Die Gartenlaube (1860)/Heft 51

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1860
Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 51. 1860.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Die schwerste Schuld.

Vom Verfasser der neuen deutschen Zeitbilder.
(Fortsetzung.)
4. Ein deutscher Festball.

Der Casinosaal des Städtchens war zu einem eleganten Ballsaal eingerichtet. Die Officiere des Regiments hatten Alles aufgeboten, um auch durch den Ball, den sie gaben, die Feier des Sieges bei Leipzig zu einem so glänzenden wie möglich zu machen. Und es war ein Sieg der Franzosen über Deutsche, und Franzosen feierten ihn im deutschen Lande, und zwangen die Deutschen mitzufeiern. Wie Mancher freilich feierte auch freiwillig mit und trug eifrig seinen Eifer zur Schau! Aber der Mensch denkt und Gott lenkt. Ohne daß sie es wußten, feierten sie einen andern Sieg, der wirklich erfochten war.

Am 16. October hatte Napoleon wohl gemeint, oder auch sich selbst nur vorgeredet, er sei der Sieger des Tages geblieben, und er hatte Couriere mit der Siegesbotschaft nach allen Richtungen ausgesandt, und Leipzigs Glocken hatten läuten müssen. Am 18. October aber entschied der Herr der Schlachten und der Geschicke der Völker anders, und während sie da hinten in der kleinen Stadt tief im westphälischen Gebirge den Sieg des großen französischen Kaisers feierten, in derselben Stunde war der französische Kaiser von den Deutschen auf das Haupt geschlagen, sein Heer war vernichtet, und der geschlagene Kaiser und was von seinen Soldaten übrig geblieben war, mußte in wilder Flucht sein Heil suchen. Zu derselben Stunde waren freilich auch die Fluren Leipzigs mit anderthalbhunderttausend Todten und Verwundeten bedeckt.

In dem Casinosaal des Städtchens tanzten sie lustig, französische Herren und deutsche Frauen und Jungfrauen. Auch deutsche Herren; vielleicht mehr als französische. Doch nicht Alle waren sie lustig, diese deutschen Männer und Frauen. Wie Manche hatte nur die Furcht hergetrieben, die elende Feigheit! Wie Manchen aber auch die zwingenden Verhältnisse! Das Glück eines Kindes, das Wohl eines Bruders, die Existenz einer Familie stand auf dem Spiele. Die Verhältnisse sind die besten Freunde des Despotismus und der Tyrannei, und die verderblichsten Feinde der Sitte, des Muthes, der Mannes- und Frauenwürde. Sie tanzten und scherzten; sie liebten und flüsterten, sie tranken Champagner und wurden laut. Auf dem Schlachtfelde bei Leipzig stöhnten und ächzten Tausende und Tausende im Todeskampfe. –

„Parbleu, Morel, haben Sie den Monsieur Krajewski mit seiner schönen Tochter noch nicht gesehen?“

„Sie meinen den Polen, Bourquin? Er ist noch nicht da.“

„Pole? Woher wissen Sie, daß er ein Pole ist?“

„Man sagt es doch.“

„Noch Niemand hat ihn Polnisch reden hören. Er spricht ein reines Deutsch. Und der Oberst, wenn er wollte, würde uns genau genug seine deutsche Heimath angeben können.“

„Man versichert es.“

„Ich weiß es bestimmt.“

„Indeß gleichviel. Seine Tochter ist schön und reizend, wie man nur je eine Polin sich denken kann.“

„Aber auch gefährlich, mein lieber Morel. Der arme Delaparte hat durch sie schon das Leben eingebüßt, und zwei von unsern Cameraden sitzen um ihretwillen noch heute auf der Festung.“

„Ihr Geliebter ist auch noch nicht da, wie ich sehe.“

„Er wird nicht ohne seine Dame kommen.“

„Wenn sie überhaupt kommen werden.“

„Parbleu, Morel, ich glaube der Oberst ließe den Alten morgen füsiliren, wenn sie nicht kämen.“

„Glauben Sie, Bourquin?“

„Können Sie zweifeln? Der Delaparte war sein Neffe, sein Liebling. Der Dienst verbot ihm, Rache zu nehmen. Um so lebendiger lebt das so lange verschlossene Rachegefühl in seiner Brust.“

„Ventre-saint, Bourquin, auch wir sind unsern Cameraden noch die Revanche schuldig. Was meinen Sie? Heute wäre die Zeit –“

„Und an wem sollen wir die Rache nehmen?“

„An der Dame, dem Liebhaber, an Allen, die hierher kommen.“

„An der Dame, Morel? Sie ist eben eine Dame.“

„Pah, eine Deutsche! Und durch sie kränken wir die Andern um desto empfindlicher.“

„Freilich die Laune des Obersten ist heute, wie man sie nicht besser wünschen kann. „Zum Teufel!“ hörte ich ihn noch vorhin sagen, „diese Deutschen wollten anfangen, von ihrer Freiheit zu träumen. Man muß ihnen einmal wieder die strengen Herren zeigen. Erniedrigen wir sie heute noch durch unsere Herablassung. Vive l’Empereur sollen sie mit uns rufen, lauter als wir. Vive le vainqueur de Leipzig! Morgen knechten wir sie. Morgen Standrecht, Fusilladen, wenn eine Stimme ohne unsere Erlaubniß laut wird.““

„Also, Bourquin?“

„Wohlan, Morel! Und siehe da, gerade kommen sie.“

Die Thüre des Saals hatte sich geöffnet. Verspätete Gäste traten noch ein: der alte Krajewski, am Arme seiner Tochter [802] Elvire. Beiden folgte der Advocat Rohden. Das Gesicht des Greises war finster wie immer; aber es trug heute noch zugleich den Ausdruck eines herausfordernden Stolzes. Welcher schwere Druck dennoch auf seinenn Innern lastete, das verrieth die unwillkürlich gebeugte Haltung seiner hohen Gestalt. Der Advocat Rohden zeigte die ernstesten, verschlossensten Gesichtszüge; man sah den Mann, der unter allen Umständen sich beherrschen, sich aber auch nichts vergeben wollte. Elvire Krajewska hatte sich so einfach gekleidet, wie sie durfte, ohne den Anstand zu verletzen. Sie war in ihrer Einfachheit doppelt schön. Ihr Gesicht war sehr blaß und sie zitterte, als sie an dem Arme ihres Vaters in den Saal trat. Sie erregte dennoch die Bewunderung Aller, die sie, sahen.

Ein Adjutant des Obersten gab ihr seinen Arm, sie zu ihrem Platze zu führen. An seinem Arme zitterte sie nicht. Das weiche Mädchen war stark, wenn es sein mußte.

„Parbleu, Morel,“ sagte der Herr von Bourquin, „sie ist schön. Man möchte lieber ihre Liebe, als ihren Haß zu gewinnen suchen.“

„Sie haßt uns schon, Bonrquin, mehr als wir glauben. Nur noch auf Rache für unsere Cameraden kommt es an.“

„Sie sprechen von Rache für unsere Cameraden, meine Herren? Sie meinen gewiß die kleine Krajewska? Da bin ich dabei. Der brave Delaparte war mein Freund.“

Ein Dritter, der zu den beiden Officieren herangetreten war, sprach die Worte. Er trug ebenfalls die französische Officiersuniform, auch die des nämlichen Regiments, dennoch war er anders als jene Beiden. Man konnte den Unterschied in der verschiedenen Gesichtsbildung finden; sie war bei ihm keine französische, sie war eine deutsche. Noch mehr zeigte ihn der Ausdruck des Gesichts. Auch die Franzosen trugen Uebermuth im Gesicht, aber einen leichten, frivolen, unbekümmerten. Das deutsche Gesicht des jungen Mannes in der Uniform des französischen Officiers hatte einen gemeinen, zugleich cynischen und kriechenden Uebermuth. Mit diesem cynischen und kriechenden Uebermuthe hatte er die Worte gesprochen. Selbst seine Cameraden sahen ihn mit einiger Verwunderung an.

„Sie wollen gemeinschaftliche Sache mit uns machen, Herr von Aschersleben? Gegen Ihre Landsleute?“

„Diese plumpen Westphalen sind meine Landsleute nicht.“

„Die Dame und ihr Vater sind keine Westphalen.“

„Pah, Polen denn.“

„Auch das wohl nicht –“

„Nun, meinethalben auch Deutsche. Ich gehöre der großen Nation an. Aber lassen Sie uns zur Sache kommen; hatten Sie schon einen Plan gemacht?“

„Noch nicht.“

„So wüßte ich einen.“

„Lassen Sie hören, Herr von Aschersleben.“

„Indeß, wozu noch erst ein weitläufiger Plan? Die Sache ist sehr einfach und macht sich von selbst. Man fordert die junge Dame zum Tanze auf, tritt mit ihr an, und läßt sie auf einmal ohne alle Veranlassung in möglich auffallender Weise stehen.“

„Und wer soll die Rolle übernehmen, Herr von Aschersleben?“

„Ich bin bereit dazu. Warum nicht?“

Die beiden Franzosen sahen sich an. „Er ist ein elender Deutscher,“ sagte der Blick des einen.

„Aber er thut es und nicht wir,“ antworteten die Augen des anderen. –

Die Franzosen hatten Recht. Es war ein elender, einer der elendesten, der verächtlichsten Deutschen, der so handeln konnte. Der elenden, verächtlichen Menschen gibt es viele, in allen Nationen; Deutschland hatte ihrer zu jener Zeit sehr viele, und besonders bekanntlich unter dem Adel. Aber freilich war es französische Nichtswürdigkeit, die an ihnen gearbeitet und verdorben hatte, lange vor dem Jahre 1807 schon an den deutschen Höfen, deren schmachvolle Aufgabe es geworden war, die Sittenlosigkeit des französischen Hofes in möglichst roher Weise nachzuahmen; die französische Fremdherrschaft in Deutschland hatte dann alles deutsche Ehr- und Nationalgefühl systematisch zu unterdrücken und zu vernichten gesucht. Die Renegaten sind überall die eifrigsten Lumpe. Sie werden dafür am meisten von denen verachtet, denen sie dienen.

„Weiter,“ sagten die Franzosen zu dem Deutschen.

„Das Weitere, meine Herren, gibt sich gleichfalls von selbst. Der Liebhaber, der Vater werden Genugthuung fordern. Man wirft sie heute hinaus, und gibt ihnen morgen Genugthuung. Man ist sie ihnen schuldig.“

„Ja, man wäre sie ihm schuldig.“

„Und Sie werden dabei sein.“

„Dabei allerdings.“

„So wären wir fertig.“

„Morgen rechnen Sie auf uns.“

„Da beginnt gerade ein Tanz. Ich gehe die Dame aufzufordern.“

Er wollte gehen, mußte aber seinen Schritt anhalten.

„Was, zum Teufel, ist das?“

„Der Oberst geht zu der Dame.“

„Er selbst scheint sie auffordern zu wollen.“

„In der That. Horchen wir, was er sagt.“

Der Oberst des Regiments war auf Elvire Krajewska zugegangen. Er verbeugte sich mit der vollen Galanterie des französischen Officiers vor ihr.

„Mademoiselle, schenken Sie mir die Ehre dieses Tanzes! Sie hatten mir einst verziehen, zeigen Sie den Ernst Ihrer Verzeihung.“

Elvire wurde verlegen. Sie hatte sich fest vorgenommen, nicht zu tanzen. Jedem Anderen hätte sie es ruhig mit der Festigkeit ihres Vorsatzes gesagt. Auf eine Aufforderung des Obersten war sie nicht vorbereitet. Sie erröthete tief. Aber ihr starkes und muthiges Her; verließ sie auch hier nicht.

„Herr Oberst,“ sagte sie klar und entschieden, „mein Vater und ich haben Ihre Einladung unter den herrschenden Umständen als einen Befehl ansehen müssen, dem man sich nicht entziehen dürfe. Tanzen kann ich aber heute nicht. Ich muß Ihnen danken für die Ehre, die Sie mir erweisen wollten.“

„Wenn ich Sie nun zugleich gerade um Ihretwillen bäte, Mademoiselle?“

Der schon etwas bejahrte Officier sah sie wohlwollend an.

Sie mußte sich gleichwohl noch besinnen.

„Nur eine einzige Tour, Mademoiselle.“

Sie reichte ihm die Hand. Er eröffnete mit ihr den Tanz.

Er tanzte, wie er versprochen hatte, nur eine Tour mit ihr. Dann führte er sie mit seiner ganzen Höflichkeit auf ihren Platz zurück. Die drei Officiere standen noch beisammen.

„Was hat er denn gewollt?“

„Hat er einen Eigensinn durchsetzen wollen?“

„Oder wollte er sich zu ihrem Beschützer erklären?“

„Gegen wen?“

„Gegen uns. Er war vorher in unserer Nähe, er kann aus unserem Gespräch einzelne Worte aufgefangen, er kann es aus unseren Mienen errathen haben.“

„So wird es in der That sein.“

„Gleichviel.“

„Sie wollen den Obersten herausfordern, Herr von Ascherseben?“ „Ich habe als Tänzer eben so viel Recht, wie der Oberst.“

„Das heißt?“

„Das heißt: Ich werde sie auffordern, wie er that. Sie wird mir den Tanz abschlagen. Was ist dann meine Sache? Und die Ihrige, wenn Sie ferner mit mir halten wollen?“

„Sie wollen die Dame also nicht beschimpfen?“

„Es bedarf dessen jetzt nicht mehr.“

„Wohlan!“

„Zum nächsten Tanz also!“

Sie wollten auseinander gehen. Ein vierter Officier kam auf sie zu. Er war soeben in den Saal getreten. Es war ein Adjutant des Regiments. Er trug das Abzeichen des Dienstes. Er wandle sich an die beiden Franzosen.

„Herr von Bourquin und Herr von Morel, Sie sind auf morgen früh um neun Uhr zum Kriegsgericht commandirt.“

„Zum Standrecht? Was wäre vorgefallen?“

„Ein entwichener Galeerensträfling ist hier eingefangen.“

„Und über ihn sollen wir zu Gericht sitzen?“

„Es ist ein ehemaliger preußischer Ofsicier, der gefangen genommen und zu lebenswieriger Galeerenstrafe verurtheilt war. Vor vierzehn Tagen war er aus dem Bagno entwichen. Er war an der ganzen Grenze signalisirt. Von Paris war der Befehl gekommen, ihn sofort, wenn er ergriffen sei, vor ein Kriegsgericht [803] zu stellen und zum Erschießen zu verurtheilen. Er ist heute Abend ergriffen. Morgen früh wird das Kriegsgericht zusammen treten.“

„Mit dem Befehle, ihn zum Tode zu verurtheilen?“

„Bis morgen Mittag muß das Unheil vollzogen sein. So lautet der Befehl.“

„Sehr wohl.“

„Und ich bin zu der Sitzung des Gerichtes nicht commandirt?“ fragte der Herr von Aschersleben.

„Nein, mein Herr,“ sagte der Adjutant. Auch er mußte den Mann mit Verachtung ansehen.

Der Renegat sah es nicht.

„Ach,“ sagte er, „da beginnt ein neuer Tanz. Werden Sie bereit sein?“

„Wir werden bereit sein,“ sagten die Herren von Morel und von Bourquin.

Der Adjutant hatte sich wieder entfernt. Elvire Krajewska saß noch auf demselben Platze, zu dem nach ihrem Eintreten der Adjutant sie geführt und nach dem Tanze der Oberst sie zurückgeführt hatte – zwischen Damen, die sie wenig oder gar nicht kannte. Sie hatte sich einsylbig mit ihnen unterhalten. Ihre Aufmerksamkeit war auf ihren Vater und auf Rohden gerichtet, und auf die drei Officiere, die zusammengestanden und angelegentlich mit einander geredet hatten. Die Blicke der Drei waren manchmal verstohlen auf sie gerichtet gewesen; man sprach also von ihr. Es waren keine freundlichen Blicke gewesen. Was sollte ihr auch aus jenem Kreise Gutes oder Wohlwollendes kommen? Besonders von dem deutschen Verräther! Sie wahrte um so sorgsamer und ängstlicher mit ihren Augen den Vater und den Geliebten – denn ihr war Rohden der Geliebte ihres Herzens.

Für den Vater hatte sie eine besondere Sorge. Sein plötzlicher hastiger Einschluß, zu dem Balle zu gehen, hatte sie stutzig gemacht. Er war dann in einer fortdauernden, oft zerstreuten und oft wieder tief ängstlichen, scheuen Unruhe geblieben. Dabei war er stumm, verschlossen. Die Worte, die er gesprochen, hatten nur zur Eile getrieben. Er hatte etwas vor. Es mußte wichtig, entscheidend, gefährlich sein. Sie suchte vergebens zu errathen, was es sein könne. Auf dem Balle hatte er sich zusammengenommen, aber sogleich, nachdem er gesehen, wie der Oberst mit wohlwollender, fast ehrerbietiger Höflichkeit seine Tochter zum Tanze führte, hatte er den Saal verlassen. Er war still fortgegangen, wie um nicht bemerkt zu werden, und wie in der Meinung, als werde er nicht bemerkt. Elvire hatte ihn wohl gesehen. Sie durfte ihr inneres Erbeben nicht verrathen. Der Tanz war zu Ende. Der Oberst hatte sie zu ihrem Platze zurückgeführt. Sie winkte mit den Augen Rohden zu sich.

