Die Gartenlaube (1861)/Heft 44

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1861
Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 44.   1861.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Zur Beachtung!


Um den vielfach ausgesprochenen Wünschen einer großen Anzahl neuer Abonnenten wenigstens in Etwas nachzukommen, hat sich die unterzeichnete Verlagshandlung entschlossen, den Preis der
vier Jahrgänge 1856 bis 1859 der Gartenlaube
zusammengenommen bis Ende dieses Jahres von 8 Thlr. auf 3 Thlr. 15 Ngr.

zu ermäßigen. Es wird indeß ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, daß diese Ermäßigung nur bis Ende dieses Jahres und bei Zusammenankauf der vier Jahrgänge gilt, einzelne Jahrgänge dagegen den alten Preis von 2 Thlr. behalten. Mit dem 31. December tritt unwiderruflich für die Jahrgänge 1856 bis 1859 der frühere Preis von 2 Thlr. wieder ein.

Die beiden ersten Jahrgänge, 1853 und 1854, sind vergriffen, 1855 ist nur in wenigen Exemplaren noch vorräthig.

Die Jahrgänge 1856 bis 1859, welche zusammen 410 Quartbogen mit den prachtvollsten Illustrationen umfassen, enthalten eine Reihe der interessantesten Original - Erzählungen von Lev. Schücking, Temme, Max Ring. v. Sternberg, Gerstäcker, E. Willkomm. Ernst Fritze, L. Mühlbach, L. Rosen, L. Storch etc., viele der besten wissenschaftlichen Beiträge von Bock, Alfred Brehm, Roßmäßler. Berth. Sigismund, Doebereiner, Hirzel etc., Reise- und Jagdbilder von Gerstäcker und Guido Hammer, Biographien und Portraits der hervorragendsten Erscheinungen der Neuzeit, beschreibende und geschichtliche Aufsätze etc. etc., mithin eine reiche Bibliothek für edle Unterhaltung und instructive Belehrung.

     Alle Buchhandlungen nehmen Bestellungen an.

Die Verlagshandlung von Ernst Keil.     




Unter Fremden.

Aus dem deutsch-amerikanischen Leben
Von Otto Ruppius
(Fortsetzung.)

Vor der Thüre stand die Farbige, augenscheinlich auf sie wartend. „Ich soll Miß Hast den Weg nach ihrem Zimmer zeigen!“ sagte sie mit dem frühern freundlichen Grinsen, und Lucy folgte ihr mechanisch die mit Teppichen belegte Treppe hinauf, sah vor sich eine Thür geöffnet und trat ein, ohne sich nur recht ihrer Umgebungen bewußt zu sein; jedes Wort des eben gehabten Gesprächs hatte sich in ihrer Seele wiederholt, und erst als die Mulattin ihre Hülfsleistung anbot, entriß sie sich den erhaltenen Eindrücken. „In einer Viertelstunde, Flora!“ nickte sie der Wartenden zu, und als diese das Zimmer verlassen, warf sie einen Blick auf den sie umgebenden Raum. Ein weicher Fußteppich, ein Bett von einer türkischen Damastdecke verhüllt, eine zierliche Commode mit Toilettenspiegel, ein Schreibtisch, ein Schaukelstuhl und eine kleine Anzahl Rohrsessel bildeten eine so freundliche Ausstattung, als sie nur das Schlafzimmer einer Dame auf dem Lande zeigen mochte, zwischen den dunkeln Vorhängen der Fenster aber bot sich dem Mädchen eine weite Fernsicht über Felder, Wiesen und Wald. Langsam ließ sie sich auf dem nächsten Stuhle nieder, fast ängstlich den wohlthuenden Eindruck, welchen das heimliche Zimmer auf sie gemacht, von sich weisend. Sie sah bei ihrem ersten Schritte in die Familie Verhältnisse vor sich, die sie nicht verstand, sah die Frau, welche ihr natürlicher Halt hätte sein sollen, in einer Opposition gegen sich, welche nicht einmal die einfachste Höflichkeit für erforderlich achtete und deren Grund sie ebensowenig begriff, sah den Hausherrn ihren Eintritt mit einer Kürze behandeln, die sie in ihrer eigenthümlichen Lage sich völlig selbst zu überlassen drohte – sie war kaum eine halbe Stunde in diesem Hause und doch glaubte sie sich schon fragen zu müssen, wie hier wohl von einer Zukunft für sie die Rede sein könne – trotz ihrer eigenen ungewissen Lage, trotz der freundlichen Gedanken, welche der erste Eindruck des Hauses fast wie eine Prophezeiung in ihr hervorgerufen. Unruhig erhob sie sich und durchmaß langsam das Zimmer; noch hatte sie weder ihren Hut noch den leichten Sommermantel abgelegt, und die wiedereintretende Farbige folgte ihrem Gange mit verwundertem Blicke, bis Lucy’s Auge auf sie traf.

„Thun Sie mir wohl den Gefallen und fragen den Major, ob ich ihn auf einige Minuten sprechen könne?“ sagte das Mädchen, wie mit einem Entschlusse fertig geworden, und als die Mulattin dienstbereit das Zimmer verlassen, nahm sie einen der Sessel am Fenster ein, den Kopf in die Hand stützend. Sie wollte sich Klarheit über ihre Stellung im Hause verschaffen und sich, lieber sogleich von der Unhaltbarkeit derselben überzeugen, lieber bei Zeiten die genährten Hoffnungen aufgeben, als sich einer unsichern Heimath anvertrauen, um dann diese später mit noch unangenehmeren Erfahrungen zu verlassen. Kaum war sie indessen über das, was sie dem Hausherrn zu sagen, mit sich einig geworden, als schon Flora wieder erschien und ihr einen zusammengefalteten Zettel überreichte. Mit sonderbar gemischten Empfindungen las sie:

[690] „Betrachten Sie sich völlig als zu Hause, treffen Sie Ihre Anordnungen, wie Ihnen dieselben als nothwendig erscheinen, es ist dafür gesorgt, daß ihnen nachgekommen wird, und kehren Sie sich sonst an nichts. Später, sobald es meine Zeit erlaubt, spreche ich Sie selbst.       Wood.“

Das war genau der Mann, wie er ihr beim ersten Blick entgegen getreten war, und ungerufen stand sein durchdringendes Auge vor ihr, als wollte es sagen: Bist Du die, für welche ich Dich gehalten? und dasselbe Gefühl der Sicherheit, welches sie bei seinen ersten Worten empfunden, überkam sie wieder; nochmals überlas sie die wenigen Zeilen und dann erhob sie sich, langsam ihre Hutes und Mantels sich entledigend. Jeder Zoll im Hause war ihr noch fremd, nirgends sah sie in den Verhältnissen, wie sie sich ihr bis jetzt vor Augen gestellt, einen Leitfaden, um ein Anstoßen zu vermeiden; aber sie fühlte, daß, wo an ihre Selbstständigkeit appellirt wurde, sie nicht zurückweichen durfte. Eben wollte sie sich mit einer Frage an die harrende Dienerin wenden, als sich die Thür halb öffnete und ihr ein trotziges Knabengesicht unter reichem, wildem Haar entgegenblickte – es war dasselbe Auge, dieselbe eigenthümliche Kopfhaltung, welche soeben noch vor Lucy’s Seele gestanden, und ein warmes, eigenthümlich wohlthuendes Gefühl der Zuneigung für das kaum erblickte Kind begann plötzlich in ihrem Innern aufzusteigen. „Nun, warum denn nicht näher?“ frug sie lächelnd, als der große, dunkele Blick forschend auf ihrem Gesichte hängen blieb, und langsam trat der Knabe ein, in gerader Linie auf sie zugehend; hinter ihm aber bog sich halb neugierig, halb scheu der wirr umlockte Kopf eines kleinen Mädchens zur Thür herein.

„Pa sagt, wir sollten zu Ihnen heraufgehen, Sie würden eine neue Mama für uns sein,“ sagte der Erstere ernst und wie noch immer ihr Gesicht studirend, „aber Tante Lowell hat auch eine neue Mama sein sollen und kommt nur zu uns, wenn sie uns schlagen will – aber ich lasse mich nicht schlagen.“

„Schlagen! sehe ich denn so sehr danach aus? und wer wird denn einem so tüchtigen, kleinen Kerl etwas thun wollen, der doch gewiß gern auf Jemand hört, den er lieb hat?“ sagte sie, dem Kinde die Hand entgegenstreckend, „und ich denke doch, wir werden uns mit der Zeit recht lieb haben!“ Ein heller Strahl ging über des Knaben Gesicht, sein Auge schien ihre Züge nicht verlassen zu können, und langsam legte er seine Hand in die ihre.

„Aber noch weiß ich ja nicht einmal wie Du heißt?“ fuhr sie fort.

„Ich heiße Richard, gerade wie Vater heißt,“ erwiderte er, sichtlich lebendig werdend ; „das ist Lotty,“ setzte er hinzu, auf das Mädchen deutend, das während der Verhandlung langsam herangekommen war und jetzt mit einem hellen Ausblick ihre Hand in Lucy’s ausgestreckte Linke legte, „und Maggy ist vor der Thür und will nicht herein; Tante Lowell sagt immer, sie ist ein verdrehter Kopf, mit dem nichts anzufangen ist.“

Ein Gefühl von aufwallender Liebe, wie sie es in ihrer bisherigen Heimath niemals hatte kennen lernen, hatte sich Lucy’s Herzens bemeistert, als sie die Hände des kleinen Paares in den ihrigen gefühlt; sie erhob sich jetzt rasch und schritt, von den Kindern gefolgt, nach der Thür. Draußen stand an die Wand gedrückt eine magere, kleine Gestalt mit unordentlich gescheiteltem, kurz abgeschnittenem Haare und hob scheu den Kopf der neuen Erscheinung entgegen. Lucy hockte sich nieder zu ihr und senkte einen langen, warmen Blick in ihr Auge. „Will mir denn Maggy nicht auch Willkommen sagen und gute Freundschaft mit mir machen?“ sagte sie mit dem ganzen Wohllaut ihrer Stimme, „ich möchte ja doch so gern, daß mich auch Maggy lieb hätte! “

„O, und Miß Lucy schlägt nicht, sie hat’s gesagt – und sieht sie nicht freundlich aus, Maggy?“ rief der Knabe, als wolle er dem kleinen, furchtsamen Geschöpft, das mit verwunderten Augen in das fremde Gesicht vor sich starrte, Muth machen.

„Und sie spielt auch Piano, Pa hat’s gesagt – können Sie nicht?“ setzte Lotty hinzu, sich in voller, erwachter Traulichkeit an die Angeredete schmiegend.

„Piano – pshaw! aber Geschichten erzählen!“ rief der Knabe den Kopf wichtig hebend, „können Sie das, Miß Lucy?“

„Nun, ich werde Piano spielen und Geschichten erzählen, wenn meine Kinder mich recht lieb haben und folgen werden!“ erwiderte die Befragte, die kleine Maggy, die willenlos sich ihr hinzugeben schien. in ihre Arme nehmend und sich dann erhebend. Zum ersten Male fiel jetzt ihr Blick auf das Aeußere ihrer Pflegebefohlenen, das trotz der werthvollen Stoffe, welche zu der Kleidung verwendet worden sein mochten, völlig vernachlässigt erschien, und ein heiliges Mitleid mit dem Vater, der sicher die mangelnde Sorge für seine Kinder bitter empfunden haben mußte, ehe er sich entschlossen, zu fremder Hülfe zu greifen, überkam sie und rief den Entschluß in ihr wach, in jeder Weise zu versuchen, Mutterstelle an den ihr Anvertrauten zu vertreten.

„Wo schlafen die Kinder?“ wandte sie sich an die Farbige, welche mit einem Blick voll regen Interesses die kurze Scene zu beobachten geschienen.

„Bei der Wirthschafterin, Ma’am!“

„So führen Sie mich zu dieser, wir wollen gleich die erste Nothwendigkeit zu ordnen versuchen, ehe wir an meine Angelegenheiten denken. Möchtet Ihr Eure Betten bei mir haben, Kinder?“ wandte sie sich an diese.

„Halloh, wir schlafen bei Miß Lucy, und da werden Geschichten erzählt, bis Keins mehr ein Auge aufhalten kann!“ rief der Knabe und sprang wie in toller Freude davon; die Mulattin zog eine wunderliche Grimasse, schien etwas sagen zu wollen und es wieder zu unterdrücken und ging endlich dem Mädchen nach dem hintern Theile des Hauses voran, wo zwei Schwarze in der Küche hantirten, während sich in einer daranstoßenden geöffneten Vorrathskammer die untersetzte Gestalt einer Weißen beschäftigt zeigte. Lucy, von ihrer Führerin bedeutet, wandte sich der Letzteren zu, kaum schien dieselbe aber von ihrer Erscheinung Notiz zu nehmen, und die Weise, in welcher sie nach kurzem Aufblicken der Eingetretenen den Rücken zeigte, drängte dieser unwillkürlich den Gedanken an eine absichtliche Unart auf.

„Sie sind die Wirthschafterin?“ fragte sie mit voller Höflichkeit im Tone, „ich muß mich Ihnen schon selbst als neue Hausgenossin vorstellen und komme dabei gleich mit einer Bitte!“

Die Angeredete wandte wie in einer unvermeidlichen Nothwendigkeit den Kopf und zeigte ein Gesicht voll harten, unangenehmen Ausdrucks, das während des kurzen Blicks über das Aeußere der Sprecherin nur noch unfreundlicher zu werden schien. „Ich bin allerdings die Wirthschafterin!“ sagte sie kurz und machte damit eine halbe Bewegung sich wieder wegzudrehen.

„Und ich bin die Erzieherin der Kinder hier, die ich gern völlig bei mir haben möchte,“ erwiderte Lucy, ihren bisherigen Ton beibehaltend, aber mit einem Blick voll ernster Sicherheit dem Auge der Frau begegnend. „Sie würden mich sehr mit der Angabe verbinden, ob neben meiner Wohnung sich noch ein dispenibler Raum befindet, der zu ihrer Schlafstube dienen könnte; im andern Falle würde ich auch wohl in meinem Zimmer Raum finden.“

„Ich glaube nicht, daß die jetzige Ordnung geändert werden wird,“ erwiderte die Erstere kalt, sich ihrer bisherigen Beschäftigung wieder zudrehend. „Mrs. Lowell hat die Kinder unter meine Obhut während der Nacht gegeben, und da werden sie bleiben, bis Mrs. Lowell selbst mir andere Befehle giebt.“

In dem Innern des Mädchens stieg es plötzlich wie die Ahnung eines bereits gegen sie fertig gemachten Complots auf; kaum war es sonst möglich, bei ihrem ersten Eintritte in das Haus auf eine so bestimmt ausgeprägte, wiederholte Unfreundlichkeit zu treffen; und wenn sie auch keine Ahnung von den Gründen hatte, die jedenfalls in den häuslichen Verhältnissen lagen, so fragte sie sich doch, ob nicht der Einfluß des vereinigten weiblichen Commando’s stärker sein würde als die Macht des Hausherrn, der die wenigste Zeit zu haben schien, sich um seine häuslichen Angelegenheiten zu bekümmern. Kaum zwei Secunden Zeit mochten indessen die sich in ihr drängenden Gedanken genommen haben, und in gleicher Zeit hatte sie auch eingesehen, daß sie nur durch ein, völlige äußere Ruhe und Gehaltenheit ihre Würde bewahren könne.

„Es hätte mich gefreut, Ma’am,“ sagte sie, mit ihrer ganzen Kraft jedes äußere Zeichen einer Erregung unterdrückend, „wenn Sie mit derselben Freundlichkeit, die mich zu Ihnen führte, auf eine gegenseitige Besprechung eingegangen waren; so muß ich Ihnen überlassen, was Sie thun wollen, und bitte Sie nur zu bemerken, daß ich Sie nochmals ersuche, Anstalten für die Uebersiedelung der Kinder in meine unmittelbare Nähe zu treffen.“ Und die kleine Maggy aufnehmend, welche sich ängstlich an ihrem Kleide festgehalten, wandte sie sich gedankenvoll nach ihrem Zimmer zurück, wo noch immer Koffer und Reisetasche des Auspackens harrten.

„Ich wußte, daß sie Ihnen nicht zu Willen sein würde,“ sagte die alte Flora halblaut, ihr in das Zimmer folgend und die Thür vorsichtig schließend, „es ist schon zwei oder drei Tage bekannt, [691] daß Sie kommen würden, und sie hat ein Gesicht dazu geschnitten, als stecke ihr ein Knochen im Halse. Sie commandirt im Hause, Mrs. Lowell thut nur, was sie will, und selbst der Major mag oft nicht zu ihr reden, wenn sie ihr grimmiges Gesicht vorgenommen hat – es sind da auch noch andere Sachen, über die ich aber nicht reden mag,“ setzte sie hinzu, während es in ihrem Gesichte zuckte, als unterdrücke sie eine aufsteigende schmerzliche Empfindung.

Lucy hatte aufgehorcht, setzte dann das Kind auf ihrem Arme in den Schaukelstuhl und blickte einige Secunden wie im scharfen Nachdenken durch das Fenster über die weite Landschaft. „Wir wollen auspacken,“ sagte sie endlich, sich, wie zu einem bestimmten Entschlusse gelangt, zurückwendend, „und ich hoffe, Flora, daß wenigstens Sie keine Partei gegen mich nehmen, wo ich kaum erst den Fuß in’s Haus gesetzt und sicher noch Niemand beleidigt haben kann!“ Sie hatte der Mulattin die Hand entgegengestreckt, welche diese fast mit einem Ausdruck von Inbrunst ergriff. „O Ma’am,“ rief die letztere mit halbunterdrückter Stimme, „ich habe Ihr Gesicht gesegnet, als ich es zum ersten Male sah, ich habe Ihren Fußtritt gesegnet, als er zuerst im Hause klang – Sie wissen noch nichts, aber Sie erfahren vielleicht mehr – Flora wird Ihnen treu sein, wie der Stengel der Blume, der noch lange trauert, wenn sie schon von ihm gegangen!“

Nur für einen Augenblick beschäftigte der eigenthümliche Ausbruch die Seele des Mädchen-, dann wandte sich ihre Aufmerksamkeit wieder der nächsten Gegenwart zu. Sie war entschlossen, den Verlauf der Dinge ruhig abzuwarten, sie konnte kaum anders nach den Zeilen des Hausherrn, wenn sich auch dessen Worte: „Es ist dafür gesorgt, daß Ihren Anordnungen nachgekommen wird,“ kaum zu bewähren schienen, und ein eigenthümliches Interesse wurde in ihr rege, wenn sie an den klaren, bestimmten Blick des Mannes dachte, zu sehen, ob er seinen Willen durchführen, oder diesen dem augenblicklichen häuslichen Frieden opfern werde. An sich selbst dachte sie in dem letzten Falle kaum; noch halte der Gedanke, hier eine Heimath zu finden, nicht einmal in ihr Wurzel geschlagen.

