es.
„Kop jāchschi!“ sagte er lachend, „wenn ich Etwas brauche, so werde ich in Zukunft weinen.“
„Wohlan,“ fuhr er lächelnd fort, „so will ich denn um Etwas bitten. In Kaluga sind, wie ich höre, viele gute Leute, die mit mir Bekanntschaft zu machen wünschen. Auch ich wünsche dasselbe, aber in eurer Gesellschaft, dünkt mich, darf ich nicht meinen Gebräuchen folgen, sondern muß mich den eurigen fügen, unter denen mir viele sehr gefallen. Da ich aber mit manchen derselben noch unbekannt bin, so könnte es kommen, daß ich Etwas thäte oder sagte, was unschicklich wäre, oder Lachen erregte, und was meinen Bart beschimpfte … Mein Bart ist grau,“ setzte er, gleichsam zur Erklärung, hinzu, „aber ich färbe ihn, wie es auch mehrere meiner Landsleute thun, damit die Feinde nicht in unseren Reihen die Menge der Alten und unsere Schwäche entdecken. Nun freilich, scheint es, ist das überflüssig,“ fügte er seufzend hinzu, und ließ den Kopf auf die Brust sinken. Nach einigem Schweigen fuhr er fort: „Damit mir das nun nicht widerfahre, bitte ich Dich, mir immer offenherzig zu sagen, was ich zu thun habe, wenn ich in Gesellschaft fremder Personen bin. Du sollst sehen, daß Du an mir ein gehorsames „Kind“ finden wirst.“
Ich versicherte ihn, daß er auch an mir eine ebenso aufmerksame „Wärterin“ haben sollte.
Nach einer Weile stand Schamyl auf und sagte: „Bulùr! ghettach aschamachà!“ (genug, es ist Zeit zu Mittag zu essen.)
– – – „Kop jāchschi!“ rief Schamyl bei Tische, „ich danke Deinem großen Kaiser für seine außerordentliche Gnade; ich danke auch Dir, daß Du Dich freundlich gegen mich benimmst … Jetzt erst sehe ich, wie übel ich die gefangenen Fürstinnen behandelt habe; ich meinte aber, mein Benehmen gegen sie wäre sehr gut, ja, man könnte sie gar nicht besser behandeln, als ich … damals hatte ich so Vieles noch nicht gesehen. Jetzt aber quält mich mein Gewissen so, daß ich es nicht mit Worten auszudrücken vermag. Und nicht blos für meine Person erfahre ich des Kaisers Gnade: ich sehe hier in Kaluga zwei Kaukasier, die um eines Vergehens willen hierher verschickt sind: sie gehen frei umher, empfangen vom Kaiser ihren Unterhalt, beschäftigen sich mit eigener Arbeit und wohnen in ihren Häusern … So hielt ich nicht meine russischen Gefangenen … die Wahrheit zu sagen, hatte ich wohl die Möglichkeit, sie besser zu halten: hätte ich es aber gethan, so hätte das Volk gemurrt. Zwar stand es in meiner Gewalt, die Unzufriedenen zum Schweigen zu [240] bringen, allein das eben that ich nicht, und darum bin ich allein strafbar … Wie tief ich dan nun fühle, mag ich nicht sagen …“
Schamyl hatte mich gebeten, bis zur Ankunft seiner Familie immer mit ihm zu speisen. Die Unterhaltungen, die bei Tische geführt wurden, boten viel Anziehendes und lösten manche Räthsel, deren Schlüssel wir lange vergeblich gesucht hatten, und die uns wohl nie klar geworden wären. Im Allgemeinen bemerkte ich, daß Schamyl gegen das Ende der Mahlzeit gesprächiger wurde, stufenweise in heitere Stimmung gerieth und zu offenen Mittheilungen geneigter war, als zu Anfang der Tafel.
Nachdem mich Schamyl mit den Worten „ghettach amamachah“ zu Tische geladen hatte, fand ich beim Essen ein Gericht vom Koche des Gasthofs so verdorben, daß ich mich darüber tadelnd aussprach. „Findest Du das nicht auch?“ fragte ich Schamyl. Er antwortete mir, das Gericht sei allerdings nicht schmackhaft; wie könne man aber so etwas aussprechen?