„Mein Vater ist fortgegangen.“

„Ich habe es gleichfalls gesehen.“

„Sie wissen nicht, wohin?“

„Ich suche es vergebens zu errathen.“

„Er hat etwas vor.“

„Es schien so.“

„Etwas Unglückliches.“

„Fürchten wir nicht gleich Schlimmes.“

„Melanie! Sie war mir lange die Kassandra, der ich nicht glauben wollte. Heute drückt mich jedes ihrer Worte centnerschwer.“

„Verlieren Sie nicht Ihren Muth, Elvire. Ich werde nachsehen, wohin Ihr Vater gegangen ist.“

Sie mußte von neuem erbeben. „Auch Sie wollen mich verlassen?“ schwebte es ihr auf den Lippen. Sie drängte die Worte zurück. Sie hätte Mittheilung über die heimliche Unterhaltung und die feindlichen Blicke der drei Officiere machen müssen, und sie wollte den Geliebten ohne Noth weder aufregen, noch beunruhigen.

„Bleiben Sie nicht zu lange,“ bat sie ihn.

Er ging und kam nach kurzer Zeit zurück. Er hatte keine Nachricht. Niemand hatte den Greis gesehen. Er war um so besorgter. Auch Elvire wurde es.

„Aber,“ ermahnte er, „lassen Sie uns keine Unruhe zeigen. Sie würde die Abwesenheit Ihres Vaters auch den Andern auffallend machen, und er wollte sich unbemerkt entfernen.“

Er trat von der jungen Dame zurück. Sie sollte nicht lange mehr grübeln können, was ihr Vater vorhaben, was ihn betroffen haben möge.

„Melanie!“ hatte sie gesagt, „sie ist mir heute keine Kassandra mehr, der ich nicht glauben wollte.“ Und sie hatte an das Unglück geglaubt. Es nahete sich ihr.

Der deutsche Edelmann in der Uniform des französischen Officiers schritt auf sie zu. Sie sah ihn kommen. Sie konnte sich auch nicht darüber täuschen, daß er mit einem bösen Vorsatze zu ihr kam. Er zeigte eine süße Freundlichkeit. Sie hatte vorher die feindlichen Blicke gesehen und war auf Alles gefaßt. Sie hatte sich gegen Alles mit ihrer klarsten Ruhe bewaffnet.

„Mein Fräulein, dürfte ich Sie unterthänig um diesen Tanz bitten?“

„Mein Herr, ich danke Ihnen. Ich werde heute nicht mehr tanzen.“

„Aber Sie tanzten schon, mein Fräulein.“

„Darum sagte ich, daß ich nicht mehr tanzen würde.“

„Und aus welchem Grunde würden Sie nicht mehr tanzen?“

Eine leise Rölhe des Zorns stieg doch in ihr Gesicht.

„Mein Herr, ich würde als Herr mich nicht berechtigt glauben, eine Dame so zu drängen.“

Er warf seine freundliche Höflichkeit von sich, um näher zu seinem Ziele zu kommen.

„Mein Fräulein, Sie versagen mir den Tanz, unmittelbar nachdem Sie mit dem Herrn Obersten getanzt haben. Die Welt wird darin eine Beleidigung für mich finden.“

„Ich wüßte nicht, wie das sein könnte.“

„Dem subalternen Lieutenant glauben Sie es bieten zu können.“

Sie konnte lächeln.

„Mein Herr, ich glaube, die jüngern Officiere sind bei allen Damen die bevorzugten Tänzer.“

„Aber dem Deutschen wagten Sie es zu bieten.“

Da schlug dennoch, allen ihren Vorsätzen zum Trotze, die helle Flamme des Zornes in ihr schönes Gesicht. So manches Gefühl mußte mit voller Lebendigkeit, mit voller Gewalt in ihr erwachen.

„Sie haben mich herausgefordert, mein Herr,“ sagte sie. „So erfahren Sie denn von mir die Wahrheit. Ich kann hier heute Abend nicht tanzen, weil ich als deutsches Mädchen, und ich bin ein deutsches Mädchen, für einen Triumph Fremder über Deutsche nur Schmerz und Trauer habe. Ich kann mich überhaupt nicht der Freude hingeben, in dem Gedanken, daß in diesem Augenblicke ein ungeheueres Schlachtfeld mit Tausenden von Leichen und von armen, wimmernden, verwundeten Menschen bedeckt ist, die den Tod erflehen, um von ihren Leiden und Qualen befreit zu werden. Aber, mein Herr, hielte mich das Alles auch nicht zurück, Ihnen, wissen Sie es, Sie müssen es aus deutschem Munde hören, Ihnen, einem Manne, der, anstatt zur Hülfe, zur Befreiung seines deutschen Vaterlandes zu eilen, dem Feinde seines Vaterlandes seinen Arm, seinen Degen weihet, nein, in schnödem Fremdendienste sich selbst entweihet, einem solchen Menschen nur die Spitze meines Fingers zu reichen – es wäre eine Entehrung für mich!“

Sie hatte sich nicht mehr mäßigen können. Sie hatte sich so lange zusammennehmen, Alles, was an schönem, edlem, deutschem Gefühl in ihr war, gewaltsam zurückdrängen, der persönlichen, frechen Beleidigung, die ihr drohte, die ihr wurde, Ruhe und Selbstverleugnung entgegen setzen müssen. Sie konnte es nicht mehr; das Band zerriß, mit dem sie sich eingeschnürt hatte, und als es einmal zerrissen war, mußte Alles heraus, was sie auf dem Herzen hatte. An das, was folgen werde, dachte sie nicht mehr, konnte sie nicht denken. Sie war Weib – ein großherziges, edles Weib.

Der Offcier stand vernichtet. Er hatte angreifen wollen; er war angegriffen, und wie er angegriffen war, war er besiegt, geschlagen, zerschmettert. Das Mädchen hatte laut gesprochen. Nicht blos die Damen in ihrer Umgebung hatten ihre Worte gehört, auch Herren, die in der Nähe standen. Er war kreideweiß geworden. Eine furchtbare Wuth kochte in ihm. Er konnte keinen Entschluß fassen. Nur Eins wollte er, konnte er wollen. Aber konnte er es ausführen? Durfte er, als Officier, öffentlich eine Dame mißhandeln? Er hatte dennoch den Arm, die Hand erhoben. Die Wuth stieg in ihm. Ein Moment, und er wußte nicht mehr, was er that.

Da trat Jemand auf ihn zu. Der Advocat Rohden hatte Elvire nur einen Augenblick aus den Augen verloren, um sich [804] nach ihrem Vater umzusehen; zwischen den Beiden war seine Aufmerksamkeit getheilt. In dem Augenblicke hatte der Officier mit der Dame gesprochen. Als er zurückkehrte, sah er das hocherröthete Gesicht Elvire’s, das kreideweiße des Officiers. Er wußte, was geschehen war. Er eilte zu den Beiden. Er stellte sich vor den Officier, ruhig, kalt, muthig, stolz.

„Mein Herr, wünschen Sie von der Dame etwas? Ich stehe Ihnen zu Diensten.“

Die Wuth des Officiers hatte ihren höchsten Grad erreicht. Sie hatte ein Ziel, das sie angreifen durfte, das sie glaubte angreifen zu dürfen. Seine Hand fuhr an seinen Degen. Rohden war unbewaffnet. Eine fremde Hand legte sich fest auf die Hand des Herrn von Aschersleben.

„Herr Lieutenant, keine Handlung der Ehrlosigkeit.“ Der Oberst des Regiments sagte es kurz, gemessen, befehlend. Er war der bessere Franzose, dieser Oberst, ein Mann der ritterlichen Ehre gegen den Einzelnen, der freche, höhnende, übermüthige Unterdrücker gegenüber einem fremden Volke.

Der Lieutenant von Aschersleben stand einen Augenblick unbeweglich.

„Sie werden mir Genugthuung geben, mein Herr,“ sagte er dann zu Rohden.

„Jede, mein Herr!“

Der Officier entfernte sich. Der Oberst wollte ihm folgen, wurde aber aufgehalten. Ein Adjutant, derselbe, der vorhin die Officiere zum Kriegsgerichte commandirt hatte, war in den Saal getreten. Sein Gesicht zeigte Bestürzung. Er eilte auf den Oberst zu. Er sprach heimliche, flüchtige Worte zu ihm. Der Oberst erschrak sichtlich.

„Der Gefangene?“ hörte man ihn rufen.

„Zu Befehl, mein Oberst.“

„Und der Herr Krajewski, sagen Sie?“

„Der Herr Krajewski.“

„Kommen Sie.“ Er verließ mit dem Adjutanten in größter Eile den Saal, Rohden hatte Elviren den Arm geboten, sie fortzuführen.

Sie konnten Beide nicht ferner bleiben. Seine Augen suchten auch ihren Vater. Da hörte er den Obersten den Namen Krajewski aussprechen. Er erbebte. Auch Elvire hatte ihn gehört.

„Mein Vater?“ rief sie. „Er ist nicht hier.“

„Wo ist er? Was ist mit ihm geschehen?“

Er wußte es so wenig wie sie.

„Lassen Sie uns eilen. Mein Vater! Was ist mit meinem Vater geschehen?“




5. Deutsche Ehre.

Die Hauptwache der Garnison war in der Mitte der kleinen Stadt. Sie lag neben dem städtischen Rathhause. In dem Rathhause selbst war das Militairgefängniß. Es befand sich im Erdgeschosse des nicht besonders großen Gebäudes und bestand aus einer einzigen Zelle, zu der ein schmaler Gang führte. Es war in der eilften Stunde der Nacht. Vor dem Gange, der zu der Zelle führte, ging eine Schildwache auf und ab. Eine zweite Schildwache war in dem Gange. Eine dritte hörte man draußen unter dem Fenster der Zelle in ihrem langsamen, einförmigen Schritt hin und hergehen.

Die Schildwache in dem Gange war nicht allein. Eine trübe Lampe brannte an der Mauer des Ganges. In ihrem Scheine sah man einen alten Mann, der unmittelbar vor der starken, mit Eisen beschlagenen Thür des Gefängnisses auf einem Stuhle saß. Er war eine noch immer kräftige, gedrungene Figur, ein starkknochiges Gesicht mit einem großen, grauen Schnurrbart. Der Mann war unverkennbar ein ehemaliger Soldat. Jetzt trug er eine Art von Civiluniform, wie städtische Gefangenwärter sie zu tragen pflegten. Er sah mürrisch, verdrießlich aus, man konnte sogar Spuren des Kummers in dem alten, eisenfesten Soldatengesichte zu entdecken meinen.

Es hatte kurz vorher die Ablösung der Schildwachen stattgefunden. Der alte Gefangenwärter sah den neuen Posten an, freilich ohne besondere Theilnahme oder Neugierde. Die Zeit mochte ihm wohl lang werden, trotz seines Mißmuthes, und er wollte sich den Soldaten ansehen, ob er mit ihm plaudern könne. Vielleicht hatte er auch etwas Besonderes auf dem Herzen.

Der Soldat war ein noch sehr junger Mensch, wahrscheinlich ein Rekrut noch. Wie viele Menschen aus dem weiten französischen Reiche hatte der russische Feldzug, und dann wieder der Krieg in Deutschland hingerafft! Frankreich mußte immer neue Opfer liefern; Knaben, die kaum zu Jünglingen gereift waren, mußten den Fahnen des Eroberers folgen, der jetzt freilich nur noch um seine Existenz, aber desto erbitterter kämpfte.

„Woher des Landes?“ redete der Gefangenwärter in gebrochenem Französisch den Soldaten an.

„Aus Nantes,“ antwortete französisch der Soldat.

„Ein Hund von einem Franzosen!“ knurrte der Gefangenwärter vor sich hin.

„Aber ich spreche deutsch,“ fuhr in deutscher Sprache der Soldat fort. „Und eben so gut wie französisch.“

Ein wenig heiterte das Gesicht des Gefangenwärters sich auf.

„So, mein Sohn? Und wo hast Du das gelernt?“

„Meine Eltern sind Deutsche. Mein Vater war der Unterthan eines deutschen Edelmannes, der arm war und Gelüste auf meines Vaters Vermögen hatte, und der daher meinen Vater wegen geheimer revolutionärer Verbindungen, wie es hieß, zur Untersuchung ziehen lassen wollte.“

„Der Edelmann, Bursch?“ fragte der Gefangenwärter.

„Nun ja. In Deutschland sind ja auch ein halbes Tausend Edelleute souveraine Landesherren.“

„Jetzt nicht mehr, mein Sohn.“

„So waren sie es doch früher.“

„Erzähle weiter.“

„Die Geschichte ist kurz. Mein Vater hatte keine Lust, zu warten, bis man ihm seinen Kopf und, worauf es am meisten abgesehen war, sein Vermögen nahm. Er suchte seine Sachen zusammen und ging mit Frau und Kind nach Frankreich, wo er Verwandte hatte und vor dem Hängen oder Köpfen und Confisciren der deutschen Edelleute sicher war.“

„Und sein Sohn,“ brummte der alte Gefangenwärter, „will jetzt das, was seinem Vater von dem deutschen Edelmanne geschehen ist, dem deutschen Bürger und Bauer entgelten lasten!“

„Habe ich das gesagt?“

„Du bist als französischer Soldat hier.“

„Bin ich es freiwillig? War ich nicht gezwungen? Und was wollen Sie denn? Sie sind auch ein Deutscher, und dienen hier eben so gut den Franzosen, wie ich, und sogar freiwillig.“

„Ich, Bursch?“ fuhr der Gefangenwärter auf. „Ich diene dem Magistrate dieser Stadt, und dies ist hier eine deutsche Stadt und ein deutscher Magistrat. Das Gefängniß hier –“

„Ja, das Gefängniß hier!“

„Das haben wir den Franzosen nur geliehen.“

„Um Deutsche darin zu bewachen. Der da drinnen ist ein Deutscher.“

„Was soll man thun?“

„Der arme Mensch wird verteufelt strenge bewacht.“

„Wer morgen erschossen werden soll, den läßt man heute Nacht nicht entlaufen.“

„Steht es wirklich so schlimm mit ihm?“

„Der Befehl von Paris ist da. Da geht es nicht anders.“

„Es soll ein preußischer Officier sein.“

„Ja.“

„Der arme Mensch thut mir leid.“

„Mir auch.“

„Und doch müssen wir Beide ihn bewachen!“

„Ja, Bursch, das geht so in der Welt. Das ist die Pflicht, an der ein ehrlicher Kerl festhalten muß. Die großen Herren wissen Gebrauch davon zu machen. So werden Deutsche gegen Italiener, Holländer und Italiener gegen Deutsche, und die Franzosen gegen Alle gebraucht. Nun, mit den Franzosen – Höre mein Sohn, Du hast doch Dein echtes deutsches Blut und Herz bewahrt?“

„Ich denke.“

„Und wenn Du könntest, Du dientest zehnmal lieber dem Könige von Preußen, um die Franzosen aus dem Lande zu jagen, als daß Du da den französischen Rock trägst?“

„Wahrhaftig, zehnmal, hundertmal lieber.“

„Das ist brav von Dir, und da kann man ein vernünftiges Wort mit Dir sprechen.“

(Schluß folgt.)



[805]

Die calorische Maschine.

Wenn wir den verehrten Lesern im Nachfolgenden über den neuen Bewegungsmechanismus, die calorische Maschine, berichten, so hoffen wir ein doppeltes Interesse aus dem Grunde in Anspruch nehmen zu dürfen, weil einmal der Gegenstand an sich ein höchst wichtiger, für das ganze praktische Leben bedeutsamer ist, und sodann, weil die hunderttausend Exemplare der Gartenlaube seit einiger Zeit mit Hülfe dieses Motors gedruckt werden. Und hoffentlich besteht zwischen ihr und ihrem weiten Leserkreise ein Band der Anhänglichkeit und Neigung, das es dem Letzteren gewiß wünschenswerth macht, über die Technik der Herstellung des Blattes von Zeit zu Zeit ein Wörtchen zu hören. Außerdem wird aber auch dem Laien eine verständliche Darstellung der Geschichte und des Wesens der calorischen Maschine, welche gegenwärtig allenthalben so großes Aufsehen macht, und zwar nicht blos bei den Männern des Fachs, sicherlich willkommen sein.