Wohl eine halbe Stunde mochte mit dem Einräumen der Kleider, Wäsche und der mannigfachen kleineren Toilettengegenstände in deren neue Behälter verstrichen sein, ohne daß dabei mehr als ein zeitweiliges bewunderndes Murmeln der alten Mulattin laut geworden wäre, als plötzlich eine bis dahin verschlossen gewesene Seitenthür des Zimmers mit einem Geräusch aufsprang, daß das Kind im Schaukelstuhle mit einem nervösen Schrei in die Höhe fuhr und selbst Lucy mit einem leichten Schrecken sich umblickte.

Herein kam die Wirthschafterin, von einem Schwarzen gefolgt, sah mit grimmigen Blicken im Zimmer umher, ohne scheinbar von dessen Bewohnerin Notiz zu nehmen, und begann dann die einzelnen Stücke des dastehenden Bettes auf den Boden zu werfen.

Ein einziger Blick in das geöffnete Nebenzimmer, in welchem sich die verschiedenen Theile mehrerer Bettstellen sowie ein Haufen von Matratzen und Decken befand, hatte Lucy belehrt, daß ihrem Wunsche auf irgend eine Weise Geltung verschafft worden war, und erklärte ihr zugleich das Wesen der Eingedrungenen; als diese aber einige in ihrem Wege stehende Sessel mit dem Fuße bei Seite stieß, richtete sich das Mädchen von ihrer Beschäftigung auf und sagte mit der vollen ernsten Haltung, welche ihr zu Gebote stand: „Ich muß Sie ein für allemal bitten, Ma’am, hier den nöthigen Anstand zu bewahren, Sie sind in dem Zimmer einer Lady, das Sie nicht einmal betreten sollten, ohne um Erlaubniß gebeten zu haben!“ aber nur ein kurzer höhnischer Laut, dem das neue Wegstoßen eines Möbels folgte, ward ihr als Antwort, und die ganze Erregung, welche sie bisher gewaltsam unterdrückt, brach sich in ihr Bahn. „Entweder, Ma’am, finde ich die Achtung, welche ich fordern kann,“ rief sie mit zitternder Stimme, „oder ich bitte noch in diesem Augenblick Major Wood um die Erlaubniß, sein Haus verlassen zu dürfen!“

Da wandte sich die Wirthschafterin nach ihr, und ein böser Zug glitt über ihr Gesicht: „Sie sollen die Achtung haben, welche Sie verdienen, Miß, verlassen Sie sich daraus,“ erwiderte sie, „und wenn ich das Haus eher verlasse, als Sie, so mögen Sie das auch zu derselben Achtung schreiben!“ Damit wandte sie sich an den Schwarzen, diesem einzelne Andeutungen für seine Arbeit gebend, und verließ dann mit hochaufgerichtetem Kopfe das Zimmer. Fast meinte Lucy einen versteckten Sinn in der Entgegnung der Frau suchen zu müssen; als aber Flora hinter ihr murmelte: „Das schmeckt ihr freilich nicht, und so hat’s ihr noch Keins gesagt!“ und der Schwarze mit einer Art bewundernden Grinsens das Gesicht nach ihr hob, glaubte sie die gehörten Worte nur dem Einflusse des Aergers zuschreiben zu müssen und bog sich wieder ruhig nach ihrer früheren Beschäftigung nieder. –

Am Abend desselben Tags war die Nebenstube von Lucy’s Zimmer zum Schlafzimmer für sie und die Kinder eingerichtet, und diese lagen, nachdem die Aufregung über die geschehene Umsiedelung durch eine lange Geschichte ihrer neuen Freundin beseitigt worden, bereits im tiefen Schlummer; das Mädchen aber saß im Dunkeln am offenen Fenster, in die sternenklare Nacht hinausblickend und überdachte ihre Lage. Sie hatte nach dem Auftritte mit der Wirthschafterin weder diese noch die „stellvertretende“ Dame des Hauses wieder zu sehen bekommen; sie war mit den Kindern, die nicht wieder von ihr gewichen, zu einem Mittagsmahle hinabgerufen worden, das für sie und ihre Pfleglinge allein im Speisezimmer servirt war, das aber kaum karger hätte ausfallen können, so daß die aufwartende Flora nur durch Lucy’s Ruhe von einer lauten Aeußerung ihrer Entrüstung abgehalten worden zu sein schien; am Nachmittage hatte ihr „der Major“ sagen lassen, daß er sie am nächsten Morgen zu sprechen wünsche, und so hatte sie auch ein Abendbrod, von dem ihr, nachdem sie die Kinder befriedigt, kaum etwas übrig geblieben war, ruhig hingenommen. Sie wußte, daß sie sich heute eine erbitterte Feindin gemacht, die jetzt begann, ihre Rachsucht an ihr zu üben, so wenig sich auch Lucy die ursprüngliche Ursache dieses sonderbaren Hasses zu erklären vermochte; sie wußte aber ebenso wohl, daß ein Verhältniß in dieser Weise nicht für die Zukunft bestehen könne, wenn sie sich auch umsonst fragte, wie dies ohne ein bestimmtes, scharfes Auftreten ihrerseits, ohne ein Hereinziehen der Autorität des Hausherrn geändert werden könne – und dieser, der stets sein Mahl für sich allein nahm, schien am wenigsten mit den kleinen materiellen Dingen des häuslichen Lebens behelligt werden zu dürfen.

Während des Gedankenganges des Mädchens hatte ihr Auge mechanisch, auf einem hellen Flecken gehaftet, der wohl zwanzig Schritte entfernt sich von dem dunkeln Boden vor ihrem Fenster abschied; es schien der Lichtschein zu sein, welcher aus dem Fenster eines seitwärts liegenden kleinen Hauses fiel; plötzlich aber tauchte dort aus der Dunkelheit eine Gestalt auf, die mit augenscheinlicher Vorsicht sich dem Häuschen näherte, und Lucy erkannte auf den ersten Blick das sich deutlich abzeichnende Profil des Hausherrn. Er schien irgend einen Vorgang innerhalb des Hauses erspähen zu wollen, und das Mädchen, welches seine Bewegungen mit einem Interesse beobachtete, über das sie sich kaum selbst Rechenschaft hätte geben können, wollte sich eben fragen, was einen solchen Mann bewegen könne, seine Schritte in Heimlichkeit zu hüllen, als von dorther der Aufschrei einer weiblichen Stimme herüber klang und der Major aus dem Lichtkreise verschwand. Ein Geräusch wie das hastige Schließen eines Fensters folgte jetzt, und Lucy’s feine Ohren vernahmen nach Kurzem ein verdecktes eigenthümliches Jammern und Klagen, das, zeitweise unterbrochen, bald zu erzählen, bald zu leidenschaftlichem Bitten sich zu steigern schien, und oft lag ein solches Weh in den entfernten Tönen, daß das aufhorchende Mädchen ihr eigenes Herz darunter zittern zu fühlen meinte. Erst nach mehreren Minuten nahmen die Laute einen ruhigeren Charakter an und verschwanden endlich ganz; trotzdem aber meinte Lucy noch immer diese Klage, die wie aus dem Innern eines zertretenen Herzens gekommen zu sein schien, in ihren Ohren zu hören und seltsam gespannt sah sie dem Wiedererscheinen des Majors entgegen. Er kam nach einer langen Weile; er bog sofort aus dem Lichtscheine in’s Dunkele, aber eine starke Macht schien ihn noch einmal nach dem Fenster zurückzuziehen, er legte den Arm gegen die Wand des Häuschens und lehnte den Kopf daran – es mußte dicht am Fenster sein, denn Lucy sah sein Profil so hell erleuchtet, daß sie meinte, selbst in ihrer Entfernung jede Aenderung in seinen Zügen wahrnehmen zu können – seine Augenbrauen waren finster zusammengezogen, und um den Mund schien es wie ein tiefer, gewaltsam unterdrückter Schmerz zu lagern; so blieb er stehen, mehrere Minuten lang, den Blick in das Innere des erleuchteten Raums gerichtet; dann trat er weg, ließ den Kopf auf die Brust sinken und schritt langsam in die Dunkelheit hinein; Lucy aber behielt ihren Platz am Fenster, den Blick auf den hellen Flecken vor ihren Augen gerichtet, bis dieser erlosch; es war ihr, als habe sich soeben die einzelne Scene eines düsteren Dramas vor ihr abgespielt, dessen [692] Anfang sie nicht kannte und dessen Ende sie nicht errathen mochte; der Mann, welcher hier Herr war, der Mann mit dem festen, bestimmten Blicke, wandelte nicht, als müsse er jeden seiner Schritte verbergen, Nachts zu einem Orte der Klage, wenn dort nicht ein großer, verborgener Schmerz für ihn selbst lag, und als ihr die kalten, unfreundlichen Gesichter der beiden Frauen im Hause, die vernachlässigten Kinder und die sichtliche Abgeschlossenheit des Hausherrn vor die Seele traten, meinte sie so voll mit diesem fühlen zu können, als liege Alles, was ihn bedrücke, in völliger Klarheit vor ihr.

Noch am andern Morgen, als sie erwachte, stand das Bild des vergangenen Abends in ungeschwächter Deutlichkeit vor ihr, und unwillkürlich war sie an das Fenster getreten, um bei Tageslichte den Schauplatz zu mustern. Hinter dem Hause, wohin sich Lucy’s Zimmer öffneten, stand an der Grenze einiger einfachen Gartenanlagen ein unscheinbares kleines Gebäude, das möglicherweise zu einer Art Pavillon bestimmt gewesen, in seiner jetzigen Erscheinung und abgelegenen Stellung aber von Lucy gänzlich übersehen worden war; dennoch erhielt es durch den dicht dahinter beginnenden schattigen Obstgarten seinen Reiz, und als das Mädchen den kleinen Richard, welcher, kaum daß er ihr Bett leer bemerkt, ihr nachgefolgt war, auf den Stuhl neben sich klettern sah, sagte sie, von einer unbezwinglichen Neugierde getrieben, und doch durch eine eigene Scheu von einer directen Frage abgehalten: „Was für ein niedliches kleines Haus, mitten im Grünen! wer wohl dort wohnen mag?“

Der Knabe war mit dem Auge ihrem halben Fingerzeige gefolgt und sagte dann mit dem eigenthümlichen Ernste, welcher Lucy so sehr an seines Vaters Gesicht gemahnt: „Dort wohnt Mary!“

„Mary!“ wiederholte das Mädchen, „wer ist Mary?“

„Mary ist Mary, und Tante Lowell sagt, sie sei verrückt!“ erwiderte der kleine Befragte mit ungestörtem Ernste; durch Lucy’s Seele aber zuckte das letzte, unerwartete Wort in einer Art von Schmerzempfindung, die gehörten Klagetöne wurden plötzlich wieder in ihren Ohren lebendig, und die ganze nächtliche Scene erhielt eine noch dunklere Färbung. Es war ihr wie eine Erleichterung, als das gutmüthige Gesicht der alten Flora sich in der Thür zeigte, um nach den Kindern zu sehen und „Miss Lucy“ zu benachrichtigen, daß sie den Major in seinem Zimmer finde, sobald sie ein Gespräch mit ihm zu haben wünsche; trotzdem aber drängte es sie zugleich, sich wenigstens so viel Aufklärung zu verschaffen, als sich, ohne das zu verrathen, was sie erlauscht, thun ließ. Sie sandte den Knaben nach seinem Bett zurück, bis sie komme, um ihm beim Ankleiden zu helfen, und musterte dann vor dem Spiegel ihren Anzug. „Ich glaubte schon alle Hausgenossen zu kennen,“ begann sie leicht hingeworfen, „Richard! erwähnt da aber soeben einer Mary –“

„Hat er noch an sie gedacht? Gott segne das Kind, Gott segne es!“ erwiderte die Mulattin, wie in einem unwillkürlichen Gefühlsausbruch; dann aber begann es, als habe sie zu viel gesagt, wunderlich in ihrem Gesichte zu zucken. „Es ist Niemand Besonderes, Ma’am, durchaus nicht, Ma’am,“ fuhr sie fort, einen gewaltsamen Versuch machend, ihre rebellischen Mienen zur Ruhe zu bringen, „es ist nur meine Tochter, Ma’am, wenn sie auch so weiß ist, daß man ihr kaum das schwarze Blut noch ansieht – sie ist krank, wissen Sie, Ma’am, und so werden Sie sie wohl nicht gleich zu Gesicht bekommen –“ und noch immer zuckte es um Auge und Mund der Alten, daß Lucy sich wegwenden mußte, um nicht von deren sichtlicher Verlegenheit, so sonderbar sich diese auch ausdrückte, selbst angesteckt zu werden. Sie schnitt die Scene mit dem Auftrage an die Farbige ab, sie beim Major anzumelden, dann aber bis zu ihrer Rückkunft bei den Kindern zu bleiben, und schritt endlich, ohne sich der sonderbarsten neu aufsteigenden Gedanken über die Natur der belauschten Scene erwehren zu können, nach dem ihr bezeichneten Zimmer hinab.

Major Wood saß, eine ganz verschiedene Erscheinung von der, welche dem Mädchen auf dem Felde entgegengetreten war, in elegantem Morgenanzuge an einem Tische mit Papieren und erhob sich bei Lucy’s Eintritt, um einen Stuhl für sie herbeizuholen.

Unwillkürlich warf diese einen forschenden Blick in sein Gesicht; in tiefen zwar bleichen, aber so sicher ausgeprägten Zügen, daß sich kaum ein anderer Ausdruck darin denken ließ, deutete indessen keine Spur auf eine Erregung, wie sie Lucy am Abend zuvor darin zu sehen geglaubt, und als er das Auge auf sie richtete, dieses eigenthümliche Auge, das sich stets bis in ihr Allerinnerstes zu senken schien, meinte sie fast, die nächtliche Scene nur geträumt zu haben.

„Sie wollten mich schon gestern sprechen, Miß Hast,“ begann er leicht, als Beide einander gegenüber saßen, „und es thut mir leid, daß meine Zeit mir nicht erlaubte Ihnen zu willfahren – indessen ist ja wohl nichts dabei verloren worden!“ setzte er nachlässig hinzu, und dem Mädchen that der Ton der letzten Worte, welcher selbst die halbe Entschuldigung wieder zu beseitigen schien, fast weh.

„Sie haben jedenfalls das Recht mich zu empfangen oder abzuweisen, Sir!“ erwiderte sie und blickte zu Boden. Einige Secunden wartete sie vergebens auf die Fortsetzung seiner Rede, aber sie meinte seinen Blick auf sich ruhen zu fühlen und scheute sich aufzusehen.

„Sind Sie empfindlich, Miß?“ hörte sie endlich seine Stimme, aber ein so sonderbarer Ton klang darin, daß sie rasch das Auge hob und dem Blicke des seinigen voll begegnete.

„Vielleicht, Sir, aber wohl nur, wo ein aufrichtiges, warmes Interesse in mir verletzt wird!“ erwiderte sie ruhig, und vor dem klaren Ausdrucke ihres Blicks senkte sich einen Moment der seinige.

„So – nun, so darf ich ohne Redensarten weitersprechen!“ begann er wieder, sich leicht zurücklehnend. „Ich gestehe Ihnen, daß ich etwas von den ersten Scenen erwartete, welche Ihrem Eintritte in mein Haus folgten, daß ich mir aber die Gelegenheit nicht selbst rauben wollte, einen Blick in Ihr Wesen zu thun, der mich bei den obwaltenden Verhältnissen kaum trügen konnte, und ich ließ Sie deshalb, soweit als angänglich, auf sich selbst angewiesen. Ich gestehe Ihnen ebenso, daß ich mit einer andern Persönlichkeit wohl nicht in gleicher Weise verfahren haben würde; Ihr offenherziger Brief aber hatte mich so angesprochen, daß ich meine Kenntniß Ihres Charakters in der kürzesten Weise zu vervollständigen wünschte; und wenn Sie dies wieder beleidigen sollte, so muß ich Ihnen wenigstens sagen, daß sich dadurch unser künftiges Verhältniß, so weit es mich betrifft, schnell festgestellt hat.“ Er machte, wie eine Aeußerung erwartend, eine Pause.

„Ich kann Ihnen nur für die Offenheit danken, mit welcher Sie mir entgegen treten!“ erwiderte das Mädchen, während sie einem sonderbaren Zwiespalte in ihrem Inneren nicht zu gebieten vermochte; die ungewöhnliche Weise dieses Mannes, sein eigenthümliches Verachten aller Umschweife übten eine Art fesselnden Einflusses auf sie, dessen sie sich kaum erwehren konnte; dennoch war es ihr zugleich, als solle sie sich verletzt fühlen von dieser seltsamen Formlosigkeit, und unwillkürlich fragte sie sich, welches Wesen dieser Mann wohl einer Dame gegenüber, die nicht die Erzieherin seiner Kinder sei, annehmen werde.