„Und warum nicht?“ fragte ich.
„Das wäre eine große Sünde.“
„Aber thut der Koch keine Sünde, indem er uns ein so schlechtes Gericht vorsetzt?“
„Allerdings ist es auch eine Sünde: aber dafür wird Gott ihn strafen.“
„Wenn ich aber dem Koche sein Vergehen nicht vorhalte, so wird er vielleicht fortfahren, uns schlecht zu bedienen, in der Meinung, es müsse so sein, und so kann er unserer Gesundheit schaden und uns mancherlei Verlust verursachen.“
„In den Büchern,“ sagte Schamyl, „steht geschrieben, daß der Mensch nie seine Unzufriedenheit mit irgend Etwas mündlich äußern solle. Wenn man mir ein verdorbenes oder versalzenes Gericht vorsetzt (Schamyl kann das Salz nicht ausstehen), so darf ich es nicht tadeln, sondern muß es schweigend verzehren, ganz, als wäre es gut zubereitet. Um so weniger darf ich auf einen Hausgenossen zürnen, wenn er mich auf irgend eine Weise kränkt. Schelte ich ihn, so ist das eine große Sünde; so steht in meinen Büchern geschrieben.“
Diese Aeußerungen Schamyl’s erinnerten mich an das, was Herr von Boguslawsky mir von dem Besuche erzählte, den der Gefangene einst in einer Menagerie ausländischer Thiere machte. Die Affen zogen besonders seine Aufmerksamkeit auf sich. Er beobachtete sie lange, ergriff endlich die Pfote eines Affen und wandte sich mit den Worten an Boguslawsky:
„Weißt Du, wer das ist?“
„Ein Affe,“ antwortete dieser.
„Jetzt allerdings, aber früher, weißt Du, was sie waren?“
„Nein, das weiß ich nicht.“
„Es waren Juden,“ antwortete Schamyl mit echt kaukasischem Fanatismus – „nachdem sie Gott erzürnt hatten, verfluchte er sie und verwandelte sie in Affen.“
„Sollte das wahr sein?“ fragte Boguslawsky.
„So steht in den Büchern geschrieben.“
„Das kann aber doch nicht sein! Wären alle Juden in Affen verwandelt worden, woher kämen dann die jetzt noch lebenden?“
Schamyl sann etwas nach. „Wahrscheinlich sind es nicht diese, sondern andere.“
„Woher kämen aber die Anderen, wenn die Ersten nicht existirt hätten (Affen gewesen wären). Nein, das ist Thorheit, das kann nicht sein!“
„Wie, das kann nicht sein? Sieh nur die Pfote hier, gänzlich einer Menschenhand ähnlich … und den Körper, ist er nicht ganz der Körper eines Menschen?“
„Aber das Gesicht?“
„Nun, das Gesicht?“
„In der Schrift ist gesagt, der Mensch sei nach dem Ebenbilde Gottes geschaffen … steht dies in Euren Büchern?“
„Allerdings.“
„Nun wohl, kann die Gottheit ein solches Gesicht haben?“ – Dieser Einwurf schien dem Schamyl doch gegründet; aber er nahm sich wohl in Acht, es merken zu lassen, daß sein Glaube einen Stoß erlitten hatte; beim Hinausgehen machte er eine abwehrende Bewegung mit der Hand und wiederholte: „In den Büchern steht’s geschrieben! In den Büchern steht’s geschrieben!“
Die bedeutungsvollen Gedankenstriche. In das gastliche Haus eines seit mehreren Jahren in Paris lebenden deutschen Edelmanns, Baron G**heim, ließ sich zu Anfang des Winters 1859 ein Franzose einführen. Der Geist und die Gewandtheit dieses jungen Herrn von F…au, der sehr gut deutsch sprach, gefielen dem alten Baron; er lud ihn ein, an dem Mittagessen Theil zu nehmen, das er an dem Tage gab. Herr von F…au stellte sich zur festgesetzten Stunde ein und fand, wie er erwartet hatte, nur Landsleute des Barons. Einige derselben erwiderten seinen tiefen verbindlichen Gruß so kurz und kalt, daß es Herrn von G**heim unangenehm auffiel und er sich über diesen Empfang in der Seele seines jungen Gastes verletzt fühlte. Er forschte leise und eindringlich bei einigen seiner nächsten Bekannten nach dem Grunde dieser Aufnahme und Rücksichtslosigkeit, und man flüsterte ihm zu: „Bester Baron, wie konnten Sie diesen Menschen einladen? Herr von F…au ist einer der schlauesten Spione, und wenn er öfter Ihr Haus besuchen sollte, so bleiben wir fort.“
„Ein Spion!“ rief der alte Edelmann entsetzt.
