Die Gartenlaube (1860)/Heft 52
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No. 52. | 1860. |
Nach einer Pause fuhr der Gefangenwärter zu dem Soldaten gewendet fort: „So höre denn zuerst, daß ich ein alter preußischer Unterofficier bin, der mit bei Jena focht, aber nicht zu den Ausreißern gehörte, sondern schwer verwundet für todt auf dem Schlachtfelde liegen blieb und wie durch ein Wunder gerettet wurde. Ueberhaupt lag es nicht an den Soldaten, daß die Schlacht von Jena verloren wurde und der brave König von Preußen mit Weib und Kind wie ein armer gehetzter Flüchtling in der Welt herum irren mußte. Die Soldaten haben sich tapfer und muthig genug geschlagen. Aber die Generale und Officiere, bis zu den Lieutenants, sie, die Edelleute, die auch Deinen Vater nach Frankreich vertrieben haben, die haben auch ihren König in das Unglück gebracht und aus seiner Heimath und aus seinem Lande vertrieben. Die Soldaten haben auch nicht alle die schönen, großen, starken Festungen ohne Schwertstreich und Kanonenkugel dem Feinde übergeben. Elende, feige, verrätherische, vornehme Generale waren es. O Bursch, wenn ich daran denke, dann läuft mir noch immer alles Blut zum Herzen, daß ich meine, das alte Ding müsse mir zerspringen. Das war eine allgemeine Nichtswürdigkeit – nur den alten Blücher nehme ich aus und noch einige Wenige, die gegen all das andere vornehme Pack nicht aufkommen konnten. Aber ich wollte von etwas Anderem sprechen; das Alter macht geschwätzig, und ich habe lange nicht frisch von der Leber weg reden können. Von der jetzigen Zeit, mein Bursch. Sieh, jetzt sind sie vernünftiger geworden in Deutschland, auch der König von Preußen. Auf die Edelleute und Junker, die ihn damals verrathen und feige im Stiche gelassen haben, verläßt er sich nicht mehr; das Volk, sein braves preußisches Volk hat er angerufen, und das Volk hat sich überall zu ihm gestellt, und wo es mit ihm erschienen ist, da haben sie die Franzosen auf das Haupt geschlagen. Junge Burschen, die seit sechs oder vier Wochen die Muskete trugen, haben die alten, tapfern Garden des französischen Kaisers geschlagen und vernichtet. Ja, mein Bursch, diese Landwehren retteten Preußen und Deutschland. Mit der Landwehr wäre der König im Jahre 1806 Sieger geblieben; mit der Landwehr wird er jetzt die Franzosen zum Lande hinaus jagen; mit seiner Landwehr wird Preußen immer unüberwindlich bleiben. Aber mit seinen Junkern ist es schon einmal vernichtet und wird es immer zu Grunde gehen. – Ja, mein Sohn, mit der Landwehr werden die Franzosen aus dem Lande gejagt werden. Jetzt, in den nächsten Tagen. Vielleicht sind sie jetzt schon geschlagen und auf der Flucht, in diesem nämlichen Augenblicke, wo sie hier mit Ball und Tedeum und großer Parade einen Sieg feiern, an den ich nicht glauben kann. Ich verstehe auch noch etwas von dem Kriegshandwerk, und ich habe die Zeitungen studirt. Da konnte Napoleon vorgestern in einem einzigen Tage eine solche Armee, wie sie ihm bei Leipzig entgegen stand, nicht vernichtet haben, und wenn er es auch durch noch so viele Couriere aller Welt hat ansagen lassen. Es war nicht möglich, und gib Du Acht, mein Sohn, übermorgen vielleicht schon sehen wir flüchtige Franzosen hier, und mit oder gar vor ihnen die Kosaken, die schon vor drei Wochen in Kassel waren. Ja, mein Bursch, dann wird es wieder ein anderes Leben in unserem Deutschland geben. Ueber die Freiheit, über einen freien Mann geht doch nichts.“
Das kräftige Gesicht des alten Mannes erglühte, als er ausgeredet hatte. Er hatte sich erhoben und stolz und muthig aufgerichtet. Er war eine kräftige, militärische Gestalt, trotzdem daß der linke Arm ihm gelähmt herunter hing. Der junge Soldat mußte ihn fast ehrerbietig ansehen. Auch in ihm war ein Feuer entzündet.
„Warum habe ich nicht dabei sein können?“ rief er.
„Das ist eben Dein Unglück, Bursch.“
„Auch der arme Mensch, den wir hier bewachen müssen, hat wohl diese Freiheit gewollt.“
„Es ist möglich. Dafür wird er morgen erschossen.“
„Und übermorgen wären seine Retter, seine Landsleute hier, zu denen er wollte?“
„Vielleicht morgen schon. Sie würden ihn dennoch vorher erschießen.“
„Sie sagen das so kalt, Herr Gefangenwärter?“
„Ich kann ihn nicht retten. Wie soll ich mich da für ihn ereifern? Und dann, Bursch – der arme Mensch kann nicht dafür – aber er trägt nun einmal den Namen eines jener Generale, die dem Könige seine Festungen verrathen haben, und ich sagte Dir schon, wenn ich an die Menschen denke, dann will mir das Herz im Leibe zerspringen.“
„Aber der arme Lieutenant ist doch unschuldig daran!“
„Ja, das ist er, aber –“
Ein Diener des Magistrats trat in den Gang und unterbrach den Gefangenwärter.
„Sie möchten einen Augenblick herauskommen.“
„Was gibt es?“
„Es will Sie Jemand sprechen.“
Der Gefangenwärter verließ den Gang. Er durfte es. Er war nur auf Befehl seiner vorgesetzten Behörde, des Magistrats, [818] da, und nur um danach zu sehen, daß auf Seite des Militärs in dem der Stadt gehörigen Locale Alles ordentlich hergehe. Draußen vor dem Gange stand ein hoher tief in einen Mantel gehüllter Mann vor ihm.
„Folgen Sie mir wenige Schritte,“ sagte der Mann.
Er ging hierauf sogleich aus dem Gebäude auf die Straße.
In der dunkeln Straße blieb er stehen. Der Gefangenwärter war ihm gefolgt. Der Mann wandte sich zu ihm zurück.
„Sie bewachen einen Gefangenen, der morgen erschossen werden soll?“
„Ja.“
„Er ist ein preußischer Officier?“
„Ich weiß es.“
„Können Sie ihn retten?“
„Ich?“
„Sie können. Wollen Sie es?“
„Ich weiß nicht, Herr, was ich Ihnen darauf antworten soll.“
„Sie kennen mich?“
„Sie sind der Herr Krajewski.“
„So nenne ich mich. Sie waren früher preußischer Unterofficier?“
„Das war ich.“
„Sie wurden am 14. October 1806 bei Auerstädt schwer verwundet?“
„Ich lag für todt auf dem Schlachtfelde.“
„Neben Ihnen lag ein eben so schwer verwundeter Officier?“
„Er war ein preußischer Hauptmann.“
„Nach dem Hauptmann wurde gesucht. Er wurde gefunden. Man wollte ihn fortbringen. „Es liegt noch ein schwer Verwundeter in der Nähe,“ sagte er, man solle auch den retten. Er meinte Sie. Sie lagen schwach, halb ohnmächtig da, hatten kein Zeichen des Lebens mehr von sich geben können. Man suchte Sie, fand noch Leben in Ihnen und nahm Sie mit. So wurden Sie gerettet. Jenem Hauptmann verdanken Sie das Leben.“
„Was ist aus dem braven Mann geworden, Herr?“
„Er ist jetzt Oberst und wird in diesen Tagen mit bei Leipzig gekämpft haben. Aber ein Verwandter, ein naher Verwandter von ihm ist in diesem Augenblicke hier.“
„Hier in der Stadt?“
„Sein jüngerer, einziger Bruder ist der Gefangene, der morgen von den Franzosen erschossen werden soll. Wollen Sie ihn retten? “
„Herr des Himmels!“ rief der erschütterte alte Soldat.
Aber er hatte nur noch einen Augenblick geschwankt.
„Herr,“ sagte er, „ich wäre nicht mehr werth zu leben, wenn ich ihn nicht rettete. Ich stehe allein in der Welt, ich habe nicht Weib und nicht Kind, und bin ein alter Kerl, an dem nichts mehr gelegen ist. Der Officier soll frei sein.“
„Wie?“ fragte ihn der Greis.
„Seine Zelle steht mit einem andern Gefängnisse in Verbindung, aus dem man in einen Hinterhof des Rathhauses gelangt.“
„Der Hof ist nicht bewacht?“
„Er ist unbewacht.“
„Und frei?“
„Ein unverschlossenes Seitenpförtchen führt in die freie Straße.
Nur die beiden Gefängnißthüren sind verschlossen.“
„Und wer hat die Schlüssel?“
„Ich. Folgen Sie mir, Herr. Ich schließe sogleich auf und überliefere Ihnen den Gefangenen.“
„Nicht so,“ sagte der Greis. „Sie geben mir den Schlüssel, Sie gehen auf Ihren Posten zurück und bleiben dort. Sie sollen keinen Augenblick in Gefahr kommen. Die Thüren schließe ich wieder ab und die Schlüssel gebe ich Ihnen zurück. Keine Spur wird den Weg anzeigen, auf dem der Gefangene entkommen ist. Auf Sie kann am wenigsten ein Verdacht fallen, da die Schildwache wird bezeugen müssen, daß Sie immer auf Ihrem Platze waren. Tragen Sie die Schlüssel bei sich?“
„Hier sind sie.“
„Wo liefere ich sie Ihnen zurück?“
„Legen Sie sie in jene Mauernische. Ich hole sie nach einer halben Stunde von da ab.“
„Gut.“ Der Gefangenwärter kehrte auf seinen Posten zurück. Der Greis ging mit den Schlüsseln in die Straße hinein. Das Rathhaus lag mit seinen kleinern Anbauten frei. An seinen beiden Nebenseiten liefen schmale Gassen. In eine dieser Gassen ging der Greis. Er kam an eine Mauer, in der sich ein kleines Pförtchen befand, das wiederum in einen kleinen dunklen Hof führte. Leise schritt er darüber hin, einem dunklen offenen Gange zu und fand bald eine Thüre, die er mit einem der Schlüssel öffnete. Er durchschritt die Thür und befand sich in einem engen Raume. Er mußte in dem Gefängnisse sein, das an der Zelle des Officiers lag, den er befreien wollte. Er fühlte umher und fand eine zweite Thür. Er versuchte auch sie zu öffnen. Der zweite Schlüssel schloß sie auf. Er hatte Alles leise, kaum hörbar gethan. Auch in der Zelle, die er aufgeschlossen hatte, herrschte völliges Dunkel. Er hörte Geräusch darin.
„Still!“ rief er leise hinein.
Das Geräusch hörte auf, er trat in die Zelle.
„Keinen Laut!“ sagte er zu dem Menschen, der in der Zelle war. Es war der Gefangene, den er suchte, den er befreien wollte. Die vollste Geräuschlosigkeit war nöthig. Unmittelbar unter dem Fenster des Gefängnisses ging eine Schildwache. Unmittelbar vor seiner verschlossenen Eingangsthür stand eine zweite. Man konnte hören, wie dort und hier der Sand unter ihren Füßen knarrte. Sie mußten jeden Laut in dem Gefängnisse hören können.
Der Gefangene hatte in einem Winkel der Zelle auf einer Pritsche gelegen. Er hatte sich erhoben und stellte sich dem dunklen, tief in den Mantel gehüllten Manne gegenüber, der zu ihm eingetreten war.
„Wer ist da?“ fragte er, aber leise, mit gedämpfter Stimme.
„Folgen Sie mir,“ sagte ihm der Greis. „Sie sind frei.“
„Und wer verkündet mir die Freiheit?“
„Folgen Sie mir.“
Da hatte der Gefangene die Stimme erkannt.
„Ihnen?“ sagte er. „Und Ihnen soll ich auch noch meine Freiheit verdanken?“ Seine Stimme zeigte Entrüstung, Entsetzen, Abscheu.
„Adalbert,“ entgegnete ihm eine bittende, eine schmerzlich und demüthig bittende Stimme, die Stimme des Greises, dessen hohe, gedrückte Gestalt sich tiefer beugte. „Adalbert, folge mir, ich beschwöre Dich.“
Aber der Gefangene trat zurück.
„Sprechen Sie nicht so zu mir. Nennen Sie meinen Namen nicht. Ich habe nichts mit Ihnen zu schaffen. Nie!“
„Adalbert! Adalbert!“
„Verlassen Sie mich. Ich will auch die Freiheit, das Leben nicht von Ihnen. Es wäre ein Leben der Schande, der Schmach.“
„Adalbert, kann ich gehen ohne Dich?“
„Ich habe nichts gemein mit Ihnen, mit einem Verräther seines Königs, seines Vaterlandes, seiner Ehre. Gehen Sie! Gehen Sie! Berühren Sie mich nicht. Ich darf Ihrer Schmach nicht theilhaftig werden. Ich will sterben als Mann von Ehre, als ehrlicher, preußischer Officier.“
„Und Melanie?“ rief die zitternde Stimme des Greises.
„Melanie?“ rief der Gefangene, und neues Entsetzen hatte ihn ergriffen, aber auch ein heftiger, gewaltsamer Schmerz war ihm mit dem Namen in das Herz gedrungen. „Melanie? Wo ist die Unglückliche? Lebt sie?“
„Sie lebt. Und um ihretwillen denn beschwöre ich Dich, folge mir, nimm Deine Freiheit, Dein Leben. Dein Tod würde sie wahnsinnig machen. Sie steht schon so nahe an dem Wahnsinn. Rette sie. Rette mein Kind, Deine –“
„Kommen Sie,“ sagte mit einem gewaltsamen Entschlusse der Gefangene. „Führen Sie mich zu ihr.“
„Folge mir.“
Der Gefangene folgte dem Greise. Sie gingen leise. Der Greis schloß die Thüren der beiden Gefängnisse ab. Die Schlüssel legte er in die Mauernische, die der Gefangenwärter ihm angezeigt hatte. Fand der Gefangenwärter sie dort – und er mußte sie finden – so war es unmöglich zu entdecken, in welcher Weise und auf welchem Wege der Gefangene befreit war. Der Greis führte den Befreiten zu seiner Wohnung vor der Stadt. Sie gingen schweigend. Keiner von ihnen sprach ein Wort. Sie erreichten das einsame Landhaus. Der Greis trug den Schlüssel zu der Hausthür bei sich. Er schloß sie auf. Sie traten in das Haus, in das Wohnzimmer der Familie. Es war erleuchtet, aber leer.
[819] „Melanie wird in ihrer Stube sein,“ sagte oer Greis. „Ich führe sie hierher.“
Er wollte das Zimmer verlassen. Er hatte mit einer so sonderbar tonlosen Summe gesprochen. Der Befreite mußte ihn ansehen. Er sah ihn zum ersten Male in der Helle des Lichts. Erb lickte in ein entstelltes Gesicht; die Lippe des Greises zuckte; die Augen standen weit, aber glanzlos auf. Der junge Mann erschrak.
Er kämpfte mit sich.
„Onkel!“ rief er endlich. „Onkel, was ist Ihnen?“
Der Greis blieb stehen. Er wandte sich um. Sein Gesicht drückte den tiefsten menschlichen Schmerz aus.
„Was mir ist?“ sagte er langsam. „Ich wollte Dir das Leben retten; Du wolltest es von mir nicht annehmen. Du mußtest es von mir annehmen, um einer Anderen willen; Du hattest kein Wort des Dankes für mich.“
„Konnte ich?“ mußte der junge Mann ausrufen, und er rief es mit einem Schmerze, der vielleicht nicht zorniger war, als der des Greises.
Aber da beugte sich die Gestalt des alten unglücklichen Mannes noch tiefer, und mit einer Stimme, die kaum vernehmbar war, sagte er: „Nein, Du konntest es nicht. Ich bin und bleibe ein Elender, ein Verworfener.“ Er verließ das Zimmer.
Der Oberst hatte mit dem Adjutanten eilig den Ballsaal verlassen. Sie kamen bei der Hauptwache, bei dem Militärgefängnisse an. Die Zelle, in welcher man den vormaligen preußischen Officier gefangen gehalten hatte, war leer. Doch nein, nur der Officier war fort. An seiner Stelle waren drei andere Gefangene da, die beiden Schildwachen, die unmittelbar an der Zelle ihren Posten gehabt hatten, und der alte städtische Gefangenwärter. Der Officier der Runde hatte vor einer halben Stunde das Verschwinden des Gefangenen entdeckt. Er hatte sofort dem Adjutanten vom Dienste Mittheilung gemacht. Beide hatten die vorläufigen Anordnungen getroffen. Dann war dem Obersten Meldung gemacht worden.
Zugleich wurde ihm die auffällige frühe Entfernung des Herrn Krajewski vom Balle rapportirt.
Der Oberst untersuchte näher. Die Flucht blieb unerklärlich. Die sämmtlichen Schildwachen und der Gefangewärter waren auf ihren Posten gewesen. Keiner von ihnen konnte auch nur das Geringste über fas Entweichen angeben. Die sämmtlichen Schlüssel zu den Gefängnissen wurden in dem Besitze des Gefangenwärters gefunden. Keine Spur des Entweichens und des Entwichenen war zu entdecken. Nur Eins konnte vermuthet werden: ein complotmäßiges Zusammenhandeln des Gefangenwärters mit den beiden Schildwachen. Aber es war nicht anzunehmen. Sie verwickelten sich nicht in Widersprüche. Der Officier der Wache konnte zudem bezeugen, daß die beiden Schildwachen immer auf ihren Posten gewesen seien. Die Schildwachen bezeugten dasselbe von dem Gefangenwärter.
„So werden sie alle Drei büßen,“ entschied dennoch der Oberst. Seine Entscheidung brachte kein anderes Resultat. Die Schildwachen und der Gefangenwärter blieben bei ihren Aussagen. Die Entscheidung des Obersten war im strengsten Sinne des Worts sein Ernst. Ein ehrenhafter Mann, wie er in so manchen Dingen war, war er auch im Dienst ebenso strenge. Die Besonderheit des Falles und auch seiner Lage kam hinzu.