Wood hatte, als wolle er sich bestimmter über den Sinn ihrer Aeußerung belehren, einen prüfenden Blick in ihr Gesicht geworfen und fuhr dann fort: „Ich will wirklich ganz offen gegen Sie sein, Miß. Ich gebe im Ganzen nicht viel auf eine Erziehung durch Frauen; sie folgen meist zu sehr den augenblicklichen Eindrücken, und wo sich durch Uebung oder Umstände eine festere Consequenz bei ihnen herausgebildet hat, ist es meist auf Kosten ihren Herzens geschehen; –Sie wollen sagen: und doch habe ich nach einer Erzieherin verlangt und Sie selbst hierher kommen lassen,“ unterbrach er sich, als Lucy eine Bewegung machte; „der Widerspruch soll Ihnen gleich erklärt werden, zuerst will ich indessen noch offener gegen Sie sein, damit Sie mich für alle Folge verstehen und Kommendem keine falsche Deutung unterlegen. Ich zähle im Allgemeinen die Gesellschaft von Frauen nicht zu meinen Bedürfnissen, so sehr ich deren Nothwendigkeit für eine geordnete Häuslichkeit anerkenne, und wenn ich den Bestand derselben in meinem Hause noch durch Ihr Engagement vermehrte, so ist es eben nur geschehen, weil meine Kinder die Stellvertretung einer treuen Mutter vermißten und ich ihnen nicht jede frühe Erinnerung an das Vaterhaus durch ihre Erziehung in einem Institute rauben wollte – um ganz ehrlich zu sprechen, würde ich selbst die Kinder in meinem Hause schwer vermissen, so wenig ich sie auch zeitweise zu Gesicht bekomme. Ich gestehe nun, daß mir die Wahl einer Dame für meine Zwecke wahrscheinlich schwer geworden wäre, wenn ich nicht Ihren Brief, der so ganz von allen andern mir zugegangenen verschieden war, erhalten hätte. Ich glaubte daraus auf ein Herz für meine Kinder schließen zu können, meinte auch darin den nöthigen Grad von gereifter Selbstständigkeit zu entdecken, und nach den Erfahrungen des gestrigen Tages denke ich um so weniger mich getäuscht zu haben. Hiermit wären wir also fertig, und es giebt nur noch eine Klippe, an der allein unsere beiderseitigen Pläne scheitern könnten.“

(Fortsetzung folgt.)
[693]

Charlotte Birch-Pfeiffer.

Es war im Jahre 1812, als eines Nachmittags ein älterer Mann in der Uniform eines höheren Beamten des baierischen Kriegsministeriums in Begleitung eines zwölfjährigen Mädchens durch die Corridors der königlichen Residenz in München den Gemächern zuschritt, welche König Max Joseph I. bewohnte. Der Mann war der königlich baierische Oberkriegscommissar Pfeiffer, das Mädchen seine Tochter. König Max hatte den wackeren Beamten, den er von Stuttgart berufen hatte, zu einer Audienz beschieden; das Mädchen war auf diesem Wege die Begleiterin, die Führerin ihres Vaters, denn der Vater war erblindet.

Es war ein Verwaltungsgegenstand, über welchen der König von seinem Beamten Bericht haben wollte. Obgleich des edelsten Sinnes beraubt, führte der Oberkriegscommissar dennoch seine Geschäfte fort und war um keinen Preis zu bewegen, seine Pension zu nehmen. Als der fragliche Gegenstand erörtert war, richtete der König seine Aufmerksamkeit auf das Mädchen, welches bisher im Hintergrunde des Audienzzimmers stehen geblieben war, wenn etwa der Vater irgend ihrer Hülfe bedürfte.

„Pfeiffer, ist das Deine Tochter?“

König Max pflegte nämlich diejenigen seiner Diener, welche ihm persönlich bekannt und werth waren, mit „Du“ anzureden.

„Majestät, gestatten Sie mir, daß ich Ihnen meine Lieblingstochter vorstelle. Sie ist die Gefährtin meiner Einsamkeit, ich kann mit ihr von Allem reden und fühle mich in Allem von ihr verstanden.“

„Das ist schön, das ist brav von Dir, mein Kind,“ versetzte der König, das junge Mädchen in die vollen blühenden Wangen kneifend. „Wie alt bist Du denn?“

„Zwölf Jahre, Majestät.“

„Was, Mädchen? Hätt’ darauf geschworen. Du wärest in dem Alter der Auguste.“ Damit meinte der König seine Tochter, die jetzige Kaiserin-Mutter von Oesterreich, die um einige Jahre älter war. „Na, wie heißt Du denn?“

„Charlotte, Majestät, aber nur im Taufschein, für das gewöhnliche Leben heiß’ ich nur „Die Lottl“.“

„Blitz, da fällt mir etwas bei. Du bist wohl diejenige –? Die Königin hat mir’s erzählt, und der hat es der Schmidt, der Confirmandenlehrer, mit großer Heiterkeit mitgetheilt. Bist Du schon confirmirt?“

„Ich besuche eben den Unterricht.“

„Denn ist’s auch richtig.“

Der Vater sah bald den König, bald die immer verlegener werdende Tochter an. Der Oberhofprediger der Königin Caroline, Dr. Schmidt, ein vortrefflicher Mann, der, beiläufig erwähnt, zu der Zeit, als er nach München kam, im Jahre 1800, als Ketzer in ganz München keine Wohnung bekommen konnte, sodaß König Max sich genöthigt sah, ihn in die Residenz aufzunehmen, dieser Mann war der einzige Geistliche der damals noch kleinen protestantischen Gemeinde Münchens und leitete den Confirmandenunterricht. Er sprach eben mit seiner großen Begeisterungsfähigkeit von dem Leben nach dieser Erde und von den Freuden, die uns in der himmlischen Seligkeit erwarten, als plötzlich „die Lottl“ aufstand und an den von Eifer erglühenden Lehrer die schüchterne Frage richtete:

„Sie – Herr Oberhofprediger, woher wissen’s denn das so genau?“

[694] Der König erzählte dem Vater dieses Intermezzo und fügte lachend zu dem Mädchen bei: „Aber merk’ Dir das für die Zukunft, die Herren haben es nicht gern, wenn man sich in religiösen Dingen zu neugierig zeigt. Aber Pfeiffer, nun sage mir – das Mädchen scheint Geist zu haben – was soll denn aus ihr werden?“

„Majestät, das ist eben mein einziger Kummer,“ antwortete der Vater mit einem tiefen Seufzer.

„Kummer? Wie so Kummer? Rede!“

Statt des Vaters nahm aber jetzt die Tochter das Wort, wohl fühlend, daß der Augenblick gekommen sei, der ihr Schicksal entscheiden sollte.

„Ich wüßte schon, Majestät, was aus mir werden sollte, und wozu ich den Drang und das Talent in mir verspüre. Ich möchte am allerliebsten zum Theater gehen.“

„Theater?“ wiederholte der König. „Wie ist Dir denn dieser Gedanke gekommen, Mädchen?“

„Ich selber trage die Schuld, Majestät,“ nahm der Vater für die Tochter das Wort. „Der Schiller – der verwünschte Schiller!“

„Was hast Du denn gegen den Schiller?“

„Was ich gegen ihn habe, Majestät? Viel – sehr viel. Aber freilich habe ich selbst dem Mädchen immer von ihm erzählt und sie auf seine Werke aufmerksam gemacht. Majestät, Schiller war mein Stubencamerad auf der Carlsschule, wir haben zusammen in einem Zimmer gewohnt, und ich war derjenige, der das Manuskript der „Räuber“ vor den Augen der Aufseher in das Bettstroh versteckt hatte. Hätte ich aber gewußt, daß mein Herr Camerad mein Kind auf solche Gedanken bringen würde, Majestät, wahrhaftig, ich hätte die Räuber ausgeliefert. Dann wäre es mit der ganzen Dichterei zu Ende gewesen.“

Der König lachte über den halb ernsten, halb komischen Ausbruch des biederen Mannes. „Also zum Theater willst Du gehen?“ wandte er sich wieder gegen die Tochter.

„Aber der Vater, Majestät – der Vater will nicht, er sagt, das sei für die Tochter aus einer guten Familie keine Carriére. Darüber werde in der ganzen Stadt München gesprochen werden.“

„Dummes Zeug, Alter! Du bist ein braver Mann, was kann Dich das Gerede kümmern? Und wenn das Mädchen Lust und Talent hat, so soll sie dem Zuge auch folgen, wie sich auch die müßigen Mäuler darüber verziehen mögen. Es bleibt dabei. Dein König will’s. Das Mädchen soll zum Theater. Der Zuccarini soll ihr lehren, was sich lernen läßt, und wenn sie soweit ist, dann lass’ mir’s sagen, damit ich komme und applaudire.“

Dieses Mädchen war Charlotte Birch-Pfeiffer, und diese Scene mit König Max Joseph dem Gütigen ist gerade so vorgefallen, wie wir sie unseren Lesern erzählt haben.

„Die Lottl“ war in ihrem dreizehnten Jahre geistig wie körperlich so weit entwickelt, daß sie bereits im Jahre 1813 in einem Stücke von Plötz, „Moses Errettung“, auf der Bühne des damals unter der königlichen Hoftheaterintendanz stehenden Isarthortheaters zum ersten Male in einer Liebhaberinrolle auftreten konnte. Der König hatte sein Versprechen gehalten, er wohnte der Vorstellung bei und applaudirte nach Kräften. Nach mehreren Engagements an verschiedenen Theatern machte die junge Künstlerin im Anfang der zwanziger Jahre eine größere Gastspielreise, die sie nach Hamburg führte, wo sie mit dem größten Beifalle zwanzig Gastrollen gab, und später nach Berlin, wo sie berufen war, die Stelle der Crelinger, damaligen Mdme. Stich, welche durch unliebsame Vorfälle für einige Zeit für die Bühne des königlichen Schauspielhauses unmöglich war, auszufüllen. Hier hatte sie sich des Beifalles von Zelter zu erfreuen, dessen Bekanntschaft sie auch später machte und der sich in einem seiner gedruckten Briefe an Goethe voll Anerkennung über sie ausspricht. Geist und Bildung brachten sie bald mit Varnhagen, der Rahel, deren Bruder Ludwig Robert, mit Gans[WS 1] und der Familie Beer zusammen, von der Michael Beer, der Verfasser des Struensee, dem wenn auch nicht schönen, doch in hohem Grade anziehenden Mädchen besondere Aufmerksamkeit widmete, und Giacomo Meyerbeer der Frau bis zur Stunde ein treuer Freund geblieben ist. Nach mehreren Gastspielen in Holland, in Petersburg privatisirte Frau Birch-Pfeiffer, nach ihrer Verheirathung mit dem trefflichen Publicisten Dr. Birch, in München, übernahm 1837 das Theater in Zürich und gab dasselbe im Jahre 1844 auf, einem Rufe Küstner’s nach Berlin folgend, um im dortigen Schauspielhaus die Stelle der Frau Amalie Wolf, geborenen Malcolmi, Goethe’s Liebling, einzunehmen.

Wir haben es an dieser Stelle weniger mit der Schauspielerin, als mit der dramatischen Schriftstellerin zu thun. Die erste, welche Frau Birch-Pfeiffer ermunterte, als Bühnenschriftstellerin aufzutreten, war keine geringere als die Rahel. Es war bei dem ersten Auftreten der Künstlerin in Berlin in dem Raupach’schen Stücke „Die Fürsten Kawanski“. In einer Parterreloge des Hauses saß die Schwester der Debütantin. Plötzlich hörte sich diese von einer neben ihr sitzenden Dame mit den Worten angeredet: „Sie sind die Schwester der Fräulein Pfeiffer.“ – „Woher wissen Sie das?“ fragte nach der ersten Ueberraschung die Schwester. – „Woher?“ lächelte Rahel. „An Ihrer Angst und aus Ihrem Gesichte. Übrigens haben Sie keine Sorge, die kommt durch. Mein Name ist Varnhagen. Machen Sie mich mit Ihrer Schwester bekannt.“

Die Bekanntschaft wurde noch an demselben Abend gemacht, und beide Frauen führten durch mehrere Jahre einen sehr lebhaften Briefwechsel. Rahel war immer diejenige, welche die Künstlerin antrieb, die Feder für die Bühne in die Hand zu nehmen.

Das erste Stück der Bühnenschriftstellerin war „der böhmische Mägdekrieg“ und erschien 1828 auf dem Theater an der Wien. Jedoch begann erst mit „Pfefferrösel“ die Reihe jener sprüchwörtlich gewordenen Erfolge, die ihren Namen populär gemacht haben, wie selten einen, Erfolge, wie sie auf der deutschen Bühne bisher nur Kotzebue aufzuweisen hatte, dessen die deutsche Bühne sich ebenso wenig wie seiner Nachfolgerin zu schämen braucht. Mit dem letzten Stücke „der Goldbauer“ hat Frau Birch-Pfeiffer ihr neunundsiebzigstes Stück geschrieben. Als einst ein berühmter Schriftsteller in Zürich sie fragte: „Wie machen Sie es nur, daß Sie solche Erfolge zu Wege bringen?“ antwortete sie ihm: „Das will ich, Ihnen sagen, Sie schreiben mit dem Kopfe, ich mit meinem Herzen.“ Sie hatte damit das Geheimniß ausgesprochen. Gemüth, eine hie und da etwas derbe Herzlichkeit und eine unverwüstliche innere Frische sind neben einem bedeutenden schriftstellerischen und dramatischen Talent die Ingredienzien, welche ihr die Gunst des Publicums durch so viele Jahre gesichert haben. Dabei sind drei Dinge bei ihrer Thätigkeit für die Bühne nicht außer Acht zu lassen. Kenntniß der Bühne, des Publikums und des Lebens. Fürwahr, es erfordert einen ungewöhnlichen Fond von Geist, neunundsiebzig Stücke zu schreiben, von denen ein Drittel Originalarbeiten und zwei Fünftel Repertoirestücke geworden sind, und immer wieder etwas Neues, Fesselndes und Spannendes zu bringen, um die mit jedem Stücke sich steigernden Ansprüche des Publicums zu befriedigen. Es ist wahr, daß Shakespeare und Schiller bessere Dramen geschrieben haben, als die Birch-Pfeiffer, und daß man an ihre Erzeugnisse nicht den höchsten künstlerischen Maßstab legen darf, aber schon in der großen classischen Periode unserer Literatur war Kotzebue neben Schiller und Goethe ebenso gut für die Bühnen eine Nothwendigkeit, wie die Birch-Pfeiffer heutzutage, wo wir noch dazu keinen Goethe und keinen Schiller mehr am Leben haben. Sie amüsirt das Publicum, sie füllt die Theaterkassen, und die Bedingung einer idealen Kunstrichtung ist eben nur eine gefüllte Theaterkasse. Daß wir aber keinen Ueberfluß, wir wollen gar nicht sagen an guten, sondern nur brauchbaren neuen Bühnenstücken haben, möge eine statistische Notiz beweisen. Von hundert im letzten Vierteljahr bei der General-Intendanz in Berlin eingereichten Stücken waren erst zwei, die für die Bühne brauchbar waren, und dabei wird jedes Stück von sechs Personen gelesen.

Uebrigens gehörte von Seiten einer Frau ein wahrhaft männlicher Muth dazu, weniger um die Spießruthenhiebe der Kritik zu ertragen, als sich durch dieselben aus dem einmal betretenen Wege nicht irre machen zu lassen. Schon dieser Muth der Ueberzeugung muß uns Achtung einflößen. In Frankreich hätte diese Frau mit ihrer Productionsfähigkeit ihren Platz unmittelbar neben Scribe erhalten, und ein französisches Journal nannte sie jungst auch „un auteur français que le hasard a fait naître en Allemagne.“

Wenn jede Kritik gegen die Birch-Pfeiffer ein Pfeil gewesen wäre, es existirte von ihr schon längst kein Härchen mehr. Und wenn die Gegner nur die Gegner ihres Princips, nicht ihrer Erfolge gewesen, wenn sie nur bei dem Papier geblieben wären! Aber nein! Am Morgen der Ausführung eines Stückes ließ ihr der vormärzliche Polizeipräsident von Berlin, Herr v. M., sagen, daß eine Partei sich gebildet, mit der Absicht, das Stück am Abend auszupfeifen. Die Verfasserin möge sich dadurch nicht abschrecken lassen, es seien alle Vorkehrungen dagegen getroffen worden. Es waren aber keine Vorkehrungen nöthig. Das Stück war „Dorf und Stadt“.

[695] Unantastbar steht der Privatcharakter der „Verfasserin“ par excellence da. Wo es gilt, ein Talent, sei es in welcher Richtung, zur Geltung zu bringen, immer ist „die Mutter“ mit ihrer vielvermögenden Hand bereit und einen gar nicht unbedeutenden Theil ihrer Tantiemen verwendet sie auf Unterstützung hülfloser Menschen.

Machen wir jedoch der Dame einen Besuch. Wir flaniren unter den Linden in Berlin. Von da bis zur Krausenstraße Nr. 70, Ecke der Friedrichsstraße, ist nicht mehr gar weit, und die zwei Treppen, freundlicher Leser, wirst Du auch noch steigen können.

Also vorwärts!

Wir klingeln. Ein männlicher Kopf mit weißgrauem, vollem Haar und schwarzem Schnurrbart erscheint. Es ist Gustav, der geflügelte Merkur des Hauses, allen Besuchern desselben wohlbekannt. Gustav ist kein gewöhnlicher Diener, er vergißt zwar leicht, aber schadet nichts, er hat doch „Sinn für das Höhere“. Gustav steht mit allen Künstlerinnen, und deren kommen nicht wenige in ein Haus, aus dem so gute Rollen hervorgehen, auf dem besten Fuße und besitzt seine persönlichen Bekanntschaften alle in einem photographischen Album. Gustav servirt immer in Escarpins und ist glücklich, wenn die schöne K. eingeladen ist, um ihr aus lauter Verehrung in der Zerstreuung die Bratensauce auf das seidene Kleid zu schütten. Gustav ist auch der beste Beurtheiler dramatischer Neuigkeiten. Die Stücke seiner Herrin stehen ihm natürlich am höchsten.

„Haben Sie gestern das neue Stück gesehen, Gustav?“

„Zu dienen, Herr Doctor.“

„Wie war’s?“

Gustav zuckt die Achseln, und das ist bedenklich.