Es ist eine unwiderlegbare Thatsache, daß die Dampfmaschine, diese großartige Bewegungskraft, welcher der Erdball seine jetzige Gestalt verdankt, keineswegs ein vollkommener Mechanismus ist und nicht allen Ansprüchen genügt, welche man an einen Motor dieser Art zu stellen berechtigt zu sein glaubt. Seitdem daher der Dampf seine Herrschaft im praktischen Leben begründet hat, fehlte es nicht an Versuchen mannichfachster Art, einen Ersatz für ihn zu finden ohne die ihm anklebenden Mängel. Das Ausdehnungsvermögen der erwärmten Luft, die Expansionskraft, ist es in erster Reihe gewesen, welche dazu vorgeschlagen wurde, und zahlreiche Experimente beschäftigten sich seit Ende des vorigen Jahrhunderts mit der Verwirklichung des Gedankens. Luftexpansionsmaschinen, theils im Modell, theils in ganzer Ausführung, waren von England und Schottland aus dem Publicum schon mehrmals angepriesen worden, ohne daß eine einzige dieser Erfindungen es vermocht hätte, sich Bahn zu brechen, oder ein mehr als vorübergehendes, locales Aufsehen zu erregen. Da erschien im Jahre 1833 der schwedische Ingenieur Johannes Ericson, geboren 1803, mit einer Heißluftmaschine in London, welche er Caloric Engine nannte. Dem Berichte nach arbeitete dieselbe zur Zufriedenheit; die Männer der Wissenschaft sprachen sich günstig darüber aus, desto ungünstiger die Praktiker, die Constructeure, die Dampfmaschinenfabrikanten. Gekränkt wanderte Ericson nach Nordamerika, wo es ihm bald gelang, sich einen berühmten Namen zu erwerben; insbesondere schreibt man ihm, wenn auch mit Unrecht, die Erfindung der Schiffsschraube zu. Aber über seinen übrigen Arbeiten vernachlässigte er nicht sein Lieblingskind, die calorische Maschine. Es gelang ihm im Jahre 1848 eine solche erste von 5 Pferdekraft in einer Maschinenfabrik von New-York aufzustellen [806] und in Gang zu bringen, welcher bald eine zweite von 60 Pferdekraft folgte. Bei der Weltausstellung in London, im Jahre 1851, war eine Ericson’sche kalorische Maschine in der amerikanischen Abtheilung ausgestellt; sie wurde aber mehr als ein Spielwerk, denn als ein nützlicher Mechanismus betrachtet. Dagegen gab sie Anlaß zu einer heftigen Reclamation, welche die Erfindung für einen Deutschen in Anspruch nahm.

Der Amtmann Prehn in Lauenburg hatte sich sein ganzes Leben lang mit mathematischen und physikalischen Experimenten beschäftigt, und es war ihm angeblich schon im Jahre 1820 gelungen, auf dem Papier eine Maschine zu construiren, in welcher die Expansivkraft der atmosphärischen Luft als mächtiges Triebwerk benutzt wurde. Als der Erfinder durch Unglücksfälle sein ganzes Vermögen verlor, bauete er auf diese seine Idee die Hoffnungen einer neuen Zukunft. Aber in England wie in Preußen vermochte er nicht anzukommen in Folge der mangelhaften Patentgesetzgebung, obgleich in ersterem Lande Macpherson und Stephenson, in letzterem Alexander von Humboldt sich lebhaft für ihn und seine Sache interessirten. Darüber starb der Mann an gebrochenem Herzen. Seine Erfindung ward durch Professor Karsten in Kiel der dänischen Regierung vorgelegt und ist seitdem verschollen. – Wenn auch die Möglichkeit nicht abgeleugnet werden darf, daß Ericson von dem Project des lauenburgschen Amtmanns näher hätte unterrichtet sein können, so ist doch auch hinwiederum die Thatsache um so mehr unerwiesen, als schon in England zahlreiche Patente auf Luftexpansionsmaschinen ausgegeben waren und viele Physiker, wie schon erwähnt, sich selbständig mit dem Problem beschäftigt hatten. Da konnten denn recht gut auch zwei Männer von Begabung auf annähernd denselben Gedanken der Ausführung gerathen, jedenfalls ist es bezeichnend, daß die Pläne und Arbeiten Prehn’s in den dänischen Archiven so spurlos verschwunden sind; obgleich dies nicht auffallen kann, da ja schon so vieles gut Deutsche in Dänemark zu spurlosem Verschwinden gebracht worden ist.

Auf den Gipfelpunkt ihres Glanzes und Ruhmes schien die calorische Maschine zu treten am 15. Februar 1853, dem Tage, an welchem der „Ericson“, ein Schiff von 2200 Tonnen Gehalt, mit ihr in einer Stärke von 600 Pferdekraft seine erste Probefahrt machte. Allein diese, wenn sie gleich gelang, schien leider das Grab der Erfindung gewesen zu sein. Es hatten sich so viele Mängel bei dem neuen Bewegungsapparat herausgestellt, daß nach dem Urtheil aller Sachverständigen an eine dauernde, wirksame Benutzung desselben nicht gedacht werden konnte. Zwar unternahm Ericson mit aller Energie sofort verschiedene Aenderungen, allein auch diese erwiesen sich nicht als hinreichend, so daß es kaum mehr überraschte, als man noch in demselben Jahre vernahm, die calorischen Maschinen seien aus dem Schiff entfernt und an deren Stelle eine gewöhnliche Dampfmaschine eingesetzt worden. Von nun an hörte man Nichts weiter über die calorische Maschine.

Aber der Genius ihres Erfinders schlummerte nicht. Der Hauptgedanke bei der früheren Construction war die unaufhörliche Benutzung der einmal erzeugten Wärme, so daß nach der Anfeuerung dem Brennstoff blos die Aufgabe blieb, den unvermeidlichen Wärmeverlust durch Ausstrahlung, Undichtheit u. s. w. zu ersetzen. Ericson verwirklichte diesen genialen Gedanken durch die sogenannten Regeneratoren, Systeme von zahlreichen, feinmaschigen Drahtsieben, welche einestheils der heißen Luft ihren Wärmegehalt entzogen und sie so abkühlten, anderntheils der abgekühlten Luft wieder die in ihren Geweben angesammelte Hitze mittheilten. So sinnreich diese Construction in der Theorie erscheint, so wenig bewährte sie sich in der Praxis; sie mußte daher mit sammt ihrem Princip aufgegeben werden, und Ericson entschloß sich dazu, wenn auch nur mit schwerem Herzen. Denn es kann mit aller Bestimmtheit gesagt werden, daß das System der Regeneratoren der merkwürdigste und interessanteste Theil bei der Construction der alten calorischen Maschine gewesen ist, und daß die neue erst dann ihre Vollkommenheit erreichen wird, wenn es gelungen ist, dasselbe wieder auf eine oder die andere sichere Art daran anzubringen.

In Deutschland hatte die calorische Maschine von Anfang an keinen rechten Anklang gefunden, man hatte sie schlechtweg, als eine Tändelei ohne Werth, verworfen. Um so überraschter war man, als man plötzlich erfuhr, daß in Nordamerika schon Tausende, in der einzigen Stadt New-York über 200 calorische Maschinen in Thätigkeit seien und Nichts zu wünschen übrig ließen. Da galt es denn, der alten Welt einen wichtigen Vortheil zu erobern. Das Verdienst, die neue Bewegungskraft in Deutschland eingeführt zu haben, gebührt dem Ingenieur Brami Andreä der Maschinenfabrik zu Buckau, welcher in Nordamerika seine Studien gemacht hatte. Unter seiner Leitung wurde die erste deutsche calorische Maschine gebaut und in der Hänel’schen Hofbuchdruckerei in Magdeburg aufgestellt. Sie bewährte sich so trefflich, daß alsbald zahlreiche Aufträge erfolgten; gleichzeitig war die Wilhelmshütte bei Sprottau in Schlesien mit der Fabrikation calorischer Maschinen vorangegangen und hatte verschiedene wesentliche Verbesserungen an denselben angebracht; viele andere Maschinenfabriken ergriffen gleichfalls das neue Unternehmen, und gegenwärtig sind wohl schon Hunderte von calorischen Maschinen in Deutschland thätig und viel mehr noch wahrscheinlich in Bestellung gegeben.

Um die Construction der calorischen Maschinen in ihrer jetzigen Gestalt so viel wie möglich kennen zu lernen, ersuchen wir die werthen Leser, uns in das Souterrain der Wiede’schen Buchdruckerei zu Leipzig zu begleiten, wo die Gartenlaube gedruckt wird. Geleitet von dem freundlichen Herrn Factor steigen wir nieder, und alsbald führt uns ein regelmäßiger Schall, ähnlich dem des abwechselnden Aufschlagens mehrerer Hämmer, nach dem engen, gewölbten Raum, wo die Maschine, wie es die Localität erlaubt, aufgestellt ist. Beim Oeffnen der Thüre schlägt uns eine heiße Luft entgegen, die jedoch zur strengen Winterszeit und mit einiger Gewöhnung ganz gut zu ertragen ist. Da die Druckerei wahrscheinlich bald in das eigne Haus des Besitzers übersiedeln wird, so sind noch nicht alle Anordnungen so getroffen, wie es wünschenswerth wäre, namentlich wird die abgängige heiße Luft nicht zur Erwärmung der Locale benutzt, sondern weiter geleitet; dieselbe dürfte jedoch späterhin, wenn die gehörigen Vorkehrungen getroffen worden sind, ebenfalls zur Verwendung gebracht werden. Mit der größten Verwunderung betrachtet man die nette, kleine Maschine, welche einen so gewaltigen Nutzeffect gewährt. Sie nimmt nicht mehr Raum ein, als ein großer Tisch, und wie sie dasteht, ist sie fertig, ohne Anhängsel, Kessel, Brunnen, Röhren u. s. w. Die Maschine, in der Stärke von 4 Pferdekraft, ist eine doppelte, d. h. sie hat 2 Cylinder von je 24 Zoll Durchmesser. Bei 170-180° R. betreibt sie sechs Schnellpressen von König & Bauer, darunter vier doppelte, sehr bequem, und es ist eine wahre Freude zu sehen, in welcher Gleichmäßigkeit, Accuratesse und Schönheit die Bogen der Gartenlaube daraus hervorfliegen. Die Leistung kann erhöht und die heiße Luft ohne Gefahr bis auf 250° R. gespannt werden. Der Brennmaterialverbrauch beträgt, im Maximum von 13 Stunden, 4 sächsische oder 8 berliner Scheffel leichte Gascoaks. Im gewöhnlichen Betrieb ersetzt die Maschine die Arbeit von 15–18 Menschen; ihren Ankaufspreis ohne Transmission etc. auf 1500 Thaler berechnet, läßt sich nunmehr sehr leicht das Facit der Betriebskosten und der Ersparnisse ziehen.

Die nunmehrige Construction der calorischen Maschine ist die folgende, einerlei, ob dieselbe einfach oder doppelt sei. In dem Cylinder arbeiten zwei Kolben, von welchen der eine, der Arbeitskolben, mit zwei Ventilen zur Lufteinsaugung und Ausstoßung versehen ist und vermittelst des auf ihn wirkenden Ueberdrucks der heißen Luft die Betriebswelle in Bewegung setzt. Der zweite, der Speisekolben, hat mit der Bewegungsübertragung Nichts zu thun, sondern er dient nur dem Arbeitskolben zum Schutz gegen die directe Wärmewirkung der Feuerwand, so wie er auch durch seine pumpende Wirkung beim Zurückgehen das Ventil öffnet, welches die frische Luft zuläßt. Zur Erreichung des ersteren Zwecks besteht der Kern des Speisekolbens aus Holz und Kohlenpulver in einer dünnen Metallhülse; er geht nicht so dicht in dem Cylinder, wie der Arbeitskolben, zu dessen Dichtung eine einfache Lederung, die mit Talg geschmiert ist, völlig hinreicht. Nach der Seite der Feuerung hin ist der Cylinder durch eine mit Chamotte ausgekleidete Wand, welche zugleich diejenige des Ofens bildet, verschlossen, auf der andern Seite hingegen ist er offen, mit der Luft in Verbindung. Einen wichtigen Theil bildet bei einfachen Maschinen das Schwungrad, von besonderer Schwere und mittelst eingegossenen Bleies auf seinem Kranze ungleich belastet. An der inneren Seite des letzteren hat es Einschnitte, in die ein Hebelwerk greift, so daß damit beim Beginn der Arbeit der Schwerpunkt des Schwungrads etwas über den Gipfel seiner Peripherie hinausgerückt werden kann, worauf dasselbe sofort in regelmäßigen Umschwung tritt. Bei einer doppelten [807] Maschine jedoch ist der Kranz des Schwungrads gleich schwer. Die heiße Luft wirkt in der calorischen Maschine nicht direct auf den Kolben, wie der Dampf in der Dampfmaschine, sondern in entgegengesetzter Weise. Bei dem Rückgang des Speisekolbens in größerer Geschwindigkeit, als des Arbeitskolbens, wird die verbrauchte heiße Luft durch das eine Ventil im Arbeitskolben entfernt; dasselbe schließt sich wieder, ehe der Speisekolben am Ende seines Laufs ist, so daß die übrig gebliebene heiße Luft zusammengepreßt wird und das stählerne Ringventil über dem Kranze des Speisekolbens schließt, welches ungefähr die Stelle des Schiebers bei der Dampfmaschine vertritt. Rings an seinem Rande hat der Speisekolben schräge Einschnitte von etwa 2 Zoll Breite und 1/4 Zoll Tiefe, durch welche die Luft von der einen auf die andere Seite des Kolbens passirt, wenn das Ringventil offen ist. Indem sich nun der Speisekolben rasch von dem Arbeitskolben entfernt, bildet sich zwischen beiden eine Art leerer Raum, wodurch die Ventile des Arbeitskolbens sich öffnen und atmosphärische Luft mit hinreichendem Druck zwischen beide Kolben tritt. Auf diese Weise wird stets die Zufuhr frischer Luft ganz leicht ermöglicht. Bewegt sich hingegen der Speisekolben dem Arbeitskolben entgegen, so wird nach dem Schluß der Ventile in letzterem die Luft zwischen beiden so zusammengepreßt, daß der Stahlring des Speisekolbens sich verschiebt, wodurch dann die frische Luft durch die Einschnitte des letzteren zwischen den Boden des Speisekolbens in die Feuerwand tritt. Von der letzteren empfängt sie sofort durch Strahlung Wärme und Ausdehnungsvermögen, das Stahlringventil des Speisekolbens drückt sich wieder zu, und beide Kolben werden nunmehr mit gleicher Kraft nach vorwärts getrieben, worauf sodann der ganze Vorgang wieder von Neuem beginnt.– Wir wissen nicht, ob wir in dieser möglichst zusammengedrängten Beschreibung so klar gewesen sind, wie wir wünschen, hoffen indessen, daß dieselbe genügen werde, um dem werthen Leser wenigstens ein ungefähres Bild von der Thätigkeit der calorischen Maschine zu verschaffen.

Wenn eine neue Maschine sich so rasch Geltung verschafft, wie der calorischen gelungen ist, so müssen ganz besondere Gründe dafür vorhanden sein. In der That lassen sich derselben folgende Vorzüge gegenüber der Dampfmaschine vindiciren.

1) Brennmaterialersparniß. Diese beläuft sich, übereinstimmenden Urtheilen und Erfahrungen nach, auf zwei Drittheile, ein nicht genug zu beachtender Vortheil, zumal die abgehende Wärme bequem zur Heizung von vielerlei Räumlichkeiten verwendet werden kann. Auch das Anfeuern der calorischen Maschine dauert nicht so lange, wie bei der Dampfmaschine, und geschieht in höchstens einer halben Stunde.

2) Sie erfordert zur Aufstellung nur einen sehr geringen Raum und gar keine Baulichkeiten, weder Kesselhäuser und hohe Schornsteine, noch Brunnen. Jede gewöhnliche Rauchesse kann den abgehenden Rauch weiter führen.

3) Sie ist völlig gefahrlos; da Kessel und Wasser wegfallen, so ist an eine Explosion nicht zu denken. Ebenso ist sie nicht feuergefährlicher, als jeder Zimmerofen. Deshalb bedarf es zu ihrer Aufstellung und Ingangbringung weder der obrigkeitlichen Concession, noch der Prüfung, noch der polizeilichen Ueberwachung, und damit ist der Besitzer einer Masse von Chicanen überhoben, an welchen bekanntlich der Dampfmaschineneigenthümer stets an der Kette liegt.

4) Die Wartung ist so einfach, daß jeder Arbeiter sie sofort übernehmen kann und es keines gelernten Feuermanns dazu bedarf; ebenso ist die Unterhaltung leicht, und der Gang wird nicht wie bei der Dampfmaschine, durch Kesselräumung u. s. w. unterbrochen

5) Die calorische Maschine läßt sich leicht von einem Orte zum andern transportiren und kann auch wahrscheinlich gleich als transportable Maschine eingerichtet werden.

6) Sie arbeitet gleichmäßiger als eine Dampfmaschine von der nämlichen Pferdekraft und ist, besonders in kleinen Dimensionen, wo die letztere am meisten zu wünschen übrig läßt, effectreicher als diese.