„Der Kaiser,“ erklärte er, „hat die Erschießung des Entflohenen befohlen. Er wird statt seines den Kopf des an seiner Flucht Schuldigen fordern. Ermittle ich keinen andern Schuldigen, so bin ich unschuldig es selbst.“
Das sahen Alle ein, denen er es erklärte. Die Flucht des preußischen Officiers war ein Ereigniß. Das Ereigniß war unter den Officieren schnell bekannt geworden. Auf dem Balle hatte die plötzliche Entfernung des Obersten mit dem Adjutanten schon Aufsehen gemacht. Die meisten Officiere des Regiments waren in der Hauptwache versammelt.
„Meine Herren,“ befahl der Oberst, „constituiren Sie sich sofort zum standrechtlichen Kriegsgericht. Der Schuldige wird zur Strafe des Erschießens verurtheilt. Kraft der mir vom Kaiser verliehenen Machtvollkommenheit werde ich das Urtheil sofort bestätigen. Es wird noch in dieser Nacht vollzogen. Gerade in gegenwärtiger Zeit muß ein Beispiel der Strenge aufgestellt werden. Wer weiß, welche Nachrichten uns schon morgen von dem Kriegsschauplatze ereilen!“
Das Kriegsgericht setzte sich auf der Stelle unter dem Vorsitze eines Kommandanten des Regiments zusammen. Der Oberst blieb stummer, finsterer Zuschauer. Er hatte nachher nur das Urtheil zu bestätigen. Die drei Angeklagten wurden vorgeführt. Der Adjutant des Regiments trug als Ankläger die Anklage vor. Er beantragte die Todesstrafe des Erschießens gegen alle Drei.
Da wollte der Gefangenwärter, der alte preußische Unterofficier, sich erheben. Zu welchem Zwecke, das sah man dem breiten, kräftigen Gesichte wohl an, wie es mit Ruhe auf die beiden jungen Rekruten an seiner Seite und mit Stolz auf die Richter blickte. „Das junge, unschuldige Blut soll um meinetwillen nicht vergossen werden,“ sagte das Auge des alten Soldaten, der dem Tode schon mehr als einmal ruhig in das Gesicht geblickt hatte.
Das wollte er laut sagen. Ein Anderer kam ihm zuvor. Auch eine alte Soldatengestalt, aber nicht stolz, sondern tief niedergedrückt, nicht mit dem klaren, ruhigen Muthe einer guten That, sondern mit dem entstellten Gesichte und dem scheuen Blick des Gefühls der inneren Zerrissenheit, der Schande, die nicht mehr leben läßt. So wurde von einer Schildwache der Greis hereinführt, der in dem Landhause vor dem Städtchen unter dem Namen Krajewski lebte.
„Der Herr hat dem Herrn Obersten eine Mittheilung zu machen,“ sagte die Schildwache.
Eine allgemeine Neugierde hatte den Greis empfangen. Der Oberst erhob sich. Sein Gesicht allein war unbeweglich geblieben.
„Was wünschen Sie, mein Herr?“ fragte er, kalt, stolz, mit einem verächtlichen, wegwerfenden Stolze.
Die Gestalt des Greises beugte sich tiefer.
„Ich vernehme,“ sagte er, daß hier ein Kriegsgericht gehalten wird gegen Personen, die einen gefangenen fremden Officier befreit haben sollen. Die Angeklagten sind unschuldig. Ich habe den Gefangenen befreit, ich allein. Ich bin der allein Schuldige.“
Die Versammlung sah mit einem unverhohlenen Erstaunen auf ihn. Nur der Oberst blieb wieder unbeweglich.
„Ihre That überrascht mich nicht,“ sagte er mit jener stolzen Verachtung. „Wer einmal an seiner Ehre, wer an seinem Fürsten und Kriegsherrn zum Verräther werden, wer einen edlen Namen, die hohe Stellung eines Generals beschimpfen konnte –“
Den Greis hatte es furchtbar durchzuckt. Er mußte sich gewaltsam aufrechthalten. Dann konnte er sich noch einmal erheben, hoch, stolz vor dem fremden Officier. Es konnte noch ein Stolz in ihm sein, noch einmal, in der letzten Stunde seines Lebens.
„Mein Herr,“ sprach er strenge. „Sie sind hier mein Richter, aber Ihnen steht nicht das Recht zu, mich zu schmähen.“
„Sie haben Recht,“ sagte der Oberst mit seiner schneidenden Kälte. „Wenden Sie sich an das Kriegsgericht dort.“
Er setzte sich ruhig wieder hin. Der Greis wiederholte vor dem Kriegsgericht sein Bekenntniß. Er gab alle Einzelnheiten an, die es glaubwürdig machen mußten. Nur darüber, woher er die Schlüssel zu den geöffneten Gefängnissen erhalten habe, verweigerte er entschieden jede Erklärung. Der alte Gefangenwärter wurde wohl unruhig dabei; aber der Greis warf ihm befehlende Blicke zu schweigen zu. Die Richter blickten den unruhigen alten Mann wohl fragend an; aber ihnen befahl der Oberst kurz: „Es ist genug!“
Es verblieb bei dem Bekenntnisse des Greises. Das Verfahren war kurz. Das Gericht verurtheilte ihn zum Tode. Die anderen Angeklagten wurden freigesprochen.
„Ich bestätige das Urtheil im Namen meines Kaisers!“ sprach finster, mit fester Stimme der Oberst.
„Das Urtheil werde vollzogen!“ befahl der Vorsitzende oen Gerichts.
„Auf dem Platze vor der Hauptwache,“ befahl der Oberst. „Kann auch das Volk in dieser Mitternachtstunde nicht unmittelbarer Zeuge sein, das Krachen unserer Gewehre soll ihm doch verkünden, wie der Verrath bestraft wird. Die Wache trete unter das Gewehr und erfülle ihre Pflicht.“
Zwei Soldaten führten den Greis hinaus. Er ging stolz in ihrer Mitte. Dies war sein letzter Stolz, der Stolz, daß er ergeben ein furchtbares Schicksal lange ertragen habe, daß er es in einer Weise ende, würdig des Edelmanns und des Generals. Der [820] Adjutant des Regiments war ihm gefolgt. Der Officier der Wache war vorausgeschritten. Nach einer Minute hörte man draußen ein halblautes Commando. Die Soldaten der Wache traten unter das Gewehr. Noch einmal wurde commandirt. Zwanzig Schüsse fielen wie einer.
„Es ist geschehen,“ sagte der Oberst zu den Officieren, die mit ihm zurückgeblieben waren. „Der Tod sühnt Alles, selbst seine That. Dieser Mann, meine Herren – erfahren Sie es, damit Sie ein Beispiel sehen, wie Verrath und Feigheit sich bestrafen – dieser Mann, Edelmann und Soldat – ich nenne seinen Namen nicht – war einer von jenen Generalen, die nach der Schlacht von Jena schmachvoll die Festungen ihres Königs übergaben.“
Der Advocat Rohden und Elvire Krajewska waren an dem einsamen Landhause vor der Stadt angelangt. Es lag in nächtlicher Ruhe vor ihnen. Nur das Wohnzimmer war erleuchtet.
Sie hatten es erwarten können.
„Der Vater wird da sein,“ sagte Elvire, und ihre Angst strafte ihre Hoffnung Lügen.
Die Hausthür war unverschlossen. Sie gingen in das Haus und traten in das Wohnzimmer. Melanie war da. Sie war bleicher, als je. Aber ihr Gesicht war nicht von wilder, heller Gluth durchflogen, und der Blick ihrer Augen bohrte sich nicht stechend in einen Winkel und irrte nicht mit dunkelglühendem Feuer wirr umher. Ein mildes, wenn auch zum Sterben mattes Lächeln umspielte ihre feinen Lippen, und ein klarer, stiller Glanz hatte ihre schönen Augen erhellt. So saß sie an der Seite eines hoben jungen Mannes, der sie mit seinen Armen umschlungen hielt und tief und trauernd in das Gesicht sah, das dem Gesichte einer Sterbenden, einer glücklich Sterbenden glich. Sie hatten sich wiedergefunden, die beiden Liebenden, nach siebenjähriger Trennung, nachdem keines von ihnen in dieser ganzen langen Zeit nur ein einziges Mal die Hoffnung gehabt hatte, daß das Auge des Einen jemals werde wieder in das Auge des Anderen blicken können. Sie durften sich liebend wieder in die Augen sehen, sie durften in alter Liebe wieder die Herzen an einander schlagen lassen. Auch in der alten Hoffnung?
Der preußische Officier, den der Greis befreit hatte, war der Neffe des Generals. Er und seine Cousine Melanie waren zusammen aufgewachsen. Sie hatten früh einander geliebt. Ihre Liebe war die innigste, herzlichste, sie war wie der Nerv und das Blut ihres Lebens in ihre Herzen hineingewachsen. Die Eltern hatten den Bund ihrer Herzen gesegnet. Da kam der unglückliche Tag von Jena. Ihm folgten die schmachvollen[WS 1] Tage jenes Verraths und jener Feigheit preussischer Generale, die kaum ein edler hochherziger Tod wieder sühnen konnte. Der Neffe, der Verlobte seiner Cousine, selbst Officier, Adjutant seines Oheims, nannte den General einen Ehrlosen, warf ihm seinen zerbrochnen Degen vor die Füße, und entfloh einer Liebe, die er seiner Ehre opfern mußte.
Er suchte den Tod in den Schlachten von Eulau und Friedland, später in dem Schill’schen Corps. Er fand nicht den Tod, aber eine furchtbare Gefangenschaft in den französischen Bagno’s. Er ertrug sie. Was sollte er in der Heimath? Die Liebe war ihm verloren; sein Vaterland war von Fremden geknechtet. Da hörte er von dem Wiedererwachen des Geistes der Freiheit in dem deutschen Volke, von den Kämpfen, um die Freiheit des Vaterlandes wiederzuerobern, die fremden Unterdrücker wieder zum Lande hinauszujagen. Es litt ihn nicht mehr in den fremden Fesseln. Für sein Leben war wieder ein Ziel, ein hohes, edles Ziel da. Er setzte sein Leben an seine Freiheit, um es dann an die Freiheit seines Vaterlandes zu setzen. Er entkam. Er wurde wieder gefangen im letzten Momente. Er wurde wieder befreit von jenem Manne, an den die heiligsten Bande ihn fesselten, den er einen Ehrlosen genannt hatte, hatte nennen müssen, von dem er die Freiheit nicht hatte annehmen wollen, dem er für sein Leben nicht hatte danken können.
Er fand die Geliebte wieder. Der Vater selbst hatte sie zu ihm geführt. Die Ueberraschung hatte sie nicht gebrochen, nicht den Körper, nicht ihren Geist. Ihr Körper war schon längst in seinem Lebenskeime zerrüttet. Aber in der Nähe des Verlobten zog auf einmal eine mächtige Kraft des Willens in ihre Brust ein, der ihr den Körper aufrecht hielt und den Geist erhob. Nur wenige Minuten konnte der Geliebte bei ihr weilen, er sollte sie stark und kräftig finden. Sie erlag nicht den Anstrengungen, die es sie kostete.
So fanden Elvire und Rohden sie. Elvire hatte das Unglück ihrer Schwester gekannt, aber nicht seine Veranlassung. Sie war zu jener Zeit ein Kind gewesen, der man die Schande ihres Vaters hatte vorenthalten können. Man hatte sie später sorgsam davor gehütet, sie zu erfahren. Sie erfuhr durch flüchtige Worte die Wiederkehr und die nochmalige Befreiung des Geliebten ihrer Schwester. Die Angst des jungen Mädchens um den Vater vermehrte sich.
„Wo ist der Vater?“ rief sie.
„Was ist mit meinem Vater geschehen?“ waren ihre letzten Worte gewesen, als sie den Ball verließ. Er war auch im Hause nicht.
„Er verließ mich,“ sagte die ältere Schwester, „nachdem er mir Adalberts Ankunft angekündigt und mich hierher geführt hatte. Ich glaubte, er würde zu Dir zurückkehren.“
„Ich habe ihn nicht wieder gesehen. Es ist ihm ein Unglück begegnet. Du selbst, Melanie, hattest es verkündet –“
Da – war es die Aufregung der Schwester, war es etwas Anderes – auf einmal flog wieder die wilde Fiebergluth durch das Gesicht der ältern Schwester. Sie riß sich aus den Armen des Geliebten. Ihre Augen starrten in den dunkeln Winkel. Dann sprang sie auf. Ein fürchterlicher Schrei entriß sich ihrer Brust.
„Er ist todt!“ schrie sie auf. „O, sie tödten ihn, ich sehe es, ich sehe es! Vorbei – vorbei, eine Leiche!“
Sie fiel, selbst einer Leiche ähnlich, in die Arme des Geliebten.
„Die Unglückliche!“ sagten die Anderen. Aber sie standen doch erstarrt um sie her.
Und wenige Augenblicke später trat, gebeugten Hauptes, das durchfurchte Gesicht voll Thränen, ein alter Mann in das Zimmer.
„Herr,“ sagte der alte Gefangenwärter zu dem jungen Officier, „mans sucht Sie. Kommen Sie mit mir. Ich führe Sie sicher über die Grenze.“
„Und mein Vater?“ rief die jüngere Schwester ihm zu.
Der alte Mann beugte das Haupt tiefer.
„Er gab sich selbst als den Befreier des Herrn an. Sie verurteilten ihn zum Tode, und –“
„Und haben ihn erschossen?“
„Ich hörte die Schüsse, als ich die Stadt verließ.“
Elvire war in Ohnmacht gefallen.
„Ewiger, gerechter Gott!“ rief entsetzt der junge Officier.
„Und ich habe ihn in den Tod gejagt! Für mich mußte er sterben!“
Melanie’s Geist war wieder klar erwacht. Jener Anfall war der letzte ihres Lebens gewesen. Sie hatte die Worte des Gefangenwärters gehört.
„Nicht für Dich, Adalbert,“ sprach sie klar und ruhig. „Für seine Ehre ist er gestorben. Für seine Ehre mußte er sterben, jetzt, gerade jetzt. Der Feind wird aus dem Lande vertrieben, überall wird Deutschland wieder frei. Wohin sollte er dann? Hier hatte er in der tiefsten Verborgenheit ein Asyl gefunden. Morgen, übermorgen oder später, wenn siegreich unsere Truppen hier einrücken, war es für ihn verloren. Sollte, konnte er ein neues aussuchen? War nicht Alles, jeder Sieg unserer Waffen, Deutschlands Freiheit und Deutschlands Ruhm, für ihn – laßt mich das Wort aussprechen – das arme Kind dort in seiner glücklichen Ohnmacht hört es ja nicht – war nicht Alles seine Schmach, seine Vernichtung? Er ist für seine Ehre gestorben. Wohl dem Unglücklichen! – Geh Du jetzt, Adalbert. Wir sehen uns wieder, wenn auch nur bei ihm. Denn Dir wird ein langes Leben voll Ruhm blühen, und ich – Aber geh, geh!“
Sie reichte ihm die Hand. Er preßte einen heißen Kuß auf ihre bleichen Lippen. Dann ging er, und seine Thränen fielen vor ihm nieder. Der alte Gefangenwärter folgte ihm. Als er fort war, gab die Kranke dem Advocaten die Hand.
„Rohden,“ sagte sie, „das Unglück dieses Hauses ist kein Geheimniß mehr für Sie. Es hat sich erfüllt. Es ist gnädig an diesem armen Kinde vorüber gegangen. Machen Sie sie ganz und immer glücklich. Lassen Sie sie nie erfahren, was Sie heute hier vernommen haben. Sie erwacht, trösten wir sie!“
Waren auch jene Worte der Unglücklichen nicht die Worte einer Seherin, sie gingen in Erfüllung. Schon am folgenden Tage ging die Nachricht von dem vollständigen Siege der Verbündeten über Napoleons Heerschaaren bei Leipzig ein. Die mit einer Hast sonder Gleichen fliehenden Trümmer der großen französischen Armee zogen auch das Regiment des Städtchens in ihre wilde Flucht [821] hinein. Unmittelbar nachher waren schon die überall umher schwärmenden Kosaken da. An ihre Privathändel hatten die französischen Officiere nicht mehr denken können.
Wenige Wochen später langten preußische Truppen auf ihrem Zuge nach Frankreich an. Unter ihnen war der Officier, den sein Onkel mit seinem eigenen Leben befreit hatte. Er war Führer eines Bataillon’s der tapfern preußischen Landwehr. Er konnte nur einen Tag in dem Städtchen sich aufhalten, und nur um eine schwere Pflicht zu erfüllen. Er geleitete die sterblichen Reste Melanies zum Grabe. –
Der Advocat Rohden hat Elvire glücklich gemacht. Ihr Vetter – er hat eine lange Bahn der Ehre und des Ruhmes durchschritten, wie die Geliebte es ihm verkündet hatte. Er ist vor wenigen Jahren gestorben, nachdem er unvermählt geblieben war und den Namen, den der Oheim mit Schmach bedeckt, wieder hoch zu Ehren gebracht hatte. Auch wir wollen heute diesen Namen nicht nennen.
Wie dem deutschen Vaterlande von Westen her wieder neue Erniedrigung drohen darf – der tapfere Degen hat es nicht mehr erlebt. Wohl ihm! Möge das deutsche Volk dafür einstehen, daß wir diese Erniedrigung nicht erleben.