„Der Autor,“ meint er, „hat Talent – ein hübsches Talent, aber noch gar kein Geschick. Und dann bin ich eben nicht sehr portirt für Stücke mit weißer Wolle.“

„Was meinen Sie damit?“

„Nun, eben Stücke aus den alterthümlichen Zeiten, in denen die Inexpressibles noch nicht in der Mode waren und alle Leute in weißem langweiligen Wollenzeuge gingen.“

„Ah so!“

„Aber wenn es den Herren beliebt, die Frau Doctorin sind in ihrem Zimmer.“

Damit will Gustav fein ausdrücken, daß uns nicht der mit blauem Damast garnirte, mit exotischen Gewächsen, Statuen und Oelgemälden geschmückte große Salon zum Aufenthalte angewiesen wird, sondern daß uns die besondere Gunst zu Theil wird, von „Frau Doctorin“ in ihrem Arbeitszimmer empfangen zu werden.

Fürchte Dich nicht, mein freundlicher Leser und Begleiter, daß Dir eine hagere, lange Figur mit einem rothen, kühn um die Schultern drapirten Shawle, einer unaussprechlichen Coiffure und einem gelehrten Citate entgegentreten wird, Du kommst zu keinem Blaustrumpfe, sondern zu einer Frau, die nichts weniger als hager, in einem grünsaffianenen kleinen Lehnstuhle sitzt, die in ihrer äußeren Erscheinung jede Extravaganz sichtlich zu vermeiden scheint, ein graues Wollenkleid trägt, die natürlich und freundlich wie jeder andere wohlwollend gesinnte Mensch zu Dir spricht, bei Deinem Eintritt die Brille ablegt, bei der ersten Begrüßung vielleicht über Kopfweh oder sonst ein Uebel klagt, dann aber dieses vergessend die Unterhaltung voll frischen Humors weiter führt.

Das ganze Zimmer ist grün, grüne Tapeten, grüner Teppich, grüne Vorhänge, an den Wänden umher sind die Bilder von Collegen oder Freunden des Hauses angebracht. Unter Letzteren sehen wir Schönlein, den großen Arzt, den berühmten Rechtslehrer von Keller, umgeben von Ansichten von Zürich, wo sich das Freundschaftsband mit diesen Männern geknüpft hat. Da ist auch eine Abbildung der königl. preußischen Dampfjacht „Grille“, welche von dem hochseligen Könige, dem besonderen Gönner der Verfasserin, bekanntlich ihren Namen nach dem Stücke derselben erhalten hat. Vor dem Schreibtisch baut sich eine andere Bilderwand auf, die besonderen Günstlinge aber haben ihren Platz auf dem Schreibtische selbst. Da ist die anmuthige Herzogin v. B., von ihr selbst geschenkt, die kleine Goßmann in verschiedenen Birch’schen Rollen, aus früheren Zeiten Charlotte von Hagen und an der Spitze aller Uebrigen die einzige Tochter der Schriftstellerin, die Hofgerichtsräthin v. H. in Freiburg, eine Frau von hoher geistiger Begabung. Auf diesem Schreibtisch, von welchem die Waise von Lowood, die Grille etc. ausgegangen sind, liegen Manuscripte, Zeitungen, Bücher, fliegende Zettel, erbrochene Briefcouverts, Büchschen und Fläschchen aller Art wirr und zerstreut durcheinander, aber nur auf den ersten Anblick. Der zweite überzeugt uns, daß in dieser Unordnung die größte Ordnung ist. Jeder Zettel, jeder Streifen Papier hat seinen bestimmten Platz. Auf einem hochgesteckten Zettel sind die Namen der Almosenempfänger des heutigen Tages oder derjenigen Personen aufgezeichnet, an die im Laufe des Tages Briefe geschrieben oder Aufträge bestellt werden müssen.

„Außer der trefflichen Herzogin von Orleans hat wohl noch keine Dame soviel Briefe geschrieben, wie Sie, Frau Doctorin?“

„Ja, wenn ich doch, wie die Liselotte von der Pfalz, immer nur an Freunde schreiben dürfte, aber so kommt eine Masse Dinge an mich heran, die mich innerlich gar nicht berühren. Und doch darf ich ein an mich gerichtetes Vertrauen nicht unerwidert lassen, und könnte ich darauf auch nur mit einem wohlwollenden Worte antworten. Bitte Sie, bin im Leben genug darüber gescholten worden, daß ich nicht unter die Classiker gegangen bin; welches Recht hätten die guten Leute erst, wenn ich auch noch unhöflich würde! Ich bin eine alte Frau, habe mich von Welt und Geselligkeit so ziemlich zurückgezogen, Arbeiten ist mir ein Bedürfniß, um so mehr, als ich nur fünf Stunden des Tages habe, von 5 bis 10 Uhr Abends, wo ich über meine Geister gebieten kann. Ich habe wieder etwas unter der Feder, aber wann ich es vollenden werde? – ich weiß es nicht. Vor Allem muß ich hinaus in die Sommerfrische. Wenn wir auch nur immer die Wirkungen unserer Sachen vorausbestimmen könnten! Wir arbeiteten um ein halb Theil so leicht. Aber mir ging es immer so, daß gerade die Sachen, auf die ich alles Vertrauen setzte, fehlschlugen, und andere Stücke, die ich Anstand nahm hinauszugeben, das meiste Glück gemacht haben. Das Publicum ist ein wunderlich Ding.“ Hier nimmt die Verfasserin aus einer kleinen, goldenen Dose eine Prise.

„Entschuldigen Sie, meine Herren, ich weiß zwar, daß Schnupfen für eine Frau ein großes Laster ist; Sie werden mir aber verzeihen, wenn ich Ihnen sage, daß dieses große Laster meinen Augen sehr wohl thut.“

Die kleine goldene Dose, aus der sie den Tabak nimmt, erregt durch ihre eigenthümliche Form unsere Aufmerksamkeit. Wir besehen sie näher, sie erregt unsere Bewunderung durch ihre wundervoll getriebene Arbeit.

„Die Arbeit ist auch nicht von heute,“ erklärt Frau Birch-Pfeiffer. „Diese Dose ist ein Geschenk Ludwigs XIV. an einen Vorfahren meines Mannes, einen Dänen, der in irgend einer diplomatischen Angelegenheit an den Hof von Versailles gesandt worden war.“

„Und diese Dose ist wohl auch das magische Medium, vermöge dessen es Ihnen so gut gelang, sich in die galante Zeit von Versailles zurückzuversetzen, die alte Maintenon und Ludwig XIV., Mazarin mit seinen Nichten zu belauschen und den flatterhaften Herzog von Richelieu auf seinen Liebesabenteuern zu verfolgen?“

„Vor Allem aber erhält sie mir den Tabak frisch, und das ist ihr erster Vorzug,“ ist die bündige Antwort der Verfasserin.

Wie viele interessante Menschen haben in diesen Räumen wohlwollende, wahrhaft mütterliche Aufnahme gefunden! Eine der bedeutendsten Erscheinungen auf diesem Boden war jedenfalls Jenny Lind, als sie zum ersten Male nach Berlin kam. Bekanntlich hatte Meyerbeer die berühmte Schwedin zur Aufführung seines Feldlagers nach Berlin kommen lasten.

Meyerbeer,“ erzählte Frau Birch-Pfeiffer, „hatte mich gebeten, mich des Mädchens anzunehmen, vor Allem aber sie deutsch vocalisiren zu lehren, da sie bisher nur schwedisch und italienisch gesungen hatte. Meyerbeer brachte sie zu mir. Sie kam aus Paris, sah aber gar nicht nach Paris aus. Ein großer Hut, ein unscheinbares Kleid, und ein fast abgetragener Wollenshawl war ihre Pariser Toilette, und dabei benahm sie sich so ängstlich und eckig, daß ich wirklich nicht wußte, was ich aus, diesem Wesen machen sollte. Meyerbeer wollte mich vor Allem ihre Stimme hören lassen, öffnete das Clavier und schlug die ersten Töne der Arie der Alice aus dem Robert an. So wie die ersten Töne erklangen, war dieses scheue, zurückhaltende Geschöpf plötzlich Leben und Feuer, legte rasch den Hut ab, warf den Shawl fort und sang nun die Arie mit jener wundervollen Engelsstimme, die schon nach den ersten Takten mir die Thränen aus den Augen lockte. Ich war, ehe ich die Stimme gehört, noch nicht entschlossen, ob ich die Verpflichtung übernehmen sollte, aber nun war ich keinen [696] Augenblick mehr in Zweifel, denn hier war nicht mehr von freiem Willen die Rede, hier zwang das Genie, welches Gott in diese jungfräuliche Seele gehaucht hatte. Ich wünschte allen unseren Künstlerinnen die Energie und Ausdauer in ihren Studien, wie sie dieses zarte Mädchen an den Tag legte. Ich studirte mit ihr die Norma, mit der sie musikalisch ganz fertig war, nur der deutsche Text machte ihr noch Schwierigkeiten, besonders die Stelle: „daß es zersplittere,“ in der sie mit ihrer weichen schwedischen Zunge die Schärfe des Wortes „zersplittere“ nicht herausbringen konnte; sie sprach immer statt des z ein s, überhaupt das Wort ohne dessen markige, charakteristische Kraft. „Lassen wir es sein, liebe Jenny, es geht heute nicht, und ich muß in die Probe zur Marquise von Billette.“ Die Probe währte ohngefähr vier Stunden. Ich komme nach Hause, höre Clavier spielen, eine Singstimme und frage meine Leute: „Wer ist denn da?“ – „Frl. Jenny,“ war die Antwort. – „Die ist wohl erst gekommen?“ – „Nein, sie ist gar nicht weggewesen.“ – „Wie?“ In demselben Augenblicke, wie ich das Zimmer betrete, kommt sie mir mit geharnischtem Schritt entgegen, faßt mit fast männlicher Kraft meinen Arm und schmettert mir die Stelle mit der vollsten Wucht und Schärfe entgegen. Sie hatte in diesen vier Stunden die einzige Stelle wohl an zweihundert Mal probirt. Hier in dieser Schatulle,“ damit deutete die Verfasserin auf einen rothsammetnen mit vergoldeter Bronze verzierten kleinen Kasten, „hier sind meine Diamanten, die Briefe Jenny Lind’s und Mendelssohn Bartholdy’s an mich. Letztere werden bald in einer Biographie Mendelssohn’s im Druck erscheinen. Aber wundern Sie sich nicht, wenn ich vermeide, Musik zu hören, ich kann nicht mehr, ich, habe das Größte, die Harmonie der Sphären von diesen beiden Menschen hier in diesem Zimmer gehört.“

In diesem Augenblicke klopft es, und ein kleiner ältlicher Mann mit scharf geschnittenen Zügen und einer unendlichen Bescheidenheit im Auftreten tritt in’s Zimmer.

Wir wollen uns entfernen.

„Bitte, bitte, bleiben die Herren, wir sind alte Freunde,“ spricht Frau Birch, auf den Herrn deutend, „und Ihnen wird es gewiß interessant sein, die Bekanntschaft eines berühmten Mannes zu machen. Meine Herren, Sie stehen dem Komponisten des Robert und der Hugenotten gegenüber.“

Der Eingetretene ist Giacomo Meyerbeer.

„Ich komme mit einer Bitte zu Ihnen, liebe Freundin. Einem deutschen Hofe geht es à contre-coeur, in meinem Nordstern einen Czaar betrunken auf der Bühne zu sehen. Es ist darum eine Aenderung der Situation im Texte nöthig, und diese bitte ich Sie mir zu machen. Sie verstehen es so vortrefflich, auf meine Intentionen einzugehen, viel besser als Scribe, der mir oft recht viele Schwierigkeiten machte.“ Nun erzählt der berühmte Componist einen komischen Vorfall, der ihm mit Scribe bei „Robert der Teufel“ passirt war. „Sie kennen, meine Herren, vielleicht den ersten Act, wo die als Ritter auftretenden bösen Geister im Französischen die Textworte haben: „Nous le tenons“. (Wir halten ihn.) In diesen drei Worten habe ich versucht, den infernalischen Triumph der bösen Geister in düsteren Klangfarben auszudrücken.

„Was haben Sie da gemacht!“ rief Scribe, der der Hauptrede beiwohnte. „Den Triumphgesang der Hölle,“ antwortete ich. „Die Dämonen glauben jetzt Robert in ihrer Mitte zu haben “ – „Mein Gott, ich habe mit dem „le“ ja nicht Robert, sondern den Spielsatz gemeint,“ rief Scribe, der sich aber bald beruhigte, da er fand, daß die Sache in dieser Auffassung sich denn doch besser machte.“

Die belebte Unterhaltung wird durch den eintretenden Gustav unterbrochen; dieser meldet den Herzog von K.

„Der Herzog?“ ruft Frau Birch, ihre Toilette betrachtend. „Aber so muß Hoheit doch immer zu einer Zeit kommen, wo man für ihn nicht in Scene gesetzt ist. Nun gut, so mag sich Hoheit mit meiner Alltagserscheinung begnügen. Eine deutsche Schriftstellerin kann nicht, wie Madame de Staël , in Turban und Sammtschleppe am Schreibtische sitzen. Es soll mir eine besondere Ehre sein, Seine Hoheit zu empfangen,“ ruft sie dem abgehenden Gustav zu. „Morgen, lieber Freund,“ wendet sie sich an Meyerbeer. „sende ich Ihnen die Aenderung. Und Sie, meine Herren, werden mich entschuldigen. Fürsten sind verwöhnte Menschenkinder, und Kunst und Leben zwei verschiedene Dinge. Ich kann einen Fürsten wohl in einer Komödie bei einem Rendezvous, aber niemals vor meiner Wohnung in der Krausenstraße warten lassen. Leben Sie wohl und wiederholen Sie das Vergnügen, welches mir Ihr Besuch gewährt hat.“

Georg Horn.




Zur deutschen Flotte.[1]

Zur deutschen Flotte! tönt’s durch’s deutsche Land,
Und jede Brust erglüht in heil’gen Feuern,
Und opferfreudig bietet jede Hand
Die deutsche Steuer für das deutsche Steuern,

5
Die Grenzen fallen zwischen Süd und Nord,

Kein Hader mehr, kein brudermordend Schmähen,
Die alte Zwietracht stürzt sich über Bord,
Der Hauch der Einheit soll die Segel blähen:
Die deutsche Flotte sei in stolzer Wehre

10
Ein einig Deutschland auf dem weiten Meere!


Ehrwürdig Banner, ruhmvoll Schwarzrothgold,
Begraben einst in schmerzensreichen Tagen,
Empor sollst Du, zum Wimpelschmuck entrollt,
Der Auferstehung frohe Botschaft tragen,

15
Ob vielgefärbt noch das zerrissne Land,

Du überragst sie hoch die Trennungszeichen,
Und hoffend sei der Blick zum Meer gewandt,
Die blinke Wirrniß wird in Nacht verbleichen,
Wenn neuen Ruhm und frische Kraft gewannen

20
Die deutschen Farben auf den deutschen Tannen!


Nicht wehrlos ferner rollt der deutsche Strom,
Er tragt den Schutz in seinen eig’nen Wellen,
Und ungefährdet soll im deutschen Dom
Zum Himmel auf das deutsche Danklied schwellen,

25
Und wo dir Schande deutscher Ehre droht,

Kein ferner Feind mag straflos mehr sich wähnen,
Wir haben Bessres jetzt für deutsche Noth,
Als nur das Mitleid unfruchtbarer Thränen:
Mit deutschen Schwertern werde nun gesungen

30
Das Lied von Schleswig-Holstein meerumschlungen!


Doch bahne sich der deutschen Flotte Kiel
Den Weg nicht nur durch blutgetränkte Wogen,
Mit schöner Fracht nach einem edlen Ziel,
Des Friedens Botin, komme sie gezogen,

35
Und wie dereinst, da ringsum dichte Nacht,

Zu wilden Völkern und auf öde Risse
Des deutschen Lichtes Segensstrahl gebracht
Der deutsche Bürger auf dem deutschen Schiffe:
So trage sie in aller Länder Mitte

40
Mit deutschem Fleiße auch die deutsche Sitte!


Andächt’gen Herzens flehen wir ihn an,
Dem Ruhm und Preis von Ewigkeit gebühren,
Er wolle sie als höchster Steuermann
Mit gutem Wind zu gutem Heile führen,

45
An diesem Werke, das wir ihm geweiht,

Bewähre sich die alte Huld auf’s Neue,
Noch war er stets mit deutscher Frömmigkeit,
Mit deutschem Muthe und mit deutscher Treue:
Und so befehlen wir dem deutschen Gotte

50
Die deutsche Flagge und die deutsche Flotte!!
Albert Traeger.



[697]

Das Bier.

Fränkische und baierische Lagerbiere.
Von Dr. Franz Döbereiner.

Bei der gesteigerten Consumtion der Lagerbiere und der hieraus hervorgehenden volkswirthschaftlichen Bedeutung derselben, ferner bei dem Einfluß, welchen der verbreitete Genuß dieser Getränke auf die Sitten, Lebensweise und Thätigkeit ganzer Nationen ausüben muß, ist es jetzt an der Zeit, das Wesen der Bereitung der Lagerbiere in allgemeineren Kreisen bekannt zu machen, und dieses erscheint um so nöthiger, als nicht selten unter diesem Namen Flüssigkeiten producirt und verabreicht werden, deren Genuß unbedingt als der Gesundheit nachtheilig, dieselbe untergrabend, den Geist erschlaffend zu erklären ist.

Die Materialien für die Bereitung der Lagerbiere sind Wasser, Gerste und Hopfen, ersteres als Verflüssigungsmittel, die Gerste als stoffgebender Körper und der Hopfen theils als Würze, theils als Bedingniß für eine gewisse Dauerhaftigkeit der Biere.

Das Wasser, welches zum Brauen verwendet wird, darf nur geringe Spuren von salzigen und erdigen Körpern enthalten, damit durch diese die lösende Kraft auf die Gersten- oder vielmehr Malzbestandtheile möglichst wenig beeinträchtigt wird.