„Nichts anderes! Noch dazu der gefährlichste!“
„Was will ein Spion bei mir?“
„Sich wahrscheinlich über Ihre Ansichten in’s Klare setzen. Man wird endlich erfahren haben, daß hier im Hause ein freies Wort, eine offene Meinung über den Kaiser geäußert wird, und ohne Zweifel sind unsere unbefangenen Urtheile von Interesse für Andere.“ Der Baron ließ bei dieser Erklärung einen derben deutschen Fluch hören. Man gab ihm Winke, sich zu beherrschen, und er that es; doch als er sich von der Gruppe seiner Freunde trennte, sagte er ernst: „Herr von F…au soll sich nicht umsonst in mein Haus bemüht haben, und früher, als er es ahnt, über meine Ansichten in’s Klare gesetzt werden.“
„Nehmen Sie sich in Acht, er gehört zu der schlimmsten Sorte.“
Der Baron lächelte fein. Während den Diners sahen die Landsleute Herrn von G**heims oft mit Schrecken das Gespräch eine Wendung nehmen, die eine Explosion herbeizuführen im Stande war, und geschickt wußte immer Einer oder der Andere die in deutscher Sprache geführte Unterhaltung in’s Gleis der alltäglichen Lebensinteressen zurückzulenken. Der Wirth ließ es ruhig geschehen und war nie bemüht, ein gefährliches Thema festzuhalten. Sinnend blickte er aber einige Male vor sich nieder. Das Dessert kam, und es wurden Toaste ausgebracht. Die etwas lebhafter werdenden Deutschen stießen jetzt, angeregt durch ihren Wirth, auf rein deutsche Interessen an, und auf deutsches Wohl wurde manches Glas französischen Weins geleert! – Nach dem freundlichen Lächeln zu urtheilen, das Herrn von F…au’s Lippen umschwebte, schien er Alles äußerst natürlich und durchaus in der Ordnung zu finden. Er war ja in einer Gesellschaft, die nur aus Deutschen bestand. – Baron G**heim fixirte ihn scharf, und als der junge Franzose wiederum bereitwillig auf Etwas angestoßen, das gänzlich außer dem Bereiche seiner Interessen lag, rief er plötzlich verbindlich, sich mit leichter Verbeugung zu seinem neuen Gaste wendend: „Herr von F…au, wir sind nicht höflich gegen Sie, indem wir nur an uns denken! Nicht mehr als recht und billig wird es daher sein, auch Sie an die Reihe kommen zu lassen. Erlauben Sie mir, daß ich meinem und meiner Landsleute Dank für Ihre liebenswürdige Nachsicht Ausdruck gebe.“
Der junge Franzose verneigte sich zustimmend; Baron G**heim füllte sein Glas und sich erhebend sprach er langsam nachstehende Worte, zwischen denen er zum Erstaunen seiner Zuhörer an Stellen eine kleine Pause machte, deren Sätze durchaus im Zusammenhange standen und wo ihnen eine Trennung als störend erschien:
„Es lebe weit und breit – Napoleon Deine Macht
Der Deutschen Einigkeit – werd’ von der Welt verlacht!
Es steige mehr und mehr – Napoleons hoher Glanz
Der Deutschen Glück und Ehr’ – umdunkle bald sich ganz!
Es leb’ in voller Pracht – des Franzmanns kluger Krieg
Die deutsche Heeresmacht – bleib ohne allen Sieg!