Es war im Jahre 1315, als zum ersten Male in den Urkunden der Geschichte der Name des „deutschen Hansabundes“ genannt wurde; allein bereits ein Jahrhundert früher finden wir Verbindungen einzelner Städte unter einander, um durch ein engeres Aneinanderschließen den bei der Zersplitterung Deutschlands und der Raub- und Beutesucht des Adels vielfach gefährdeten Handelsverkehr nach dem Innern wie nach dem Auslande zu sichern und zu fördern. Im Laufe der Zeit erweiterten sich diese Verbindungen, und in der zweiten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts – ein bestimmtes Jahr läßt sich nicht angeben – mögen diese Vereine wohl ihre erste Organisation als wirklicher Bund erhalten haben. Zunächst waren es Seestädte Niederdeutschlands, die sich [822] zu gemeinsamer Wehr gegen Seeräuber und zur Gründung von Niederlagen in den Ländern, mit denen sie einen lebendigen Handelsverkehr unterhielten, verbanden; und wenn sich auch diese erste Wirksamkeit des neuen Bundes anfangs nicht über die Küstenländer der Ostsee hinaus erstreckte, so werden am Ende des 13. Jahrhunderts doch bereits 23 (größtentheils niederdeutsche) Städte genannt, die dem Bunde zugehörten, während sich im folgenden Jahrhundert sein mächtiges Gebiet vom Ausflusse der Schelde bis nach Esthland erstreckte. Im Jahre 1343 ertheilte Magnus, König von Schweden und Norwegen, den Städten Lübeck, Rostock, Wismar, Stralsund und Greifswalde und der „deutschen Hansa“ überhaupt ausgedehnte Handelsfreiheiten, um durch Anschluß an diese bedeutsame Macht und den Beistand derselben die innern Wirren, die seine Königreiche zerrütteten, stillen zu können. Allein nicht immer gelang es dem Städtebund, sich auf solch friedliche Weise seine kostbaren Handelsprivilegien zu sichern, und oft sah er sich genöthigt, zum Schwerte zu greifen, um das gefährdete Recht gegen die eifersüchtigen Nachbarn und Fürsten zu vertheidigen. Eine der blutigsten Fehden hatte die Hansa gegen Dänemark zu bestehen, das sich jedoch endlich dem siegreichen Bunde beugen und unterwerfen mußte.
Als König Waldemar III. Atterdag den dänischen Thron bestieg, kam ein neues und besseres Leben in das zerrüttete, von Parteiungen zerrissene Reich. Er zwang die deutschen Fürsten im Wendenlande, in Cassubien, Pommern und Rügen, die sich der dänischen Lehnshoheit entzogen hatten, dieselbe wieder anzuerkennen; gewaltsam wurden die schwedischen Inseln Oeland und Gottland von ihm besetzt; namentlich empfand die auf letzterer gelegene, durch ihren blühenden Handel berühmte Stadt Wisby den Zorn des neuen Herrschers, der sie trotz ihrer Verbindung mit der mächtigen Hansa (1361) von Grund auf zerstören ließ. In Wisby hatten die deutschen Seefahrer und Kaufleute seit langen Jahren wichtige Handelsniederlagen, hier waren namentlich die Deutschen so zahlreich vertreten, daß sie einen ansehnlichen Theil der Stadt innehatten, Bürgerrecht besaßen und an der Magistratur theilnahmen. Achtzehnhundert Bürger, Deutsche und Gottländer, fanden unter den Mauern der Stadt den Heldentod gegen Waldemar’s Heer, und eine unermeßliche Beute fiel in die Hände der Sieger, deren König zu dem Titel eines Königs der Dänen und Wenden jetzt noch den eines Königs der Gothen hinzufügte.
Das unverschuldete Leiden der unglücklichen Schwesterstadt weckte die deutschen Communen aus ihrem Schlummer und forderte sie zur ungesäumten Rache auf. Zunächst schlossen sie mit Waldemar’s Feinden, den Königen Magnus und Hakon von Schweden und Norwegen, ein Bündniß: die Städte Lübeck, Wismar, Rostock, Stralsund, Greifswalde, Anklam, Stettin und Colberg traten enger zusammen; die preußischen Städte hoben allen Handel mit Dänemark auf und bewilligten einen Pfundzoll; zu ihnen gesellten sich noch von deutscher Seite der Graf Heinrich von Holstein und der Herzog Heinrich von Mecklenburg. An ihrer Spitze standen der Graf von Holstein und der lübeckische Bürgermeister Johann Wittenborg. Endlich schlossen sich noch vier andere Städte, Bremen, Hamburg, Kiel und Neustargard, mit Mannschaft und Schiffen dem Bunde an.
Anfänglich begünstigte sie das Glück: Oeland und Gottland wurden dem Dänenkönige wieder entrissen; die dänische Flotte erlitt eine nicht unbedeutende Niederlage; der sie befehligende Prinz Christoph empfing dabei eine tödtliche Wunde. Bald aber nahm die Sache der Deutschen eine unglückliche Wendung. Kaum war die Macht der Städte an den dänischen Küsten gelandet, als ihre Schiffe überfallen und mit bedeutendem Verluste nach den deutschen Häfen zurückgetrieben wurden. Man gab der Sorglosigkeit Wittenborgs das Unglück der deutschen Waffen schuld; der arme Bürgermeister wurde eingekerkert und nach zweijähriger Haft auf dem Marktplatze zu Lübeck enthauptet. Inzwischen gelang es jedoch den Städten, einen Waffenstillstand mit Dänemark abzuschließen, dem im nächsten Jahre (1363) ein Friede folgte, welcher aber auch nur von kurzer Dauer war. Zwar hatte König Waldemar mit mehreren Königen und Fürsten Europa’s neue Verbindungen angeknüpft und sogar von Kaiser Karl IV. einen Befehl an die Stadt Lübeck ausgewirkt, welcher dieser gebot, die dem Könige verpfändete und seit der Fehde ihm vorenthaltene Reichssteuer auszuzahlen; zwar hatte ihm Papst Urban V. den mächtigen Schutz des heiligen Stuhles zugesagt; zwar war ein päpstlicher Befehl an die Bischöfe von Kammin, Lübeck und Linköping ergangen, kraft dessen sie alle Rebellen und alle mit ihnen verbundenen Fürsten und Städte mit dem Banne belegen sollten. Allein dies Alles konnte den Muth der Communen der Ostsee nicht beugen; je stärker die Gefahr von außen sie bedrohte, desto mächtiger wuchs mit dem Bewußtsein ihrer guten Sache die stolze Zuversicht, und ein festes Ineinanderschließen sollte ihnen die Kraft verleihen, dem feindlichen Heere, wie zahlreich es immer auch sein möge, siegreich begegnen zu können. Zu Köln am Rhein traten die Genossen der Hansa zu einer engeren Verbindung zusammen (1364), und so sah Deutschland zum ersten Male, wie seine Bürger sich einigten, um dem Uebermuthe des Auslandes gerüstet entgegen zu treten. Nach der einstimmigen Aussage selbst dänischer Geschichtschreiber empfing Waldemar von siebenundsiebzig deutschen Hansa-Städten Fehde- und Absagebriefe. Zwar konnten die entfernteren und weniger bedeutenden Landstädte nur durch Geldbeiträge und durch einen Pfundzoll ihre Theilnahme am Kriege bethätigen; dafür rührten sich aber die deutschen Städte der Ost-, Nord- und Zuyder-See desto eifriger und gaben ein Beispiel von Eintracht, wie solches in der Geschichte Deutschlands kaum noch gefunden worden war.
Die Süderseeischen Städte rüsteten ihre Schiffe zu Campen aus und erschienen, die ersten, an den Küsten von Dänemark; kurz nach ihnen trafen die von der Ostsee ein, die trotz des kurz vorher abgeschlossenen Friedens dem Könige die Fehde ansagten, weil die Hansa solches beschlossen habe und sie diesem Beschlusse Folge leisten müßten; am eifrigsten zeigte sich Lübeck, das um diese Zeit überhaupt die bedeutendste Rolle in der deutschen Hansa spielte.
Waldemar Atterdag spottete Anfangs der hansischen Fehdebriefe und glaubte die Macht der Städte, an deren Einigkeit er zweifelte, leicht brechen zu können; allein nur zu bald rückte die Gefahr ihm näher auf den Leib und zwang ihn, an seine Räthe die Aufforderung ergehen zu lassen: „Alles anzuwenden, um den Zorn der deutschen Communen zu besprechen oder wenigstens ihre Verbindung wo möglich zu trennen.“ Wirklich glückte es auch dem Herzoge Barnim von Pommern-Stettin, als Vermittler des Königs Waldemar, und den dänischen Reichsräthen, noch in demselben Jahre einen Waffenstillstand und im nächstfolgenden (1365) einen Frieden festzustellen, der die Handelsfreiheiten der genannten Städte, wie überhaupt „aller Herren und Städte der deutschen Hansa“, bestätigte und vielfach erweiterte. Allein auch dieser Friede war nur von kurzer Dauer. Die Könige Magnus und sein Sohn Hakon von Schweden und Norwegen waren von ihrem Volke des Thrones entsetzt und an ihre Stelle der Freund der deutschen Städte und der Hansa, Herzog Albrecht von Mecklenburg, zum König erhoben worden. Waldemar sagte den Vertriebenen seinen Schutz zu, und nur durch Abtretung von Schonen, Gottland und Oeland konnte der neue Herrscher sich den Frieden mit Dänemark erkaufen. Dies erbitterte die Hansestädte, die noch einmal einen Bund mit Waldemar’s Feinden zu Stande brachten (1368). Außer dem neugewählten Könige Albrecht von Schweden traten dessen Verwandte, die Herzöge von Mecklenburg, die Grafen von Holstein und der aufgestandene nordjütische Adel mit den Städten der Hansa zusammen, um das dänische Reich zu erobern und zu theilen, wobei namentlich die Hansen die ausgedehntesten Handelsprivilegien in den zu erobernden Ländern Dänemarks zugestanden erhielten.
Diesmal fürchtete Waldemar, den drohenden Sturm nicht, wie früher, beschwören zu können; nur in eiliger Flucht erschien ihm ein Mittel der Rettung. Heimlich verließ er daher sein Reich und wendete sich nach Deutschland, wo ihm in Kaiser Karl IV. ein Freund und Beschützer lebte, dessen Hülfe er nicht vergebens anzusprechen hoffen konnte, während ihm die geretteten Schätze die Mittel zur Werbung von Truppen gegen den mächtigen Bund der Feinde verschaffen sollten. Allein Kaiser Karl konnte ihm keine andere Hülfe reichen, als einen ohnmächtigen Bannstrahl gegen alle seine Feinde und Rebellen, einen Blitz, der damals so wenig zündete, wie in unseren Tagen. Inzwischen wußten die verlassenen Räthe Waldemar’s, Henning von Podebusk, des Reiches Hauptmann, an ihrer Spitze, sich kaum zu retten und dem nahenden Sturm zu widerstehen. Zwar zogen sich die Verbündeten der Hansa ziemlich unthätig zurück, und König Albrecht von Schweden, der Mächtigste derselben, mußte selbst den Beistand der Städte in Anspruch nehmen, als er von König Hakon von Norwegen mit gewaffneter Hand überfallen wurde; allein die Hansestädte fühlten sich in ihrer Einigkeit kräftig genug, um allein den Kampf bestehen zu können. Zunächst überfielen sie, da König Hakon von keiner Neutralität [823] hören wollte, die norwegischen Küsten, plünderten Kirchen und Klöster, verheerten mit Feuer und Schwert mehrere Städte und fünfzehn Kirchspiele und brannten gegen zweihundert norwegische Dörfer nieder. Dieses durch Geist und Sitte der Zeit gerechtfertigte Verfahren bestimmte Hakon, um einen Waffenstillstand und Frieden mit den Städten nachzusuchen, wobei er allen Ansprüchen auf die schwedische Krone entsagte, den hanseatisch-gesinnten Albrecht von Mecklenburg als König von Schweden anerkannte und alle Handelsfreiheiten, welche die Hansa jemals in Norwegen besessen, von Neuem bestätigte. Dies geschah im Jahre 1370.
Unterdessen hatte dasselbe Glück die Städte auf ihrem Zuge gegen Dänemark begleitet. Gleich bei Eröffnung des Kampfes verheerte die hanseatische Flotte einen Theil der dänischen Küsten, vornehmlich Schonen, von wo sie König Albrechts Kriegsthaten unterstützte. Im folgenden Jahre eroberten die Hanseaten die Hauptstadt Kopenhagen und den Schlüssel des Sunds, das wichtige Helsingör, dann Nyköping, Falsterboe, Kanoer und Ellholm; gleichzeitig verheerten sie die seeländischen Küsten, nebst den Inseln Amak und Hween. Ihre kühnsten Hoffnungen waren weit übertroffen worden; sie waren Herren des Sundes und im Besitz der vortrefflichsten Punkte der Halbinsel Schonen, von wo aus sie Handel und Gewerbe im Norden Europa’s zu beherrschen vermochten.
Auch in diesem Kampfe leuchtete Lübeck’s Beispiel den übrigen Hansestädten hochherrlich voran; sechszehnhundert rüstige Männer dieser Stadt zeichneten sich rühmlichst dabei aus. Ihre Rathsmänner, Everhard von More und Gottschalk von Attendorn, befehligten die Flotte; Bruno von Warendorp, eines lübeckischen Bürgermeisters Sohn, war ihr Hauptmann. Ihn traf im Kampfe ein tödtliches Geschoß; aber die Hochachtung und Liebe seiner Mitbürger folgte dem verdienten Manne über das Grab hinaus; seine Asche wurde im Chor von St. Marien zu Lübeck beigesetzt und über der Gruft sein Bildniß, sein Schild und sein Helm den späteren Geschlechtern zur Nachahmung aufgestellt.
Vor diesem seltenen Glücke des deutschen Hansabundes erschraken des dänischen Reiches Hauptmann und Räthe, die in des Königs Abwesenheit die Regierung führten, und der ganze Gang des Krieges schien ihnen so gefährlich zu werden, daß sie schleunigst zu Stralsund Unterhandlungen mit den siegreichen Städten anknüpften. Ritter und Prälaten Dänemarks traten mit den Vertretern der Hansa zusammen und unterwarfen sich dem Machtspruche der Städte. Der ganze Trotz des siegreichen Bürgerthums, welches längst in Fürsten und Adel einen seiner Hauptfeinde zu erblicken begann, entfaltete sich den hoffährtigen Rittern gegenüber, welche in dem Kaufmannsstande ein niedriges Gewerbe erblickten und lieber auf wohlfeilere Weise zu Reichthum und Schätzen zu gelangen suchten. Umweht von den Bannern der von ihnen vertretenen Städte empfingen die Hanseaten die Abgeordneten des gedemüthigten Dänemark; sitzend gaben sie den stehenden Rittern und Prälaten ihren Willen kund, und wie hart auch immer die Bedingungen waren, Dänemark sah sich zur Annahme derselben gezwungen. Die festen Plätze auf Schonen mit den dazu gehörigen Landstrecken, somit fast das ganze Land, wurden nebst zwei Dritteln der daselbst eingehenden königlichen Einkünfte auf fünfzehn Jahre den Siegern als Schadenersatz überlassen. Falls aber der König auf diese Bedingungen nicht eingehen würde, so versprachen die Räthe des Reichs gleichzeitig, ihm die Rückkehr in sein Königreich so lange zu verweigern, bis er sie angenommen und diesen Frieden ratificirt haben würde. Nach einem längeren Schriftenwechsel zwischen den Betheiligten fügte sich der bedrängte König endlich nothgedrungen dem Willen der Hansa. Er versprach noch außerdem, daß, wenn durch fremde Hand den Städten die ihnen auf fünfzehn Jahre verpfändeten Schlösser auf Schonen entrissen werden sollten, er mit seinen und des Reichs Waffen sie dem gemeinschaftlichen Feinde wieder abnehmen und sie der Hansa überliefern wolle. Zum Unterpfand für diese neue Zusage trat er ihnen, außer den obengenannten Ortschaften, das Schloß Warberg in Halland ab, und versprach endlich noch, falls er die Krone niederlegen und einen Andern zum Könige von Dänemark bestellen würde, um hierdurch sich und seinen Nachfolger der geleisteten Zusage zu entledigen, so sollten des Reiches Räthe und Stände sich dagegen zu setzen berechtigt sein; keiner sollte zur Krone von Dänemark ohne Rath und Einwilligung der Hanse-Städte gelangen dürfen und keiner als rechtmäßiger König anerkannt werden, bevor er nicht die den Städten bewilligten Rechte und Freiheiten und diese von Waldemar mit ihnen eingegangenen Verträge bestätigt haben würde. Gleichzeitig erhielten die Städte, theils in gemeinschaftlichem Namen, theils einzeln, verschiedene Freibriefe für ihren Handel auf den dänischen Provinzen, vermöge welcher nicht nur die ältern Freiheiten bestätigt, sondern auch verschiedene neuere ihnen zugesichert wurden.
So glücklich waren von den Hanse-Städten Zeit und Umstände benutzt, so zweckmäßig ihre Kräfte verwendet, so glorreich diese erste bedeutsame Fehde beendigt worden, daß fortan der Name und das Ansehen des Hansebundes im ganzen Norden in hohen Ehren stand und die handeltreibenden Völker Europa’s sich willig dem Machtgebote der Hansa beugten. Und was war das Mittel, durch welches so hohes Ziel erreicht wurde? Der gegenseitige Beistand und die unverbrüchliche Eintracht der Glieder des Bundes, welche muthig den Kampf mit den Fürsten des Auslandes bestanden. Dies war sonst – und jetzt? Auch dem Feigsten im deutschen Volke steigt die Schamröthe glühend in’s Angesicht, wenn er des letzten Jahrzehnts und des Uebermuths der Dänen und ihrer Willkürlichkeiten gedenkt! Wann aber – fragen wir mit zornerfülltem Herzen – wann wird das Schamerröthen sich zur muthigen That umwandeln, welche die verlorne Ehre des deutschen Volks in Schleswig-Holstein wieder einlöst und mit dem Schwerte gut macht, was die Feder der Diplomaten gesündigt?! Wann wird das befleckte Blatt deutscher Schmach und Schande wieder herausgerissen werden aus den Jahrbüchern unserer Geschichte?! Die Fürsten Europa’s und ihre geheimen Räthe mögen darauf Antwort geben. Wir aber wollen nicht müde werden, zu mahnen und zu drängen, bis die ersehnte Stunde schlägt, wo das deutsche Volk sich rein wäscht von einer Schuld, welche Andere auf seine Schultern geladen!