Den aufgezählten bedeutenden Vorzügen treten allerdings einige Nachtheile entgegen, welche wir, um gerecht zu sein, nicht verschweigen dürfen. Dahin gehört, daß es bis jetzt noch nicht gelungen ist, stärkere calorische Maschinen als von 6 Pferdekraft zu construiren, und dies auch schwerlich gelingen wird, weil es unmöglich ist, bei einem größeren Cylinderdurchmesser, als 32 Zoll, die Dichtheit des Kolbengangs auf längere Zeit hin zu garantiren. Die öftere Abnutzung des Speisekolbens ist ebenfalls ein Uebelstand, glücklicherweise ist derselbe aber leicht und wohlfeil zu repariren. Dagegen muß das Geräusch, welches die Maschine durch das Spiel ihrer Federhebel, Ventile u. s. w. verursacht, allerdings lästig genannt werden; inzwischen ist es schon durch geschickte Metallcombinationen theilweise beseitigt worden. Daß die Feuerungseinrichtung noch eine ziemlich unvollkommene ist, wollen wir als Nebensache gelten lassen; jedenfalls wird es immer wünschenswerth bleiben, die verbrauchte heiße Luft mindestens theilweise wieder zur Speisung der Flammen zu verwenden.

Die calorische Maschine will und wird die Dampfmaschine zwar nicht ersetzen, dahingegen wird sie ein wichtiges Glied in der großen Kette der Hülfsmittel menschlicher Industrie bilden, indem sie da helfend und fördernd eintritt, wo nur eine geringe Anzahl von Menschenkräften durch die mechanische Kraft ersetzt werden soll. Je kleiner die Kraft, um so theurer, unvortheilhafter arbeiten die Dampfmaschinen; umgekehrt ist es bei den calorischen Maschinen, in welchen die Kunst, das Handwerk, das Gewerbe nunmehr das langersehnte Mittel erhalten haben, sich zur Industrie empor zu schwingen und erfolgreich mit dem Capital des Fabrikanten zu concurriren. Für Buchdruckereien, lithographische Anstalten, Schusterwerkstätten, Drehereien, Schleifereien, für Pumpwerke, Eisengießereien, Poliranstalten etc. wird inskünftig die calorische Maschine das bevorzugte Triebwerk sein, und von ihrer Einführung an wird der Aufschwung dieser Gewerbe datiren. Ebenso derjenige der Landwirtschaft. Dieser hatte es bisher, namentlich in Deutschland, an einer billigen und gefahrlosen Bewegungskraft gemangelt, wie ihr Betrieb dieselbe verlangt. Dem Gebrauch der transportablen Dampfmaschinen setzten sich theils die hohen Unterhaltungskosten, theils die verkehrten und verrotteten Ansichten der Feuerpolizei und der Versicherungsgesellschaften entgegen. Keiner dieser Einwände kann gegen die calorische Maschine erhoben werden; sie ist für den Landwirth eine Bürgschaft besserer Zukunft. Und gern unterschreiben wir das Urtheil der Amerikaner, wenn sie über dieselbe sagen: „Eine Maschine, welche die Handarbeit des Menschen für jährlich 25 Dollars verrichtet und dabei fünfmal weniger kostet, als ein Negersclave, welche ihren Besitzer niemals ärgert, ihm nie davonläuft, keine Arbeit versagt und nicht mit Aufruhr gegen die Arbeitgeber droht, eine solche Arbeitskraft ist dazu berufen, in der kürzesten Zeit alle Maschinen und Geräthe des Ackerbaues in Bewegung zu setzen, dem Menschen alle unreinlichen, gesundheitsschädlichen und gefährlichen Verrichtungen abzunehmen, die kostspielige Sclavenarbeit gänzlich aufzuheben und die Sclaven-Halter zum Nachdenken zu zwingen, wie sie ihre armen, gepeinigten schwarzen Brüder am schnellsten los werden. Und dazu berufen ist die calorische Maschine.“ –




Die materiellen Grundlagen des menschlichen Lebens und Verstandes.

Der Mensch ist nicht blos ein lebendes, sondern auch ein verständiges Wesen. Um beides sein zu können, bedarf er ebensowohl eines Apparates für das Leben, wie auch eines solchen für den Verstand. Von dem Zustande dieser Apparate hängt natürlich der Zustand des Lebens und des Verstandes ab; der Verstand wird, wie sich von selbst versteht, nicht ohne Leben im menschlichen Körper existiren können, wohl aber kann der menschliche Körper leben, ohne Verstand zu haben. Im letztern Falle vegetirt der Mensch gleich einer Pflanze (einem lebenden, organischen Körper ohne Verstandesorgan), und gleicht nicht etwa einem Thiere, da die Thiere ein derartiges Organ, nur nach ihrer höhern oder tiefern Stellung im Thierreiche in verschiedener Vollkommenheit und sonach auch mit verschiedener Verstandesthätigkeit, besitzen (s. Gartenlaube 1860, Nr. 9 und 10).

[808] Der Lebens-Apparat besteht aus einer Anzahl von Organen, von denen ein jedes einem besondern Zwecke dient, alle zusammen aber zur Unterhaltung des Stoffwechsels (der Vegetation, Ernährung) vorhanden sind (s. Gartenl. 1854, Nr. 9). Diese Organe sind: die Verdauungs-, Athmungs-, Blutlaufs-, Blutbildungs- und Blutreinigungs-Organe; also hauptsächlich: Magen und Darmcanal (s. Gartenl. 1853, Nr. 22[WS 1]), Lungen (s. Gartenl. 1853, Nr. 16), Herz und Adern (s. Gartenl. 1853, Nr. 9), Haut (s. Gartenl. 1854, Nr. 44), Leber (s. Gartenl. 1856, Nr. 27), Milz und Nieren. – Zum Verstandes-Apparate gehört dagegen: das Gehirn mit seinen Empfindungs- und Bewegungsnerven (Hirnnerven), die Sinnes- und Sprachorgane, sowie die willkürlichen Muskeln. Diese Verstandesorgane bedürfen natürlich, wenn sie gehörig thätig sein sollen, ebenso gut, wie die vegetativen Organe, einer richtigen Ernährung. Diese kann aber nur dann eine richtige sein, wenn beim nöthigen Wechsel zwischen Thätigsein und Ruhen dieser Organe in denselben immerfort neue Organsubstanz angebildet und die alte abgebrauchte weggeführt wird. Dies hat nun das Blut (s. Gartenl. 1853, Nr. 45) zu besorgen, welches fortwährend alle die die verschiedenen Körpertheile zusammensetzenden Materien (s. Gartenl. 1853, Nr. 32) durch die Nahrung mit Hülfe des Verdauungsapparates zugeführt bekommt, die alten abgestorbenen Organtheilchen (Gewebsschlacken) aber durch Lunge, Leber, Haut und Nieren aus sich herauswirft. Um sich aber mausern, verjüngen und reinigen, den Körper also ernähren zu können, muß das Blut immerfort durch alle Theile des Körpers hindurchströmen (d. i. der Blutumlauf, s. Gartenl. 1853, Nr. 9) und durchaus ununterbrochen Sauerstoff (Lebensluft) aus der atmosphärischen Luft aufnehmen. Dem letztern Zwecke dienen die Lungen, dem erstern das Herz und die Blutröhren. – Wer also gute Lebens- und Verstandesapparate haben will, muß für ordentliche Ernährung, Thätigkeit und Ruhe derselben Sorge tragen.

Die Lebens- wie Verstandesapparate sind nun aber, selbst wenn sie ihre naturgemäße Zusammensetzung und Form haben, nicht etwa aus eigenem Antriebe thätig, sondern sie bedürfen einestheils der Anregung zum Thätigsein, anderntheils der Speisung zum fernern Fortbestehen, sonach der Zufuhr von Erregungs- und Erhaltungsmitteln. Für die Thätigkeit der Lebensorgane (und insofern als durch diese der Verstandesapparat ernährt wird, auch für das Bestehen der Verstandesorgane) sind die sogen. Lebensbedingungen und Lebensreize, wie Wasser, Nahrung, Luft, Wärme und Licht, Elektricität u. s. f. unentbehrlich; dagegen braucht der Verstandesapparat, wenn er den Verstand entwickeln soll, noch eine besondere Verstandesnahrung, und diese besteht in den Eindrücken, welche die Außenwelt und unser eigenes Ich mit Hülfe zuleitender Nervenröhren auf unser Gehirn machen. – Daß Jemand nicht leben kann, dem Speise und Trank, Luft und Wärme entzogen werden, weiß jedes Kind; daß aber der Verstand sich nicht entwickeln kann, wenn dem Gehirne nicht die gehörige Verstandesspeise (durch Schrift und Wort, durch Vorbilder zur Nachahmung, durch Naturkörper und Naturerscheinungen) zugeführt wird, wollen Viele noch nicht einsehen. – Nach der Art der Anregung und Speisung muß natürlich die Thätigkeit im Lebens- wie Verstandesapparate verschieden vor sich gehen. Widernatürliche Reizung und Speisung des Lebensapparates ruft Unordnung in den Lebenserscheinungen (Krankheit) hervor; ungeeignete Eindrücke auf den Verstandesapparat erzeugen Unverstand. Es ist das größte Unglück in der Jetztzeit, daß Eltern und Erzieher dem Aberglauben huldigen, daß der Verstand angeboren und daß er mit den Jahren schon von selbst kommen werde. Die Folge davon ist, daß sie es dem Zufalle überlassen, ob diese oder jene Verstandesspeise dem Gehirne ihrer Pfleglinge zugeführt wird, während sie doch durch richtige Wahl derselben einen gesunden Verstand zu bilden im Stande wären.

Die Lebens- wie Verstandesnahrung wird nicht sofort und unmittelbar in den Mittelpunkt des Lebens- und Verstandesapparats (also in das Blut und Gehirn) eingeführt, sondern durch röhrenförmige Zubringer (Lymphgefäße und Nervenröhren) dahin gebracht. Die wichtigsten Zubringer der Lebens- wie Verstandesspeise, und das sind die, welche von der Außenwelt die Nahrung beziehen, besitzen ganz besondere Aufnahme-Apparate. Zur Aufnahme der Lebensnahrung sind der Verdauungs- und Athmungsapparat, zum Fassen der Verstandesnahrung die Sinnesorgane vorhanden. Von den erstern wird dann die Nahrung aus dem Verdauungsapparate durch die Milchsaftgefäße und aus den Lungenbläschen in das Blut, von den letztern durch die Sinnesnerven zum Gehirn geschafft. Aus unserm eigenen Körper, und zwar von allen Theilen desselben her, bringen die Saugadern Lebensspeise, die Empfindungsnerven dagegen Verstandesnahrung (die übrigens beide erst der Außenweltsnahrung ihre Existenz verdanken) zum Lebens- und Verstandescentrum, nämlich Lymphe in das Blut und Eigengefühle zum Gehirn. – Hiernach reicht es also nicht hin, um zu leben und verständig zu sein, nur gute Lebens- und Verstandesapparate zu besitzen, sowie richtige Nahrung für dieselben zu beschaffen; es müssen durchaus auch die die Nahrung aufnehmenden und in’s Blut und Gehirn führenden Apparate in der gehörigen Ordnung sein. Bei Krankheiten des Verdauungs- und Athmungsapparates wird das Leben, bei Störungen in den Sinnesorganen der Verstand benachtheiligt werden. Taube und Blinde können niemals den Verstand wie Solche, die Herren aller ihrer Sinne sind, erreichen; Lungen- und Magenkranke werden stets an körperlichem Wohlsein herunterkommen.

Was nun von Nahrung durch die Zubringer in den Mittelpunkt des Lebens- und Verstandesapparats geschafft wurde, wird hier zum weitern Verbrauche (der in Erhaltung des Lebens und Bildung des Verstandes besteht) erst noch verarbeitet, und dies geschieht in beiden Apparaten mit Hülfe von bestimmten chemischen Materien und von Bläschen oder Zellen. So wird der Lebens- oder leibliche Speisesaft im Blute durch den eingeathmeten Sauerstoff mit Betheiligung der Blutkörperchen zur Gewebs-Bildung vorgerichtet, während im Gehirne die Gefühls- und Sinneseindrücke durch die Hirnzellen in Verbindung mit phosphorhaltigem Fette zu Vorstellungen, Begriffen, Urtheilen und Schlüssen, also zu Gedanken verarbeitet werden. Dieses Verarbeiten der Lebens- wie Verstandesnahrung geschieht aber um so leichter und besser, je reger das Zellenleben (der Blutkörperchen und Hirnzellen) vor sich geht. Für das Blut würde in dieser Beziehung alles, was die Circulation desselben recht flott und regelrecht erhält, vom größten Vortheil sein (besonders zweckmäßige Bewegungen); für das Gehirn dagegen ist natürlich stets, neben tüchtiger Ernährung und dem Thätigsein gehörig angepaßter Ruhe, eine wohlgeordnete Uebung, wie sie eine zeitgemäße Erziehung vorschreibt, unentbehrlich. Daß die allermeisten Menschen noch nicht so verständig sind, als sie sein könnten und sollten, liegt nur daran, daß man die Verarbeitung der Verstandesnahrung im Gehirn viel zu viel dem Einzelnen selbst und dem Zufalle überläßt, während eigentlich doch jeder Mensch von seiner ersten Kindheit an von Seiten vernünftiger Erzieher ebensowohl eine gesunde Verstandesspeise, wie die Anleitung zur richtigen Verarbeitung derselben erhalten müßte. Sollte dies einstens noch einmal geschehen, woran wohl nicht zu zweifeln ist, dann wird man sicherlich nicht so viel dumme und schlechte Menschen auf Gottes schöner Erde herumstolziren sehen, wie jetzt. Ebenso werden einst auch nicht mehr solche Unmassen von Kranken und Krüppeln existiren können, wenn in Haus und Schule die Lebens- und Gesundheits-Gesetze gehörig gelehrt und dann gekannt, auch besser befolgt werden, als zur Zeit.

Nach der Verarbeitung der Lebensnahrung im Blute und der Berstandesspeise im Gehirne werden dann Beide zu ihrem bestimmten Zwecke verwendet, nämlich zur Unterhaltung des Lebens und zum verständigen Thun. Die erstere wird mit dem Blutstrome durch die Blutröhren nach allen Theilen, Organen und Geweben unseres Körpers geschafft, dringt hier theilweise durch die äußerst dünnen Wände der feinsten Haargefäßchen heraus, verläßt also das Blut und wird nun innerhalb unserer Körpersubstanz zur Ernährung (zum Stoffwechsel, Leben) derselben verbraucht, was mit Hülfe der Zellen-Bildung geschieht. Der Wille des Menschen hat hierauf keinen directen Einfluß, wohl aber kann Jeder durch sein Verhalten diesen Stoffwechsel in seinem Vorsichgehen eben so fördern wie stören. Die zu Gedanken verarbeitete Verstandesspeise wird durch Nervenröhren nach Bewegungs-Apparaten geleitet, welche dadurch und zwar nach unserm Willen in Thätigkeit versetzt werden und auf diese Weise verständiges Handeln in die Erscheinung bringen können. Zu diesen Apparaten gehört der Stimm- und Sprachapparat, wie überhaupt das willkürliche Muskelsystem, zumal der Muskelapparat der Hand und des Armes. – Es versteht sich übrigens wohl von selbst, daß nach der bessern [809] oder schlechtern Verarbeitung der Verstandesspeise im Gehirn auch das daraus hervorgehende Handeln ein mehr oder weniger verständiges sein wird. Ebenso muß ganz natürlich der Zustand des den Verstand offenbarenden Bewegungsorgans (an den Enden der im Gehirne wurzelnden Nervenröhren) Einfluß darauf äußern. So könnte z. B. auch der Verständigste nicht durch die Rede wirken, wenn sein Sprachapparat mangelhaft wäre, während er durch die Schrift Großes zu leisten im Stande ist u. s. f.

Was folgt nun aus diesem Vergleiche des Lebens- mit dem Verstandes-Processe? Es folgt daraus, daß, wer ein gesundes Leben und einen richtigen Verstand haben will, zuvörderst die Apparate seines Körpers, welche dem einen oder dem andern dieser Zwecke dienen, den Naturgesetzen gemäß behandeln, also richtig ernähren, gehörig thätig sein und ordentlich ruhen lassen muß; daß er ihnen ferner die passenden Erregungs- und Speisungs-Mittel (mit Hülfe gesunder Zubringer) zuführen und deren Verarbeitung im Lebens- und Verstandescentrum (Blut und Gehirn) zweckmäßig fördern muß; daß er schließlich den Austritt des durch die Verarbeitung dieser Mittel Geschaffenen aus dem Verarbeitungsorgane so viel als möglich erleichtern muß, damit sich das Leben und der Verstand recht ordentlich äußern könne.

Bock.




Berliner Bilder.
Von E. Kossak.
Nr. 11. Der Zauberer von Berlin.