Gott sende Segen, Heil – Napoleon ganz allein
Auf aller Deutschen Theil – fall Unglück nur anheim!“
Je weiter der Baron sprach, desto mehr umdüsterten sich die Züge der Deutschen und nur das Antlitz des Franzosen leuchtete von Freude. Als der seltsame Toast beendet, brach er in warme Dankesworte aus, während alle Andern stumm dasaßen. Erregt schloß er: „O hätte ich diesen herrlichen Toast doch aufgezeichnet!“
„Wer weiß ob er Ihnen dann noch so gefiele, Herr von F…au! Geschrieben macht sich dergleichen oft nicht so gut.“
„Doch, doch, Herr Baron! Er kann nicht dadurch verlieren.“
„Gut! Ich werde ihn aufschreiben.“
„Können Sie es – wissen Sie ihn noch?“
„Mein Gedächtniß ist ausgezeichnet, Herr von F…au.“
„Ich werde mich überzeugen, ob Sie wahr sprechen, denn bemerken würde ich das Geringste, das Sie ausließen.“
„Beunruhigen Sie sich nicht unnöthig, ich werde Nichts fortlassen und sogar die Pausen, die ich im Vortrage eintreten ließ, durch Gedankenstriche bemerkbar machen!“
Herr von F…au lächelte dankbar. Der Baron schrieb den Toast in zwei Exemplaren und reichte ein Blatt seinem jungen Gaste, das andere seinen alten Freunden.
Alle griffen eifrig darnach. Auf den ersten Blick, den sie auf das Papier warfen, fiel ihnen die Trennung der zusammenhängenden Zeilen auf, und sie lasen jetzt den gutverdeckten schönen Toast auf ihr Vaterland.
Während sie lächelnd die Feinheit ihres Wirths bewunderten, hing das Auge des Franzosen wie gebannt an dem zweiten Theile der Rede und mit sprachlosem Entsetzen las er:
„Napoleon Deine Macht
werd’ von der Welt verlacht!
Napoleons hoher Glanz
umdunkle bald sich ganz!
des Franzmanns kluger Krieg
bleib’ ohne allen Sieg!
Napoleon ganz allein
fall Unglück nur anheim!“
„Die Gedankenstriche scheinen mir sehr bedeutungsvoll, Herr Baron!“ rief Herr von F…au mit erzwungener Ruhe.
„Das pflegen Gedankenstriche gewöhnlich zu sein!“ entgegnete der Baron mit vollkommenster Fassung.
„Durch die Trennung der Sätze beknmmt die Sache eine ganz andere Wendung!“
„Jede Trennung pflegt der Sache eine andere Gestalt zu geben. Nehmen Sie einfach mein schönes Vaterland. Was würde Deutschland sein, wenn es nicht getrennt wäre?“
„Dann wäre es Frankreichs Un – –“ Herr von F…au brachte diesen Satz nicht zu Ende. Die Gedankenstriche, die er, von plötzlicher Vorsicht erfaßt, im Geiste machte, waren auch bedeutungsvoll!
gingen weiter bei dem Unterzeichneten ein: 1 Thlr. Wolf, Gastwirth in Kottewitz – 1 Thlr. W. Opetz in Gotha – 15 Ngr. Aug. Opetz in Gotha – 18 Thlr. 15 Ngr. erste Sammlung der Redaction der Turmzeitung.
- ↑ Sehr lehrreich und vielsagend ist die Thatsache, daß die drei stupidesten Kriege (nach den Folgen beurtheilt) fast allein die englische Nationalschuld hervorgebracht haben. Der Krieg gegen Amerika endete mit 121, der Krieg gegen Napoleon mit 601, der Krieg gegen die Türkei (officiell gegen Rußland) mit 1000 Millionen Pfund Kriegsschulden.
- ↑ Wohl der unausgesprochene Name den Teufels.
- ↑ Der Verfasser dieses Aufsatzes war im October v. J. von der kaiserlichen Regierung beauftragt worden, den frühern Begleiter Schamyl’s, Herrn von Boguslawsky, der eine anderweitige Bestimmung erhalten hatte, in Kaluga zu vertreten.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: wohlhätigen