Wohin wir blicken, überall herrscht in der Natur das Recht des Stärkeren, allenthalben wird der Schwächere unterdrückt, mißbraucht, vernichtet, wie es eben das Bedürfniß oder die Laune des Gewaltigen erheischt. Selbst die scheinbar wehrlose Pflanze lebt im steten Kampfe mit Ihresgleichen. Im Thierreiche hört dieser Krieg auf Tod und Leben niemals auf, und bei uns Menschen vermag erst die immer mehr sich ausbreitende Gesittung einen rechtlichen, friedlichen Zustand herbeizuführen. Das eben ist die Ursache von dem unaufhörlichen Kampfe der Gewalthaber gegen den geistigen Fortschritt und die moralische Veredelung der Völker, mit welcher dieses permanente Faustrecht völlig unverträglich ist; die rohe Gewalt kämpft eben um ihr historisches Recht. Eine uralte Verwirrung der Begriffe, noch herstammend aus jener Zeit, wo die Menschheit sich geistig kaum über die Thiere erhoben hatte, hat jenen gewaltthätigen Männern, welche ganze Völker zu Mord und Raub führten, wenn sie vom Glücke begünstigt waren, das Prädicat „der Große“ gegeben. Der unwissende Haufe staunt sie an, diese Vertilger der friedlichen Ebenbilder Gottes und ihrer Werke, und Niemand denkt dabei, daß ein solcher Held vielleicht für immer die geistigen Errungenschaften von Jahrhunderten vernichtet hat, um berühmt und mächtig zu werden. Auch unser Jahrhundert ist trotz seiner gerühmten Bildung und Humanität nur zu reich an solchen großen Männern, und was man noch vor wenigen Jahren von friedlichem Fortschritt, von der Unmöglichkeit blutiger Kriege für die Zukunft phantasirte, hat nur zu schnell eine traurige Widerlegung gefunden in den großartigen Schlächtereien der jüngsten Zeit.
Wenn wir als Idealisten darum an der Menschheit verzweifeln möchten, dann gewährt oft noch die Betrachtung der Natur den einzig möglichen Trost; denn sie führt uns auf den thatsächlichen Standpunkt zurück. Wir wollen deshalb einmal untersuchen, ob die Naturwissenschaft derartige Vergewaltungen nicht wenigstens [824] dadurch erträglicher zu machen im Stande ist, daß sie dieselben als Folge eines Naturgesetzes nachweist. Von diesem Gesichtspunkte aus erscheinen uns freilich jene von der gedankenlosen Masse angebeteten Kriegs- und Zwingherren des Menschengeschlechtes, entkleidet von dem Nimbus der wahren Menschenwürde, kaum auf höherer sittlicher Stufe, als jene Raubthiere, die aus bloßer Mordlust weit über ihr Nahrungsbedürfniß Alles tödten, was sie erreichen können.
Als der scharfsinnige Beobachter der gesellig lebenden Insecten, Fr. Huber, zuerst bekannt machte, daß die röthliche Ameise (Formica rufescens) die Arbeiterpuppen anderer Ameisenarten raubt, um die daraus erzogenen Jungen zu ihren eigenen häuslichen und auswärtigen Verrichtungen zu benutzen, da war es wohl Niemandem zu verargen, wenn eine so unglaublich scheinende Erzählung als die Ausgeburt einer krankhaften Phantasie angesehen und zu den zahlreichen Fabeln gezählt wurde, welche von Aristoteles und Plinius an bis zum Anfange dieses Jahrhunderts zur Erbauung leichtgläubiger Leser in den Naturgeschichten paradirten und nicht wenig dazu beitrugen, die Wahrheitsliebe der Naturbeschreiber verdächtig zu machen. Als man sich aber endlich doch dazu entschloß, die Sache selbst zu beobachten, wurden Huber’s Wahrnehmungen durch Latreille, Voigt, Hanhart, Schenk und viele Andere in allen ihren Theilen bestätigt und noch vielfach vermehrt. In der neuesten Zeit hat auch der geistreiche Darwin diesem Gegenstande seine Aufmerksamkeit zugewendet, und als Resultat seiner Beobachtungen die völlige Abhängigkeit der röthlichen Ameise von ihren Sclaven bekannt gemacht, so zwar, daß dieselbe noch nicht einmal ohne deren Hülfe fressen könne und dem sicheren Hungertode erliegen müßte, wenn man ihr die Diener nähme, welche, im Puppenzustande geraubt, sich ganz so betragen, als gehörten sie zu dem ihnen doch ursprünglich fremden Staate.
Nach Darwin arbeiten die Männchen und fruchtbaren Weibchen dieser Ameisenart durchaus nichts; sie besorgen nur die Fortpflanzung, die geschlechtslosen Arbeiter aber beschäftigen sich ausschließlich mit dem Raube der Puppen anderer Ameisenarten, wobei sie sich übrigens sehr muthig und thatkräftig benehmen. Nicht einmal ihre Nester können sie selbst bauen, ihre Jungen nicht verpflegen. Ist das alte Nest auf irgend eine Weise unbrauchbar geworden, so erwählen die Sclaven einen passenden Platz für ein neues Nest und schleppen, wenn sie dasselbe fertig gebaut haben, ihre Herren vorsichtig zwischen ihren Kinnladen in die neue Wohnung. – Huber sperrte dreißig röthliche Ameisen mit ihren Larven und Puppen und einer reichlichen Menge des besten Futters ein, ohne ihnen Sclaven beizugeben; sie fütterten weder die Larven, noch fraßen sie selbst, sondern verhungerten größtenteils. Hierauf brachte er einen einzigen Sclaven, eine braune Ameise in den Behälter; dieser begann sogleich die noch lebenden zu füttern, baute einige Zellen für die Larven, verpflegte sie mit der größten Sorgfalt und hielt von nun an den kleinen Staat in der besten Ordnung.
Auch von der blutrothen Ameise, welche in Süd-England, Deutschland und der Schweiz lebt, berichtet Huber, daß sie Puppen anderer Ameisenarten raubt; H. F. Smith und Darwin bestätigen diese Beobachtung. Letzterer öffnete 14 Nesthaufen dieser Ameisenart und fand in jedem derselben schwarzbraune Ameisen als Sclaven, aber immer nur Arbeiter, kein Männchen oder Weibchen, es scheint demnach, daß der Fluch der Sclaverei vorzugsweise auf dieser Ameisenart lastet, obgleich wir später sehen werden, daß auch mehrere andere Arten, wenn auch seltener, diesem Geschicke nicht entgehen können. Diese schwarzbraunen Sclaven sind nur halb so groß, als ihre rothen Herren.
Stört man den Haufen nur ein wenig, so kommen Herren und Diener hervor, um zu sehen, was da vorgeht; hat man dabei auch Puppen aufgescharrt, so eilen Herren und Diener, sie wieder in Sicherheit zu bringen. – In der Regel sieht man die Sclaven nie außer der Wohnung, wo sie nur mit der Pflege der Jungen beschäftigt zu sein scheinen; sie öffnen aber am Morgen und schließen am Abend die Eingänge zu ihrer Wohnung. Das Herbeischleppen von Baumaterial und Futter ist Sache der stärkeren Herren, nur wenn die Diener zahlreich sind, geht ein Theil derselben aus, um Blattläuse zu melken. Diese Ameisenart ist kräftig und tapfer; bei ihren Wanderungen trägt sie die um die Hälfte kleineren schwarz-braunen Sclaven in ihren Freßzangen mit, also das umgekehrte Verhältniß, wie bei der röthlichen Ameise, auch nehmen die Arbeiter ihrer eigenen Art an allen Geschäften des Staates thätigen Antheil. – Schenk fand außer der gewöhnlicheren schwarzbraunen auch noch in geringerer Zahl Sclaven von zwei anderen Arten (F. eunicularia und aliena) in ihren Nestern.
Da die blutrothe Ameise in Deutschland nicht selten, die schwarzbraune aber sehr gemein ist, kann man ihre Raubzüge häufig beobachten. Darwin beschreibt einen Ueberfall eines Haufens der schwarzbraunen Ameise durch blutrothe; der Kampf war mörderisch und endete mit der Niederlage der Angegriffenen. Die Leichen der gebliebenen Feinde wurden von den Siegern in ihre Wohnung getragen, wahrscheinlich um dort gefressen zu werden (denn man findet oft in ihren Nestern zahlreiche Leichen anderer Ameisenarten); die erbeuteten Puppen schleppten sie im Triumphe nach Haus. – Wer denkt bei diesem Auffressen der getödteten Feinde nicht an die Bewohner der Südseeinseln und manche Negerstämme? – Auch die kleine, aber sehr muthige gelbe Ameise wird nach Smith und Schenk zuweilen von der blutrothen zu Sclaven gemacht. Darwin fand einst zwei Nester beider Arten über einander nur durch einen flachen Stein getrennt; beim Aufheben des Steines wurden beide Colonien gestört; es entspann sich ein wüthender Kampf, wobei die blutrothen anfangs vor den Puppen, sogar vor der Erde aus dem Neste der gelben die Flucht ergriffen; erst als die letzteren alle sich entfernt hatten, trugen die ersteren deren zurückgelassene Puppen in den unzerstört gebliebenen Theil ihrer Wohnung.
Eines Abends fand Darwin in der Nähe eines Haufens der blutrothen Ameise eine Anzahl derselben, auf dem Heimwege, Leichen und Puppen der schwarzbraunen Ameise mit sich schleppend. Er verfolgte diesen beutebeladenen Heereszug 40 Ellen weit bis zu einem dichten Haidegebüsche, wo er noch den letzten der Räuber, mit einer Puppe zwischen den Freßzangen, hervorkommen sah. Das zerstörte Nest konnte er jedoch nicht finden; einige schwarzbraune Ameisen liefen in der größten Aufregung umher, eine hing bewegungslos an einem Haidezweige, alle hielten gerettete Puppen im Maule.
Bemerkenswerth ist der Gegensatz in dem Verhältniß dieser beiden Ameisenarten zu ihren Sclaven. Die rötliche Ameise ist von Natur hülflos, und darum von ihren Dienern in Allem abhängig; sie bestimmt weder ihre eigene Wanderungen, noch baut sie selbst ihr Nest, oder wählt auch nur den Platz zu demselben; sie läßt sich sogar von ihnen füttern, und ihre Art würde demnach ohne einen zahlreichen Sclavenstand schnell aussterben, denn ihre einzigen Verrichtungen sind die Fortpflanzung ihres hülflosen Geschlechtes und der Sclavenraub. –
Die blutrothe Ameise dagegen kann auch für sich bestehen; sie findet es aber bequemer, zur Zeit der vermehrten Arbeit sich fremde Hülfe zu verschaffen, darum hat sie auch im Anfange des Sommers nur wenige Sclaven, von da an vermehrt sie aber beständig die Zahl derselben. Die Ausführung der Raubzüge, die Wahl des Ortes zu einer neuen Wohnung sind allein Sache der stärkeren Herren, die überdies auf den Wanderungen die schwächeren und kleineren Sclaven zu tragen pflegen. – Die Erziehung der Jungen und die inneren Arbeiten in der Wohnung, welche weniger Kraft erfordern, fallen diesen anheim, die auch am Morgen die Wohnung öffnen und am Abende schließen müssen. Herren und Sclaven arbeiten aber zusammen, um Baumaterial und Nahrung herbeizuschaffen; das Melken der Blattläuse dagegen ist vorzüglich das Geschäft der Diener.
Für das Denkvermögen dieser Thierchen spricht der Umstand, daß nicht in jedem Lande diese Ameisenarten von ihren Dienern gleiche Hülfe in Anspruch nehmen; in der Schweiz verrichten die Sclaven der blutrothen Ameise, welche dort auch viel zahlreicher sind, als in England, weit mehr Dienste, als dort, und dieser Umstand muß uns wohl auf den Gedanken führen, daß das Sclavenhalten kein angeborner Trieb, sondern das Ergebniß einer zufällig gemachten Beobachtung dieser Insecten sei, indem wohl manche zum Behufe der Nahrung geraubte Puppen in ihrer Wohnung zu Ameisen entwickelt wurden, die sich dann durch Arbeit nützlich machten, woraus später allmählich die Sclaverei hervorging.
Wie läßt sich aber diese Einrichtung bei der so ganz hülflosen röthlichen Ameise erklären? Ist diese Art vielleicht, erst durch das Sclavenhalten bis zu ihrer jetzigen Verkommenheit herabgesunken? etwa wie manche Großen im Oriente, die jedoch außer der Fähigkeit, ihr Geschlecht fortzupflanzen, noch das Vermögen, ohne fremde Beihülfe zu essen, behalten haben. – Andererseits ist aber auch nicht denkbar, daß eine Thierart von Anbeginn an [825] in einer so trostlosen Abhängigkeit könnte gelebt haben, ohne schnell auszusterben. Der jetzige Zustand kann nur ein völlig abnormer sein, eine Folge des Sclavenhaltens; eine ernste Mahnung für das Menschengeschlecht, das freilich daraus so wenig lernen wird, wie aus seiner eigenen Geschichte. Es sind übrigens die beiden erwähnten Ameisenarten keineswegs die einzigen, welche die Puppen anderer rauben, um die aus denselben erzogenen Arbeiter als Sclaven zu benutzen, wir kennen deren bereits mit Sicherheit acht, und es ist diese Sitte vielleicht der ganzen Ameisenfamilie eigen.
Nicht weniger auffallend, als das Sclavenwesen der Ameisen, ist die Art, wie sie die Aussonderungen mancher anderen Insecten benutzen, und die Schonung und Wege, welche sie, die doch ihre eigenen Stammverwandten zu fressen pflegen, diesen ihnen ganz fremden Thieren zu Theil werden lassen; ein Verfahren, das nur mit unserer Viehzucht verglichen werden kann, und das sonst nirgends im ganzen Thierreiche wahrgenommen wird. Vor Allen sind es die Blattläuse, deren süße Aussonderung, bekannt unter dem Namen Honigthau, häufig im Anfange des Sommers die Blätter vieler Bäume mit einem verderblichen Firniß überzieht, und außer manchen anderen Insecten besonders die Ameisen anlockt. Man sieht diese dann in zahlreichen Zügen an den Bäumen auf- und ablaufen und theils von den Blättern den Honigsaft ablecken, noch öfter aber sich auf eine Weise mit den Blattläusen beschäftigen, welche Huber sehr treffend mit dem Melken der Kühe verglichen hat. – Die Blattlaus gibt nämlich aus zwei an ihrem Hintertheile emporgerichteten Röhrchen den erwähnten Honigsaft von sich, und wird von der Ameise durch Kitzeln vermittelst ihrer Fühler zu einer reichlicheren Entleerung derselben veranlaßt, worauf diese sogleich die austretenden Tröpfchen einschlürft.
Darwin beobachtete dieses Melken der Blattläuse, indem er ein Dutzend derselben einsperrte und die Ameisen sorgfältig von ihnen abhielt. Nach einigen Stunden hatte noch keine der Gefangenen Honigsaft ausgeschwitzt; er kitzelte sie nun mit einem Haare am Bauche, wie es die Ameisen mit ihren Fühlern zu thun pflegen, aber es erfolgte auch da keine Absonderung. Endlich ließ er eine einzige Ameise in den Behälter; diese lief begierig von einer Blattlaus zur anderen, und sobald sie mit ihren Fühlern den Bauch derselben berührte, sonderte diese einen Tropfen Honig ab, den die Ameise begierig aufleckte; dasselbe thaten sogar die mittlerweile gebornen noch winzig kleinen Blattläuse. – Dieses Melken ist doch unstreitig das Ergebniß der Erfahrung und eines auf dieselbe gegründeten Schlusses.
Bei einer mexicanischen Ameisenart (Myrmecocystus) findet man außer Männchen und Weibchen noch zwei verschiedene Kasten von Arbeitern oder Geschlechtslosen; die eine derselben arbeitet nicht, und verläßt nie das Nest; sie wird von den eigentlichen Arbeitern gefüttert; dafür aber scheidet sie in ihrem umfangreichen Bauche eine große Menge Honig ab, welcher von den andern Bewohnern des Staates gefressen wird; sie bilden gewissermaßen den Viehstand der Gesellschaft. Dieses Verhältniß ist da noch auffallender, wo ganz fremdartige, mitunter im Vergleiche zu den Ameisen riesengroße Insecten theils aus freiem Willen sich in die Pflege derselben begeben, theils von denselben in ihre Wohnungen geschleppt und dort auf das Sorgfältigste mit allem Nothwendigen versehen werden, wogegen die Ameisen deren Excremente für sich in Anspruch nehmen.
Wir kennen viele Insecten, welche mit einigen oder vielen Ameisenarten in solchem häuslichen Verhältniß stehen. Märkel zählt deren schon 284 auf; es sind darunter Hautflügler, selbst Schlupfwespen, die doch als Larven in anderen Insecten leben, Fliegen, Asseln und zahlreiche Käferarten, von welchen manche ihr Larvenleben nur in den Haufen gewisser Ameisen zubringen. – Sehr auffallend ist die sorgsame Pflege, deren sich die Blattläuse (welche sich von den Wurzelsäften benachbarter Gewächse nähren, oder in Baumnestern von den Säften des jungen Holzes) von Seiten der Arbeitsameisen erfreuen; ihre kleinen schwarzen Eierchen, sowie die ausgebildeten Blattläuse selbst, werden von denselben ebenso sorgfältig gepflegt, hin und her getragen und bei vorkommender Gefahr gerettet, wie ihre eignen Puppen; sie stehen vollkommen in dem Verhältniß unserer Hausthiere.
Was wir hier über das Sclavenwesen und, wenn wir uns des Ausdruckes bedienen dürfen, über die Viehzucht der Ameisen berichtet haben, ist das Ergebniß fleißiger Forschungen wahrheitsliebender Männer, frei von jeglicher Zuthat der Phantasie, die allerdings in der Kindheitsperiode der Naturwissenschaft sich nicht selten erlaubt hat, die Beobachtungen auf Kosten der Wahrheit mit ihren Gebilden auszuschmücken. – Wir dürfen jedoch die betreffenden Untersuchungen noch lange nicht als abgeschlossen betrachten und können gewiß in nicht sehr ferner Zeit über die Lebensweise der Ameisen neue Aufschlüsse erwarten, die das geistige Leben dieser Insecten, sowie der Thiere überhaupt, auf ungleich höherer Stufe werden erscheinen lassen, als die, auf welche eine einseitige Dogmatik, vereint mit dem Uebermuthe der Unwissenheit, sie zu stellen beliebt hat.