Jeder Mensch beobachtet und zieht nach seinen geistigen Anlagen aus den angestellten Beobachtungen Resultate. Aber dieser innerliche Proceß geht nur selten mit mehrerer Geschwindigkeit vor sich, und die Mehrzahl der Menschen braucht längere Zeit, ehe sie mit den sittlichen Resultaten zu Stande kommt. Daher liebt sie es, zur unterhaltenden und belehrenden Beobachtung meistens solche Persönlichkeiten auszusuchen, welche leicht und häufig der Besichtigung ausgesetzt sind und sich derselben nicht wohl entziehen können. So kommt es, daß Jedermann zunächst seine Aufmerksamkeit auf die Nachbarschaft richtet, seine Lebenserfahrungen aus ihrer Geschichte sammelt, seinen Humor an ihrem Gebahren labt und sein Album mit ihren Gestalten bereichert. Dagegen ließe sich nun nichts einwenden, wenn nicht sehr Viele, namentlich Beobachter weiblichen Geschlechtes, weiter gingen und der lockenden Versuchung erlägen, sich in fremde Schicksale zu mischen und die Handlungen ihrer Nachbaren einer in der Regel ätzenden Kritik zu unterwerfen, welche nach dem traurigen Laufe dieser mangelhaften Welt nicht selten Schimpfworte, Handgreiflichkeiten und Injurienprocesse im Gefolge hat.

Dieser ein wenig philosophisch aussehende Satz mußte vorausgeschickt werden, da die folgende wahrhafte Geschichte wesentlich auf einer derartigen Beobachtung beruht und die Gefahr nahe lag, sämmtliche darin vorkommende Personen durch etwaige mißliebige Kritik zu kränken; der Chronist hat sich daher so viel als möglich auf einfache Berichterstattung beschränkt, überläßt dem Leser die höhere Kritik und ist zufrieden, ein anspruchsloses Genrebild aus dem Leben aufgerollt zu haben.

Wenn das Wetter günstig ist, liebe ich es, Morgens und Abends den Kopf aus dem Fenster zu stecken und alle anziehenden Gegenstände zu beobachten, welche jede Straße einer großen Stadt darbietet. Ich besichtige die Wetterfahnen und den aufsteigenden Rauch der Schornsteine, die Jungen, wenn sie nach der Schule gehen und sich unter einander prügeln, die Milchkarren mit ihrem Vorspann von verdrießlichen Hunden, die Bäckerburschen mit Körben voller Semmeln am Arm, namentlich aber die Bevölkerung des benachbarten Hauses. Im Verlaufe der Jahre hatte ich zwei seiner Einwohner sogar so lieb gewonnen, wie ein Naturforscher seine Magnetnadel, sein Barometer oder Thermometer, täglich ruhten meine Augen mit Wohlgefallen auf ihnen, und ich fühlte mich verstimmt, wenn ich nicht wenigstens eines dieser beiden Exemplare ansichtig wurde.

Der Aeltere von ihnen bewohnte ein Zimmer im zweiten Stock und brachte einen beträchtlichen Theil des Tages damit zu, aus dem Fenster zu sehen und aus einer langen Pfeife zu rauchen. Doch that er Beides mit dem Zartgefühl eines gebildeten Mannes, er widerstand heroisch der Versuchung, auf die Köpfe der Vorübergehenden zu spucken oder die Pfeife über ihnen auszuklopfen, was ledige Herren so gerne thun, wenn kein Polizeibeamter sich in der Nähe aufhält. Der Herr konnte etwa ein halbes Jahrhundert erlebt haben, trug einen gut unterhaltenen Schnurr- und Knebelbart, und bedeckte seinen kahlen Scheitel vorsichtig mit dem Haarwuchs des Hinterkopfes. Unverkennbar gehörte er zu jenen biedern Militairpersonen, die in der tiefen Muße eines langen Friedens über Vieles nachgedacht haben und endlich zu der Ueberzeugung gelangt sind, daß aus einem wohlverdienten Krieger nothwendiger Weise ein Philosoph werden müsse. Auf seiner bleichen melancholischen Stirn lag etwas Nachdenkliches, jene Wolke, welche wir nicht selten im Antlitz alter, nicht sonderlich wissenschaftlicher Herren bemerken, wenn sie sich, um doch irgend eine Beschäftigung zu haben, auf die unklarsten Dinge legen, und in Magnetismus, Od und Tischrückerei arbeiten. Die Schwermuth meines Nachbars zeigte aber noch einen auf minder sublime Sorgen deutenden Anstrich; er sah aus wie ein Mann, der nicht im Golde sitzt und, um nicht elendiglich zu verkommen, das Seinige ängstlich zu Rathe halten müsse. Er besaß nur wenige Röcke und bediente sich ihrer sehr lange, auf seinen Hüten leuchtete ein poetisches Abendroth, er trug sich ferner stets diplomatisch zugeknöpft, und in der heißen Jahreszeit ältere phantastische Sommerröcke, aber dessen ungeachtet blieb er immer ein stattlicher Mann von grader Haltung und von vornehmem Wesen.

Einen Stock höher wohnte gleichfalls in einem vereinzelten Gemach ein junger Mann zur Miethe, dessen Profession aus jeder seiner Gebehrden, aus der Art, wie er ging, stand, aus dem Dachfenster sah und die Aufmerksamkeit der Menschheit in Anspruch nahm, hervorging. Auch wenn man ihn Morgens nicht mit der schwarzen Tasche unter dem linken Arme aus der Hausthür treten und mit einem kühnen Satz über den Rinnstein springen, während dessen aber der Conditormamsell gegenüber eine flüchtige Kußhand zuwerfen sah, mußte man ihn nach seiner gewählten Haltung für einen Schüler Figaro’s bewundern. Hatte mich am Morgen der Anblick des schnurrbärtigen Herren mit poetischer Schwermuth erfüllt, so erquicke ich mich Abends an dem lebensfrischen Bilde dieses Jünglings, wenn er nach dem Schluß seiner Berufsthätigkeit mit einer Guitarre im Arme dicht unter dem Dache auf dem Fensterbrete saß, und die Hauptmotive der eben beliebten Oper sang. Beide Herren bildeten auch in socialer Hinsicht große Gegensätze. Wenn der wehmuthsvolle Kahlkopf einsam von einer kleinen Pension leben mochte, so nährte sich der Jüngling mitten in der Gesellschaft durch die Dienste, welche er von früh bis spät dem menschlichen Geschlechte erwies. Da er das Barbierexamen hinter sich, aber kein Geld hatte, um sich zu etabliren, so trieb er ein fliegendes Geschäft, freilich hinter dem Rücken des Gewerberathes und ganz wider die Gesetze des Zunftzwanges. Er rasirte, frisirte, zog Zähne aus und verkittete sie, falls Rettung noch möglich war, setzte Blutegel, schröpfte, ließ zur Ader, verband die in Bierhäusern Blessirten, legte Magenpflaster, beschnitt die Hühneraugen, und genoß das Vertrauen eines Schönlein oder Frerich bei der gesammten dienenden Classe des Reviers. Ich hatte seine Bekanntschaft gemacht, als ich in Folge einer unerwarteten, nicht wohl abzulehnenden Einladung von vornehmer Seite sein Talent als Friseur in Anspruch zu nehmen genöthigt war, und in ihm eine seltene Begabung für Haarschnitt und verwegene Kräuselei entdeckte. Von diesem Abende an bediente ich mich stets seiner leichten und sicheren Hand, und verdankte ihm außerdem eine Menge des merkwürdigsten Memoirenstoffes aus unserer Gegend, über den er mir frei zu disponiren gestattete, da ihm die moderne Pedanterie der Lehre vom geistigen Eigenthum durchaus fremd war. Selbst als ich wegen Vergrößerung meiner Familie in eine entfernte freundlichere Stadtgegend zog, blieb ich ihm treu, und bei Gelegenheit von Bällen und Gesellschaften waren die Meinigen stets mit seinen Leistungen im Felde des Haarputzes außerordentlich zufrieden.

[810] Inzwischen hatte ich den anderen Nachbar, dessen Namen ich bisher aus Bequemlichkeit verschwiegen habe, da er sich schwer aussprechen und nur vorsichtig niederschreiben läßt, ganz aus den Augen verloren und über einer längeren Sommerreise beinahe vergessen. Als ich aber wenige Tage nach meiner Heimkehr um die Abendstunde, in welcher die Equipagenbesitzer frische Luft zu schöpfen pflegen, vor meiner Thür saß, und das elegante Berlin im Thiergarten die Revue passiren ließ, sollte ich auf die unerwartetste Weise an ihn erinnert werden. Eben fand ein lebhafteres Gedränge der Equipagen statt, und dicht vor mir mußte ein anständiger Halbwagen still halten, in dem ich Herrn Mansuetus von Sczkrippinski erblickte. Aber welche glänzende Veränderung war mit ihm vorgegangen! Der sorgenvolle Ausdruck seiner Gesichtszüge hatte einem stillen Behagen Platz gemacht, wie es sich für einen Mann schickt, der an seinem eigenen Tische speist und über einen vollständig eingerichteten Weinkeller disponirt. Mansuetus, wie ich ihn billiger und kurzer Weise als alten Bekannten wohl nennen darf, war in eine elegante Sommertracht aus einem hellgrauen Stoffe gehüllt und abwärts durch eine gestickte feinwollene Decke gegen die kühle Abendluft geschützt. Sein edles Haupt hatte er mit einem Panamahute feinster Qualität und seine etwas großen Pfötchen mit Pariser Handschuhen von Jouvin bedeckt; sein Aeußeres entsprach mithin allen Anforderungen eines guten Geschmackes. Ich hätte das Ganze für eine jener unheimlichen Gesichtstäuschungen halten können, vor denen Niemand sicher ist, wenn mir nicht eine zur Rechten Mansueti sitzende ältere Dame sofort den Zusammenhang erklärt hätte. Ich that ihr wohl nicht Unrecht, wenn ich sie für ein längere Zeit unverheiratet gebliebenes, wohlhabendes „junges Mädchen“ hielt, das mit Herrn von Sczkrippinski ein Eheverhältniß eingegangen war, und ihm für den Genuß seines adligen Namens die Theilnahme an ihren reichlichen irdischen Gütern gestattete. Auch aus der Haltung und dem Aussehen der Frau von Sczkrippinska ging hervor, daß die stillen Wünsche eines sehnsüchtigen Herzens befriedigt waren, und die Dame in ihrem jungen Ehestande sich ganz glücklich fühlte. Allerdings hatte sie die Vergilbtheit, eine Folge der allzu langen Dauer ihres vestalischen Zustandes, nicht verloren, doch war die bekannte Schärfe der Opposition gegen das undankbare männliche Geschlecht, welche aus den meisten Gesichtern unverehelichter überreifer Damen spricht, einer gelassenen Zufriedenheit gewichen. Man hätte die beiden Portraits gleich als Muster eines guten Ehepaares photographiren lassen können. Die Pferde zogen jetzt an, und das Paar entschwand aus meinem Gesichtskreise; aber meine Neugier war im höchsten Grade erregt. Nur mein freier Künstler, der talentvolle Haarkräusler und Bartkratzer, konnte mir die nöthige Auskunft geben. Sofort warf ich mich an den Schreibtisch und lud ihn ein, meinem in der Fremde arg mißhandelten Haupt- und Barthaar wieder einen kunstgerechten Schnitt zu geben.

Am nächsten Morgen erschien das Factotum aller Barbiere und äußerte auf angemessene Weise seine Freude, mich wiederzusehen. Ich ließ ihn nicht zu Worte kommen.

„Ich habe Sie nicht allein meinetwegen, sondern auch eines alten Bekannten wegen citirt,“ hub ich an; „gestern habe ich Herrn Mansuetus von Sczkrippinski vorbeifahren gesehen ….“

Der Barbier lächelte verschmitzt.

„Neben ihm saß eine Dame, ohne Zweifel seine Gemahlin. Sie müssen den Zusammenhang der Sache kennen!“

„Ob ich ihn kenne!“ sagte schmunzelnd Figaro jun.

„Erzählen Sie mir den ganzen Handel; die Sache ist ja unbegreiflich rasch gegangen.“

„Natürlich, in zwei Monaten war Alles abgemacht, sie sind ein für alle Mal aufgeboten worden und haben am darauf folgenden Sonntage ihre Hochzeit gefeiert.“

„Aber wie war das möglich?“ rief ich staunend.

„Der Zauberei ist Alles möglich, höhere Kräfte der Natur, ohne mich hätten sich die armen Leute niemals kennen gelernt, hätten sie ihr Leben einsam vertrauern müssen. Nun ist Allen geholfen!“ Das Wort „Allen“ betonte der Bader auf eine stark ironisch vergnügliche Weise.

„Soll ich noch lange warten?“

„Sie wissen, daß Herr von Sczkrippinski ein starker Mystiker ist und zu einer kleinen Fraction von Tischrückern und Psychogräphlern gehört, welche sämmtlich kein Geld haben und wöchentlich einmal die polirten Breter und Papptafeln befragen, ob es dem Geisterreiche nicht möglich sei, ihre leidigen Umstände zu verbessern. Wenn ich am Tage darauf zum Rasiren kam, pflegte er mir regelmäßig den Hergang der Geisterbeschwörungen des verflossenen Abends zu erzählen. Etwa vor einem Vierteljahre fand ich ihn einmal Morgens sehr aufgeregt und sein Bein reibend. „Hören Sie, Meister, wie es mir gestern ergangen ist,“ sagte er sehr ernsthaft, „ich war in unserem Club, und wir hatten uns im tiefsten Dunkel um einen Tisch gesetzt. Das Medium hatte uns nämlich angezeigt, Horaz von Forno, ein berüchtigter böser Geist, wolle sich uns ausnahmsweise heute körperlich manifestiren. Wir saßen eine Viertelstunde, eine halbe, eine ganze Stunde mäuschenstill beisammen, aber Horaz ließ sich nicht hören und sehen. Ich saß neben einem Collegen von Ihnen, einem alten Chirurgus, der fortwährend an allen Gliedern bebte und mit den Zähnen klapperte. Er hielt in Todesangst meine Hand fest, dann sagte er plötzlich: „„Ha, ich sehe ihn, dort sitzt er unter dem Tisch, er redet Sie an, er meint, Sie würden in kurzem Ihr Glück durch eine reiche Heirath machen. Jetzt zeigt er mir die Zähne und streckt die Zunge hervor!““ Kaum hatte der Chirurgus ausgesprochen, als unser Vorsteher auch schon rief: „„Sie werden das doch nicht leiden? Rasch, stoßen Sie ihm mit dem Stiefel in die Schnauze; das fehlte noch, daß ich mir in meinem eigenen Hause dergleichen von einem bösen Geiste gefallen ließe.““ – Der Chirurgus holte aus und that nach Horaz von Forno unter dem Tische einen gewaltigen Stoß. Der Geist war augenblicklich verschwunden, wie der Chirurgus sagte, aber ich lag auf dem Fußboden. Der Stoß hatte eigentlich mein Bein getroffen und mich niedergeworfen. Ich schrie laut auf, der Hausknecht kam mit einer Lampe herein, und ich ließ mir eine Droschke holen, da ich unmöglich zu Fuße nach Hause gehen konnte.“ – „Herr von Sczkrippinski,“ sagte ich, „Sie wissen, daß ich über die psychographisch citirten Geister noch nicht recht im Klaren bin und nach Allem, was Sie mir von Horaz von Forno erzählt haben, namentlich ihn für einen sehr unzuverlässigen Charakter halte, aber diesmal hat er eine entschiedene Wahrheit ausgesprochen. Auch mir ist dieser Gedanke vor kurzem durch den Kopf gegangen; Sie müssen ein reiches Frauenzimmer heirathen.“ Herr von Sczkrippinski schmunzelte, meinte aber, daß er vermöge seiner in der Abnahme begriffenen Persönlichkeit auf keinen sonderlichen Erfolg bei bemittelten Damen zu hoffen habe.“

„Der gute Mansuetus ist wirklich ein vernünftiger Mann, ich habe mich nicht in ihm geirrt,“ warf ich halblaut ein, aber mein geistreicher Barbier bemerkte auch nicht ganz übel: „Wenn er mit Ihrer gewöhnlichen Hypochondrie zu Werke gegangen wäre, müßte er sich noch heute mit dreihundert Thalern jährlich behelfen und könnte sich nicht einen gemachten Mann nennen. Nein, die Sache nahm eine andere Wendung. Ich sprach ihm Muth ein und machte ihn darauf aufmerksam, daß Herren vom Militär schon durch ihre geradere Haltung und ihre soldatisch strenge Sorgfalt in der Tracht zehn Jahre länger jung bleiben, als die meisten nachlässigen Civilisten. Das leuchtete ihm ein, und er gestand mir, daß er schon längst sein Auge auf eine würdige, seinen Jahren entsprechende Dame geworfen habe, aber aus Furcht, schmählich abgewiesen zu werden, nicht wage, einen Heirathsantrag zu formuliren. – „Darf man den Namen der Schönen wissen?“ – „Es ist Fräulein Klemke, dort in dem Hause neben der Apotheke, die reiche Rentiere,“ sagte Herr von Sczkrippinski etwas verschämt. Kaum hatte er diesen Namen ausgesprochen, als der Plan, nicht allein den guten Herrn zu verheirathen, sondern auch mir endlich zu einem eigenen Geschäftslocal zu verhelfen, fertig vor meiner Seele stand. „Herr von Sczkrippinski,“ sagte ich, „Sie setzen mich in Erstaunen, ich habe sonst nicht viel von Psychographen und Geistern gehalten, aber hier geht etwas vor, und ich möchte fast glauben, daß die Geister unter dem Tische auch unter einander zusammenhalten. Ich zweifle nicht, daß Sie bei der Dame reüssiren werden, aber lassen Sie mich machen, in einigen Tagen sollen Sie näheren Bescheid erhalten, ich werde Alles anbahnen –““

Bei diesen Worten schwieg der Barbier und sah mich fragend an.