Die Gerste – wie überhaupt jede Getreideart – besteht der Hauptsache nach aus Stärkemehl und Kleber neben der Hülsensubstanz und gewissen mineralischen Körpern. Kleber und Stärkemehl zeigen bei dem Zustand, wie sie in der Gerste enthalten sind, keine Wirkung auf einander. Tritt jedoch Feuchtigkeit hinzu, wie z. B. beim Einbringen der Gerste in die Ackerkrume, so wird der Keim belebt und der an der Basis desselben befindliche Kleber chemisch verändert. Unter anderen durch das beginnende Leben des Keimes aus dem Kleber erzeugten Producten ist eins befindlich, das in Wasser löslich ist und die merkwürdige Eigenschaft besitzt, das in Wasser unlösliche Stärkemehl je nach den Umständen in Traubenzucker oder in Gummi, die beide in Wasser löslich sind, zu verwandeln.

Dieses besondere Product aus dem Kleber wird bei Vorhandensein von Feuchtigkeit in allen Getreidearten gebildet und Diastas genannt. Es ist von der größten Wichtigkeit für alle diejenigen Operationen, in Folge deren aus mit Wasser vermischtem Stärkemehl oder irgend einem stärkemehlhaltigen Pflanzenkörper zuckerhaltige und für die weinige Gährung fähige Flüssigkeiten erzeugt werden. Das Diastas nämlich, in solche bis auf 60 bis 70 Grad C. erhitzte Gemische gebracht, ändert das Stärkemehl fast vollständig in Traubenzucker, bei einer niederen oder höheren Temperatur aber in Gummi um, wobei jenes nur in seinen Elementen umgesetzt, also keine Gewichtsveränderung veranlaßt wird, während bei der Zuckerbildung aus dem Stärkemehl zu den Elementen desselben noch Wasserelemente zu einem Ganzen zusammentreten. Die Bildung des Diastas aus dem Kleber der keimenden Getreidearten und sein Verhalten gegen Stärkemehl ist vor etwa dreißig Jahren ermittelt und alsbald technisch benutzt worden, um aus Stärkemehl eine concentrirte Traubenzuckerlösung darzustellen. Aber auch in der Brauerei haben die wissenschaftlichen Forschungen über Diastas einen großen Umschwung hervorgebracht, auf den wir später zurückkommen und hier nur bemerken wollen, daß dieser Umschwung nicht zum Besten der Bierconsumenten ausgefallen ist.

Bei der der eigentlichen Bierbereitung vorangehenden Umänderung der Gerste in Malz ist eben die Bildung von Diastas das Hauptmoment. Das Einweichen der Gerste in Wasser und das Uebereinanderlagern derselben in Haufen, wobei sich Wärme entwickelt, soll den Keim beleben und die rasche Bildung von Diastas veranlassen. Der Ueberhitzung der Gerste, wodurch das Diastas zerstört und sämmtliches Stärkemehl in Gummi verwandelt werden würde, beugt man durch Umschaufeln und größere Verbreitung, also Erniedrigung der Haufen vor. Erfahrungsmäßig ist bei einem gehörig geleiteten Malzen die größte Menge Diastas gebildet, wenn die Wurzelfäserchen die Länge des Gerstenkorns bis ein Drittel darüber haben. Die weitere Entwicklung derselben und des Blatttriebes wird nun durch schnelles Trocknen an der Luft (Luftmalz) ober auf der erhitzten Darre (Darrmalz) unterbrochen.

Während des Keimens der Gerste bereits wirkt das sich bildende Diastas auf einen Theil des Stärkemehls verändernd; es entsteht neben etwas Gummi viel Traubenzucker, weshalb ein gut bereitetes Malz einen auffallend süßen Geschmack besitzt. Die durchgreifende Umsetzung des Stärkemehls findet aber beim Einmaischen des Malzes statt. Diese erste Operation der eigentlichen Bierbereitung besteht darin, daß das gereinigte und geschrotene Malz fürerst mit lauwarmem Wasser angeteigt und dann der Teig mit Wasser von etwa 92 bis 94 Grad C. Temperatur vermischt wird. Die dickliche Maische zeigt nun 60 bis 66 Grad C. Wärme und wird hierbei unter Umrühren und Nachgießen heißen Wassers so lange erhalten, bis die zwischen den Hülsen befindliche Flüssigkeit hell und rein süß schmeckend geworden und das Stärkemehl verschwunden ist.

Von den beiden Umänderungsproducten des Stärkemehls durch Diastas ist nur der Traubenzucker der weinigen Gäbrung, d. h. bei einer geeigneten Temperatur und unter Gegenwart von Wasser und Hefen des Zerfallens in Weingeist und Kohlensäure fähig, während das Gummi, wenn nur eben die Bedingungen der Weingährung vorhanden sind, keine Veränderung erleidet. Ist in einer gegebenen Quantität Malzes durch sorgfältig geleitetes Einmaischen das vorhandene Stärkemehl möglichst nur in Traubenzucker verwandelt worden, so muß bei gehöriger Ausgährung ein weingeistreicheres und deshalb mehr berauschend wirkendes Bier resultiren, als wenn unter gleichen Gewichtsverhältnissen von Malz und Wasser bei der Einmaischung zugleich ein wesentlicher Theil des Stärkemehls in Gummi verwandelt worden ist. Wir wissen, daß das Gummi ein erwärmender, d. h. für die Respirationsthätigkeit wirkender Nahrungsstoff ist. Dasselbe wird nun nach Liebig’s Vorgang auch von dem Weingeist behauptet, und es würde dann, wenn die Behauptung wahr ist, diejenige Menge des Weingeistes, welche im Proceß der Gährung erzeugt wird, denselben Nahrungswerth haben, wie die zu ihrer Bildung erforderliche Zuckerquantität, oder wie diejenige Menge Gummi, welche statt des Zuckers bei der Einmaischung des Malzes gebildet worden ist. Gegen die Nahrungsfähigkeit des Weingeistes im Bier spricht aber die allgemeine Erfahrung, daß man sich nach dem Genuß eines körperreichen, d. h. eines stark gummihaltigen Bieres weit gesättigter fühlt, als nach dem von weingeistreichem Bier mit geringem Gummigehalt. Bier der letzteren Art wirkt zwar berauschender, verursacht aber bei einem nicht ganz mäßigen Genuß Schwächung der Verdauungsorgane, Eingenommenheit des Kopfes und die daraus entstehenden Uebel, bei fortgesetztem stärkerem Genuß aber noch weit gefährlichere Krankheitszufälle, wodurch der Körperzustand und die Geistesthätigkeit gänzlich untergraben wird. Ein nicht unbedeutender Gehalt von Gummi scheint zur normalen Beschaffenheit eines guten Bieres zu gehören, denn er tritt den abspannenden Wirkungen des Weingeistes entgegen, beschäftigt die Verdauungsorgane und wirkt dadurch erwärmend.

Diese letzteren Eigenschaften sind es gerade, welche die fränkischen und baierischen Biere so zuträglich machten und ihnen eine so bedeutende Verbreitung gaben. Diese Biere waren und sind zum Theil noch durch Erfahrung gefundene und als zweckmäßig sich zeigende Gemische von Weingeist und Gummi mit gewissen Malzbestandtheilen (unter denen die Erdsalze eine für die allgemeinere Nahrungsfähigkeit des Bieres nicht unwichtige Rolle spielen) und den aus dem Hopfen gezogenen Stoffen in Wasser gelöst. Da selbst bei der vorsichtigsten Leitung des Einmaischens die Bildung von Gummi unvermeidlich, aber ein gleichmäßiges Verhältniß zwischen diesem und dem gleichzeitig erzeugten Traubenzucker bei wiederholten Einmaischungsarbeiten nicht zu erzielen ist, so suchten die fränkischen und baierischen Brauer ein annähernd gleichmäßiges Verhältniß zwischen Gummi und Zucker dadurch zu erzielen, daß sie in einem Theil, gewöhnlich einem Drittel des Maischgutes, d. h. des mit lauwarmem Wasser angerührten und nachher mit heißem Wasser vermischten Malzschrotes, durch sofortiges Erhitzen bis zum Sieden die Bildung des Gummi’s vorwalten ließen, dagegen die übrigen zwei Drittel des Maischgutes so behandelten, daß aus dem Stärkemehl fast nur Zucker gebildet wurde, worauf beide Theile wieder vereinigt und weiter bearbeitet wurden. Sind beide Theile des Maischgutes zweckmäßig behandelt worden, so kann man darauf rechnen, daß die Umänderungsproducte des Stärkemehls in der [698] erhaltenen Flüssigkeit nahezu aus ein Drittel Gummi und zwei Drittel Traubenzucker bestehen und daß diese selbst bei weiterer gehöriger Behandlung ein Getränk giebt, das allen Anforderungen entspricht, die an ein gutes baierisches Lagerbier zu stellen sind.

Aber nicht alle chemischen Erfahrungen werden in der Technik zum allgemeinen Besten benutzt, sondern viele derselben auch von Einzelnen im Eigeninteresse zum Nachtheil der Mitmenschen und des Gemeinwohles ausgebeutet. Die Veränderungen in der Methode der Bereitung der Lagerbiere in vielen Brauereien, wie sie seit einer Reihe von Jahren wahrnehmbar sind, geben dafür ein auffallendes Beispiel und rechtfertigen, wenn auch nicht in der vollen Ausdehnung, eine neuerdings in einem Correspondenzartikel der Madeburger Zeitung gelegentlich der Besprechung in den bayrischen Kammerverhandlungen über die Beibehaltung oder Aufhebung der Biertaxe gemachte Bemerkung, dahin lautend: „in Baiern sei allgemeine Ansicht, daß seit der Zeit, wo die Brauer Chemie treiben, kein gutes Bier mehr gebrauet werde.“ Die Entdeckung des Diastas im Malz und die, daß es nur bei einer begrenzten Temperatur das Stärkemehl in Traubenzucker verwandele, und die Erfahrung, daß die im Malz enthaltene Menge desselben im Stande ist, die zehnmal größere Quantität Stärkemehls, als im Malz enthalten, in Traubenzucker zu verwandeln, wurden von vielen Brauern Baierns und anderer Länder benutzt, um mit einem geringeren Aufwand von (bekanntlich der Besteuerung unterliegendem) Malz ein gleich weingeistreiches oder aus der herkömmlich gebräuchlichen Quantität Malzes und Wassers ein weingeistreicheres, deßhalb dauerhafteres, anscheinend kräftigeres Bier zu erzielen. Denn es wird nicht allein jetzt häufig das Einmaischen so geleitet, daß eine möglichst geringe Menge von Gummi entsteht, sondern auch nicht selten, besonders bei hohen Gerstenpreisen, weniger Malz genommen und dagegen das Minus von diesem durch Zusatz von Stärkemehl oder stärkemehlhaltigen Pflanzentheilen verschiedener Art ausgeglichen, letztere Nachhülfe übt aber einen wesentlichen Einfluß auf die Menge der mineralischen Bestandtheile des Bieres aus. Diese sind, weil sie aus phosphorsauren und anderen Salzen bestehen, die zur Bildung der Knochensubstanz und zur normalen Zusammensetzung gewisser thierischer Flüssigkeiten und Secretionen dienen, gewiß von hoher Bedeutung auf die allgemeinere Nahrungsfähigkeit des Bieres; ihr Gehalt muß in diesem geringer werden, wenn bei seiner Bereitung statt einer Quantität Malzes ein entsprechendes Verhältniß von Stärkemehl verwendet worden, und ein so dargestelltes Bier kann, selbst wenn bei der Einmaischung die gehörige Rücksicht auf die Bildung von Gummi genommen worden ist, nicht in dem Maße den allgemeinen Nahrungszwecken entsprechen, wie ein aus der gehörigen Quantität Malzes bereitetes Bier.

Ueber die übrigen Operationen beim Brauen der Lagerbiere können wir uns kürzer auslassen. Nachdem die Bildung des Gummi’s und Zuckers in dem Maischgut beendigt ist, wird die Flüssigkeit, entweder nach Beseitigung der Malzhülsen oder auch mit diesen, längere Zeit im Kochen erhalten. Dadurch bezweckt man eines Theiles das Verdunsten des überschüssigen Wassers, anderen Theiles aber das Unlöslichwerden und Gerinnen der aus dem Malz ausgezogenen kleber- und eiweißartigen Stoffe. Die von diesen Stoffen und den Hülsen durch Seihen geschiedene Flüssigkeit heißt die Würze und besitzt einen angenehm süßen, malzartigen Geschmack. Um nun aus ihr ein haltbares und wohlschmeckendes Bier zu erhalten, wird sie entweder siedend heiß auf eine bestimmte Quantität Hopfens gegossen oder auch damit kürzere oder längere Zeit gekocht. Der Hopfen enthält an ausziehbaren Theilen Gerbstoff, einen harzartigen Bitterstoff, ein flüchtiges aromatisches Oel und einen schwach narkotischen Stoff; ersterer befördert die Klärung der Würze, der Bitterstoff und das ätherische Oel bedingen den bitter-aromatischen Geschmack und eine begrenzte Haltbarkeit des Bieres, und durch letzteren erhält es eine sehr schwache narkotische Wirkung. Da, wo die Würze mit dem Hopfen gekocht wird, geht ein Theil des ätherischen Oeles durch Verdunstung verloren, so wie auch durch die atmosphärischen Einflüsse eine Zersetzung des narkotischen Stoffes erfolgt, so daß dadurch die reizenden Wirkungen des Bieres zum Theil, die narkotischen fast gänzlich oder durchaus verschwinden.

Der gute kräftige Hopfen, als ein zu Zeiten sehr theueres Biermaterial, wird nicht selten durch verlegene oder an und für sich schwache Waare oder andere bitter-aromatische Pflanzenkörper (Enzianwurzel, Galgant, Koriander, Cardamomen, Fichtensprossen, Bitterklee, Wermuth, Aloë u. s. w.) oder durch ein Kunstproduct (Pikrinsäure) ersetzt. Ist ein derartiges Surrogat bei dem hohen Preis, der für die Lagerbiere gezahlt wird, nicht zu entschuldigen und gegen das Publicum ein Vergehen, so ist noch weniger der in einigen Brauereien gemuthmaßte Zusatz von scharf narkotischen Stoffen (Kokkelskörnern, Krähenaugen) zu entschuldigen und beim Nachweis als ein Verbrechen gegen das allgemeine Volkswohl nicht hart genug zu bestrafen.

Die Schlußoperation bei der Brauerei der Lager- und aller übrigen Biere ist die Gährung. Die gehopfte Würze wird zur möglichsten Abhaltung atmosphärischer, in der Wärme gesteigerter Einflüsse so rasch wie möglich abgekühlt, was auf dem Kühlschiff geschieht, und, wenn bei Erzielung von Lagerbieren die Temperatur auf 7 bis 10° C. gesunken ist, auf die in gleich kühlen Räumen aufgestellten Gahrbottiche gebracht, wo man sie mit der zur vollständigen Ausgährung nöthigen Menge Hefen vermischt und das Ganze sich überläßt. Die Biergährung ist eine weinige Gährung und besteht in der durch die Hefen veranlaßten Zerlegung des gelösten Traubenzuckers in Weingeist und Kohlensäure. Der Weingeist löst sich gänzlich in der Flüssigkeit, während die Kohlensäure wegen ihrer luftförmigen Beschaffenheit zum größten Theil entweicht; sie bedingt das Aufsteigen von Luftblasen, welche anfänglich Hefen und andere trübende Theile mit in die Höhe reißen und diese auf der Oberfläche als einen mannigfaltig gestalteten Schaum schwimmend erhalten, bis dieser bei langsamer vor sich gehender Gährung wieder zu Boden sinkt und die sog. Unterhefe darstellt. Ist die Gährung anscheinend beendigt, so kommt das gegohrne Gut auf in kühlen Kellern befindliche große Lagerfässer, wo die sog. Nachgährung und die vollständige Klärung des Bieres vor sich geht und dasselbe nach einigen Monaten für den Genuß und zum Versandt reif ist.

Möge sich nach diesen Erläuterungen und Erfahrungen, die zum Theil auf eigene Anschauungen der Art der Lagerbierbereitung in vielen Brauereien verschiedener Länder und auf die Prüfung ihrer Fabrikate durch den Geschmackssinn und die mit ihrem Genuß verbundenen Folgen begründet sind, jeder Trinker des Lagerbieres seine Folgerungen machen und danach prüfen, welche Art derselben seinem Gesundheitszustand zuträglich ist oder nicht. Mögen aber auch die Brauereibesitzer, welche eins der lohnendsten Geschäfte betreiben, ihren wahren mit dem Interesse des Publicums zusammenfallenden Vortheil bedenken und demselben nur ein gutes, den allgemeineren Nahrungszwecken entsprechendes und deßhalb kräftigendes Bier bieten, welches getrunken und empfohlen werden kann. Mögen endlich diejenigen Brauer, welche Biere mit scharf narkotischen Stoffen verfertigen, ihr Gewissen durch Aufgebung dieses schändlichen Zusatzes erleichtern, wenn dieses überhaupt noch möglich ist, und bedenken, daß endlich doch der Tag der harten Verantwortung kommen muß, wenn sie ihr verbrecherisches Verfahren nicht aufgeben.




Das wilde Kanin und sein Todfeind.

Das wilde Kanin erreicht bekanntlich kaum die Größe seines zahmen Collegen, von dem es sich wesentlich nur durch sein derberes Naturell und die unveränderliche, hasenähnliche Färbung unterscheitet. Setzt man zahme Kanin im Freien aus, so verwildern diese unter günstigen Umständen rasch und sind nach Verlauf einiger Generationen der wilden Race wieder völlig gleich.

Da das wilde Kanin die bekannte Färbung des Ober- und Unterkörpers, selbst die schwarz-weiße Zeichnung des kurzen Schwänzchens (Blume) mit dem Hasen gemein hat, so ist es gar nichts Seltenes, daß ein halbwüchsiger Hase von Jagddilettanten für ein altes Kanin angesehen und todtgeschossen wird. Bei einiger Uebung erkennt man indeß ein Kanin selbst in voller Flucht leicht an der grauern Farbe, an den kurzen Löffeln und besonders an seiner eigenthümlich hastigen und niedern Gangart, welche durch seinen gedrungenern Körperban und die Kürze der Hinterläufe bedingt ist. Wesentliche Unterscheidungszeichen sind außerdem: der Mangel des [699] schwarzen Endflecks an den kurzen, fast nackten Löffeln des Kanins und der glotzende Ausdruck des großen, kohlschwarzen Auges. Die Wolle ist kürzer und dichter, die Haut oder der Balg weit fester und zäher als beim Hasen, wie dies schon seine abweichende Lebensart erfordert.