Die angeführten Thatsachen als wahr vorausgesetzt (und Jeder kann sie ja leicht selbst beobachten), ist es doch wohl nicht möglich, diesen kleinen Insecten das Denkvermögen abzusprechen, den geistigen Fortschritt zu leugnen, welcher ihre je nach den Umständen mannichfach abgeänderte Handlungsweise so augenscheinlich beurkundet; sie sind offenbar beseelt, wie wir, und wenn wir zwischen ihrer und unserer Seelenthätigkeit einen Vergleich anstellen wollten, so würden wir die Verschiedenheit beider vorzugsweise darin begründet finden, daß ihre Denkobjecte nur materieller, die unserigen auch oft geistiger Art sind, sobald nur erst die Bedürfnisse unseres Körpers ihre Befriedigung gefunden haben.
Obgleich wir unserer Zeit durch das Sprüchwort: „Es gibt nichts Neues unter der Sonne“ ein zu starkes Armuthszeugniß ausstellen, ist es doch richtig, daß die meisten unserer stolzen Erfindungen, Entdeckungen und Fortschritte nur aufgewärmte alte Geschichten, ja sogar Abschwächungen alter Originale sind. Mit unsern kühnsten Fortschritten in der „Freiheit“ erreichen wir noch lange nicht das älteste, deutsche, freie Gau- und Gemeindeleben, dessen sich unsere Bärenhäuter von Vorfahren erfreuten, ehe Christus geboren und die Hermann-Schlacht gewonnen ward. Unsere glorreichsten Erfindungen, Schießpulver, Buchdruckerkunst, Dampf als Pferdekraft etc. sind zum Theil schon vor Jahrtausenden gemacht worden. Hero von Alexandrien spielte schon vor 2 Jahrtausenden mit Dampf als einer bewegenden Kraft, die Chinesen schossen mit Pulver wohl 800 Jahre früher, als es in Deutschland einen Berthold Schwarz gab, und sie druckten Bücher, als die abendländische Welt weder Papier noch Tinte und Feder kannte. Sie curirten Krankheiten durch Brennen (moxa) und Stechen der Haut schon vor Christi Geburt, eben so wie die Japanesen, Indier und Libyer. Diese Brenn- und Stech-Praxis kam in Europa erst zu Ende des vorigen Jahrhunderts als etwas ganz Neues zum Vorschein, und erst vor Kurzem ließ sich ein deutscher Arzt ein Instrument, das aus Nadeln und einer Sprungfeder besteht und womit man rheumatische und gichtische Haut „zu neuem Leben erweckt“, – patentiren.
Künstliche Unempfindlichkeit bei Leidenden und Kranken wußten schon die alten Egypter, Griechen und Römer zu erzeugen, wenn auch nicht durch Chloroform, wohl aber durch den Saft der Mandragora, die jetzt in der Liste officineller Apothekerkräuter gestrichen ist. Der berühmte Paracelsus sprach schon das Princip der Homöopathie aus, da er an einer Stelle wörtlich rieth, man solle Gleiches durch Gleiches vertreiben, und der alte Arzt Avicenna prakticirte schon 500 Jahre vor Hahnemann als Homöopath, da er hauptsächlich die tödtlichsten Gifte in unendlich kleinen Dosen als Arznei gab. Der berühmte Philosoph Cartesius tödtete sich durch Anwendung des homöopathischen Princips in großen Dosen: er wollte sich ein Fieber durch wiederholtes Einnehmen großer Quantitäten Alkohol curiren und starb daran.
Der Kaiser Augustus, unter dessen Regierung Christus geboren ward, ließ sich von Prießnitz, dem großen Wasserdoctor, curiren, wenigstens von dem ersten Hydropathen Musa Antonius. Der Kaiser ließ ihm dafür eine bronzene Statue setzen. Freilich den Neffen des Kaisers, Marcellus, tödtete er durch seine kalten Douchen.
Macadamisirung der Straßen und öffentlichen Wege, in Europa erst während dieses Jahrhunderts als etwas ganz Neues auftretend, [826] war bei den alten Römern schon Jahrhunderte vor Christi Geburt etwas Altes und Gewöhnliches. Sind aber Heiraths-Bureaux nichts Neues? Vielleicht in der Praxis, aber die Idee dazu gab schon der alte griechische Philosoph Plato in allem Ernste und in der Absicht, Ehen zu erleichtern und die Wahl auf vorhergegangene Prüfung und genauere Bekanntschaft zu gründen.
Selbst was nur als eine Blüthe des ganz modernen Handelns und Schacherns, Anpreisens und „Puffens“ erscheint, das marktschreierische Anzeige-Unwesen, ist bei den Chinesen nicht nur sehr ausgebildet, sondern auch schon alt. Die chinesischen Doctoren der Medicin und Heilkunst haben ungeheure Schilder vor ihren Thüren mit großen goldenen und buntgemalten Buchstaben und innerhalb ihre „Bjans“ d. h. Verzeichnisse von Tausenden, die durch sie und ihre Mittel vom Tode gerettet wurden. Aehnliche Pufferei ist unter andern concurrirenden Professionen und Händlern in den verschiedensten, schreienden Formen ganz an der Tagesordnung. Vor mehr als tausend Jahren waren die Wände Roms mit ungeheuren Placaten geschmückt, farbigen, gemalten Theaterzetteln, Einladungen zu Gladiator-, Wett- und Gaukelspielen aller Art, wenn auch nicht von Papier, aber doch von Holz, das man oft in größter Ausdehnung anwendete und schwarz und roth bemalte, um gehörig zu „puffen“. Gedruckt wurde noch nicht, insofern es sich um Anzeigen und Bücher handelte, aber die Druck- und Setzerkunst war nicht nur bekannt, sondern auch im Gebrauch. Die Töpfer und sonstige keramische Künstler pflegten bei den alten Römern schon lange vor Christi Geburt mit Hülfe beweglicher Lettern und Zeichen ihre Namen und Devisen auf Geschirre und Vasen zu drucken.
Wir könnten dieses Thema noch weiter und in größern Einzelheiten verfolgen, wollen uns aber hier damit begnügen, das hohe Alter und die große Verbreitung des während der letzten zehn Jahre als ganz neu und unerhört auftretenden Tischdrehens und Geisterklopfens nachzuweisen. Unter den egyptischen Priestern wurde die geisterhafte Tischdreherei schon Jahrtausende vor Christi Geburt betrieben. Von ihnen ging das Geschäft auf griechische und römische Geistliche und Betrüger über. Bei den Römern war schon vorher die Sieb-Dreherei Mode gewesen. Später kamen die Dreifüße und Tische an die Reihe. Marcellinus, der unter dem Kaiser Diocletian wegen der Verfolgung vom Christenthume wieder zum Heidenthume überging, verfolgte und denuncirte die damaligen Christen besonders wegen ihrer Praxis mit „mensae divinatoriae“, göttlichen, weissagenden, redenden Tischen. Schon Tertullian eiferte gegen die Sieb- und Tischdreherei und alle Personen, „die an Engel und Dämonen glauben und sich von Ziegen und Tischen wahrsagen lassen.“
Aus den Zeiten des Kaisers Valens ist noch ein Actenstück übrig, in welchem eine mysteriöse Tischdreherei für Offenbarungszwecke genauer beschrieben ist. Unzufriedene hatten sich gegen das Leben des Kaisers verschworen und waren entdeckt worden. Im Verhör gestanden sie, daß sie einen „prophetischen Tisch“ um Rath gefragt hätten, um die rechte Art und Weise der Ermordung zu hören. Eine Stelle ihrer Aussagen lautet: „Erhabene Richter, wir haben einen kleinen Tisch nach Muster des Dreifußes, auf welchem das Orakel zu Delphi weissagte, gebaut und ihn mit feierlichen Sprüchen und Zweigen des heiligen Lorbeer geschmückt. Nach Vorschrift alter Gebräuche haben wir ihn mit verschiedenen Zierden umgeben und ihn mit Zauberformeln, mystischen Versen und Talismans geheiligt. Nachdem dies geschehen, ließen wir ihn sich bewegen.“ Nach einem weiteren Berichte über ihr Verfahren beschreiben sie die Art, wie sie das Zimmer und das Haus, worin der Tisch seine Weisheit leuchten lassen sollte, reinigten und läuterten, und wie die metallische Grundlage, auf welcher er stand, beschaffen war. Am Rande dieser Grundlage ringsum waren die 24 Buchstaben des Alphabets eingegraben und zwar in gleichen Entfernungen von einander. Mit Hülfe dieser Buchstaben gab der drehende und tanzende Tisch dem Fragen stellenden Priester seine weisen Antworten, die wenigstens für weiser gehalten wurden, als alle Gedanken und Vernunftgründe der „mit Geist begabten“ Menschen. Der Priester war ganz weiß gekleidet und hatte einen Zweig Eisenkraut in der Hand. Vom tanzenden Tische hingen Ringe herab, von denen manchmal einer einen Buchstaben unten berührte. Der Priester schrieb jedesmal einen solchen Buchstaben auf und stoppelte endlich so eine Antwort auf seine Frage zusammen. Für Erzeugung der geheimnißvollen Kraft, welche dem Tische Bewegung gab, galten, wie auch beim modernen Spiritualismus, die aufgelegten Hände von Frauen, Mädchen und Kindern für die wirksamsten. Die Verschwörer unter Valens hatten sich freilich wegen der Heimlichkeit unter sich und ohne weibliche und Kinderhände behelfen müssen. Ihr tanzender Tisch schlug mit seinen klimpernden Ringen zuerst hintereinander die Buchstaben Th und E, als er Antwort auf die Frage geben sollte, wer der rechte Nachfolger des Valens sei. Nach allgemeiner Ansicht war es Theodorus. Dies glaubten auch die Verschwornen, so daß ihr Priester den Tisch nicht weiter bemühte; die beiden Anfangsbuchstaben galten für hinreichend. Kaiser Valens hatte inzwischen auch auf eine höchst feierlich übernatürliche Weise erfahren, wer sein Nachfolger sei. Er hatte zu diesem Zweck zu der schwarzen Kunst der Alectryomantie Zuflucht genommen. Dies war eine sehr naive und einfache Art, die Geheimnisse und den Willen der alten Diplomaten von römischen und griechischen Priestern zu erfahren. Hier ist nämlich blos ein Henning, ein König des Hühnerhofes, ein gemeiner Kikeriki nöthig. Man wirft die Buchstaben des Alphabets auf die Erde, bestreut sie mit Getreidekörnern und läßt den Hahn nach Herzenslust aufpicken. Der Buchstabe, den er zuerst rein frißt, ist der erste der Antwort und so fort. Nun begab es sich, daß der alectryomantirende Hahn des Kaisers Valens nach einander die Buchstaben Th – E – O – D rein pickte; also kein Zweifel: auch er, Freund Henning von Kikeriki, war der Ansicht, daß Theodorus als Kaiser folgen müsse. Valens aber haßte den Theodorus und ließ ihn, um dem göttlichen Hahne einen Streich zu spielen, todt machen. Aber Hahn blieb Hahn im Korbe, und auch der Tisch der Verschwornen behauptete sein Recht: dem Kaiser Valens folgte nämlich ein Held, der sich „The“ und „Theod“ anfing, nämlich Theodosius, so daß Hahnenfraß und Tischtanz zugleich einen Triumph über menschliche Diplomatie und Macht feierten. – Und solche Triumphe sind nicht einmal etwas Wunderbares, da in einem gut gearbeiteten Tische allerdings oft viel mehr Verstand steckt, als in den weisesten und schlauesten Plänen der Diplomatie, so daß auch ein gemeiner Misthof-Absolutist mit seinem Bischen Gehirn leicht zum Haupt-Hahne unter den Leuten werden kann, die Weisheit und Offenbarung krähen.
Tischdreherei und noch ganz andere Locomotiv-Zauberkünste sind bekannt in Indien, Cochin-China, Tibet und andern orientalisch-asiatischen Ländern. Die cochin-chinesischen Zauberer drehen nicht nur Tische, sondern ziehen auch Kähne und Boote vom Ufer aus durch geheimnißvolle Kräfte auf dem Wasser hin. Wenigstens las ich etwas der Art in einem Reisebuche über Cochin-China. Von Jesuiten-Missionären, denen es gelang, bis in das Innere des absolutesten, verschlossensten Priesterstaates, Tibet, zu dringen, haben wir vernommen, daß die Lamas oder Priester nicht nur Tische tanzen lassen, wie sie pfeifen, sondern auch, wie Home, sie in der Luft schwebend erhalten. Ein Russe berichtet aus eigener Erfahrung, daß diese Tische dazu abgerichtet sind, unter Leitung der Priester als Denuncianten und Entdecker von Verbrechen zu dienen. Ist ein Mord begangen worden und der Mörder unbekannt, so wird ein Lama zu Rathe gezogen, welcher sich an einen Tisch wendet, der ihn erleuchten soll. Er setzt sich vor dem Tische auf den Boden, legt eine Hand auf den Tisch und lies’t schreckliche Beschwörungsformeln aus einem dicken heiligen Buche. Etwa nach einer halben Stunde steht er auf und legt den ganzen Arm über den Tisch, der nun anfängt, Beine zu kriegen oder vielmehr Flügel; denn er erhebt sich und fliegt nach einer Richtung fort, welcher der Priester mit aufgelegtem Arme folgt, was oft sehr schwer wird, da der Tisch sich nicht nur sehr schnell dreht, sondern auch in einer Richtung vorwärts fliegt. Doch bald wird er müde, legt sich auf eine Seite und verpustet sich, der geistervolle Tisch. In der Richtung, die er nahm, muß man nach dem Verbrecher suchen. Bei einer solchen Gelegenheit hatte der betreffende Lama schon erklärt, daß ihn der Tisch irre geleitet habe, da in der von ihm angedeuteten Richtung der unbekannte Urheber eines Diebstahls nicht entdeckt werden konnte. Der Lama versuchte es ein zweites und drittes Mal, aber vergebens, der Tisch schien sich in der Richtung total geirrt zu haben. Doch nach dem dritten Laufe des Tisches – stets in derselben Richtung – hing sich ein Mann, der in dieser Richtung wohnte, auf. Man untersuchte dessen Wohnung und fand das gestohlene Gut. Natürlich, wie hätte sich auch so ein gottbegabter Tisch irren können? – Der Russe, der diesen Fall als Augenzeuge erzählte, fügte hinzu, daß eine genaue Untersuchung [827] des Tisches durchaus keine Spur von geheimer Maschinerie oder Humbug gezeigt habe.
Der alte Gottesgelahrte Kirchner schrieb vor 200 Jahren schon über den thierischen Magnetismus und behauptete, daß Körper mit natürlichem oder künstlich mitgetheiltem thierischen Magnetismus – frei gesetzt oder gestellt – sich entweder vorwärts bewegen oder drehen würden. Die Drehungen von Flüssigkeiten auf den Polen künstlicher Magnete sind bekannt. Der alte Professor Schweigger in Halle bewies zu meiner Zeit auf der Universität, daß die alten Zwillingsfiguren Griechenlands, Castor und Pollux, Versinnlichungen dieser magnetisch erzeugten Drehungen seien. Die wissenschaftlichen Spiritualisten unserer Tage haben gefunden, daß Tische und andere künstlich in Bewegung gesetzte Körper fast immer nach Norden sich bewegen, wenn die zu starke Drehung um ihre eigene Achse diese Richtung nicht überwindet. Aber die Tische drehen sich nicht blos, die Geister bedienen sich ihrer auch zu einer, allerdings sehr unbeholfenen und unsichern, Zeichensprache. Auch davon finden sich Spuren im fernsten Alterthume. Mit animalischem Magnetismus wirthschafteten egyptische Priester schon vor den Zeiten des Moses. Ihre Kunst ging bald zu den Griechen über, welche die professionellen Magnetiseurs Oneiropoletä nannten, d. h. Traumhändler. Personen, die Rath von den Göttern, Mittel gegen körperliche und geistige Leiden begehrten, wandten sich an solche Oneiropoleten, welche sich nun im Tempel durch magnetische Operation in Schlaf versenkten, für ihre Patienten schliefen und träumten und daraus Rath und Mittel für dieselben entnahmen. Den magnetischen Schlaf erzeugten sie ebenso, wie es heut zu Tage häufig gemacht wird, durch Reibungen und Bestreichungen oder bloße Bewegungen mit der Hand vor dem Gesichte, durch festen Blick auf einen von oben herabhängenden Gegenstand oder auf einen Spiegel, der auf einer Wasserfläche schwamm.
Der heilige Augustin, Vater des Ausspruches: „Credo quia absurdum“ (Ich glaube, weil es Unsinn ist), berichtete von einem Geistlichen der christlichen Kirche, daß er sich ganz nach Belieben in einen ganz todähnlichen Zustand versetzen konnte, so daß er weder Stiche, noch Schläge und Verwundungen fühlte. Nach einem andern Berichterstatter über diesen Priester brachte er sich ganz nach Art der griechischen Oneiropoleten in magnetischen Schlaf, in welchem er, wie die modernen mesmerirten Schläfer, unbewußt aber mit göttlicher Allwissenheit auf an ihn gerichtete Fragen antwortete, auch zuweilen in den Zustand eines hellsehenden Somnambulismus gerieth. Beispiele magnetischen Hellsehens werden von alten Schriftstellern des Heidenthums erwähnt, und wir haben Ursache anzunehmen, daß das Orakel zu Delphi und die weissagende Pythia auf dem Dreifuß unter dem Einflusse eines künstlich gereizten thierischen Magnetismus im Schlafe sprachen. Die „Eleusinischen Mysterien“ der alten Griechen beruhten auf unvollkommen verstandener Naturwissenschaft, auf elektrischen und magnetischen Erscheinungen. Auch die alten Sibyllen Roms waren magnetisch Schlafende oder in den Zustand des Hellsehens Magnetisirte, wofür wir in alten und neueren Schriftstellern viele Belege finden.
Wir sehen also, daß Tischdreherei, Geisterklopferei, Weissagekunst, Hellseherei, Mesmerismus und sonstige moderne schwarze Künste vielleicht älter sind, als die Sphinxe und Pyramiden Egyptens, und daß sich Spuren davon in allen Zeiten und Zonen finden. Nichts Neues also. Aber mit dem Troste, daß diese Dinge in das Gebiet des Aberglaubens, des Wahns gehören, schwächen wir deren ungeheuere Macht und Hartlebigkeit nicht. „Das Schrecklichste der Schrecken, das ist der Mensch in seinem Wahn.“ Der Wahn ist oft eine größere Macht, als ein ganzes Xerxes-Heer. Ein Gedanke, eine Idee – und sei’s für spätere Zeiten die verrückteste – reißt oft Millionen Menschen in Tod und Verderben, gegen Kanonenmündungen, in’s Unmögliche, Unbegreifliche. Wahn, Einbildungen, Täuschungen – materiell weniger als homöopathische Dosen – können Berge versetzen, was 10,000 Arbeiter mit Hacken und Spitzäxten nicht vermögen. Man lerne Respect haben vor diesen immateriellen Gespenstern des Wahns und der Täuschung. Die ganze preußische Armee auf dem Kriegsfuße kann zum Schatten, zur Spreu im Winde werden vor einer Idee.