„Warum fahren Sie nicht fort?“ fragte ich erstaunt.

„Kann ich mich ganz auf Sie verlassen? Ich verlange nur, daß Sie noch vierzehn Tage über die Geschichte schweigen, dann dürfen Sie dieselbe Jedermann erzählen, dem sie einigen Spaß macht,“ meinte der College des gleichfalls ungläubigen Bartscheerers im Don Quixote.

[811] „Selbst vierzehn Wochen oder Monate will ich schweigen, wenn es nöthig ist, bringen Sie aber nur Ihre Geschichte zu Ende.“

„Sehen Sie, das reiche alle Fräulein hielt auch viel von dem Psychographen, und ihre Mamsell, übrigens ein hübsches Mädchen, für das ich mich längst interessire, dient ihr als Medium.“

„Nun dachten Sie, wenn ich recht verstehe, daß auch die jungen Leute ausgestattet und verheirathet werden könnten, wenn man nur erst die beiden Alten unter die Haube gebracht hätte, nicht wahr?“

„Finden Sie etwas Unrechtes darin?“

„Durchaus nicht, wenn Alle glücklich geworden sind; aber wie trug sich die Sache weiter zu?“

„Noch an demselben Tage besprach ich mich mit Marien, der Mamsell, und theilte ihr den Wunsch des Herrn von Sczkrippinski mit, wie auch meine Hoffnung, bei der Sache könne für uns Beide etwas herauskommen und sie auf eine gute Art Frau Meisterin werden. Ihr schien das Ganze sehr einleuchtend, und sie versprach mir von Stund an ihre Unterstützung. Brauche ich Ihnen das Nähere zu schildern? Noch an demselben Abende ließ Marie den Psychograpben spielen und theilte ihrer Herrin durch den Mund eines guten Geistes mit, daß ein Herr von Adel für sie im Geheimen schwärme. Für den ersten Abend war dies genug. Das alte Fräulein Klemke hatte eine schlaflose Nacht und konnte kaum den Abend des nächsten Tages erwarten, wo das Verhör des guten Geistes fortgesetzt wurde. Ich hatte Marien gesagt, daß sie den Geist heute schon denunciren lassen könne: der Herr von Adel besuche häufig das Odeum. Damit war schon viel gewonnen, die gute Dame wollte in ihrer Aufregung gleich wissen, wie der Herr heiße, aber das Medium erklärte sich auf meinen vorsichtigen Rath vorläufig noch schwach und inkompetent. Fräulein Klemke ließ sich natürlich nicht abhalten, Nachmittags das Odeum zu besuchen und meinen dort bereits anwesenden Heirathscandidaten zu beäugeln. Am Abend darauf war der Geist schon mittheilsamer, die heirathslustige Dame hatte den Amoroso sich wohl eingeprägt und beschrieb ihn, da er ihr nicht mißfallen, dem Geiste so genau, daß er sofort seinen Namen schriftlich durch das Medium offenbarte. Hätte Fräulein Klemke etwas weniger Vertrauen in die Mittheilungen aus dem Jenseits gesetzt, so wäre die Sache wohl bei dieser Gelegenheit schief abgelaufen.“

„Was geschah denn? Es trat doch nicht ein böser Geist unvermuthet auf, wie es wohl zu geschehen pflegt, und durchkreuzte die Fülle der Gesichte?“ fragte ich besorgt.

„Nein,“ berichtete der Barbier, „das Fräulein hätte der Orthographie wegen leicht Lunte riechen können. Das Medium, das natürlich in den polnischen Familiennamen nicht recht taktfest ist, schrieb den des Herrn von Sczkrippinski immer schlechtweg „Schrippinski“.“

„Und wie verhielt sich Fräulein Klemke dabei?“

„Sie fand den Namen eigentlich nicht recht vornehm, da er sie an ein volksthümliches Gebäck erinnerte, welches Droschkenkutscher und Lehrjungen sehr gerne essen, als aber bald darauf nach gemachter Bekanntschaft der Heirathscandidat zu einer Visite erschien, und seine Karte mit einem stattlichen Wappen und der Inschrift: „Mansuetus von Sczkrippinski“ in das Empfangszimmer sandte, beruhigte sie sich vollständig und verliebte sich nebenbei auch in die wasserpolakische Romantik des Namens.“

„Sie hätte als eine gewiegte Psychogräphin auch schwerlich Argwohn geschöpft, denn die Rechtschreibung fremder Namen, wie überhaupt Kenntnisse in alten und neuen Sprachen, bilden nicht die starke Seite der citirten Geister, und notorische Selige sind in Wissenswürdigkeiten schon hie und da von soliden Quartanern tief verdunkelt worden!“ sagte ich, um die Erinnerung meines Barbiers zu beruhigen.

„Von da an war keine Gefahr mehr vorhanden. Sobald die guten Leutchen einander persönlich kennen gelernt hatten und handelseinig geworden waren, gerieth bei Beiden der Psychograph vollständig in Mißcredit.“

„Doch nicht auch das Medium?“

„Keinesweges. Marie brach eines Abends in Thränen aus und meinte, sie würde nach des Fräuleins Verheirathung wohl das Haus verlassen müssen, diese aber umarmte sie gerührt und versprach ihr, als sie das Geständniß ihrer Neigung zu mir abgelegt hatte, aus Dankbarkeit für ihre Dienste als Medium und treue Kammerzofe eine Aussteuer von fünfhundert Thalern. Nun war uns geholfen.“

„Bewies sich denn nicht der beglückte Heirathscandidat gleichfalls dankbar, denn er sieht mir wirklich zufrieden und fett genug aus?“

„Er hat mir an unserem Hochzeitstage hundert Thaler und außerdem die ewige Erhaltung seiner Kundschaft versprochen!“

„Das ist immerhin etwas, aber wann wird die Hochzeit sein?“

„In vierzehn Tagen, dann können Sie, wie gesagt, die Geschichte Jedermann erzählen.“

„Schade,“ sagte ich nachdenklich, als ich den lustigen Handel angehört hatte, „daß unsere heutigen Barbiere nicht mehr Inschriften und Titel der Geschäfte über den messingenen Becken anbringen; für Sie, mein Lieber, wüßte ich eine unvergleichliche Signatur.“

„Und die wäre?“ rief der Barbier neugierig, indem er meine grauen Mähnenreste von den Rockärmeln klopfte und mir nach Vollendung seines Geschäftes eine wohlgefällige Verbeugung machte.

„Sie müßten über den Becken einen Psychographen befestigen und darauf schreiben: „Zum Zauberer von Berlin“!“




Aus dem Norden.
Von Dr. A. E. Brehm.
I.  Wie man in Norwegen reist.

Wer im alten überbildeten Europa noch reisen will, muß nach Norwegen gehen. Wir Binnenländer reisen schon lange nicht mehr: – wir rasen blos noch. Unsere lauteste Reisefröhlichkeit wird von dem Gerassel der Wagen, welche auf den eisernen Wegen dahinbrausen, übertönt und vernichtet, unsere Reisebehaglichkeit durch den tausendfältigen Jammer der Reise zerstört, unser freier selbstständiger Wille dem Wollen der Masse untergeordnet; wir gehören uns selbst nicht mehr an, wenn wir reisen, denn wir sind Spielball der Andern geworden; wir werden geknechtet und gepeinigt von Dem und Denen, welchen wir zu entfliehen vermeinten. Mit einem Worte: wir wollen nicht mehr, sondern wir müssen. Es ist ganz prächtig, daß man jetzt dieselben Strecken in Stunden durchfliegen kann, durch welche die alte Postschnecke ihr vollgepfropftes Gehäus in langen Tagfahrten schleppte: aber die eigentliche Reiselust, die Reisedichtung hat mit dem Erleben der Eisenbahnen aufgehört, und nur zu tief begründet ist der Stoßseufzer des Dichters:

„O Eisenbahn, was bist Du kommen,
Hast unser Posthorn uns genommen?“

In unseren Tagen muß man es sich schon ein besonderes Trinkgeld kosten lassen, – und ich habe ein solches oft genug gegeben! – wenn man will, daß das alte liebe Posthorn in einer stillen Sommernacht im dunklen Walde wiedertönt und damit jene wohlige Träumerei in der Seele erweckt, welche aus dem Klange im Walde die lieblichsten Bilder zusammen zu weben und den ganzen Menschen so hoch zu beglücken versteht. Und selbst da, wo wir Eisenbahnen und Post zurücklassen und auf schmalen gewundenen Fußpfaden über blumige Wiesen wandeln oder uns in das Dunkel der Wälder versenken, begegnen uns überall die widerwärtigsten Gestalten jener überbildeten Reisemenschen, welche eben nur die große Kunst verstehen, den Rest angeborner Gutmüthigkeit des Landbewohners vollends zu rauben und die Gewinnsucht wach zu rufen.

Kurz, alles gemüthliche Reisen, im Süden und Westen und in der Mitte Europa’s hat geendet. Doch was rede ich noch länger von dem, was ein Jeder schon hundertmal selbst gefühlt hat!

Im Norden Europa’s und vor allem in Norwegen reist man noch. Hier gehört man sich selbst an; hier fühlt man sich selbstständig. Man ist aus allen alten Verhältnissen herausgetreten und frei geworden, so wie man die grüne Halbinsel betritt. Das ist ein Genuß, welchen ich Allen wünschen möchte, welche durch die Verhältnisse an die Scholle gekettet sind und den Kreislauf im Triebrade der Geschäfte jeden Morgen neu beginnen müssen; das [812] ist ein Genuß, den man sich niemals zu theuer erkaufen kann. Eine Reise in Norwegen stärkt Leib und Seele und bleibt ein Gewinn für das ganze Leben. Zwar hat man auch in Norwegen Eisenbahn und Dampfschiff, aber glücklicher Weise noch nicht in den schönsten Gegenden: dort hat man vielmehr die liebe, liebe Landstraße, von welcher mein alter Freund Balduin stets behauptet hat, daß sie für jeden vernünftigen Menschen der schönste Aufenthalt auf dieser Erde sei.

Mit der Post reist man allerdings nicht; und deshalb kann das Reisen in Norwegen Philisterseelen, nervenschwache Frauenzimmer und andere begehrliche Menschenkinder wohl zuweilen zu dem sehnsüchtigen Ausruf verleiten, daß es doch in der Heimath

Im Karrjol, – frische Fahrt.

am schönsten sei. Allein für einen Menschen, welcher Wanderlust im Herzen, Kraft und Saft in den Gliedern, einen hellen Blick und vor allen die Eigenschaft hat, etwas Reiseunbequemlichkeit als Würze des Wanderns zu betrachten, ist Norwegen der geeignetste Ort zum Reisen, den man sich denken kann. Und so sehr unbequem ist das Reisen wirklich nicht. Die Post nimmt Einen freilich nicht mit; denn sie befördert nur den Gedankenaustausch des Menschen, nicht aber den Menschen selbst: dafür aber gibt es in ganz Norwegen die beste Reiseanstalt, die man sich denken kann, nämlich den „Skyds“ (sprich Schyß). Im ganzen Lande findet man Leute, denen die Verpflichtung obliegt, die Reisenden zu befördern, und Höfe, in denen ein Raum für dieselben hergerichtet ist. Für eine fest bestimmte, überall gleich hohe Summe erhält man in diesen Gehöften, Skiften genannt, Pferde und Wagen bis zur nächsten Wechselstelle, entweder sogleich oder auf Bestellung innerhalb einer Frist von 1 bis 3 Stunden, je nachdem die Wechselstelle eine sogenannte feste oder unfeste, d. h. eine solche ist, in welcher der Reisende vorher angesagt werden muß. Dank dieser Anstalt ist man im Stande, in Norwegen in der allergemüthlichsten und lustigsten Weise zu reisen, und zwar zugleich so rasch, als man eben verlangen kann.

Es wird wohl kaum einen Fremden geben, welcher sich mit der herrschenden Einrichtung nicht in der kürzesten Zeit befreunden sollte. Die Unabhängigkeit, die Selbstständigkeit des Einzelnen wird durch sie gewahrt, wie durch keine andere Verkehrsanstalt. Man ist auf der norwegischen Landstraße frei wie der Vogel, welcher ohne bestimmte Landstraße durch die Bläue zieht, frei wie der Wanderbursch, welcher auf gut Glück, aber mit vollem Beutel in die schöne Welt hinaussteuert, ohne sich einen jener unglückseligen Pläne zu machen, mit welchen uns jetzt sogar unsere Reisehandbücher maßregeln und im Lande herum hetzen. Will man rasch reisen: man kann es; will man schlendern, gemächlich fahren, sich der herrlichen Natur nach Herzenslust freuen: man kann es auch; braucht man Obdach vor etwa hereinbrechenden Regengüssen: man findet es; will man reisen und jagen zugleich: ein ewig dienstbarer, stets gegenwärtiger Gefährte führt das Rößlein, während man dem edlen Waidwerk obliegt. Die Hauptwege sind gut, stellenweise sogar sehr gut, weil besser als manche Landstraße im glücklichen Deutschland, welche zum Besten der Rittergüter großer Herren die steilsten Berge hinauf sich schlängelt, anstatt im Thale hinzugehen; der Weg ist immer unterhaltend, bietet bei aller Aehnlichkeit des ganzen Landes immer etwas Neues und Schönes. Das Tosen eines Wasserfalls fesselt unser Ohr: wir halten unser Rößlein an und weiden uns nach Herzenslust an dem prachtvollen Schauspiel und Getön; ein freundlich Gehöft am Wege lockt uns an: wir lenken unser Gefährt durch sein Thor und verplaudern [813] ein Stündchen mit dem Wirthe; ein schattiges Plätzchen fesselt uns: wir haben keine Eile. Oder aber wir stürmen, und das kleine Thier vor unserm Gefährt durchmißt mit uns eine Strecke von 1½ deutschen Meilen in weniger, als einer Stunde Zeit. Kurz, was man thun will, kann man thun; wenn man frei sein will, kann man es in der vollsten Bedeutung des Wortes sein. Dies alles vereinigen die Verkehrsanstalten Norwegens.

Es ist wohl nothwendig, daß wir sie etwas schärfer in’s Auge fassen. Betrachten wir zuerst Roß und Wagen. Das Zugthier Norwegens ist ein kleines ponyartiges, aber munteres, rasches und kräftiges Pferd, welches Ermüdung kaum kennt und dabei fromm und sanft ist, wie ein Lamm. Isabellgelb ist die Hauptfarbe der norwegischen

Auf der Stolkjärre, – etwas in Verlegenheit.

Pferde; doch kommen auch Braune und Rappen vor. Nur auf den sehr stark befahrenen Wegen erhält man abgetriebene Miethgäule. Gewöhnlich sind die Thiere gut genährt und dem entsprechend frisch und lustig. Verwöhnte Pferde gibt es in Norwegen nicht. Der Hafer ist ihnen eine Speise, welche sie nur dann zu sehen bekommen, wenn es kein grünes Futter mehr gibt (so lange dieses vorhanden ist, ernähren die Pferde sich auf freier Weide selbst, oder bekommen im Stalle Heu vorgelegt); der Aufenthalt im Freien stählt sie gegen die Einflüsse der Witterung und macht sie vertraut mit der Natur. Sie schrecken nicht, sie fürchten sich nicht vor Wind, vor Regen, sie erzittern vor keinem Donner, sie prallen nicht zurück, wenn ein Wasserfall plötzlich vor ihnen herabbraust, sie gehen so sicher wie ein Saumthier bergauf und bergab.