Zu den besondern Eigenheiten des wilden Kanins gehört das Ausscharren zahlloser kleiner Grübchen in der Nähe des Baues und auf den Weideplätzen, ferner das bekannte Warnungszeichen, (Klopfen, Stuppen), wobei das beunruhigte Kanin den Hinterkörper mit einem heftigen Ruck auf die Sohlen der Hinterläufe niederschnellt, so daß ein lauter, klappender Schall entsteht. Wird dieses Klopfen innerhalb des Baues fortgesetzt, so hört nun nur einen dumpfgebrochenen Ton, als ob jemand tief unten mit einem Hammer arbeitete, und manchem einsamen Spaziergänger hat dieses regelmäßige, unterirdische Pochen Anlaß zu den wunderlichsten Vermuthungen gegeben.

Als abgesagter Feind der Nässe und Kälte siedelt sich das Kanin am liebsten in einem sand- oder mergelhaltigen Hügellande an. Ob das fragliche Terrain mit Laub- oder Nadelholz bestanden, mit Heide, Ginster und Dornbüschen überwachsen oder völlig kahl ist, bleibt ganz unwesentlich, sobald der Boden nur warmgründig und gute Weide in der Nähe ist. Bei der Anlage seiner Baue befolgt es kein festes System, sondern richtet sich hierin ganz nach den örtlichen Verhältnissen. Wesentlich besteht jeder Bau in mehreren engen Ein- und Ausgangsröhren, welche oft zweigartig verbunden in der etwas erweiterten Kammer zusammentreffen. Auf kahlen Plätzen trifft man mitunter Hauptbaue von 20 bis 30 Röhren und mehreren Kammern, zu denen noch besondere senkrechte Fallröhren führen. Dagegen findet man in jungen Nadelholzculturen oft eine Unzahl kleiner Baue von 2-3 Röhren ohne jeden Zusammenhang über das ganze Terrain zerstreut. Nicht selten quartiert sich das wilde Kanin bei dem Dachse ein und lebt mit dem harmlosen Grimbart auf ganz vertrautem Fuße. Auffallender ist schon das Factum, daß auch Füchse und Kaninchen zeitweilig ein und denselben Bau bewohnen, wie Referent mehrfach zu beobachten Gelegenheit hatte. Die Nähe des Menschen scheut es weniger als jede andere Wildart, es dringt bis in die Vorstädte und siedelt sich selbst auf geräuschvollen Holzschneidereien und Lagerplätzen an, um von dort aus die umliegenden Gemüsegärten zu zehnten. Von einem nähern gesellschaftlichen Verbande der Kaninchen[2] ist bei den hiesigen Lapins keine Spur zu entdecken; zur Winterzeit ziehen sie sich allerdings mehr in die Nähe der größern Hauptbaue, allein mit Einbruch des Frühjahrs zerstreut sich die ganze Sippschaft, mit Ausnahme einiger alten lebensmüden Rammler, wieder in den umliegenden Getreidefeldern und Rapsbreiten.

In Revieren, wo dem Kanin wenig nachgestellt wird, pflegt es den ganzen Tag über in der Nähe seines Baues, von dem es sich niemals weit entfernt, herum zu bockeln. Die eigentlichen Weideplätze besucht es indessen erst gegen Abend und zwar weit früher, als der furchtsamere Hase. Eben so kehrt es Morgens später zurück und sitzt dann oft noch stundenlang an den Waldrändern und Ackerfurchen, um sich zu sonnen und vom nächtlichen Thau zu trocknen. Nach einem warmen Gewitterregen sieht man das Kanin oft schon mehrere Stunden vor Sonnenuntergang auf der Saat oder im jungen Klee sitzen, so unbeweglich, daß es in einiger Entfernung schwer von einem Erdklumpen zu unterscheiden ist. Jetzt bockelt es einige Schritte vorwärts, sichert nochmals und beugt dann rasch den Kopf zur Erde, um in aller Eile ein Mäulchen voll Klee abzurupfen. Im nächsten Moment sitzt es wieder aufrecht and unbeweglich mit stramm aufgereckten Löffeln auf jedes Geräusch horchend, während die großen schwarzen Lichter argwöhnisch nach allen Seiten umherspähen und das stumpfe Näschen sich unter beständigem Schnüffeln langsam auf und nieder schiebt. Dabei wackelt der lange, abgebissene Kleestengel, den es wie eine Cigarre im Munde hält, unaufhörlich und verschwindet allmählich zwischen seinen beweglichen Lippen.

Bei der leidigen Gewohnheit des wilden Kanin, auf dem gewählten Weideplatz hartnäckig zu beharren und hier ein rundes Plätzchen neben dem andern kahl abzuäßen, schadet es natürlich weit mehr, als der umherstreifende, überall naschende Hase. Den Producten der Gartenrcultur giebt es zu jeder Jahreszeit den Vorzug vor den gröbern Früchten des weiten Feldes und ist besonders lüstern nach den ersten Blättern der jungen Stangenbohnen, doch verschmäht es auch junge Erbsen, Blumenkohl und andere Gottesgaben nicht. Man pflegt daher in Gemüsegärten einige weiß getünchte Dachziegel in Giebelform aufzustellen, welche das argwöhnische Kanin, als vermeintliche Fallen, eine Zeitlang respectirt. Im Winter besucht es die Kohlgärten und scharrt unter dem Schnee nach der jungen Saat. Was es im Wald und an den Hecken zur Nahrung aufsucht, ist nicht der Rede werth, und wenn der Werth eines Kanins etwa 7—8 Groschen beträgt, so kann sich der Schaden, den es unter Umständen im Laufe eines Jahres anzurichten vermag, auf eben so viel Thaler belaufen.

Seine Fruchtbarkeit ist bekannt, beinahe berüchtigt. Schon um Mariä Lichtmeß, wenn kaum der erste Stahr mit lustigem Pfeifen seine Ankunft verkündete, haben sich unter den leichtsinnigen Kaninchenjünglingen bereits die hitzigsten Kämpfe um den Besitz einer Geliebten entsponnen. In jungen Schlaghölzern an sogenannten Sommerbergen sieht man sie dann oft bei hellem Tage sich unter Kratzen, Beißen und Quieken herumjagen und balgen, wobei sie mitunter hoch über den Boden gegeneinander springen, daß die Wolle davon stäubt. Ueber die Dauer der Ehebündnisse, die gegenseitige Treue der Gatten und ihr Verhältniß zu den übrigen Colonisten fehlen noch zuverlässige Beobachtungen, doch läßt sich mit einiger Wahrscheinlichkeit annehmen, daß hier etwa dieselben Principien Geltung haben, welche an den Ufern des Salzsee’s eingeführt sind. Noch betrübender für den Moralisten ist die grausame Manie der Kaninchenväter, ihren eigenen neugebornen Kindern nach dem Leben zu trachten, resp. dieselben roh in verzehren! — eine Erscheinung, welche auch bei zahmen Kaninchen und Hauskatzen hin und wieder zu Tage tritt.

Um derartigen Calamitäten vorzubeugen, sondert sich das trächtige Weibchen bei Zeiten von der übrigen Gesellschaft ab und schlägt an entlegenen Orten sein Wochenbett auf. Es gräbt für diesen Zweck eine enge Röhre, deren Kammer mit der eigenen ausgerupften Bauchwolle seidenweich und warm ausgefüttert wird. Beim Fortgehen versäumt das Weibchen niemals, den Eingang mit Moos, trocknem Laub, Gras und Erde dicht zu verstopfen. Derartige Mutterbaue trifft man nicht selten an den abschüssigen Hängen lebhafter Fahrstraßen und Holhwege, oft aber auch an ganz ungewöhnlichen Orten. So fand einer meiner Bekannten einen Satz junger Kanin in seinem Blumengarten und zwar unter der schmalen Einfassung eines Rosenbeetes, kaum drei Finger breit unter der Erde. Die Zahl der Jungen beträgt 4—10, sie sind in der ersten Lebensperiode, wie junge Hunde und Katzen, völlig blind und hülflos, werden aber schon in der dritten Woche von der Mutter in einen größern Bau oder in’s Kornfeld zu den Uebrigen geführt. Die kleinen, kugelrunden Dinger sind nun schon unglaublich behende und selbstständig, die Mutter bekümmert sich nicht weiter um sie, denn diese ist inzwischen bereits ein neues Verhältniß eingegangen und setzt dieses Geschäft mit bekanntem Erfolg bis tief in den Herbst hinein fort. — Man hat berechnet, daß ein einziges Kaninchenpaar sich binnen 4 Jahren bis auf 1,274,800 Stück vermehren würde, falls jedes Individuum am Leben bliebe. Glücklicherweise ist dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen, und auch der übermäßigen Vermehrung des Kanins hat die Natur nicht allein durch die Mordlust einzelner Rammler die nöthige Grenze gesteckt. Nasse Sommer und schneereiche Winter beschränken ihre Ausbreitung bedeutend, und eine tödtliche Seuche, die in manchen Gegenden periodisch wiederzukehren scheint, rafft oft ganze Colonien hinweg. Ueberdem arbeitet eine Unzahl von Feinden unaufhörlich an der Verminderung seines Geschlechtes und würde dasselbe längst vom Erdboden vertilgt haben, wenn das wehrlose Geschöpf diese andauernden Niederlagen nicht durch seine gewaltige Productionskraft auszugleichen suchte. —

Die Zahl seiner Feinde ist in der That Legion! — Bei der Mehrzahl unserer Jäger rangirt das wilde Kanin etwa wie Habicht und Wiesel, man macht keine besondere Jagd darauf, schenkt ihm aber zu keiner Jahreszeit einen Schuß, wo es sich nur blicken läßt, denn eines gesetzlichen Schutzes in Betreff der Setz- und Hegezeit hat das Kanin sich unsers Wissens nirgends zu erfreuen. Dagegen glaubt ihm der Wilddieb und der schlingenstellende [700] Bauernjunge eine besondere Aufmerksamkeit widmen zu müssen. Außer dem Dorfspitz, Hirtenhund und der Feldkatze stellt ihm das ganze Heer des haarigen und gefiederten Raubzeuges mit Leidenschaft nach, selbst Krähen und Elstern stoßen auf junge oder verwundete Kaninchen, wo sie ihrer ansichtig werden. Meister Reineke legt sich meistens an Hecken und Waldrändern in der Nähe der schmalen Pfädchen (Gänge, Wechsel), auf denen das Kanin Abends zur Weide rückt, in Hinterhalt und erwischt seine Beute im Sprunge. Dagegen nimmt er wenig Notiz von ihm, sobald es einmal im Freien angelangt oder seiner ansichtig geworden ist. Ebensowenig fällt es ihm ein, dem Kanin durch mühseliges Nachscharren in seine enge Behausung zu folgen, er müßte denn Schweiß oder einen Satz hülfloser Junger wittern. Bei hohem Schnee erhascht er indeß auch manches Kanin im freien Felde nach einer kurzen Hetze, sobald er ihm den Rückweg zum Bau abschneiden kann. Der eigentliche Todfeind des Kanins aber ist der Iltis, welcher vermöge seines schmächtigen Körperbaues befähigt ist, die innersten Schlupfwinkel eines Kaninbaues zu durchstöbern. Bei seiner Ankunft stürzt Jung und Alt in blinder Verwirrung durcheinander und in rasender Hast den Ausgängen zu.


Das Frettchen.


Der Jäger hat dieses eigenthümliche Verhalten beider Thierarten zu benutzen gewußt, indem er einen nahen Blutsverwandten des Iltis – das Frettchen – zähmte und zum Herausjagen der Kanin verwendet.

Das Frettchen (Mustela furo) verhält sich zum Iltis etwa wie die weiße Maus zu unsrer Hausmaus, denn es ist nichts weiter als ein Kakerlake vom Iltis, von dem es sich wesentlich nur durch seine schmutzig weiße oder isabellgelbe Farbe und das kürzere Haar unterscheidet. Das Auge ist matt rosenroth. Haut und Nägel horn- oder fleischfarbig. Wie der Iltis, so ist auch das Frettchen höchst ungeschickt im Klettern, dagegen Meister im Kriechen und Schlüpfen auf dem Boden und so geschmeidig in allen Bewegungen, daß ein Engländer meiner Bekanntschaft es als ein sehr biegsames Thier oder ein Thier ohne Knochen bezeichnete. Man hält das Frettchen in großen Drahtkäfigen oder dichten Kammern, und giebt ihm ein weich gefütterten Körbchen zur Schlafstelle, welches durch einen beutelartigen Ueberzug geschlossen werden kann, denn in diesem Körbchen wird es auch zur Jagd geführt. Das gewöhnliche Futter besteht in Weißbrod und Milch, zur Abwechslung erhält es dann und wann ein rohes Ei, einen frisch getödteten Vogel und während der Jagd die Augen der erlegten Kaninchen, nach denen es merkwürdiger Weise besonders lüstern ist. In Folge der vorherrschend vegetabilischen Fütterung ist seine Ausdünstung weniger penetrant, als dies beim Iltis unter Umständen der Fall sein kann, indessen immer unangenehm genug. An Dummdreistigkeit, Lichtscheu, Mordlust und Schlafsucht steht es dem Iltis wenig nach, und die Anhänglichkeit an seinen Wärter äußert sich höchstens dadurch, daß es denselben nur ausnahmsweise beißt. Aus letzterm Grunde, wie auch, um ihm das Ergreifen eines Kanins im Bau zu erschweren, pflegt man ihm in der Jugend die untern Fangzähne abzubrechen. Von einer Dressur ist nicht die Rede, das Frett durchkriecht aus angebornem Triebe, wie ein Dachshund, den Bau und kehrt aus Langeweile, Hunger oder Bequemlichkeitsliebe zu seinem gewohnten Körbchen zurück, ohne sich weiter um seinen Herrn zu bekümmern.

Will man mit dem Frett auf einem Kaninbau operiren, so werden zunächst alle kleinen Nebenröhren aufgesucht und verstopft, woraus man die gangbarsten Hauptröhren mit kleinen, glockenförmigen Garnen (Kaninhauben), die sich hinter dem einspringenden Kanin wie ein Strickbeutel zusammenschnüren, überdeckt. [3] Da nun aber nur ein Kaninchen zur Zeit gefangen werden kann und nicht selten mehrere hintereinander aus ein und derselben Röhre flüchten, so pflegt man einige Schützen um den Bau aufzustellen, welche die dem Garn entronnenen Kanin niederdonnern oder auch – vorbeischießen. Zu diesem Zweck formirt die Jagdgesellschaft einen Kreis um den Bau und jedes Mitglied verpflichtet sich, nicht früher zu schießen, bis das Kanin die Schützenlinie passirt ist. Derjenige, welcher das Frettchen beaufsichtigt, wird im Centrum des Kreises postirt, wo er sämmtliche Röhren übersehen kann; er führt kein Gewehr, denn er hat außer der Ueberwachung des Frettchens noch das Auslösen der gefangenen Kaninchen zu übernehmen, welches niemals Sache der Schützen sein darf. In dieser Weise wird man gewiß die bei derartigen Jagden so leicht entstehenden Unglücksfälle am einfachsten vermeiden.

Die Röhren sind nunmehr mit den Garnen belegt, das Frettchen durchschleicht mordlustig die innersten Tiefen des Baues, während die Schützen in erwartungsvoller Spannung der Dinge harren, die da kommen werden. Nach einer Weile glaubt der Jagdhüter, welcher horchend mit dem Ohr am Boden liegt, ein Geräusch in der Unterwelt zu vernehmen und benachrichtigt den nächsten Schützen durch einen bedeutungsvollen Wink. Jetzt hört man das heftige, warnende Klopfen eines Kanins und bald darauf ein dumpfes Gepolter und Gedränge, worauf abermals tiefe Stille folgt. Hui! – da fährt plötzlich ein alter Rammler aus der Hauptröhre und mit solcher Vehemenz in das tückische Garn, daß er mit demselben hoch empor schnellt, so weit es die Länge der Zugschnur erlaubt. Der Arme zappelt gewaltig, allein seine Anstrengungen dienen nur dazu, das Garn noch enger zusammenzuschnüren, und so liegt er bald, jeder Bewegung unfähig, am Boden, ein regungsloser, runder Ballen. – Ein zweites Kanin erscheint jetzt in der freigewordenen Röhre, es fährt mit einem Hakensprung quer über seinen gefangenen Cameraden hinweg, allein kaum hat es den Kreis der Schützen passirt, so krachen a tempo mehrere Schüsse, und tödtlich getroffen taumelt es radschlagend den Hügel hinab, bald den Rücken, bald den blendendweißen Bauch emporkehrend.

Jetzt wird es auch an den übrigen Röhren lebendig, hier und dort schnellt ein vom Garn umstricktes Kanin zappelnd empor, der Jagdhüter hat alle Hände voll zu thun, die Gefangnen auszulösen, in einen Sack zu stecken und die Garne rasch wieder aufzustellen. Dazwischen kracht es nach allen Seiten, und ein alter steifer Hühnerhund entwickelt eine merkwürdige Thätigkeit im Apportiren der Todten und Blessirten. Endlich verstummt die Kanonade, der Bau ist leer, und nun kommt auch unser Frettchen wieder zum Vorschein [701] Vom hellen Sonnenlicht geblendet steht es unschlüssig in der dunkeln Röhre, den langen Hals hin und her reckend. Es ist augenscheinlich höchst unzufrieden mit dem Ausgang der Affaire, denn es hat bis jetzt nur das Nachsehen gehabt und kann gar nicht begreifen, wo alle Kaninchen geblieben sein mögen! – Jetzt kriecht es vorwärts, mit dem Bauch am Boden windet es sich langsam wie eine Schlange durch das hohe Heidekraut und blinzt mit den blöden rothen Augen. Da trifft es zufällig mit der Nase gegen ein todtes Kanin und diese Berührung wirkt auf das träge Geschöpf wie ein Zauberschlag. Mit Blitzesschnelle fährt es plötzlich dem todten Kanin ins Genick und hängt hier, wie ein saugender Blutegel, so fest, daß es sich mit seiner Beute hoch vom Boden heben läßt. Gewiß das schlagendste Bild des nächtlichen Raubthieres, wenn auch nur en miniature! –

Die Garne werden nun abgenommen, gezählt, gesäubert und der Länge nach in gleiche Bündel zusammengefaßt, um der so leicht entstehenden Verwirrung des Fangzeuges vorzubeugen. Dann geht’s weiter zum nächsten Bau.