Steckt auch kein Atom reeller, wägbarer Wahrheit hinter allen diesen Täuschungen und Mysterien, die Wissenschaft darf alle diese Dinge doch nicht vornehm ignoriren, damit es nicht von den gelehrten Herren heiße, was der Teufel im Faust ihnen vorwirft:
„Daran erkenn’ ich die gelehrten Herrn!
Was ihr nicht tastet, steht euch meilenfern;
Was ihr nicht faßt, das fehlt euch ganz und gar;
Was ihr nicht rechnet, glaubt ihr, sei nicht wahr;
Was ihr nicht wägt, hat für euch kein Gewicht;
Was ihr nicht münzt, das, glaubt ihr, gelte nicht.“
In einer früheren Nummer dieses Blattes ist uns eine höchst anziehende Schilderung unseres lieben Hausthieres, des Hundes, gegeben, der seit undenklichen Zeiten der treueste Gefährte des Menschen war. Erlauben Sie mir heute diese Schilderung durch einige Specialbilder zu ergänzen, die vielleicht auch nicht ohne Interesse für Ihre Leser sein dürften.
Wer von Euch, meine lieben Leser, hat wohl noch einen Mops gesehen? Einen echten stiftsfähigen Mops von 16 Ahnen? Erstaunt sehet Ihr mich an und verstehet nicht einmal die Frage, geschweige, daß ein solches Geschöpf je leibhaftig vor Eure Augen gekommen wäre. In meiner frühen Jugend habe ich sie noch gekannt, diese hocharistokratische Hunderace mit den dummen Glotzaugen, im Abendrothe ihrer Existenz. Ich habe noch das Ende ihrer Blüthezeit erlebt, wo kein wohlgenährter geistlicher Würdenträger, kein invalider Baron, keine vornehme nervenschwache Dame standesgemäß leben konnte, ohne einen solchen mit wappenverziertem Halsbande geschmückten Kläffer. „Otium cum dignitate“ war der Wahlspruch dieser verwöhnten Bestien, deren einziges Geschäft darin bestand, zu schlafen und Zuckerwerk zu fressen, und zu ihrer Unterhaltung mit der hochgeborenen Gebieterin um die Wette die bürgerlichen Untergebenen anzukeifen. Wahrhaft wunderbar war der Takt, mit welchem ein gut erzogener Mops den Adel von der bürgerlichen Canaille zu unterscheiden wußte; ja, ich kann mich der persönlichen Bekanntschaft eines Mopsgenies rühmen, das aus bürgerlichen Händen kein Zuckerbrod nahm, den Rang der Besucher auf den ersten Blick erkannte, und als vollendeter Höfling darnach sein Benehmen einrichtete.
So war denn der Mops das getreue Abbild des bornirten Uebermuthes der höheren Stände im vorigen Jahrhundert, gepaart mit gedankenloser Faulheit, ohne irgend eine jener schätzbaren Eigenschaften, die das Hundegeschlecht in seinen zahlreichen Racen zu treuen Freunden des Menschen macht. – Es ist auffallend, daß dieses Geschöpf weder auf Bildwerken des Alterthums noch des Mittelalters zu finden ist; wohl aber bildet es im 17. und 18. Jahrhunderte die gewöhnlichste Staffage auf den Portraits schlemmender Sinecuristen und alter Damen aus den privilegirten Ständen. Seit dem Verfalle der Zopfzeit ist er gleich anderen Ausgeburten einer wurmstichigen Civilisation immer seltener geworden, und es dürfte in einem Menschenalter schwerlich bei uns noch ein lebendes Exemplar dieser wenig begabten Hunderace am Leben sein. Die Verhältnisse, welche Sinecuristen und Möpse mit in’s Leben riefen, scheinen in unserem Vaterlande glücklich beseitigt; mit ihnen aber sind beide gekommen und ausgestorben.
Als ob die Natur nicht genug Häßlichkeit an diesem Thiere verschwendet hätte, entstellte man dasselbe noch durch abgestutzte Ohren; und weil der beständige Genuß von Zuckerwerk und Mangel an Bewegung den Magen fortwährend in dem Zustande der Indigestion erhielt (denn auf Spaziergängen mußte die Zofe der gnädigen Gebieterin den feisten Hund nachtragen), lagerten auf seinem von Natur schon grämlichen Gesichte beständig hypochondrische Gewitterwolken, die sich bei der geringsten Veranlassung in knurrenden Tönen entluden.
Der Mops lernte nichts, als etwa aufrecht sitzen und ein Pfötchen geben. Seine Schönheit bestand in einem runden Kopfe mit ganz kurzer, dicker, schwarzer Schnauze und sehr faltiger Stirn, seine Ohren waren von Natur klein und hingen ihm am Kopfe herab; um ihn noch schöner zu machen und den Kopf ganz rund erscheinen zu lassen, wurden den Jungen die Ohren ganz kurz am [828] Kopfe weggeschnitten, oder auch ganz abgedreht. Der Schweif ward niemals gestutzt, der Mops trug ihn eng zusammengewunden auf dem Rücken, er mußte aussehen wie eine Brezel. Seine Farbe war fahl mit schwarzem Rückenstreifen. Selten gab es weiße Möpse, schwarze und scheckige fast gar nicht.
Wie jetzt die schwachen Nerven von unseren Damen als ein Beweis ihrer feineren Bildung zur Schau getragen werden, so gehörten damals Migräne und Vapeurs zu den Vorrechten der höheren Stände. Auch dem Mopse fehlten letztere nicht, was aber keineswegs dazu beitrug, ihn liebenswürdiger zu machen; kurz, es war dieses Geschöpf in Allem ein Abbild seiner Zeit, einer Zeit, welcher sammt dem unschuldigen Mopsgeschlechte durch den boshaften Voltaire und seine Geistesverwandten zu Grabe geläutet worden ist. – Ach, gar Vieles haben die leidigen Aufklärer verschuldet, manchen alten Lebensnerv durchschnitten! Nur auf hocharistokratischem Boden konnte diese Hunderace gedeihen, auf bürgerlichem Gebiete starb sie ab, wie eine wässerige Sumpfpflanze, die man in fruchtbares Ackerland versetzt. So entgehen auch die Thiere nicht den Einflüssen der großen Epochen der Menschengeschichte, so sind auch sie nur ein Glied in der Kette der Schöpfung; und wie der Sturz von Perrücke und Zopf der Vorläufer war von dem Falle eines königlichen Hauptes, so war mit dem Abhandenkommen einer faulen Aristokratie das Todesurtheil des Mopsgeschlechtes ausgesprochen.
Vor einigen Jahren wünschte die Königin Victoria ein Paar Möpse zu besitzen; in England waren aber deren nirgends mehr aufzutreiben; da wendeten sich die englischen Agenten endlich an den Sitz des deutschen Bundestages, und es gelang ihnen auch, in Frankfurt noch ein Paar dieser antediluvianischen Geschöpfe zu entdecken. Leider befanden sie sich im getrennten Besitze zweier alten Damen, wovon die eine sich nicht einmal für englisches Gold von diesem Schatze, einem echten Vollblutmopse, trennen wollte. So war denn die letzte Hoffnung geschwunden, das edle Geschlecht der Nachwelt erhalten zu sehen!
Da, im letzten Augenblicke, war es den rastlosen Bemühungen der englischen Diplomatie doch endlich noch gelungen, zu dem in Frankfurt erworbenen Mopse im äußersten Sibirien, da wo an der Grenze des himmlischen Reiches Knute und Zopf in freundnachbarlichem Verkehr sich begegnen, die letzte Mopshündin von reinem Geblüte aufzufinden und zu annectiren. Von den aus dieser frankfurt-chinesischen Liaison unter dem günstigen Einfluß der Hofatmosphäre entsprossenen Descendenten ist laut Zeitungsnachricht ein hoffnungsvolles Paar durch den englischen Hof an den russischen übersendet worden, und hat auch dort sich bereits vermehrt.
So ist denn doch wieder Hoffnung vorhanden, daß das edle Geschlecht der Möpse in den höheren Sphären fortlebe, und unsere Kindeskinder nicht vergebens zu fragen brauchen: „Was ist das wohl für ein Thier, das Gellert beim Mondenscheine spazieren gehen läßt?“
Eigenthümlich ist die Wahrnehmung, daß bei den Möpsen, wie bei manchen anderen alten Geschlechtern, schon seit langer Zeit die Ehen nur wenig fruchtbar waren. Darwin sieht dieses im Allgemeinen als einen Beweis an, daß die betreffenden Geschöpfe aufgehört haben, zeitgemäß zu sein, und deshalb ihrem Untergange entgegen gehen. – Ueberhaupt legt dieser geistreiche Naturforscher in Betreff der Entstehung und des Aussterbens der Thier- und Pflanzenarten, wovon uns jede Gebirgsformation in ihren fossilen Ueberresten zahlreiche Beispiele liefert, ein großes Gewicht auf den Einfluß äußerer Verhältnisse, die seinen Wahrnehmungen zufolge die Eigenthümlichkeiten der organischen Schöpfungen bedingen, die Arten hervorbringen und verschwinden machen. – Wie der Mops [829] im vorigen Jahrhundert sich der Gunst decrepiter Frauen und der Männer neutrius generis erfreute, so war damals seiner Gelehrigkeit wegen der possenhafte Pudel die Freude der Jugend, der Stolz der Bummler; auch er ist schon außer Mode gekommen, seit der zunehmende Ernst des Lebens dem Geschmack an solcherlei Kunststückchen sehr enge Genzen gesteckt hat. Bereits gehört er zu den seltneren Hunden, er wird jedoch nicht ganz aussterben, so lange Gaukler und Affentheater das Volk belustigen, und Faulenzer das Bedürfniß fühlen, ihre Zeit mit nobelen Passionen todtzuschlagen.
Im Gegensatze zu dem weiblichen Mopse des 18. Jahrhunderts erscheint vom Alterthume an bis über das 17. Jahrhundert hinaus der gewaltige, kluge und tapfere Fanghund als Begleiter abgehärteter, thatkräftiger Männer aus den höheren Ständen; er ist jedoch seit der überhandnehmenden Verweichlichung immer seltener geworden und wird bald aus dem übercivilisirten Europa ganz verschwunden sein. Bei dem höheren Bürgerstande hat dafür jetzt der philanthropische Neufundländer sich besonderer Gunst zu erfreuen. Auch der Spitz, der Cincinnatus unter den Hunden, der treue unbestechliche Wächter von Haus und Hof, nähert sich bereits in manchen Gegenden dem Verfalle seines Geschlechtes; in den Städten hat ihn der spießbürgerliche gemeine Pinscher schon zum größten Theile verdrängt. Der bürgerliche, pflichtgetreue Spitz, noch sehr verbreitet und geschätzt bei dem biedern, einfachen Schweizervolke, bewacht bei uns nur noch das Schiff des Flußschiffers und den einsamen Meierhof, fern von dem Geräusche der Stadt; wo aber der Landmann bereits das städtische Gewand angenommen hat, da findet man auch bei diesem meist nur moderne Hundeformen von unreiner Race. Woher die zahlreichen, in ihren Eigenschaften oft sehr ausgezeichneten Hunderacen stammen, welchen Arten sie ihren Ursprung verdanken, das wird wohl mit Gewißheit nie ermittelt werden; wissen wir doch über die neuesten derselben, die kaum einige Jahrzehnte bekannt sind, nichts Zuverlässiges; sie erscheinen, werden Mode und verschwinden, um wieder von anderen Formen ersetzt zu werden. Nur wo der Mensch unter unveränderten Verhältnissen dahinlebt, nur da bleibt auch sein treuer Begleiter sich gleich.
Eine bisher unbekannte Race, der Affen- und Stachelpinscher, ein Mittelding zwischen dem kleinen Spitz und dem spanischen Pinscher, war bestimmt die Stelle des Mopses einzunehmen. Der Kopf dieses Monstrums ist spitz und lang, die Ohren spitz und aufrecht stehend, das Gesicht erinnert an die Physiognomie des Pavians, das Haar ist schwarz mit gelben Spitzen, borstenartig und dünn, so daß die Haut an mehreren Stellen durchscheint. Der Schweif ist fast bis 10 Zoll lang und wird in leichtem sichelförmigem Bogen aufrechtstehend getragen. Dies ist die Gestalt des Affen- oder Stachelpinschers. Er ist schon ausgeartet und zeigt meistens einen starken Bart um die Nase und Unterkiefer, die buschigen, stacheligen Augenbraunen haben sich zum Schleier über die Augen verlängert, und der Körper ist bei manchen mit langen seidenen Haaren bekleidet. Die Farbe wechselt, sie ist bald weiß, bald gelb, grau, rostfarben, schwarz und schwarz mit gelber Abzeichnung; blaugraue Seidenpinscher werden sehr geschätzt.
Auffallend ist der Charakter dieser Hunde. Sie haben wenig Ortssinn[WS 2], suchen ihren Herrn mehr mit den Augen als mit der Spur, verlaufen sich leicht, halten sich lieber bei den Pferden im Stalle, als in der Stube bei den Menschen auf, sind sehr wachsam und muthig und große Feinde der Ratten, daher sie auch Rattenfänger und Stallpinscher genannt werden. Eine kleinere Art dieser Hunde heißt Skottish Terriers. Der Affenpinscher läßt sich leicht mit dem Pferde verkaufen, weil er dieses mit wenig Ausnahmen mehr liebt als den Herrn. Der Affenpinscher auf unserem Bilde rettete schon zweimal einem Pferde das Leben und behütete seinen Herrn vor großem Verluste. Ein Pferd des Generals v. M. hatte sich des Nachts die Halfter vom Kopfe gestreift und dieselbe sich derart um den Hals gedreht, daß es dem Erstickungstode nahe, röchelnd und stöhnend im Stalle lag. Plötzlich machte der bei dem Pferde wachende Hund einen solchen Lärm, daß der im nahen Hause schlafende Reitknecht aufwachte und, durch das eigenthümliche angstvolle Bellen und Schreien des Hundes bewogen, in den Stall ging, wo er das röchelnde Pferd fand. Er konnte dasselbe nicht allein lösen, sondern mußte mehrere Leute zum Beistand holen, die das Pferd denn auch glücklich retteten. Unser Hund ließ sonst Niemanden in den Stall, selbst seinen eigenen Herrn nicht, wenn er in Civil war, diese Nacht aber bellte er nicht einmal und begrüßte die Fremden ungewöhnlich freundlich.
Ein Pferd, das einmal verliehen wurde und nicht gleich wieder zurück kam, suchte er auf und lief sieben Stunden von Dresden bis Großenhain und kehrte dann mit demselben zurück. Als die Pferde verkauft wurden, blieb er bei seinem Lieblingspferde.
Unser alter treuer Hirten- und Viehhund, dessen ausführliche Charakteristik wir nächstens bringen werden, stammt unbedingt von den Steppenhunden ab, die in den großen unabsehbaren Ebenen Asiens von der Jagd auf Antilopen leben. Man ist darüber einig, daß der wilde Hund, namentlich die eine, dem Wolf und Schakal ähnliche Form, schwarz von Farbe war, mit gelbbrauner Abzeichnung und gelbbraunen Flecken über den Augen. Wir finden dergleichen Hunde, besonders als Vieh-, Hirten- und Hofhund, noch überall auf dem flachen Lande, wie in den Hochgebirgen Deutschlands, Italiens und Frankreichs, in Norwegen und Schweden. Er ist meistentheils langhaarig, hat einen spitzen, glatten Kopf, meist spitze aufrechtstehende Ohren, eine Haarkrause, welche Hals und Kopf umschließt. Die Beine (Läufe) sind kurz behaart, zuweilen nach hinten gefranzt, der Schweif ist langbehaart, buschig und bildet eine sogenannte Fahne oder Wedel und wird aufrecht in halbmondförmigem Bogen getragen. Von diesem Urbilde des Hundes, wie er eben noch vorkommt, leiten die Naturforscher alle Hunderacen ab.
Nach den auf uns gekommenen Beschreibungen und Abbildungen kannten die Alten so verschiedene Hunderacen, wie wir heut zu Tage haben, nicht. Wir finden den Windhund, den Haus- und Hirtenhund mit spitzen Ohren und gedrungener Gestalt, und einen dem Pudel ähnlichen Hund. Ob Nimrod und Esau, die gewaltigen Jäger, Hunde hatten, wissen wir nicht.
Der Europäer, welcher an der atlantischen Küste von Central-Amerika landet, fühlt sich in seinen Erwartungen meist getäuscht. Die Erdoberfläche jener Küstenstriche und ihre geologische Physiognomie unterscheidet sich fast in nichts von dem, was man zu sehen gewöhnt ist. Die Felsen sind nicht anders gestaltet als daheim, es ist derselbe Boden, und die Abwechselung von Hügeln, Bergen, Thälern und Ebenen bietet keine neue, auffallende Erscheinung. Anders ist der Eindruck, wenn der Fremde das tropische Wunderland zuerst an der Küste des stillen Oceans betritt. Hier umgibt ihn mit einem Schlage eine ganz neue Welt von eigenthümlicher Gestalt und Production. Er steht mitten in der Region der Vulcane. Vulcanische Kegel bis zu einer Höhe von 14,500 Fuß treten ihm überall gleichsam als Wächter der Landschaft entgegen. Sie krönen das Tafelland der Anden, erheben sich bald einzeln, bald in Gruppen mit der Regelmäßigkeit und Symmetrie von Pyramiden aus der flachen Ebene oder an den ungeheuern Seen des Landes und lassen ihre Rauchfahnen weithin am Horizonte wehen bis über die Hügel und welligen Ebenen von Mexico. Die ganze pacifische Küste ist gleichsam mit feuerspeienden Bergen besäet. Einige, wie der 3600 Fuß hohe Conseguina und der 4800 Fuß hohe Conchagua steigen direct aus dem Ocean empor; zwischen dem Isthmus von Panama und Tehuantepec aber zieht sich eine beinahe ununterbrochene Kette von mehreren hundert vulcanischen Piks einige Meilen von der Küste entfernt und parallel mit dieser hin.