Das dem Lande ureigene Reisegefährt ist diesen Pferden ganz angepaßt. Es ist ein merkwürdiger Wagen, das Karrjol, wie der Norweger es nennt; jeder Fremde bedachtet es zuerst mit Lachen und gewinnt es später so lieb, daß er es oft herbei sehnt, wenn er statt seiner die böse Stolkjärre geliefert bekommt und sich auf ihr Stunden ja Tage lang herum schütteln lassen muß, daß ihm fast die Reiselust und Reisefröhlichkeit vergeht. Kein anderer Reisewagen kann so leicht, so zweckmäßig, so bequem sein, wie eben das Karrjol. Auf einer Achse oder eigentlich auf der Gabeldeichsel, ruht ein Sitz, halb Stuhl, halb Kutschkasten, in welchem eben nur ein Reisender Platz hat, und wenn er Mann ist, kaum genug für seine Beine, welche deshalb außen in besonderen eisernen Austritten eingestellt werden. Hinter ihm liegt ein Bret quer über die verlängerten Deichselhölzer, und auf dieses Bret kommt der unvermeidliche Begleiter zu sitzen, wenn der Weg Dies gestattet. Die Deichsel selbst federt und läßt die Unebenheiten des Weges sehr verschwinden; man sitzt leicht und bequem, wenn auch etwas sonderbar und ungewöhnlich darin, so ungewöhnlich, daß ein deutscher Reisender, welcher dies Gefährt in Bewegung, aber nur von fern gesehen hatte, sich zu dem Ausspruch veranlaßt fand: „Die Norweger haben die merkwürdigsten Wagen von der Welt; ich sah einen fahren, der hatte zwei Räder unter sich und das Pferd zwischen den Beinen und fuhr wie der Blitz davon.“ Der Mann hat Recht, von fern gesehen erscheint ein reisender Normann auf seinem Wagen genau in der Lage, welche jener Berichterstatter wahrzunehmen glaubte. Noch eigenthümlicher aber, als er, nimmt sich das schöne Geschlecht im Karrjol aus. Schon der jetzt auch in Norwegen allgemein übliche Reifrock macht Schwierigkeiten, der Sonnen- oder Regenschirm erschwert das Fahren, und das weibliche Ungeschick im Lenken des Wägleins thut häufig genug das Seinige, um einen Schreckensschrei aus dem schönen Mund zu rechtfertigen. Eigentlich muß auch jede Dame selbst ihr Roß lenken, so lange es der dienstbare Begleiter hieran kommen läßt; bei großen Steilungen aber ist das eigenhändige Fahren für Damen eine mißliche Sache, und es ist nur ein Wunder, daß so wenig Unglück dabei geschieht. Gegenwärtig ziehen übrigens die reisenden Damen meistens einen Gesellschaftswagen vor, und man liest deshalb in den Blättern, daß eine Gesellschafterin für irgend eine Reisestrecke gesucht wird, weil ja doch der Weg durch angenehme Unterhaltung möglichst verkürzt und durch eine Gefährtin auch der Kostenpunkt bedeutend ermäßigt wird.

In gleicher Lage, wie eine Dame auf dem Karrjol, befindet sich oft der männliche Reisende, wenn ihm das Schicksal die Stolkjärre bescheert. Dies ist eine Art Wagen, welche mit dem Karrjol die eine Aehnlichkeit hat, daß sie eben auch auf zwei Rädern läuft; im Uebrigen aber ist es ein wahres Ungeheuer von Reisekutsche, eine Marteranstalt für jedes Muttersöhnchen und auch für den Nichtverwöhnten jedenfalls ein höchst unangenehmes Beförderungsmittel. Auf einer Art von Kasten, welche sonst auch zum Einfahren von Früchten benutzt wird, ruht ein bankartiger Sitz, welcher in den meisten Fällen gleich auf dem Kasten angelegt ist, der seinerseits wieder ohne Federn auf der strafferen Deichsel und bezüglich der Achse liegt. Da gelangt denn jeder Stoß unvermindert bis zu dem Körper des Reisenden, und dieser wird so gründlich durchgeschüttelt und durchgewalkt, als man es nur wünschen oder vielmehr nicht wünschen kann. Die bessere, veredelte Stolkjärre ist allerdings bequemer: ihr Sitz hängt in hölzernen oder eisernen Federn, und deshalb empfinden blos die auf den Kasten gestellten Beine das Gerumpele vom Wagen. Allein dieser Federsitz hat auch seine Schattenseiten. Seine Befestigung läßt oft sehr viel zu wünschen übrig, ja sie macht die Fahrt auf der Stolkjärre oft geradezu [814] lebensgefährlich. Dazu kommt, daß der Karren, der niemals gehemmt werden kann, bei Steilungen leicht in Schuß geräth und an dem Geschirr des Pferdes irgend etwas in Unordnung bringt, wodurch dieses trotz seiner Sanftmuth oft in große Aufregung versetzt werden kann. Unter solchen Umständen ist dann die Fahrt mit der Stolkjärre eben nicht erbaulich und, wie bemerkt, wirklich gefährlich. Ein Freund von mir brach sich das Schlüsselbein, indem er plötzlich mit sammt seinem Sitze auf der Erde lag, während der Untertheil des Karrens mit dem Pferde lustig weiter fuhr. Nur einen Vortheil dürfte die Stolkjärre vor dem Karrjol besitzen: sie gewährt eine leichtere, bis auf das durch die Stöße erregte Zähneklappern nicht so oft unterbrochene Unterhaltung mit dem Skydsgut oder dem Begleiter, welcher jedem Reisenden von der Wechselstelle mitgegeben wird, damit er Pferd und Wagen nach ihr zurückbringe.

Auch diesen Mann, oder vielmehr diesen Knaben, müssen wir uns etwas genauer ansehen. Jeder Beruf erzeugt seine eignen Leute, und so auch der, welcher diesen Edlen obliegt, welche den Verkehr der Menschen so wesentlich vermitteln helfen. Der vielfache Umgang mit allerlei Volk hat sie gebildet oder wenigstens gewitzigt; mancher Reisende hat ihnen aus reiner Langweile seine Reiseanekdoten erzählt, die er sonst wegen ihrer vormeidingerschen Beschaffenheit nicht mehr gut anbringen konnte; ein anderer hat sich mit ihnen in ernstere Gespräche eingelassen, und der oder jener Professor hat ihnen wohl gar ein Stück Weltweisheit oder andere Wissenschaften mitgetheilt: kurz, die Leute haben Erziehung genossen und sind als Gebildete zu betrachten und auch darnach zu behandeln. Damit ist noch nicht gesagt, daß sich ihre geistigen Fähigkeiten weit über die ihrer Mitbürger erheben. Sie haben eben einen gewissen Schliff erlangt und verstehen es, sich in die Laune der Reisenden vortrefflich zu schicken, weil sie gelernt haben, daß ihnen doch nur Derjenige ein Trinkgeld verabreicht, dessen Wohlwollen sie sich erworben haben. Hierin beruht wesentlich der Zauber, welcher ihr Betragen gegen den Reisenden regelt. Sie sind sehr artig, dienstfertig, unterhaltend und zuvorkommend gegen Den, welcher ihnen freigebig erscheint; sie sind liebenswürdig gegen das schöne Geschlecht und wissen den tausend Bedürfnissen desselben billig Rechnung zu tragen, ohne jemals die Geduld zu verlieren; sie sind aber auch grob und unverschämt, sobald sie merken, daß ihnen kein Trinkgeld zuerkannt werden wird, und verstehen es dann meisterhaft, den Reisenden zu ärgern und zu plagen. Was natürlicher, als daß man sich mit ihnen auf den möglichst guten Fuß zu stellen und sich ihre Freundschaft vermittelst eines in Aussicht gestellten Silbergroschens zu erkaufen sucht?! Dann erfährt man von ihnen, was man erfahren will, und hat einen flinken und geweckten, dabei auch wohlerfahrnen Begleiter sich erworben, welcher in allen Lagen und Fährlichkeiten entschieden besseren Bescheid weiß, als der Reisende selbst, und dabei durch seine geistigen wie leiblichen Fähigkeiten von großem Nutzen sein kann. Ein solcher Skydsgut verkürzt den Weg oft in angenehmer Weise und hilft Einem glücklich über manche langweilige Stelle hinweg.

Mit solchem Roß und Wagen und mit solcher Begleitung durchzieht man nun nach Belieben das schöne herrliche Land. Obdach und Nahrung gewährt die Wechselstelle selbst; das Zimmer, welches für den Reisenden bestimmt ist, enthält die nothwendigen Bequemlichkeiten und vor Allem regelmäßig gute und reinliche Betten; die Bedienung läßt Nichts zu wünschen übrig, und die Zeche wird so billig berechnet, als man verlangen kann. An Nahrungsmitteln ist freilich manchmal einiger Mangel: aber die Freundlichkeit des Wirths ersetzt ja viel, und für den Genügsamen ist immer genug vorhanden. Man bricht gewöhnlich mit Tagesanbruch auf und durcheilt rasch einige Meilen, dann wird ein kleiner Halt gemacht und die Reise nach Belieben fortgesetzt bis gegen Abend, wo man dann die Hauptmahlzeit zu sich nimmt, um durch das Warten auf dieselbe nicht viel Zeit zu verlieren. In den höheren Gebirgen, über welche Hochstraßen führen, sind diese Wechselstellen oft die einzigen Gebäude weit und breit, und die Bewohner leben wie die Einsiedler, da sie blos mit den eilig Vorüberziehenden und ihren beiden stetigen Nachbarn an der Straße in Berührung kommen.

Die Skydsbeförderung gilt auch für das Wasser. Dort erhält man Boote anstatt Pferd und Wagen und wenigstens zwei Ruderer anstatt des Skydsgut. Diese Leute sind gewöhnlich eben so rasch bei der Hand, wie Pferde und Wagen auf den Wechselstellen zu Lande, und erfüllen das ihnen auferlegte Amt regelmäßig zu großer Zufriedenheit des Reisenden. Eine unschätzbare Eigenschaft haben überhaupt alle diese norwegischen Reisegefährten mit einander gemein: sie sind in jeder Beziehung ehrlich und gewissenhaft.

Dies Alles sind Dinge, welche das Reisen in Norwegen höchst angenehm machen: – was solch’ eine Reise aber dem Geiste und Herzen bringen kann, will ich nächstens schildern und dann ein Reisebild nachzuzeichnen versuchen, so gut es eben die stumpfe Feder erlaubt.




Der Lachsfang in Wales.

Die Kymry, wie einst in ihrer Größe und Blüthe die Celten genannt wurden, als sie noch das ganze westliche Europa einnahmen und mit Bildung überzogen, diese Kymry sprechen und leben im Herzen von Wales, wohin sie von den Anglo-Sachsen nach langen, blutigen Kämpfen zurückgedrängt wurden, noch heute so, wie vor Cäsar, vor Christi Geburt in England. Ihre Stammbrüder in der Bretagne, auf den Höhen Schottlands und in Irland haben sich vielfach geändert, und auch in das blaue, schieferige, felsige Wales sind Engländer mit ihrer Industrie und Sprache eingedrungen; aber unten am Meere und an Flußthälern und in einsamen Gebirgshütten findet man noch originale Abkömmlinge der alten Celten-Nation, wie sie unter ihrem großen und guten Könige Hoël Dha, dem Ritter und Dichterfreunde, ihrer Macht und Bildung froh ward. Hier sprechen sie noch ihre alte, seltsame Sprache, die von keinem andern Menschen in der Welt verstanden und ausgesprochen werden kann (ausgenommen von einigen Deutschen, wie Zeus, Siegfried u. s. w.). Selbst ihren Kindern machen Wörter von dreizehn Consonanten und gar keinem Vocale nicht die geringste Schwierigkeit. Sie sprechen, leben und fischen noch so wie vor Jahrtausenden. Als Fischer und Schiffer sind sie jedenfalls die größte Merkwürdigkeit, da sie auf die älteste, originellste und gefährlichste Weise die besten Lachse der Welt auf die englischen Märkte und die Festtafeln der Lords, Bischöfe und Banquiers liefern. Die Lachse von Wales, besonders aus den Flüssen Severn, Dee und Conway, sind die theuersten und besten in ganz England und das schmackhafteste Gericht unter allen Delicatessen, wenn es nach dem Recepte der Fischerweiber von Wales, wie es durch Jahrtausende hindurch sich erhielt, bereitet wird.

Außerdem glänzt und rauscht noch mancher dunkele See, noch mancher Bergstrom, noch mancher auf schneeigen Gebirgsspitzen geborene Teich von silbernen Blitzen gewaltiger Fische, bis sie dem wuchtigen Speere des Jägers, Fischers und Schiffers (in einer Person) zum Opfer fallen.

Der beste und malerischste Lachs-Jagd-Kampfplatz streckt sich am Dee-Flusse an den Wasserfällen von Yrbistock in der Grafschaft Flintshire. Hier eilt die wilde Deva (jetzt Dee) wie eine tobwahnsinnig gewordene Nymphe zwischen schauerlichen Felsengestalten an einen Abgrund und stürzt sich schäumend, donnernd, in weißem Gischt aufbrausend hinunter in eine tiefe, schwarze Wassermasse. Kein Fluß, kein Wasser der Erde verbindet mit einer eigenthümlichen, dunkelsten Schwärze eine so heitere, transparente, diamantene Klarheit, als die Wasser der Deva, die aus Felsen geboren, durch Felsen schäumend, von Felsen auf Felsen stürzend, von keinem Sande und Schlamme getrübt und so bis in ihre ungewöhnlichen Tiefen klar und rein erhalten wird. Wie polirt-silbern glänzen die mächtigen Lachse aus dieser schwarzen Klarheit empor! Kein malerischeres, närrischeres Schauspiel, als die einzelnen droves oder „Heerden“ von Lachsen stromaufwärts zum Laichen und mit dem wüthenden Wasserfalle kämpfen zu sehen. Sie drängen sich dicht heran an den Katarakt, und suchen die Stromschnelle mit ihren breiten, muskulösen Schweifen zu hemmen und zu dämmen, sich überstürzend und über eineinander wegpurzelnd, weil Jeder der Erste und Vorderste sein will. Wie sie aufspringen in wilden und wilderen Sätzen, fallend und immer fallend, um toller und immer toller dieselben Muthsprünge zu versuchen! Das klatscht und plätschert und planscht und glitzert in der Luft wie eine silberne, lebendige [815] Fontaine von Fischen aus dem Wasserfalle empor, und klatschert und buttert das Wasser unten zu milchweißem Schaum und läßt nicht nach und wiederholt dieselben vergeblichen Sprünge immer wüthender, bis es endlich Einem nach dem Andern doch gelingt, sich oben hinaufzuschleudern und dann durch blitzschnelle, mächtige Ruderkunststücke sich in der reißenden Stromschnelle weiter aufwärts zu schieben. Aber ehe das gelingt und überwunden ist! Wie eine Bande von Luftspringern in glänzenden Rüstungen und im engsten, fleischfarbenen Tricot schleudern sie sich in die Luft, um, mehrfach überschlagend, wieder herunter zu fallen, immer elastischer und wüthender anzusetzen, sich immer höher zu schleudern, und endlich oben 50–60 Fuß vom Falle auszuruhen und die Nachzügler abzuwarten. Hier aber lauert der mit bärtigem Speer bewaffnete Feind, und spießt sie auf mit dem sichern Stoße seiner geübten Hand. Aber nicht jeder Lachs begibt sich in das Bereich dieser Speere am Lande, so daß man ihnen häufiger entgegenkommt und sie mitten auf dem Flusse zu angeln sucht. Dieses Lachs-Angeln nun ist die eigentliche Leidenschaft und heroische Kunst der männlichen Jugend von Wales, die, obgleich größtentheils in englischen Kohlen- und Eisenminen beschäftigt, doch ihre halben freien Tage mit Abzug an ihrem Lohne zu erkaufen weiß, blos um sich auf der Erde in eine andere Gefahr zu begeben, wenn sie nicht unter derselben sich den „bösen Wettern“ und sonstigen Feinden des Lebens preis gibt. Sie angelt Lachse in ihren „Coracles“.

Der Fremde, der zum ersten Male die Ufer der Deva und die Wasserfälle von Yrbistock besucht, wird über Vieles erstaunen, über nichts so sehr, als die am Ufer erscheinenden, wandernden, weißen Riesenmuscheln. Riesige, wandernde, weiße Austernschalen! Was kann es sein? Das sich neugierig schärfende Auge entdeckt unter der großen Muschel zunächst ein Paar menschliche Beine. Diese öffnet sich, und enthüllt einen ganzen Menschen unter einem Hute, der ganz mit Fliegen und Käfern, theils natürlichen, theils künstlich nachgemachten, besteckt ist. Dies und mächtige Angelwerkzeuge verrathen, was er will. Wozu aber die mächtige Austernschale von Leinwand? Das ist sein Coracle, sein Kahn.

Noch dieselben merkwürdigen Fahrzeuge, über welche die Phönicier und später Cäsar staunten, als sie die britischen Küsten besuchten, obgleich sie damals aus einem von Leder überzogenen Holzgitterwerk bestanden, während sie jetzt von Leinwand gemacht werden. Doch die Bienenkorbform hat sich erhalten durch alle Jahrtausende. Ein Gestell, früher Korbgeflecht, jetzt in der Regel ein Gitterwerk von Eschen- oder Weidenholz, wird mit Leinwand und diese mit einem wasserdichten Lack überzogen, und das Coracle ist fertig, nicht größer, als ein etwas vergrößerter Bienenkorb, und keinen gewöhnlichen Menschen, der etwa überm Wasser hineintreten sollte, nur eine Viertelminute auf dem ruhigsten Teiche duldend. Der echte wälsche Angler balancirt darin spielend auf Wassern umher, die kein anderer Wasserverständiger ungestraft mit dem vollkommensten Boote befahren würde. Es ist schon eine Kunst, das Coracle geschickt auf’s Wasser zu werfen, und dann eben hineinzutreten. Wer das nicht vollkommen gelernt hat, kippt sofort um, so daß der Leinwandkahn umgekehrt ihm auf den Kopf fällt, als wollt’ er ihm als Grabdeckel dienen.