Allein nicht immer geht’s beim Frettiren so lustig her! – Oft bleibt das Frettchen schon im ersten Bau sitzen und kommt erst nach Sonnenuntergang, mitunter gar nicht wieder zum Vorschein. Es hat dann meistens ein Kanin in einer blinden oder Sackröhre überrumpelt und hält nun, nach reichlicher Mahlzeit, in aller Seelenruhe seine Siesta, ohne sich um die Jagdgesellschaft weiter zu bekümmern. Nach halbstündigem Warten, Locken und Pfeifen greift man zu energischern Mitteln, als da sind: blinde Schüsse und das Anzünden losen Schießpulvers in der Röhre, worauf das übliche Dämpfen oder Ausräuchern folgt. Zu diesem


Das Frettiren der Kaninchen.


Zweck werden ganze Haufen von Reisig und trocknem Farnkraut vor den Röhren aufgestapelt und in Brand gesetzt. Sämmtliche Mitglieder der Jagdgesellschaft beeilen sich, den aufsteigenden Qualm mit Tüchern und Zweigen in den Bau zu treiben; Alles vergebens! die Röhren wollen nicht ziehen, und hartnäckig kehrt der erstickende Rauch zur Oberwelt zurück. Zuletzt kommt Einer auf die sentimentale Idee, das Frettchen ausgraben zu wollen. Sofort werden vom nächsten Bauernhöfe Hacken, Schaufeln und Spaten herbeigeschafft, die jüngern Herren betheiligen sich lebhaft bei den Erdarbeiten, und nach Verlauf einer Stunde ist ein Einschlag von mindestens 6 Fuß Tiefe hergestellt, der sich rasch nach allen Richtungen erweitert. Die Wahlstätte bietet nun etwa denselben Anblick, wie das alte Bardowiek nach seiner Zerstörung durch Heinrich den Löwen. Was geschehen konnte, ist geschehen, allein das Frettchen ist und bleibt verschwunden.

Am andern Morgen bringt unser Jagdhüter das Frettchen zurück. Es ist allerdings todt – entweder im Qualm erstickt oder von einem einfältigen Tagelöhner im Walde erschlagen.

Es läßt sich indeß manches thun, um derartige Erfahrungen zu vermeiden. Zunächst operire man immer mit zwei Frettchen abwechselnd und reiche denselben vor der Jagd keinerlei fettes Futter, dagegen so viel warme Milch, als sie nur saufen mögen.

Bleibt eins sitzen, so kann man versuchen, es mit einem Stückchen rohen Fleisch, an der Spitze einer langen Gerte befestigt, anzukirren. Gelingt dies nicht, so stellt man das gewohnte Schlafkörbchen des Frettchens tief in die Eingangsröhre, verstopft diese, wie alle übrigen Röhren, sorgfältig und geht mit dem andern Frettchen weiter. – Oft schon nach einigen Stunden, spätestens [702] am nächsten Morgen wird man den Flüchtling schlafend in seinem Körbchen finden. – Ferner ist es vortheilhaft, dem kriechenden Frettchen eine Schelle an einem schwachen Wollfaden an den Hals zu hängen. Die Kaninchen werden dadurch frühzeitig gewarnt, und man kann das Verbleiben des Frettchens leichter überwachen. – Drittens frettire man niemals absichtlich bei schlechtem Wetter, in der Hoffnung, alsdann mehr Kaninchen in der Erde zu finden.

Wenn wir uns, schließend, nach dem Werth des wilden Kanins für die Küche erkundigen, so stoßen wir auf die widersprechendsten Meinungen und Vorurtheile. Der Eine rechnet es zu den feinsten Delicatessen, während ein Anderer es für unschmackhaft, wo nicht gar für ungenießbar erklärt. Die Wahrheit dürfte auch hier in der Mitte liegen. Das Kanin nimmt (im Gegensatz zum Hasen) bis zu einem gewissen südlichen Breitengrade fortwährend an Stärke und Güte des Wildprets zu. Außerdem kommt die Jahreszeit des Abschusses, das Alter des Individuums und vor Allem die Zubereitung mehr als bei anderem Wilde in Betracht.

Zwischen einem allen Rammler, der zur Winterzeit erlegt wurde, wo er nur selten den dumpfigen Bau verläßt, und einem jungen Kanin, welches den ganzen Sommer bei üppiger Nahrung im freien Felde lebte, ist allerdings ein großer Unterschied. Unter allen Umständen wird indeß ein einfach gebratenes Kanin ein ziemlich fades Essen bleiben, denn ein weißes, weichliches, dem Hühnerfleisch ähnliches Wildpret eignet sich vorzugsweise zu piquanten Ragout-, Pasteten etc. Daher spielt das „Lapin“ in französischen Kochbüchern eine größere Rolle als der Hase, und französische Gastronomen und Gourmands haben ihm weitläufige Capitel in Prosa und gebundener Rede gewidmet, während es bei uns eine ebenso zweifelhafte Stellung einnimmt, als Dachsschinken und Ziegenbraten.

Ludw. Beckmann.




Die drei Großmächte.

Sittenbild aus dem vorigen Jahrhundert.
Von Levin Schücking.
Schluß
6.

Am andern Tage rückte aus der Burg Hohenklingen eine feierliche Gesandtschaft aus, um sich nach Großlingen zu begeben. Sie bestand aus den zwei von dem Reichsgrafen zum Conseil beschieden gewesenen Beamten und einem reichsgräflichen Trompeter. Alle Drei waren in ihrem Gallacostüme, die Herren in gallonirten Kleidern mit großen Allonge-Perrücken, der Trompeter in der auf allen Nähten mit breiten Tressen besetzten Montur, alle Drei zu Pferde.

Zu gleicher Zeit verließ der Reichsgraf mit einem Paar berittener Diener das Schloß, um sich gen Triefalten zu begeben. Er kehrte bereits um Mittag in heiterster Stimmung zurück.

„Alles geht gut, Aglaë,“ rief er seiner Tochter entgegen, als er über ihre Schwelle trat. „Seine hochwürdigen Gnaden sind bestens mit einem Anschlag contentiret, der zum Zweck hat, die fürsichtigen Herren von Großlingen zu dupiren. Ich fand den geistlichen Herrn in großer Irritation wider dieselbigen, weil sie sich auf Kosten des Stiftes berühmen, den rechten, echten Missethäter trotz Stift und Reichsgrafschaft in ihrer Gewahrsam zu halten. Er wird nicht verfehlen, pünktlich einzutreffen. Meine Beamten sind von Großlingen noch nicht zurück?“

Sie waren noch nicht zurück. Aber bevor der Graf vom Diner, dem er heute zum ersten Male wieder seine volle Theilnahme zuwendete, sich erhoben, wurden die Herren angekündigt und hereingeführt. Sie berichteten, daß der Magistrat von Großlingen ihr Ansuchen in feierlicher Sitzung entgegengenommen und in des Grafen Begehren, von ihnen ein freies Geleit, um in der Stadt zu erscheinen und mit ihnen verhandeln zu können, zu erhalten, ohne Rückhalt gewilligt. Zu Urkund deß übergaben sie ihrem Gebieter eine Schrift, welche mit dem großen Stadtsiegel befestigt und mit mehreren Unterschriften versehen war. Nachdem Cosimus das Document durchlesen, nickte er lächelnd seiner Tochter zu und dann erhob er sein Glas und trank mit einem Ausdruck von Ironie, der nicht unterließ aller Anwesenden gehorsamstes Gelächter hervorzurufen, die Gesundheit des hochweisen und fürsichtigen Magistrats.

Am folgenden Morgen, um die zehnte Stunde, wurde die Reichsstadt Großlingen in Bewegung gesetzt durch das Eintreffen einer höchst stattlichen und zahlreichen Cavalcade, welche sich über das gefährliche und an Abgründen reiche Pflaster dieser ausgezeichneten Stadt in langsamem Schritt nach dem Rathhause zu bewegte. An der Spitze dieses Zuges ritten Seine Erlaucht, der gnädigste Herr Reichsgraf Cosimus der Zwanzigste, der hochwürdige gnädige Prälat des freiadligen, reichsunmittelbaren und infulirten Stiften von Triefalten, und zwischen Beiden die junge Gräfin Aglaë, deren Antlitz, durch den Ritt in der frischen Morgenluft geröthet, aussah wie eine blübende Rose. Hinter ihnen kam ein glänzendes Gefolge der beiderseitigen Dienerschaften.

Die Herrschaften hielten vor dem Rathhause, einem alterthümlichen Giebelgebäude mit verwitterten Kaiserbildern über den Bogen und Säulen, welche die Fronte trugen und eine offene Halle oder „Laube“ bildeten, worunter der regierende Amtsbürgermeister, Herr Elias Erchenrodt, eine schwere, goldene Kette auf der Brust, neben dem rechtskundigen Collegen, dem Syndicus Schaumlöffel, sich aufgestellt hatte, um die Ankommenden geziemend zu becomplimentiren und in die große Rathsstube zu führen. Als dieses geschehen und die Herrschaften vor einer Reihe von äußerst ehrwürdig aussehenden und löwenmuthig dasitzenden Männern, die das Vertrauen ihrer Mitbürger an diesen Ehrenplatz geleitet hatte, auf drei für sie aufgestellten Armsesseln Platz genommen, eröffnete der Syndicus als amtliches rhetorisches Organ der Gemeinde die Verhandlungen, indem er in sehr wohlgesetzten Worten des Weiteren entwickelte, wie der Senat und das Volk der schon im Alterthume sehr berühmten, namentlich aber in neueren Zeiten durch die weise Fürsorge ihrer Lenker zu großem Ansehen und erweiterter Macht und Autorität gekommenen Republik Großlingen es sich zu einer hohen Ehre schätze, zwei so fürnehme und hochansehnliche, erlauchte und respective hochwürdigst gnädige Herren in ihren Mauern zu begrüßen; wie zwaren in den jüngsten Tagen gewisse, nicht näher zu specisicirende betrübliche Irrungen und Wirrungen in den beiderseitigen politischen Beziehungen eingetreten; wie jedoch Senatus populusque Grosslingensis seine freundnachbarlichen Gesinnungen darum nicht so sehr vergessen habe und jemals vergessen könne, daß es eines Schrittes bedurft habe, wie der am gestrigen Tage von Seiner Erlaucht beliebte, dem man jedoch dienstwilligst auf der Stelle durch Erfüllung des in geziemendster Weise angebrachten Wunsches deferiret …

„Ja, ja, Ihr habt meinen Wunsch erfüllt,“ unterbrach hier der Reichsgraf die treffliche und zierlich gesetzte Rede, „Ihr habt mir das verlangte freie Geleit für mich und meine Familie und meine Begleiter ausgefertigt; ich danke Euch dafür, meine ehrenfesten, fürsichtig wohlweisen Herren. So bin ich denn, im Vertrauen darauf, persönlich hier erschienen, in der Hoffnung, Ihr wollet mir einen zweiten Wunsch und ein freundnachbarlichst unter gleichem Diensterbieten gestelltes Begehren nicht abschlagen; und das ist, daß Ihr mir vergönnt, hier in Eurer Gegenwart und sogleich ein Wort persönlich mit Eurem Gefangenen reden zu dürfen.“

Dies Begehren konnte nichts enthalten, was für das wider den Inhaftirten instruirte Verfahren bedenklich, für des Senats und Volks von Großlingen Würde unzukömmlich, für des Kaisers und des Reichs freie Stadtgemeinde präjudicirlich erschien. Nachdem der Amtsbürgermeisler über die Sache die Vota seiner Collegen gesammelt, wurde deshalb der einstimmige Beschluß gefaßt, daß sothanem geziemendlich vorgebrachten Ansuchen Cosimi zu deferiren sei. Es erhielten die zwei aufwartenden Weibel und Rathsdiener den Befehl, Captatum aus seiner Haft hervorzuholen und „in medio zu gestellen“.

Es dauerte eine ziemlich geraume Weile, bis Albrecht von Werdenfels in Folge dieses Senatsconsults aus dem Gefängniß, einem sonnigen Thurmzimmer im Hinterbau des Rathhauses, das man ihm mit Berücksichtigung seiner geltend gemachten Herkunft [703] und Geburt eingeräumt hatte, herbeigebracht war und in der Versammlung erschien. Er trat endlich zwischen den beiden Dienern ein, ein wenig bleich, ein wenig angegriffen und jedenfalls viel weniger übermüthig aussehend, als damals, wo er mit Aglaë unter den schattigen Wipfeln der Allee gelustwandelt war und sich dem Zauber hingegeben hatte, den die Nähe der schönen, jungen Comtesse auf ihn übte.

Verlegenen Blickes betrachtete er die Herrschaften und nahte dann mit etwas unsicheren Schritten, um dem Reichsgrafen und seiner Tochter eine tiefe Verbeugung zu machen Cosimus aber trat rasch auf ihn zu und fragte halblaut:

„Wo sind die Briefe Teresa Solari’s? Können Sie sie dem Prälaten von Triefalten vorzeigen?“

Albrecht zuckte die Achseln.

„Man hat sie mir abgenommen,“ sagte er, „man wird sie zu den Acten der Untersuchung gelegt haben – wie auch mein Empfehlungsschreiben …

„Nun, so werden wir sie schon herausbekommen, wenn wir die ganze Untersuchung glücklich zu Ende gebracht haben“ – und mit diesen Worten nahm er Albrecht’s Rechte, schritt mit ihm auf seine Tochter zu, die in großer Bewegung kein Auge vom Antlitz Albrecht’s verwandt hatte, aber zugleich, auf die Lehne ihres Stuhles gestützt, so regungslos dastand, als wage sie ohne eine solche Unterstützung keinen Schritt zu thun – und dann nahm Cosimus die Hand seiner Tochter und legte sie in die Hand des jungen Grafen. Schüchtern und mit einem unbeschreiblichen Ausdruck wie Verzeihung flehend sah Aglaë zu Albrecht auf und flüsterte:

„Es ist nur um Ihretwillen – ergeben Sie sich darein – ich will Ihre Freiheit nicht binden, Sie bleiben unumschränkter Herr Ihrer Hand …“

Während dessen gab der Reichsgraf dem Prälaten einen Wink, und dieser trat an das Paar heran, legte seine Rechte auf die verbundenen Hände der beiden jungen Leute und sprach:

„Sie, Graf Albrecht von Werdenfels, und Sie, Gräfin Aglaë von Glimmbach, haben sich die Hände gereicht, um sich zu verloben zu einem ehelichen ewigen Bunde?“

Graf Albrecht blickte zuerst den Prälaten, dann Aglaë, dann den Reichsgrafen so bestürzt und überwältigt an, daß die junge Gräfin statt seiner das Wort nehmen mußte und halblaut mit zitternder Lippe antwortete: „Wir haben es!“

„So spreche ich, kraft meiner priesterlichen Gewalt,“ fuhr der Prälat fort, „über diesen von nun an unzertrennlichen Bund den Segen der Kirche aus. Möge Gott Sie segnen und kräftigen durch seine Gnade für die Erfüllung der Pflichten, die Sie von diesem Augenblick an übernehmen!“ Dann machte er Beiden eine Verbeugung und mit den Worten: „Ich gratulire Ihnen. Sie sind kirchlich Verlobte“ – trat er zurück.

Mit strahlend triumphirendem Antlitz aber trat jetzt Cosimus vor. Er legte die Hand auf die Schulter Albrecht’s, und sich der staunend dreinschauenden Rathsversammlung zuwendend, sprach er:

„Meine wohlweisen Herren, ich stelle Ihnen hier meinen Schwiegersohn, den Grafen Albrecht von Werdenfels, vor. Sie werden sich nun ihres freien Geleitsbriefes erinnern, in welchem derselbe jetzt als zu meiner Familie gehörig mit eingeschlossen ist.

Wir haben Brief und Siegel darüber, und mit Ihrer gütigen Erlaubniß wird derselbe jetzt mich ungehindert nach Hohenklingen heimbegleiten. Ich ersuche nur noch die Herren um diejenigen Briefschaften, welche sie ihm abgenommen haben und die sie ihm als sein unzweifelhaftes Eigenthum zurückzuerstatten schuldig sind!“

Es ist schwer, die Ueberraschung zu beschreiben, welche sich während dieses Vorgangs auf den Gesichtern der würdigen Väter der Stadt malte. Der Amtsbürgermeister sah starr vor Verwunderung in das Antlitz seines Collegen Schaumlöffel, und College Schaumlöffel stumm in das Antlitz seines Vorgesetzten; die Andern aber blickten ebenso stumm auf die Mienen der beiden würdigen Männer, nach deren Ansichten sie die ihrigen einzurichten seit je bestens geschult waren.

„Das ist aber unverantwortlich,“ rief endlich der Bürgermeister aus – „das heißt den ganzen in pleno versammelten Magistrat überlisten und überrumpeln wollen … das dulden wir nicht …“

„Nein, das dulden wir nicht“ – riefen jetzt alle versammelten Väter, wie vom Gefühle einer urplötzlich gekommenen Energie erfaßt.

Aber Syndicus Schaumlöffel, der rechtskundige, erhob sich, und alsbald legte sich der Sturm.