Trotz der noch alljährlich stattfindenden Eruptionen, welche ganze Städte und Landschaften verwüsten, scheinen seit den letzten dreihundert Jahren die vulcanischen Erscheinungen in Mittelamerika im Abnehmen begriffen zu sein. Die meisten Vulcane sind erloschen oder haben seit Jahrhunderten kein anderes Lebenszeichen, als eine über ihrem Gipfel schwebende Rauchwolke, von sich gegeben. Nichts desto weniger haben sich auch neue Krater geöffnet und neue Vulcane sind entstanden. Der Izalco, in der kleinen Republik San Salvador, welcher gegenwärtig eine Höhe von 4000 Fuß, also etwa die des Vesuvs hat und sich in fortwährender Thätigkeit befindet, datirt sein Dasein erst aus dem Jahre 1770, und ich selbst hatte im Jahre 1859, zur Zeit meines Aufenthaltes im Staate Nicaragua
[830] Gelegenheit, ein derartiges Naturereigniß in kleinerem Maßstabe zu beobachten. Da die Entstehungsart des vulcanischen Kegels, dessen Anfänge ich sah, nicht nur fast die aller Feuerberge in Centralamerika, sondern vielleicht mit wenigen Ausnahmen die aller Vulcane der Erde ist, so dürfte ein kurzer Bericht über das Phänomen für die Leser der Gartenlaube nicht ohne Interesse sein.
Es war am 11. April des besagten Jahres, als die Bewohner der Stadt Leon durch ein Getöse beunruhigt wurden, das fernem Donner glich und aus der Richtung des Momotombo zu kommen schien, eines 7300 Fuß hohen Vulcans, der, obgleich seit längerer Zeit in Ruhe, dennoch fortwährend Asche und Rauch auswirft und dann und wann wie im unruhigen Schlafe zu murmeln scheint. In der Nacht vom 12. zum 13. April wurde das Getöse stärker und anhaltender, und es folgten nun Erderschütterungen, die in Leon zwar nur schwach wahrzunehmen waren, in der Nähe der Berge aber die Landbewohner mit Schrecken erfüllten. Am Morgen des 13. April öffnete sich am Fuße des erloschenen Vulcans Las Pilas ein Krater. Eine dicke Schicht alter Lava wurde durchbrochen, eine Feuersäule stieg empor, und geschmolzene Lava wurde weit und breit umhergeschleudert. Diese ersten gewaltigen Ausbrüche währten indessen nur wenige Stunden; dann ergoß sich ein breiter Strom glühender Lava über den Rand des Kraters und floß, Alles verheerend was sich ihm in den Weg stellte, westlich nach einem etwas tiefer liegenden Terrain ab. Während dieses Lavaergusses war die Erde fast vollkommen ruhig. Am 14. hörte die Lava auf zu fließen, und nun folgte eine Reihe von Eruptionen, die regelmäßig drei Minuten währten und nach einer Pause von genau drei Minuten wiederkehrten. Jeder Ausbruch war von einer Erderschütterung begleitet und begann mit dem mehr als hundert Fuß hohen Aufsteigen einer Flammensäule, welcher Massen rothglühender Steine folgten. Der größte Theil derselben stürzte in den Krater zurück, ein Theil hingegen fiel am Rande desselben nieder und bildete in Kurzem einen kegelförmigen Hügel. Diese Explosionen währten sieben Tage und konnten Nachts von Leon aus sehr deutlich wahrgenommen werden.
Am Morgen des 22. April machte ich mich in Begleitung eines Freundes auf, um den neuen feuerspeienden Berg genauer zu besichtigen. Noch hatte Niemand gewagt, sich dem Orte zu nähern, dennoch gelang es uns, einige Vaqueros[1] von der Hacienda[2] Orota zu bestimmen, uns als Führer zu dienen. Der Weg, den wir anfänglich zu Pferde machten, führte über alte zerrissene Lavabetten, die nur mit großer Vorsicht zu passiren waren, und nachdem wir etwa drei Viertheile unserer Wanderung zurückgelegt, sahen wir uns genöthigt, unsere Thiere zurückzulassen und uns unsern eigenen Füßen anzuvertrauen. Um vorerst einen Ueberblick zu gewinnen, erkletterten wir eine kahle, von Lava und Schlacken gebildete Höhe, von welcher ab wir den neuen Vulcan überschauen konnten. Er erschien von diesem Punkte wie ein ungeheurer umgestürzter Kessel, in dessen Boden sich ein Loch, der Krater, befand. Aus diesem Krater rann an einer Seite des Steinhaufens hinab ein glühender Lavastrom, über welchem sich die Luft in zitternder Bewegung befand. Das Auswerfen von Steinen hatte seit diesem Morgen aufgehört. Nur eine dichte Rauchwolke stieg langsam aufwärts und wurde von einem starken Nordost über die Wipfel der Bäume hingeweht. Der ganze, aus losem Steingeröll gebildete Kegel war von dem durch alle Spalten aufsteigenden Schwefeldampfe gelb gefärbt, die Bäume, über denen derselbe hinstrich, hatten ihre Blätter und zarten Zweige verloren und glichen riesenhaften Skeletten.
Diese anscheinende Ruhe verlockte uns, den jungen Vulcan näher in Augenschein zu nehmen, und trotz der Warnungen unserer Führer verließen wir unsern sichern Standpunkt und gingen windwärts an noch heißen Lavasümpfen vorüber, durch Felder von stachligen Cactussen und Agaven dem Feuerberge zu. Es hatte keine Schwierigkeiten, den Fuß des Kegels zu erreichen, der von ganz regelmäßiger Gestalt an seiner Basis etwa 800 Fuß im Durchmesser haben und zweihundert Fuß hoch sein mochte. Die Steine, aus denen er aufgehäuft war, zeigten sich fast alle mehr oder weniger abgerundet und von der verschiedensten Größe. Die kleinsten mochten ein Pfund, die größern vielleicht 500 Pfund wiegen. Wir hörten bei unserer Annäherung nichts, als ein leises, unterirdisches Donnern, welches von einem fast unmerklichen Zittern des Bodens begleitet war. Begierig, die Wahrheit des Volksglaubens zu prüfen, nach welchem eine Eruption losbricht, sobald sich ein menschlicher Fuß dem Krater eines thätigen Vulcans nähert, machten wir uns daran, den Kegel zu ersteigen. Da ich fürchtete, die Steine, an die wir uns beim Emporklimmen halten mußten, in der Nähe des Kraters noch zu heiß zu finden, versah ich mich mit zwei Stöcken, die mir zur Stütze dienen sollten; mein Freund verachtete dies Hülfsmittel, hatte aber bald Ursache, das zu bereuen.
Unsere Aufgabe erwies sich als ziemlich schwierig, denn die losen Steine wichen bei jedem Schritte unter unsern Füßen und rollten polternd den Abhang hinab; dennoch war es uns gelungen, uns zu einer ziemlichen Höhe hinauf zu arbeiten, als mein Freund, der um einige Schritte voraus war, plötzlich einen Schmerzenslaut ausstieß. Er hatte einen fast glühenden Stein angefaßt, und seine Hand verwandelte sich augenblicklich in eine einzige Brandblase. Der kleine, für meinen Freund nicht eben angenehme Vorfall brachte einen Aufenthalt von wenigen Minuten hervor, und ich war eben beschäftigt, die mühsam erklommene Höhe nach dem Augenmaße zu schätzen, als mich ein neuer Angstruf meines Gefährten aufschreckte. In demselben Moment fühlte ich mich fast betäubt von einem ganz nahen entsetzlichen Getöse, welchem ein Gefühl folgte, als drehe sich der Steinkegel mit mir im Kreise und sänke dann in sich zusammen. Schneller als ein Gedanke sah ich aufwärts und erblickte über mir eine ungeheure Wolke von Rauch, Steinen und Asche, durchzuckt von unzähligen Blitzen. Alles dies war das Werk eines Augenblicks – im nächsten Momente flog ich in fast übermenschlichen Sätzen über die rollenden Steine hinab. Ich erreichte den Boden zugleich mit meinem Gefährten und gerade früh genug, um einem Regen von Steinen zu entgehen, der im nächsten Augenblicke an der Stelle niederprasselte, auf der wir noch eben gestanden hatten. Ich brauche wohl nicht zu versichern, daß wir keine Zeit verloren, um uns, trotz stachliger Cactusse und Agaven, in größter Schnelligkeit aus der gefährlichen Nahe des Gegenstandes unserer Neugier zurück zu ziehen.
Die Eruption dauerte etwa eine Stunde und wurde nur von Zeit zu Zeit durch einen Moment der Ruhe unterbrochen, in welchem der Berg schwere, röchelnde Athemzüge zu thun schien. Das Ende der Explosion war ein ebenso plötzliches wie der Ausbruch, und vergebens warteten wir mehrere Stunden auf ein neues ungestümes Lebenszeichen. Unsere Führer versicherten zwar, daß es, um ein solches hervorzurufen, nur eines zweiten Versuchs bedürfe, den Kegel zu ersteigen, aber wir hatten nicht eben Lust, dies noch einmal zu riskiren.
Von jener Zeit bis zu meiner Entfernung aus Central-Amerika habe ich nur noch von einer einzigen Eruption des jungen, hoffnungsvollen Vulcans gehört. Dieselbe fand in Folge des ersten starken Regens statt. Ob er später seine Thätigkeit so energisch fortgesetzt hat, wie der Anfang erwarten ließ, habe ich nicht in Erfahrung bringen können.
Wenige Tage bevor ich und mein Freund unsere Inspectionsreise nach diesem feuerspeienden Berge unternahmen, traf in Leon eine Deputation der Bewohner jener Gegend ein, welche den Bischof ersuchte, sich nach dem Orte des Schreckens zu begeben und den neuen Vulcan zu taufen. Die christliche Handlung, hofften sie, sollte ihn beruhigen und seine Ausbrüche wenigstens für das Leben der Menschen unschädlich machen. Der Prälat versprach, diesen Wunsch zu erfüllen, und einige Tage war in der Stadt von nichts die Rede, als von dieser Taufe – da die Ausbrüche aber nachließen, so wurde die Ceremonie, zu meinem nicht geringen Aerger, auf gelegenere Zeit verschoben.
Die Taufe der Vulcane ist übrigens in Mittelamerika ein sehr alter Gebrauch. Nach der Eroberung des Landes durch die Spanier vollzog man die Ceremonie an allen Vulcanen in Nicaragua. Nur der Momotombo, dessen Höhe bis jetzt keines Menschen Fuß betreten hat, empfing die christliche Weihe nicht. Die Priester, welche beauftragt waren, das Kreuz auf seinem Gipfel aufzupflanzen, verunglückten wahrscheinlich, ehe sie ihre Aufgabe zu erfüllen vermochten; wenigstens hat man nie wieder etwas von ihnen gehört.
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Kein Schwindel! Eine ganz wunderbare, mächtige Empfindung ist es, die den sonst muthigsten Menschen plötzlich mit arger Furcht erfüllen kann, die ihn, den Kopf schwer machend, in die Tiefe zieht und mit Schauder und Erstarrung seine Glieder widerstandslos erschlaffen macht; – beim Anblick einer eigentlich gar nicht vorhandenen Gefahr. Ist es doch so leicht, auf kleinem Raum ruhig und fest zu stehen, sich auf einer schmalen Fläche sicher und zwanglos zu bewegen. Und doch wird diese solide Flache von der nächsten, aber doch eigentlich ganz überflüssigen Umgebung nur etwas getrennt oder gar gehoben, so entstehen und steigern sich Balance-Schwierigkeiten in ganz unbegreiflicher Weise. Nicht jeder Mensch ist der Schwäche des Schwindels unterworfen – von dem Krankheitszustand sehe ich ab, – Kinder beinahe gar nicht, und die Uebung vermag bei Erwachsenen sehr viel gegen denselben. – Aber auch der Geübteste ist nicht sicher vor seiner gefährlichen Macht, welche nicht allein die Augen, sondern alle Sinne zu seinem Unheil unvorhergesehen ergreifen kann, um ihn ins Verderben zu stürzen.
Wer hat nicht schon von der Martinswand im tyroler Innthal sprechen hören, eine Abbildung derselben gesehen oder eine Beschreibung gelesen von jenem berühmten Gebirgs-Punkt, von welchem die Sage den Kaiser Maximilian I., der, ein leidenschaftlicher Jäger, sich während einer Gemsjagd dahin verstieg und zwei Tage dort verweilen mußte, durch einen Engel retten läßt? – Heut zu Tage ist es dort nicht mehr so gefährlich, als damals, zu Ende des fünfzehnten Jahrhunderts, und auf gangbarem, wenn auch nicht immer bequemem Pfade kann der Reisende den berühmten Punkt jetzt erreichen, die herrliche Aussicht in das sich ausbreitende Innthal und auf die gegenüber liegenden Gebirge genießen und ohne große Gefahr wieder herunter gelangen. – In unsern praktischen Zeiten braucht man keine Engel mehr und bedient sich im schlimmsten Falle, gegen billiges Honorar, eines wegweisenden Hirtenknaben.
Im Sommer des Jahres 1843 – ich war damals Cadet eines österreichischen Infanterie-Regiments, welches in Innsbruck zur Zeit garnisonirte – beschlossen 4 meiner Collegen einen Ferientag zu benutzen und einen Besuch auf der Martinswand zu machen. Ich schloß mich der Partie an, und so machten wir uns, 5 an der Zahl, eines frühen Morgens auf die Beine und erreichten, längs des linken Innufers stromaufwärts schreitend, den etwa 4–5 Stunden westwärts von Innsbruck gelegenen Martinsberg in der Nähe des Dorfes Zal. Der Inn drängt da ziemlich dicht an die steil abstürzenden Berge heran, während jenseit des Flusses, den etwas weiter stromaufwärts eine schöne Brücke ziert, das Thal sich etwas ausbreitet und in Hügel-Gruppirungen successive erhebt. Von einem durch vorspringende Felsmassen der Strömung abgetrotzten Stück Landes kann man indeß auch vom rechten Ufer aus, mit etwas erhobenem Haupte, einen deutlichen Anblick der Martinswand gewinnen. Dieselbe stürzt mit geringen Unterbrechungen beinahe senkrecht nieder. Etwa 600 Fuß hoch sieht man in dieser platt scheinenden, kolossalen grau-gebräunten Granitwand eine offenbar künstlich hergestellte Höhle, an deren Rand Christus am Kreuz nebst den beiden Standbildern Maria und Johannes, in Eisenguß ausgeführt, angebracht zu erblicken sind, – und so von unten betrachtet, scheint es wirklich ganz unmöglich, ohne Benutzung des Luft-Ballons dahin gelangen zu können.
Zur richtigen Angriffsstelle geleitet, schritten wir alsbald heiter plaudernd und scherzend den sich steil hin und her schlingenden, ziemlich bequemen Weg bergauf, und waren nur erstaunt, aller Augenblicke unseren kleinen, im Thale mitgenommenen, etwa 9 Jahre alten Führer verschwinden und dann wieder in beträchtlicher Höhe über uns auf irgend einem Felsen sitzen und sein mitgebrachtes Brod kauen zu sehen. Der kleine Kobold verschmähte den gebahnten Pfad und schwang sich mit der Leichtigkeit einer Gemse, der er seine Kunststücke abgelernt zu haben schien, in die Höhe, unser Herannahen immer abwartend, um wieder in ähnlicher Weise vorauf zu springen. Jetzt aber blieb er sitzen und ließ uns dicht an sich heran kommen. Wir waren so etwa 400 Fuß hoch gestiegen. „Legt’s enkern Sabeln wek, ös könnt’s net geh’n damit“,[3] sagte der kundige Führer. Wir aber trugen Bedenken unsere Waffen so mir nichts dir nichts ohne Obhut im Freien liegen zu lassen. „Des braucht’s enk net z’fürchten, s’kummt Kaner, der enk was stöhlen det,“[4] meinte der junge Mensch, und wir, seinen biederen Worten vertrauend, entschlossen uns seinem erfahrenen Rath zu folgen. – Der Junge schritt jetzt langsamer vor uns her, indeß noch behende genug, so daß wir 5 im Gänsemarsch Folgenden (denn der Weg fing an, immer mehr einer mathematischen Linie ohne Ausdehnung in die Breite zu gleichen) unsere Lungen in arge Contribution setzen mußten, um mit ihm gleichen Schritt zu halten. Die Bergfahrt ging indeß, wenn auch nicht unbeschwerlich, doch ohne namhafte Schwierigkeiten von statten, bis wir jetzt förmlich ins Freie, an die von unten platt scheinende Felswand hinaus treten mußten. In den Granit ist da künstlich ein Pfad gesprengt und gemeißelt und die oben überhängende Felswand ab und zu mit eisernen Ringen, welche in das Gestein mittelst Blei festgegossen sind, versehen.