Es gilt, ganz genau in die Mitte zu treten und den Schwerpunkt immer in der Mitte zu halten, weder rechts noch links zu balanciren, weder zu ziehen noch zu stoßen; es gilt, die feinste Kunst eines Balancirkünstlers auf gespanntem Seile zwischen Felsenzacken und wüthenden Wassermassen zu üben.

So wie der Künstler richtig in seinen Wasserschuh von Leinwand getreten ist, kauert er nieder und schiebt sich mit seinen Rudern hinaus in den tobenden Fluß, auf welchem er zwischen scharfen Felsenkanten, deren er keine ungestraft am Leben berühren darf, leicht umherspielt, oft dicht am Wasserfalle, wo keine Gewalt und kein Geschick einen gewöhnlichen Kahn steuern und halten könnte.

Groß und geheimnißvoll ist schon die Kunst, vom sichern Ufer aus die Angel so zu werfen und zu halten, daß Fische anbeißen, aber die Art, wie diese Welchmen in ihren Nußschalen mit den Wogen kämpfen und dabei lachend und singend gewaltige Lachse aus der Tiefe holen, grenzt an Zauberei. Da, wo der kühne, donnernde Bogen der Cascade den kochenden weißen Schaum unten berührt, wo Blasen auf Blasen an die Höhe schießen und prismatisch vielfarbig in der Sonne glänzen, wo in den Seiten unzählige kleinere Wasserfälle durch Felsenritzen zischen und an Spitzen und Kanten klingend und krachend zerschellen und springen wie wahnsinnige, lebendige Wesen in ihrem Schmerz – hier in dieser Hölle von tobenden Wassern angelt der moderne Kymre noch eben so und eben so furchtlos und sicher, wie zu Cäsar’s Zeiten, seine Lachse. Wie leicht und gleichsam ohne körperliche Schwere sie mit ihren Nußschalen auf rollenden Wogenströmen hinschießen! Nur mit der linken Hand rudern, steuern und balanciren sie, während die rechte mit der langen wuchtigen Angelruthe spielt und die Köderfliege bald hier, bald da in die siedende Wassermasse wirft. Ein kleiner Fehler in der Bewegung des Körpers oder der winzigen Schale von Kahn, und sie sind des Todes!

Aber sie singen dabei in ihrer vielconsonantigen alten Sprache dieselben Melodieen und Weisen, wie während der Zeit ihres dichterischen Königs Hoël Dha oder des Helden Cadwallader.

Und dann welches Leben, wenn ein gehakter Fisch in Wuth und Schmerz unten durch die Wasser peitscht und den Feind oben mit seiner Nußschale unbarmherzig mit sich zieht zwischen Felsenzacken und verwirrte Wassergewächse hin und her, auf und ab über der dunkeln wüthenden Tiefe! Ungeweihte Zuschauer zittern für sein Leben, aber er rudert und steuert und balancirt kaltblütig dem Opfer unten ganz zu willen, ohne ihn jemals locker zu lassen, bis er fühlt, daß er sich erschöpft habe. Dann müssen die Zähne den gewaltigen Angelstock halten, während er mit der rechten Hand die Leine allmählich aufzieht und den Fisch so nahe bringt, daß er ihm mit dem Handspeere den letzten Gnadenstoß versetzen kann. Das in letzten Zügen zappelnde Ungethüm wird nun ans Tageslicht und ans Ufer gebracht, wo Zuschauer beiderlei Geschlechts, Männer und Mädchen, oft unkenntlich in Flanell gewickelt, den sie von der Bleiche holten (wälscher Flanell ist seit Jahrtausenden berühmt), dem Helden ihr Lob spenden und den Fisch taxiren. Sie wissen freilich nicht, wie enorm theuer er vielleicht schon am nächsten Tage von der mit amerikanischem Eise gekühlten Marmorplatte des aristokratischen Fischhändlers im Westende von London weggekauft wird. Der Held, der sein Leben wagte, bekommt nicht ein Drittel davon, ist aber vollkommen damit zufrieden und wagt am nächsten Tage sein Leben wieder für denselben Preis, der vielleicht freilich auch oft durch den Beifall einer angebeteten Flanell-Bleicherin erhöht wird. Sie sieht für unsere Aesthetik etwas komisch aus in ihrem großen schwarzen Mannshute (alle echten Töchter von Wales tragen, wie seit Jahrtausenden, Angströhren) und der blauen Jacke, den seltsam geflochtenen Haaren und den großen Ohrringen; aber der echte Kymrier hat nur Augen und Ohren für die Reize echter Landsmänninnen und liebt und heirathet nie eine Schönheit fremden Stammes.

Unweit der Coracles steht nicht selten im charakteristischen Gegensatze zu den Wälschen ein Engländer in vulcanisirten Gummi-Wasserstiefeln bis an seine Uhrtasche herauf im reißenden Strome und hält mit beiden Händen eine 22 Fuß lange, beste Aldred’sche Lachs-Angelruthe in das tobende Gefälle und hofft, daß er für seine schweren Auslagen – Angelapparat 5 bis 8 Pfund Sterling, Stiefeln auch nicht billig – und seine lebensgefährliche Position endlich einmal durch einen „Anbiß“ belohnt werden möge. Vergebens. Er begibt sich endlich erschöpft an Kraft und Hoffnung auf’s Trockne und kauft sich von einem Coracle-Mann seinen Lachs. Mancher läßt sich auch durch alles Zureden nicht abhalten und steigt in ein Coracle, um in wälscher Manier zu angeln. Sie sind natürlich in diesem Falle gleich bei der Hand, ihn nach dem ersten Schritte an den Beinen unter dem Coracle hervor aus seiner „Bestürzung“ zu ziehen. Aber die Coracles kosten jedes Jahr mehreren Dutzenden von Engländern, größtentheils hoffnungsvollen, übermüthigen Studenten von Oxford oder Cambridge, das Leben. Sie bestechen, kaufen förmlich echte Coracle-Männer, damit sie sie mit in ihr Leinwandboot nehmen. Diese sind nicht für zwei Mann gemacht, aber mit der feinsten Balancirkunst können sich zwei echte Wälschmänner wohl darin halten, nur nicht ein Wälschmann mit einem Anglo-Sachsen. Beide fallen natürlich in’s Wasser. Beide haben sich darauf gefaßt gemacht und sich auf ihre Schwimmkunst verlassen. Aber nur der Wälschmann rettet sich, der Engländer ertrinkt unter der umgekippten Nußschale und wird vom Strome fortgerissen, ehe ihm Jemand zu Hülfe kommen kann.

Die Coracles sind einmal ein altes Privilegium für die echten Söhne St. Davids. Nur die, welche am St. Davids-Tage Schnittlauch am Hute tragen, „Ap“ hinter ihre Namen schreiben und 10–13 Consonanten hinter einander ohne Vocal-Hülfe [816] aussprechen können und sich dabei die Kinnladen nicht verrenken, nur diese dürfen ungestraft in den alten Coracles angeln, nachdem sie ihre zwei Jahre gelernt und 30 bis 50 Mal aus dem Wasser gezogen wurden. Die Wälschleute essen natürlich auch viele Lachse selber, aber besser, als der reichste Lucullus oder Crösus mit dem besten französischen Koche. Ihre Zubereitungsart ist seit Jahrtausenden ein Geheimniß und noch niemals verrathen worden.




Blätter und Blüthen.


 Des Weibes Schöpfung.

Als Gott am sechsten Schöpfungsabend
Vor seinen Werken sinnend stand
Und, sich an seinen Wundern labend,
Sie alle gut und herrlich fand:

5
Da zog ein Lächeln sel’ger Wonne

Verklärend auf sein Angesicht,
Belebend wie die Frühlingssonne,
Und lieblich wie das Morgenlicht.

Von dieses Lächelns Strahlengrüßen

10
Erblühten dann in Wald und Flur,

Auf Berg und Thal die holden, süßen,
Anmuthigen Kinder der Natur,

Die bei der Liebe süßem Kosen
Die Schönheit gern zum Kranze flicht,

15
Die Primeln, Veilchen, Lilien, Rosen,

Maiblümchen und Vergißmeinnicht.

Und auf des Frühroths Purpurschwingen
Die Englein flogen dann herab,
Mit Silberlilien zu umschlingen

20
Des Friedens heil’gen Hirtenstab.


Auch wollten sie die Blümlein schmücken
Mit Perlen-Thau im Morgenschein,
Und an die sel’ge Brust sie drücken,
Als gute liebe Schwesterlein!

25
Dann wollten sie zusammen reden,

Und in des Lenzes grünem Hag
Andächtig zu Jehova beten
Am lieben, heil’gen Sabbathtag!

Jetzt nahten sie den Blümlein plaudernd,

30
Doch diese lächelten nur still.

„Wie schad’ ist’s,“ sprachen sie dann zaudernd,
„Daß kein’s von ihnen reden will!“

Und Gott vernahm der Engel Klage,
Und gab der Ros’ und Lilie Leib:

35
Sein Lächeln schuf am Sabbathtage

Die Blume, die da spricht – das Weib!




Der Badeort Salzloch. Nichts eignet sich wohl besser zur Satire als das heutige Badeleben und die darauf berechneten Badeschriften. Es war daher ein glücklicher Gedanke vom Verfasser des weltbekannten Struwwelpeter (dem Herrn Dr. med. H. Hoffmann), daß er in einer völlig den Styl vieler neueren Badeempfehlungen nachahmenden Broschüre („Der Badeort Salzloch, seine jod-, brom-, eisen- und salzhaltigen Schwefelquellen und die tanninsauren animalischen Luftbäder, nebst einer Apologie des Hasardspiels. Dargestellt von Dr. Polykarpus Gastfenger, fürstlich Schnackenbergischem Medicinalrathe und Brunnenarzte, Mitglied der aquatischen Gesellschaft, des deutschen Douche-Vereins, des Casinos und des Kegelclubs zu Schnackenberg, so wie vieler anderer gelehrter Gesellschaften correspondirendem und Ehrenmitgliede u. s. w. Frankfurt a. M. Literar. Anstalt 1861. 8.“) die Geißel des Humors lustig über dieses Treiben schwingt, Seine Satire, in bester Laune geschrieben, macht um so mehr Wirkung, da sie sich ganz treu an die Wirklichkeit hält und fast nur durch große Offenherzigkeit derselben den Stempel naiver Lächerlichkeit aufdrückt. Wer z. B. erkennt nicht gewisse, in Westdeutschland allenthalben in Hotels aushängende Annoncen wieder, wenn er liest: „Es bietet unsere Bank den Pointeurs 75 Procent mehr Vortheil, als alle anderen Banken. Man spielt Roulette mit 1/4 Zero und Trente et quarante mit 1/4 Refait und Pharao. An Sonntagen wird Roulette (für die umwohnenden Landleute, Vf.) mit nur 1 Zero gespielt.“ – Oder die Redensarten gewisser Brunnenschriftsteller in den Floskeln: „Man bezeichnet die Quelle als die stille Freundin des vegetativen Lebens,“ „die sanft sich in den Organismus schleichende Schmeichlerin;“ „das balsamartige Gefühl bei dem Trinken;“ „jedes Bad muß in seinem Gesammtapparat als ein medicinisches Ganzes betrachtet werden;“ „eine chemische Analyse mit ihrer Zahlenreihe ist ein trauriges Skelet“ u. dergl. mehr. – Natürlich durften in des Herrn Dr. Gastfenger Musterbad alle die Beigaben moderner Curmethoden nicht fehlen, welche jetzt von den Curorten ausposaunt zu werden pflegen, als da sind: Heilelektricität und Magnetismus, Heilgymnastik, Inhalationen, Pastilles de Salzloch, Trauben- und Aepfelwein-Cur, Wellenbäder (NB. in 8 Abstufungen, als Streichel-, Kitzel-, Wiegen-, Schaukel-, Stoß-, Schlag-, Rüttel- und Sturm-Bäder!), Fichtennadel- und Schlammbäder, Quellsalzseife u. s. w. – Die „tanninsauren animalischen Luftbäder“ bestehen darin, daß der Patient den Dunst der dortigen Gerbereien einathmet. (Erinnert an die weitausposaunten Inhalations-Apparate eines gewissen Curorts, welche, in der Nähe besehen, aus einem Holzkasten voll Eichenlohe bestehen, den man neben das Bett des Curgastes hinsetzt!) Das Hasardspiel der Curorte wird auf höchst sarkastische Weise als moralische Staatsanstalt und als „psychosalinische“ Curmethode in Schutz genommen. – So empfehlen wir denn das Büchlein unbefangenen Aerzten wie Laien zur erheiternden Lectüre.




„Das erste deutsche Turn- und Jugendfest in Coburg, den 16. bis 19. Juni 1860. Im Auftrag des Festausschusses herausgegeben von Th. Georgii. Mit einer Ansicht von Coburg.“ Unter diesem Titel und zu dem billigen Preise von 1/2 Thaler ist so eben bei Ernst Keil in Leipzig das Album des Coburger Turnfestes erschienen. Außer einer umfassenden Beschreibung des Festes selbst enthält dasselbe den stenographischen Bericht der Verhandlungen des ersten deutschen Turntags, die eingegangenen Telegramme und Zuschriften, sowie als Musikbeilage das Festlied, componirt von W. Speidel und den Festmarsch von G. Hartwig. - Ein Buch nicht nur für Turner, sondern für Jeden, der sich an einem Stück echt deutschen Volkslebens erfreut!




Schach.
Auflösungen und Briefwechsel.

Nr. 3: 1. D a 7. 2. S f 2 oder D h 7 ††. Richtig gelöst von Mattfeldt in Lassrönne, Francko, Schwerdfeger und H–n in Leipzig, sowie von einem Clubmitglied in Langensalza. – Nr. 4: 1. D d 6 † K a 8. 2. D c 6 L c 6. 3. T d 8. † D c 8, 4. T c 8 ††. Eingesendet von R. L., H–n, W. und G. B., Weise und Schaufuß in Leipzig, ferner von Mattfeldt, B. Kdr. in R., Theune in Stettin, W. B. in Bromberg, A. Nestler in Mitweida, H. E. in Hildesheim, Noett in Birkenfeld, Hempen in Meppen, Döring in Zeulenroda. – Nr. 5: 1. S c 5 † K d 5 †. 2. S e 6 nebst 3. D. gibt ††. Gelöst von R. L., Walther in Zwickau, W. B. in Bromberg, Rauscher in Aspany, R. B. d. W., Theune und Behnke in Stettin, Döring, Mattfeldt, Dittmer, Riege, Wachsmuth in Lassrönne. – Nr. 6: 1. S c 7 † 2. d 7 † 3. S. d 6 † 4. e d 5. d 7 ††. Eingesendet von Rauscher, Bloch in Memel, Berningcr in Königsbrück. - Nr. 7: 1. T h 8 † 2. S g 4 † 3. T h 8 † 4. g 7 † 5. S h 6 ††. Richtig angegeben von Steiner in Joachimsthal, Bloch in Memel, Walther in Zwickau, S. v. Gähler in Flensburg, E. L. in Braunfels, G. Flad in Wädensweil, R. Geudtner in Dresden, Dr. Mannel in Buttelstedt, Pfarrer Valter, Berninger. – Bei Nr. 3 übersehen Einige den Zwischenzug 1. L e 3, Andere nach 1. D f 3 † S f 3 †: 2. S f 2 † das Schach des schwarzen Thurmes !n h 6. – Die von A. L. in Berlin, R. B. und R. Sch. in Leipzig offerirten Compositionen erscheinen weder schwierig noch interessant genug; andere Offerten bedürfen noch specieller Prüfung. - A. A. in Herisau läßt bei Nr. 1. den schwarzen Bauer a 3 außer Acht, und die Befürchtungen von A. W. hier können wir bei dem correcten Drucke der Gartenlaube nicht theilen.



Nicht zu übersehen!

Für diejenigen Abonnenten, welche sich die Gartenlaube einbinden lassen, sind durch uns auch zum Jahrg. 1860 höchst

geschmackvolle Decken mit Golddruck

nach eigens dazu angefertigter Zeichnung zu beziehen. Alle Buchhandlungen sind in den Stand gesetzt, dieselben zu dem billigen Preise von 13 Ngr. zu liefern. Zu den Jahrgängen 1854 bis 1859 stehen ebenfalls Decken zu dem gleichen Preise zur Verfügung.

Die Verlagshandlung. 

Nicht zu übersehen!

Mit Nr. 52 schließt das vierte Quartal, und ersuchen wir die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das erste Quartal des neuen Jahrgangs schleunigst ausgeben zu wollen.

Ernst Keil. 

Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: 232