„Meine Herren Collegen,“ sprach er, „weder die Reichs- noch statutarische Gesetze verbieten es einem in Untersuchungshaft befindlichen Gefangenen, sponsalitia de futuro einzugehen; weder die Reichs- noch die kanonischen Gesetze verbieten es einem Priester, solche Verlöbnisse kirchlich zu segnen und zu festigen. Wir können dawider rechtlich keinen Einspruch erheben. Und da nun der Graf Albrecht von Werdenfels allerdings gegenwärtig zu der Familie Seiner Erlaucht gehören dürfte, so sehe ich für unser Gemeinwesen große und unabsehliche Weiterungen voraus, wenn wir der Erfüllung des von uns ertheilten Geleitsbriefes uns entziehen und es auf ein beim höchsten Reichs- und kaiserlichen Kammergericht zu impetrirendes Mandat wollten ankommen lassen. Mein unvorgreifliches Votum geht dahin: halten wir uns an den Spruch unsrer Vorvordern: „Ein Wort ein Mann!““

Es entstand nun eine stumme Pause in der Versammlung, die Cosimus der Zwanzigste dadurch abkürzte, daß er ohne Weiteres rief: „Ich danke den Herren, daß Sie mir also erlauben, jetzt wieder in guter Nachbarschaft mit Ihnen zu leben. Ich hoffe, Sie erweisen mir die Ehre, morgen am Verlobungsfest auf Hohenklingen meine Gäste zu sein, wo wir den alten Hader und Span gemüthlich in gutem altem Rheinwein ersäufen wollen. Aber nun bitte ich auch um die Papiere – geben Sie mir die Papiere heraus!“

Diese Rede der Erlaucht hatte etwas, das auf die noch immer stürmisch bewegten Gemüther unendlich beschwichtigend wirkte.

Der Syndicus befahl die Untersuchungs-Acten zu bringen, und die beiden Rathsdiener schleppten den ungeheuren Stoß herbei und warfen ihn auf den ächzenden Magistratstisch. Während nun der Amtsbürgermeister die von dem Reichsgrafen reclamirten Schriftstücke suchte, und der Syndicus sich anschickte, über Alles ein ausführliches Protokoll aufzunehmen, waren Aglaë und Albrecht in die tiefste Fensternische am obern Ende des Saals getreten, wo Albrecht, Aglaë’s Hand haltend, mit flüsternder Stimme zu ihr sprach:

„Und Sie sagten, ich solle nicht gebunden sein, der unumschränkte Herr meiner Hand bleiben, Aglaë? Das war Ihr Ernst nicht – wenigstens bin ich meinerseits zu solcher Großmuth gegen Sie, das erkläre ich Ihnen, nicht fähig – ich halte jetzt diese Hand fest, fest auf ewig, als die Bürgschaft eines überwältigenden, unsagbaren Glückes!“

Sie sah schüchtern zu ihm auf und dann beschämt zu Boden.

„Sie halten sie freilich so fest, meine arme Hand,“ sagte sie lächelnd, „daß ich darauf verzichten muß, sie wieder frei zu machen. Ich muß mich also gefangen geben – aber hoffentlich werden Sie nicht vergessen, wie es Gefangenen zu Muthe ist!“

„Niemals wenigstens,“ fiel Albrecht eifrig ein, „wie es einem Gefangenen zu Muthe ist, der so aus den Tiefen der Verzweiflung auf die höchste Höhe des Glückes gehoben wird – diesen Augenblick werde ich nie vergessen, nie, wie viel ich Ihnen schuldig bin – ein Leben voll Dankbarkeit kann es nicht lohnen!“

Aglaë fühlte eine warme Thräne auf die Haut fallen, welche Albrecht in diesem Augenblicke erhob, um sie an seine Lippen zu führen.

Elias Erchenrodt hatte unterdeß glücklich die verlangten Briefschaften aus dem Actenstoß hervorgesucht und überreichte sie feierlich dem Reichsgrafen. Dieser zog jetzt den Prälaten in ein zweites Fenster und übergab ihm dort die Briefe Fano’s.

„Meine Handschrift ist Ihnen bekannt?“ sagte er.

„Es ist allerdings Eurer Erlaucht Handschrift,“ versetzte der Prälat, indem er ruhig und langsam den Inhalt der Briefe überblickte. „Und diese Briefe haben sich im Besitze des Italieners gefunden, er hat sie mit dem Nachlasse seiner Mutter erhalten?“

„Fragen Sie den Grafen Werdenfels!“ erwiderte flüsternd Cosimus.

„So muß ich,“ hub der Prälat nach einer Pause, während welcher er fortgefahren war, zu lesen, wieder an, „so muß ich diesen Beweisstücken gegenüber meine Zweifel fahren lassen. Ew. Erlaucht mögen beruhigt sein, der Italiener wird morgen zu dem Verlobungsfeste auf Hohenklingen als erster der Gäste eintreffen.“

Cosimus schüttelte warm dem Prälaten die Hand.

„Dank, herzlichen Dank, Ew. Hochwürden – und …“

Der Reichsgraf legte den Finger auf den Mund. Der Prälat antwortete mit einem lächelnden Kopfnicken.

„Also, bis morgen!“ sagte Cosimus.

[704] Und „bis morgen!“ sagte er dem ganzen wohlweisen Magistrat der freien Reichsstadt Großlingen, als er nun schied, gefolgt von dem so rasch gewonnenen Schwiegersohn.

„Bis morgen!“ echo’ten die fürsichtigen Herren, die in eigenthümlicher Weise jetzt mit der Wendung, welche die Dinge genommen, vollständig versöhnt waren und sich nur eine Rache an ihrem listigen Gebietsnachbar vornahmen: die nämlich, am andern Tage mit ihren größten Perrücken in sein Schloß einzuziehen und mit den größten Haarbeuteln, welche nur erdenkbar waren, wieder heimzukehren.

Und wenn je ein löblicher Vorsatz mit Energie und erschöpfender Gründlichkeit durchgeführt wurde, so war es dieser, obwohl wir gestehen müssen, daß es nicht allein unsere Gestrengen und Wohlweisen waren, die sich an diesem Tage so mit Ruhm und Ehre bedeckten und der Allväter Tapferkeit in heißen, Wettstreit erreichten. Es unterlag eben Alles, was das Schloß Hohenklingen belebte, an diesem Tage unter dem berauschenden Banner einer trunkenen Fröhlichkeit – denn

Quand Auguste buvait, la Pologne était ivre …

und was August für Polen, war Cosimus für Hohenklingen; und Cosimus … aber was sollen wir uns weiter darüber ergehen, was Cosimus an diesem großen Tage war – hatte er doch ein Recht, fröhlich und guter Dinge zu sein – fröhlich über die gelungene Kriegslist und die versöhnten Feinde, die er wenigstens ein Dutzend Mal heute mit unbeschreiblich warmen Freundschaftsbetheuerungen freundnachbarlichst umarmte; fröhlich über den gewonnenen Schwiegersohn, welcher ihm mit jedem Römer, den er leerte, besser gefiel und endlich gegen den Abend hin – als der schönste, edelste, fürtrefflichste junge Mann im ganzen heiligen römischen Reiche vorkam; fröhlich endlich über den jungen Italiener, den Freund seines künftigen Schwiegersohnes, der ihm am Tische gegenüber saß und von dem er vor allen Gästen mit vielem pfiffigen Augenblinzeln versicherte, daß er ihn als ganz zur Familie gehörig betrachte, daß er ihn ewig bei sich behalten und wie ein Kind des Hauses behandelt wissen wolle, ja, daß er ihn adoptiren wolle, Alles um den Freund seines lieben Eidams Albrecht zu ehren. Und dabei warf er schalkhafte Blicke bald zu Albrecht von Werdenfels und bald zu dem Prälaten hinüber; und dann legte er den Finger aus den Mund – doch es ist besser, lieber Leser, auch wir legen den Finger auf den Mund und fahren nicht fort, Dinge und Situationen zu schildern, welche sich Jeglicher selbst auf’s Beste auszumalen im Stande ist.




Blätter und Blüthen.


Die Krokodilsprobe. Die Gottesurtheile, deren Ausspruche sich in den vorurtheilsvollen Tagen des Mittelalters in Deutschland solche Personen zu unterziehen hatten, welche des ihnen schuldgegebenen Verbrechens nicht geständig waren, als die Wasser-, die Feuerprobe etc., sind Jedermann bekannt.

Wenige unserer Leser aber wissen vielleicht, daß noch bis zur heutigen Stunde in Indien ein ähnlicher Brauch herrscht, über eine Schuld, die von dem Angeklagten geleugnet wird, wenn, die Beweise der Zeugen fehlen, das Schicksal zum Mitankläger oder Freisprecher des Angeschuldigten herauszufordern. Die Proben, welche dergleichen Personen zu bestehen haben, sind indeß schrecklicherer Art, als sie in Deutschland es waren, unter allen aber ist wohl ohne Zweifel die furchtbarste die, wobei man den gefräßigen Krokodilen es überläßt, das von den menschlichen Richtern abgelehnte Amt der Entscheidung zu üben.

Der französische Naturforscher Lequevel de Lacombe sah auf seinen Reisen einem solchen unerhörten Schauspiele zu und beschreibt es in folgender Weise: Man erwartete mit Ungeduld den Vollmond, und sobald dieser eingetreten war, berief der Richter die betreffenden Theile und ließ den Häuptling benachrichtigen, der mit seiner Familie sich einfinden sollte. Einige Stunden später, etwas vor 10 Uhr, versammelte sich Alles in einer sumpfigen Ebene, in deren Nähe ein sehr breiter Fluß strömte, in welchem sich viele Krokodile aufhielten. Die Beute, welche man ihnen diese Nacht bestimmte, war ein junges, bildhübsches Mädchen von kaum 16 Jahren, mit einem sanften Gesicht und bescheidenem Anstand in Mienen und Gebehrden. Sie hieß Rakar und war die Tochter eines vor wenigen Jahren verstorbenen mächtigen Häuptlings, der außer ihr keine anderen Kinder hinterlassen hatte. Ein eifersüchtiger, lüsterner Verwandter, der mehrfach mit seinen Liebesanträgen von dem sittsamen Mädchen abgewiesen worden war. hatte sie öffentlich angeklagt, daß sie ein schamloses Liebesverhältniß mit einem Sclaven unterhalte, ein abscheuliches Verbrechen bei der Kaste der Zanak-Andia, in welcher das junge Mädchen geboren war. Darauf stand Todesstrafe – aber da das Mädchen beharrlich ihre Tugend verfocht, sollten die Krokodile über ihre Schuld oder Unschuld entscheiden.

Zunächst befahl ihr der neue Häuptling der Rakar, sich mitten in den Kreis der Versammelten niederzulassen, wo sie geduldig saß und die lange Rede des Richters anhörte. Dieser sprach zuerst von den alten heiligen Gebräuchen des Landes, deren Verletzung in der letzten Zeit sehr häufig vorgekommen sei, danach kam er zur Hauptsache und begann die Verhandlung mit einer Erzählung der Thatsachen. Als er die Belastungsdocumente angeführt und die Gründe genannt hatte, auf denen die Anklage beruhe, beschwor er Rakar noch einmal, ihr Verbrechen einzugestehen; sie aber antwortete mit dem festen Tone, welchen die Unschuld verleiht, die Krokodile würden über das ihr fälschlich vorgeworfene Verbrechen richten. und alle hier Versammelten würden gar bald die Wahrheit erfahren. Der Richter überlieferte sie nun dem Ombiasch (Zauberer), der sie an den Flußrand führte. Das traurige Loos des jungen Mädchens, von dessen Unschuld ich im Herzen mich überzeugt hielt, halte mich tief gerührt. Gern hätte ich alle Waaren, die ich bei mir führte, darum gegeben, wenn ich sie hätte retten können, denn die Probe, der sie sich zu unterwerfen hatte, schien mir allzu gefährlich. Ich wandte mich mit einer Bitte an den Häuptling, der aber lächelte nur mitleidig und gab meiner Bitte keine Antwort.

Als Rakar die Beschwörung des Ombiasch vernommen hatte, der den Krokodilen befahl, sie zu ergreifen und zu verschlingen, wenn sie schuldig sei, wandte sie sich an ihre Gespielinnen, die sie bis dicht an das Wasser begleitet hatten, dankte ihnen für den Beweis ihrer Anhänglichkeit und bat sie noch um ein Band, um ihre Haare zu binden, dessen Flechten sie im Schwimmen gehindert haben würden. Dann drückte sie ihre Freundinnen noch einmal heiter lächelnd an die Brust, blickte sie auf’s Zärtlichste an, warf rasch ihre Kleider ab und stürzte sich nackt in’s Wasser, welcher sie mit den schnellen und kräftigen Bewegungen ihres schlanken Körpers zertheilte. Ich zitterte, als ich sie fast augenblicklich von Krokodilen umgeben sah, deren Köpfe über das Wasser hervorragten und die sie zu verfolgen schienen. Aller Augen waren auf die kühne Schwimmerin geheftet, denn ihre Jugend und ihre herrliche Gestalt, deren wundervolle Formen wir soeben gesehen, nahm alle Anwesenden für sie ein, und ihrem Muthe ward volle Bewunderung gezollt. Alle, die hier im Kreise saßen, schienen für ihre Rettung zu beten, vielleicht war es nur Einer, der ihren Untergang wünschte, jener teuflische Verwandte, der sie des Verbrechens so schnöde bezichtigt hatte.

Eben trat der Mond, der erst die Augen vor dem traurigen Schauspiel zu verhüllen schien, leuchtend hinter einer dunklen Wolle hervor, er warf seine hellen Strahlen auf den Spiegel des Wassers und beleuchtete jetzt für uns Alle die furchtbare Scene. Es war mir dadurch verstattet, allen Bewegungen des Mädchens zu folgen, deren blendender Rücken fast immer über dem Niveau des Flusses sich hielt, außer wenn sie, was öfter geschah, jählings in die Tiefe schoß. Sie schwamm mit einer erstaunlichen Sicherheit und Geschwindigkeit und kam bald an der gefährlichsten Stelle der Wassers an, einer Insel nämlich, welche den Krokodilen zum Aufenthalte diente, die in ganzen Schaaren dort in träger Ruhe Tag und Nacht im Sumpfschilfe lagerten, wie ich es selbst bei einer Fahrt durch den Fluß vor wenigen Tagen zu sehen Gelegenheit hatte. Hierhin ging die Richtung ihrer Schwimmfahrt, die Erreichung der Insel war das erste Ziel, welches ihr gesteckt war; kam sie dann glücklich zurück, so hatte sie die Gottesprobe bestanden. Rakar erbebte nicht; dreimal tauchte sie vor der furchtbaren Insel unter. So oft sie verschwand, glaubte ich sie verloren, endlich gewann sie die Insel und tauchte am Ufer aus den Fluthen. Hier schien sie nur eine flüchtige Minute lang Athem zu schöpfen und Kraft zu sammeln für das Bestehen der zweiten noch unheilvolleren Probe, da jetzt die meisten Ungeheuer aus dem Schlaf aufgeschreckt waren und ihre Beute zu erwarten schienen. Auch schien es, nachdem sie sich wieder den Fluthen anvertraut hatte, als ob sie viel häufiger gegen die Krokodile anzukämpfen hätte, als vorher. Sie tauchte viel öfter unter und blieb zuweilen so lange unter dem Spiegel des Wassers, daß ich wohl zehnmal glaubte, sie sei nun unrettbar verloren. Immer aber tauchte sie schließlich wieder empor, und jedesmal begrüßte sie dafür ein Aufschrei der Freude, der fast über alle Lippen ging, obschon ein großer Theil der Anwesenden greise und, wie es schien, strenge, harte Männer waren.

Genug, sie hatte das Glück, den zermalmenden Zähnen der entsetzlichen Krokodile zu entgehen; schon kam sie dem Ufer näher und näher; noch ein, zwei Stöße ihrer elastischen Hand, und sie betrat wie eine Siegerin dar Ufer, von welchem sie vor etwa zwanzig Minuten ausgeschwommen; ihre Freundinnen harrten nicht, bis sie ihr Kleid ergriffen, sie drückten sich an ihre nasse Brust, sie trockneten ihr die Tropfen der Fluth ab mir ihren eigenen warmen Körpern. Plötzlich riß sie sich aus den Armen der sie beglückwünschenden Freundinnen los; es ergriff sie das Gefühl der Scham; sie kleidete sich hastig an; bald erschien sie vor dem Richter und dem Ombiasch; beide sprachen sie aller Schuld frei und ledig.

Der falsche Ankläger Rakar’s wurde aber verurtheilt, ihr eine so bedeutende Ehrenentschädigung zu zahlen, daß dazu seine sämmtlichen Heerden nicht zureichten. Das Mädchen aber folgte der Eingebung ihres edlen Herzens, sie schenkte ihm die Summe und überließ ihn Gewissensbissen, die er jetzt doppelt empfinden mußte.




     Bei Ernst Keil in Leipzig ist erschienen:

Ein Deutscher.

Roman aus der amerikanischen Gesellschaft. Von Otto Ruppius.

Geh. 27 Ngr.

Dieser in der Gartenlaube mit so vielem Beifall aufgenommene Roman erscheint hier in einer billigen Separat Ausgabe.



Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Bei einer zum Besten der deutschen Flotte in Elbing veranstalteten Aufführung gesprochen.
  2. Es ist in dieser Beziehung viel gefabelt worden. Man spricht z. B. von der Oberherrschaft eines Patriarchen (in Form des ältesten Rammlers) und rühmt die Subordination, Verträglichkeit und Anhänglichkeit der kleinen Colonisten! – Ein spaßhafter Franzose will sogar beobachtet haben, daß ein krankes Kanin von seinen Cameraden sorgsam verpflegt und ihm regelmäßig ein Mäulchen voll Gras zugetragen wurde! –
  3. Ein Dutzend dieser Hauben ist meistens ausreichend. Jede Haube hat bei 2 Fuß Länge etwa 3 Fuß im Umfange und wird aus feinem Bindfaden in einzölligen Maschen glockenförmig gestrickt. Die 5–6 Fuß lange Zugschnure wird durch die Maschen der obern Einfassung ringsum gezogen. Beim Aufstellen der Garne ist zu beachten. daß dieselben nicht zu straff über den Röhren ausgespannt werden und keine Lücke zwischen dem untern Rand und dem Boden sichtbar ist. Um das Garn in seiner Stellung zu erhalten, steckt man einige Heftel rings um den Rand und drückt diese locker in’s Erdreich. Dagegen wird die Zugschnur fest um den nächsten Ast, Wurzel oder dergl. geschlungen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Ganz