Besteigen hohe Herrschaften oder reiche Engländer etc. in Begleitung von Damen die Martinswand, wobei die Damen sich unten im Thal bereitgehaltener Beinkleider bedienen, dann kann auf Verlangen und gegen entsprechendes Honorar durch diese Ringe ein Tau geleitet und so ein stetiger Anhalt hergestellt werden. Wir aber hatten von dieser Vorrichtung nur den Vortheil, daß wir die 6–8 und mehr Schritte auseinander reichenden Ringe als Ruhepunkte benutzen konnten, was allerdings auch nicht unwesentlich war. – Kaum hatten wir etwa 20 Schritte dieses wirklich gefährlichen Pfades zurückgelegt, als der Vorderste meiner Cameraden einen unarticulirten Schrei ausstieß! Ich, in der Meinung, er sei gestürzt, drängte mich augenblicklich erschreckt dichter an die Wand, sah indeß, in die Tiefe zu meiner Rechten starrend, daß es nur eine Mütze war, welche hinab fiel und, von der abstürzenden Felswand kaum im senkrechten Falle gehindert, rasch bis ins Thal hinunter gelangte. Der Besitzer der Mütze, plötzlich vom Schwindel ergriffen, hatte sich noch glücklich niedergeworfen und war um keinen Preis zu vermögen wieder aufzustehen oder auch nur den Kopf zu erheben, den er mit festgeschlossenen Augen an die Felswand drängte. Das Alles konnte ich zwar anfänglich nicht sehen, da zwischen mir und dem am Boden Liegenden noch 2 Personen waren, die mir die Aussicht sperrten. Als wir uns jedoch nach einigem Abwarten und vergeblichem Ansprechen entschlossen hatten, ohne den vom Schwindel Ergriffenen vorwärts zu schreiten, waren meine beiden Vorderleute über jenen hinweggestiegen, so daß ich zu dem an der Felswand wie leblos Liegenden gelangte. Mit gespreizten Beinen stellte ich mich nun über denselben, und so gelang es mir, ihm nach und nach solche Hülfe zu leisten, daß er endlich bis zum Knieen aufgerichtet war. Jetzt trat ich ganz hinüber und faßte dessen rechten Arm, während mein Hintermann seinen linken ergriff, und so, alle drei die Gesichter der Felswand zugekehrt, gelang es uns, den noch immer an allen Gliedmaßen Schlotternden seitwärts die gefährlichste Strecke zurück zu schieben.
Wieder auf einigermaßen sicherem, moosbewachsenem Boden angelangt, überfiel den Erkrankten eine Uebelkeit nach der andern, in Begleitung der heftigsten Erbrechungen, und es war demnach keine Aussicht, daß der Anfall vorübergehen und mein Camerad in den Stand kommen würde, die Bergreise wieder antreten zu können; aber auch meinem Hintermann war die Lust weiter zu steigen vergangen, und die Beiden machten mir den Vorschlag, bei dem Waffenversteck meine und der anderen Beiden Rückkehr zu erwarten, falls ich noch Lust hätte in die Höhle hinauf zu steigen.
Gesagt – gethan; ich stieg wieder bergauf! – Der Führer und die beiden Cameraden waren natürlich bereits so weit vorauf, daß ich sie nicht mehr erblicken konnte. Der offene Pfad lag indeß unfehlbar vor mir; ich stieg also hoch und höher, Hollaho! schreiend, das in unzähligen Echo’s mir wiederum zurückklang, so daß ich nicht wußte, ob es meine eigene Stimme oder die Antwort meiner Cameraden war, die ich tönend vernabm. – Etwa 10–12 Minuten lang war ich allein! da oben, zwischen Himmel und Erde, an die Felswand geklebt. Es wurde mir doch ein wenig schauerlich zu Muthe, und ich dachte, weiß es Gott, an Gefahren, die mir wahrscheinlich in Gesellschaft niemals eingefallen wären. Jedoch, immer rüstig vorwärts schreitend, erreichte ich einen Ring nach dem andern und stand nach einer kurzen Wendung vor etwa 6–8, wenn auch weit auseinander reichenden, doch förmlichen Stufen, welche in die nunmehr erreichte Maximilians-Höhle hineinführten.
Meine beiden Cameraden waren bereits mit dem Führer in derselben und ließen den Blick ins weite Thal über den Inn hinüber schweifen. „Hollaho!“ schrie ich, denn die oben bemerkten, mit der Bewunderung des gegenüber liegenden mit Dörfern und Bauten reich geschmückten Mittelgebirges eifrig beschäftigt, meine Annäherung nicht. –
„Ah!“ rief Einer der Beiden, durch mein Gejohle aufmerksam gemacht, zu mir herunter; „bist Du wirklich auch da, Franz? Wir dachten schon, Du hättest auch die Courage verloren!“
Ein paar lustige Sprünge, und ich war oben in der sicheren Höhle. – „Ihr habt Unrecht,“ demonstrirte ich, ganz den Zweck meines hohen Höhlen-Besuches im ersten Eifer vergessend, – „Ihr habt Unrecht, unseren Cameraden der Muthlosigkeit zu beschuldigen, – da ihr ihn doch sonst als einen kecken, unerschrockenen und kaltblütigen Burschen kennt.“ – Und es ist wahr, der Erkrankte hatte schon mehr als einmal wirklich entschlossenen Muth gezeigt, und wir alle sahen ihn früher, bei Gelegenheit eines Duells ruhig in die schwarze Mündung des Pistolenlaufes seines Gegners blicken, dem er dann als Zweiter zum Schuß ins dicke Fleisch des Oberschenkels, wie er das versprochen hatte, schoß. – „Der Schwindel,“ fuhr ich fort, „ist eine Krankheit wie jede andere, es läßt sich dagegen wenig thun.“
„Was da Schwindel!“ entgegnete der Eine, „der feste Wille kann ihn besiegen. –“
„Wenn Du das besser weißt,“ antwortete ich, „so mag es sein; ich kann wenig davon sagen, da ich keinen Schwindel kenne!“
„So!“ fuhr der erste Sprecher fort; „dann steige da hinaus und blicke hinunter in das Thal; dann wirst Du ihn gleich kennen lernen!“ und dabei deutete er lachend auf das ungefähr 12–14 Fuß hohe, dicht am Rande der Höhle befestigte Christus-Kreuz!
„Meinethalben!“ antwortete ich in einem Anfluge leichtsinnigen Muthwillens und stieg auf die in der Höhe von 31/2 Fuß quer vor die Oeffnung der Höhle gelegte Eisenstange, welche, die erwähnten 3 Standbilder, mit ihren Enden in die Felsen versenkt und mit Blei fest gegossen, verbindend, ein haltbares Geländer für die Höhlenbesucher bildet. – Selbst nahe an sechs Fuß lang, war es mir von da aus leicht, den Querbalken des Kreuzes zu erreichen, und eins, zwei, drei, saß ich dem eisernen Christus auf den Schultern. Plötzlich griff einer der Cameraden mit beiden Händen an das Kreuz, und indem er daran zu rütteln versuchte, schrie er wie im Schreck auf: „Jesus Maria – das Kreuz stürzt!“
Wankte das Kreuz wirklich, oder wankte nur mein innerer Mensch? Das Thal brauste in Windeseile zu mir herauf, die Dinge verloren Gestalt und Form, meine Besinnung war hin, und ich stürzte mit gewaltigem Schlage nieder. Das war die letzte Empfindung, deren ich mich dumpf erinnere! Nach einigen Minuten erwachend, fand ich mich mit wundgeschlagenen Gliedmaßen im Hintergrund der Höhle liegend. – Im Schreck war ich mit einem Satz vom Kreuz gesprungen, und glücklich in die Höhle zurück, wo ich augenblicklich besinnungslos niederstürzte.
Es ist ein schlechter Spaß, den ich da erzählte, lieber Leser, das sehe ich heute wohl ein, wir waren sämmtlich 19–20jährige Bursche und junge Soldaten, deren Uebermuth man schon etwas zu Gute halten kann. – Als ich erwacht und kurz darauf wieder leidlich fest auf den Beinen war, frugen mich meine Cameraden, ob ich nun wisse, was der Schwindel ist?! –
[832] und meinten, jetzt könnte ich erst beweisen, ob ich wirklich Muth habe, da ein schönes Stückchen Probe unumgänglich vor mir läge, und bergab die Fahrt noch schlimmer als bergauf sei. – Es dauerte eine ganze Weile, ehe ich mich entschließen konnte, an den Heimweg zu gehen! Mit meinem sicheren Dahinschreiten war es vorbei, und ich hatte meine liebe Noth, mich an mehreren Stellen aufrecht zu erhalten. Nur dem festen Willen, den Blick weder nach oben noch unten, sondern scharf und gerade auf den Weg vor mir zu richten, hatte ich es zu verdanken, daß ich an der gähnenden Gefahr neben mir schadlos vorüber glitt. Durch meinen Muthwillen hatte ich mir für alle Zeiten die Möglichkeit verscherzt, furchtlos in einen Abgrund blicken zu können, obgleich meine Natur eigentlich nicht zum Schwindel geneigt ist. Selbst bei Tiefe von nur 40–50 Fuß sehe ich jetzt, was noch nie ein Mensch gesehen, daß sich die Erde dreht.
Ein Züricher Brief. Sie sollen sich, mein lieber Freund, nach einer Erziehungspension in der deutschen Schweiz für eine junge deutsche Dame erkundigen. Ich gebe Ihnen gern Auskunft. Zunächst freue ich mich, daß Sie von der deutschen Schweiz sprechen. Die französische Schweiz ist zwar der eigentliche Sitz der Erziehungsinstitute für junge Damen. Die deutschen Schweizer selbst, wenn sie es eben können, schicken ihre Töchter mindestens auf ein Jahr in eine Pension der französischen Schweiz, und können sie es nicht, so tauschen sie in der Art, daß sie ihr Kind dorthin auf ein Jahr in eine Familie geben, wogegen diese ihnen ihr Kind auf so lange zusendet. Eine Sitte, die schon ein Schriftsteller zur Zeit Zwingli’s eine alte nennt. Aber dazu, daß die jungen Mädchen französisch parliren lernen, reicht das eine, wie das andere aus. Sie lernen in den Instituten auch Musik und etwas Englisch und ein Stückchen Botanik und Physik und ein wenig Geschichte hinzu, auch, da diese Institute. wenn sie sich dort halten wollen, fromm sein müssen, in diesem Sinne Religion. Eine gründliche und harmonische Ausbildung des Geistes und des Herzens zu verschaffen, dazu möchten aber nur sehr wenige der Dameninstitute in der französischen Schweiz im Stande sein. Für den Augenblick ist mir keine, die den Anforderungen genügen dürfte, bekannt, ich habe freilich keine specielle Bekanntschaft in der welschen Schweiz. Früher, weiß ich, war das berühmte Institut der Madame Niederer in Genf.
Um so mehr könnte es nun verwundern, daß in der deutschen Schweiz im Ganzen überhaupt ein Mangel an weiblichen Erziehungsinstituten herrscht. Man begnügt sich hier meist mit dem, was man in Deutschland höhere Töchterschulen nennt. Der Grund leuchtet indeß ein. Es ist eben jener Umstand, daß die deutschen Schweizer ihre Töchter in die französische Schweiz zu schicken pflegen. Der Mangel ist fühlbar da, freilich mit Ausnahmen, aber sehr wenigen. An ausreichende Erziehungsinstitute in den kleinen Cantonen und Städten ist nicht zu denken. Von den größeren Städten habe ich zunächst über ein derartiges Institut in Basel nichts gehört. Die Baseler sind auch wohl zu fromm. In Bern ist eine ausgezeichnete höhere Töchterschule unter der Leitung des Director Fröhlich. Sie leistet für Bern und den Canton außerordentlich viel Gutes. Aber sie ist, so viel ich weiß, nur Schule, keine Pension, jedenfalls mehr jenes als dieses.
Der Sitz ausgezeichneter weiblicher Erziehungsinstitute war früher Zürich und ist es jetzt wieder. Den bedeutendsten und verdientesten Ruf hatte früher das Institut des Fräulein Stadlin, jetzt Frau des hiesigen Regierungs-Präsidenten Zahnder. Sie hatte es aber schon vor zehn Jahren eingehen lassen. Darauf folgte das Institut Brugg. Töchter des Dr. Brugg leiteten es mit Talent, Geschick und Glück. Der Vater starb, darauf die eine Schwester; die andere hat sich verheirathet. So mußte es ebenfalls eingehen. In völlig würdiger Weise ist seitdem an seine Stelle das Institut Kapp getreten. Es existirt noch, es ist noch in vollem, frischem Aufblühen begriffen.
Dr. Kapp, Prorector und erster Oberlehrer am Gymnasium zu Soest in Westphalen, hatte dort mit seiner Frau Ottilie, geborene von Rappard, der bekannten Schriftstellerin, schon im Jahre 1842 ein weibliches Erziehungsinstitut errichtet, das vortrefflich geleitet wurde. Als er im Jahre 1854, müde der fortwährenden Vexationen des Ministeriums Manteuffel-Raumer, die ihn nicht minder als seinen Bruder, den bekannten ausgezeichneten Gymnasialdirector Friedrich Kapp in Hamm, trafen, seinen Abschied genommen hatte, siedelte er mit seiner Familie nach Zürich über, um sich hier ausschließlich der Erziehung der weiblichen Jugend zu widmen. Er hatte anfangs mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen, fremd im fremden Lande, es war natürlich. Er hat sie überwunden, und sein Institut ist, wie gesagt, in vollster und frischester Blüthe. Schon das muß für seinen Werth bürgen.
Ich kann Ihnen aber auch selbst für diesen einstehen. Ich habe schon mehrere junge Damen aus Deutschland hin empfohlen. Sie waren aufgehoben, wie zu Hause, sie lernten etwas Tüchtiges, Solides, sie kamen reich ausgebildet an Geist und Herz, und natürlich und ungeziert zurück. Was wollen Sie mehr? Die Eltern waren mir dankbar und sind es noch. Ich bin überzeugt, auch die Angehörigen der jungen Dame, für die Sie anfragen, werden mir für die Empfehlung Dank wissen. Einzelnes brauche ich Ihnen danach wohl nur noch wenig zu schreiben. Die Eltern der Dame werden sich ja auch an Kapp selbst wenden. Ich bemerke Ihnen daher nur, daß Kapp und seine Frau selbst Unterricht ertheilen und zwar mit ihren beiden Töchtern. Von diesen war die Eine mehrere Jahre Lehrerin im Elisabeth-Institut zu Berlin, die Andere Erzieherin in einer englischen Familie. Außerdem ist eine Französin für den Unterricht und die Conversation in der französischen Sprache, sowie eine Engländerin für das Englische da, wie einzelne Lehrer aus der Stadt noch in einzelnen Fächern unterrichten; ein Prediger besorgt den Religionsunterricht. In dem Institute sind gegenwärtig junge Mädchen – von zwölf bis achtzehn Jahren – aus Deutschland, England, Frankreich (unter Andern drei aus Bordeaux), Italien und der Schweiz, auch aus der französischen. Manche davon wollen sich zu Lehrerinnen und Erzieherinnen[WS 3] ausbilden, und nicht blos von diesen habe ich schriftliche Ausarbeitungen gesehen, die meine Bewunderung erregt haben.
So, mein lieber Freund, glaube ich, können Sie auch mit gutem Gewissen jene junge Dame hierher schicken lassen, nach dem schönen Zürich, dem schweizerischen Athen, wie sie in der Schweiz selbst es nennen, an den herrlichen See, den mancher andere an Großartigkeit und wilder, romantischer Schönheit übertreffen mag, aber an Anmuth und Lieblichkeit keiner.
Auch eine Rabenmutter. Am 15. Mai d. J. ging ich, wie gewöhnlich, nach dem eine halbe Stunde von meinem Wohnorte entfernt liegenden Gute Volkhausen, um daselbst Privatunterricht zu ertheilen. Mit den Worten: „Ich kann Ihnen etwas Neues zeigen, was Sie nicht alle Tage sehen,“ empfing mich Herr Volkhausen, ein sinniger Beobachter der Natur; „in der Nähe lasse ich eine Eiche fällen, auf der sich ein Rabennest befindet; wollen wir nicht sehen, wie sich die Alten verhalten werden?“
Sehr gern ging ich mit. Eben kamen wir noch zu rechter Zeit; denn die Eiche konnte den gewichtigen Axtschlägen nicht lange mehr widerstehen. – Schon von Weitem hatten wir gesehen, wie der Rabe – es war nur einer da – in immer engern Bögen das bedrohete Nest umkreisete. Jetzt neigt sich der Baum. Die Jungen mögen ihre Mutter – sie war es, wie sich nachher ergab – um Hülfe gefleht haben; denn pfeilschnell senkt sich der alte Rabe auf sein Nest. Noch ein paar Hiebe – und der Baum liegt an der Erde. „Wo ist das Rabennest?“ fragten selbst die rohen Arbeiter. Es war noch da, und auf ihm der alte Rabe, von einem Aste erschlagen, im Tode noch zwei seiner Jungen mit seinen Flügeln deckend!
Retzen bei Lemgo, den 2. Dec. 1860.Mit dieser Nummer schließt das vierte Quartal, und ersuchen wir die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das erste Quartal des neuen Jahrgangs schleunigst aufgeben zu wollen.
Wir sehen in dieser, in Deutschland einzig dastehenden Verbreitung nur eine neue Aufforderung, unsern bisherigen Bestrebungen und Tendenzen treu zu bleiben, und hoffen unsern vielen Freunden schon in den nächsten Nummern zu beweisen, wie ernst wir es mit diesen meinen.
Vor dreißig Jahren, von Edm. Hoefer – Der Festungs-Commandant, von Lev. Schücking (Schluß der Frohn’schen Abenteuer) – In der Wildniß, von Fr. Gerstäcker – Elf Blutzeugen deutscher Freiheit. Erinnerung aus den Zeiten französischer Herrschaft. Originalmittheilung – Erlebtes in Friedensjahren und Kriegsmonaten, von Fr. Annecke – Acht Jahre im Kaukasus. Mit vielen prachtvollen Originalbildern, gefertigt im Auftrage der russischen Krone – Im Sinaikloster, von Prof. Tischendorf – Der Dichter Raimund und Therese Krones, von Alb. Traeger – Ein norwegischer Vogelberg, von Alfr. Brehm – Der Mann des rothen Buches – Thier-Charakterbilder: die Fischotter, der Schwarzspecht – Das Schlachtfeld der Natur, von Louis Büchner – Der Gang zu einem Lumpenhändler – Ein Blick in die Geschichte der Pflanzen, von Berth. Sigismund – Wissenschaftliche Erklärung des Tischrückens. Mit Abbildungen. – Der deutsche Fürst, wie er sein soll, mit dem Herzen für Reich und Volk, von W. Zimmermann (Verfasser des Bauernkrieges), mit Illustrationen von Camphausen in Düsseldorf – Die Telegraphie. Mit vielen erläuternden Abbildungen – Befreiung einer Abtheilung Lützower Jäger. Erinnerung eines Siebenzigjährigen – Die Juden in Rom und die heilige Inquisition.
Auch die
Leipzig, im December 1860.
Illustrirter Jahrestitel und Register 1860 werden mit Nr. 2 des neuen Jahrgangs ausgegeben.