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Die Gartenlaube (1862)/Heft 47

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1862
Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 47.   1862.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.    Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Der Junker von Hohensee.

Eine alte Geschichte.
Von Edmund Hoefer.
(Fortsetzung.)


„So und nicht ein Haar breit anders würde ich mein Gefühl für sie verstanden und taxirt haben,“ fuhr der Junker fort, „wenn ich mir jemals Rechenschaft über dasselbe gegeben hätte. Meinem Bruder und seinen Rechten trat ich nicht zu nahe, nicht mit dem flüchtigsten, heimlichsten Gedanken. Denn, mein Freund, ich wiederhole das hier: ich war nichts weniger als eine – deutsch gesprochen – sinnliche Natur. Die Liebe stand mir fern und mein Herz war frei, mochte ich diesen und jenen Menschen, mochte ich Livia selbst so lieb haben wie möglich. Lacht mich aus, wie Ihr wollt, aber ich schwöre es Euch zu – ich dachte sie in dieser Zeit nicht ein einziges Mal als mein, als das, was sie nach dem früheren Wunsch der Ihren und Meinen hätte werden sollen, als meine Frau, wie ich denn auch mich niemals als ihren oder überhaupt einer Frau Gatten dachte. Ich hatte sie ja und Alles von ihr, was mein Herz irgend begehrte.

Aber es kam ein Ende dieser Zeit und dieses Friedens, und es kam mit den Worten, die nach einigen Tagen Mittags bei Tisch der Vater an mich richtete: „Hätt’s bald vergessen, Junge – die Mutter fragt, ob Du denn gar nicht nach ihnen drüben in Büzenow sehen wolltest und was Du hier eigentlich so eifrig triebest. Und ’s ist auch wahr, was treibst Du eigentlich? Und hinüber solltest Du freilich lange schon gewesen sein. ’s ist doch die Mutter, Felix!“ – Die Worte trafen mich wie ein Donnerschlag, nicht des begründeten Vorwurfs wegen, der darin lag, sondern um ihres einfachen Inhalts willen. Bei meiner Ehre, ich hatte seit dem ersten Tage gar nicht wieder an diesen Theil meiner Verwandtschaft gedacht, dessen Glieder mir theilweise so fern standen, wie Mutter und Schwester, theilweise, wie der Onkel, mir sogar ernstlich verhaßt waren. Und nun mit einem Mal waren sie nicht nur da und gewissermaßen mir gegenüber im Recht, sondern ich sah auch die Mutter schon wieder zurückkehren und Livia scheiden; ich sah das Ende unseres Verkehrs, ich sah für mich und auch für sie – es war ja zweifellos, daß sie etwas gegen den Baron Gerold hatte, was er so oder so sicher ihr vergalt – Widerwärtigkeiten aller Art voraus. – Ich schaute zu ihr hinüber – sie kritzelte mit der Gabel auf dem Teller, ohne die Augen zu erheben. Und meinen Blick zum Vater zurückwendend, versetzte ich mit einer Art von finsterem Sarkasmus: „O Gott, wie zärtlich! Daß man die Schwester schon sehen könne, wußt’ ich nicht, dafür jedoch, daß die Mutter in einigen Tagen zurückkehrt. Wüßte also nicht, was mich nach Büzenow treiben sollte.“

„Schon recht,“ bemerkte der Alte nach einer Pause, denn er aß während dieses Gesprächs in möglichster Ruhe sein Fleisch und Gemüse, „aber am Ende wird der Gerold Dich nicht fressen, Junge.“ – „Mein’s selber,“ erwiderte ich. „Aber ich habe auch keine Lust zu Zänkereien, die nicht ausbleiben würden. Und wie gesagt, es drängt mich nichts dahin.“ – „So fährst Du morgen wohl nicht mit zu der Gesellschaft? ’s ist die erste, die Deine Schwester wieder mitmacht,“ sagte er wieder nach einer Weile. – „Danke,“ versetzte ich kühl; „wußte gar nicht, daß sie eine Gesellschaft geben wollen.“ – „Die Mutter schrieb’s heut Morgen,“ sprach er nach einer neuen Pause. „Lassen auch um einen Rehbock bitten zum Braten. Hast Du Lust, ihn zu holen, Junge, oder schicke ich den Jäger?“ –

Livia hatte bisher kein Wort hinein geredet und keinen Laut von sich gegeben, noch aufgesehen; nun blickte sie schelmisch lächelnd zu mir auf, und dieser Ausdruck ihres Gesichtes und der Gedankengang ihres Kopfes, den ich schier ebenso deutlich vor mir sah, ließen mich dem Alten unwillkürlich lachend erwidern: „Du bist ein Schlaukopf, Papa, der mich neckt. Du weißt wohl, daß meine Feindschaft nicht weit genug geht, um den armen Teufeln da drüben einen Bissen in die Küche und mir selber das seltene Vergnügen eines Jagdzugs im Mai zu versagen. Conrad kann mitgehen, denn ich weiß am Ende in den Revieren nicht genug Bescheid.“ – „Thu’s!“ sagte er.

So geschah es denn auch. Bald nach Tisch zog ich mit dem Jäger aus, streifte tüchtig umher, zugleich auch um im Walde wieder daheim zu sein, von dem ich seit meiner frühsten Jugend wenig mehr gesehen, und erreichte bald meinen Zweck. Denn es gab dazumal noch unglaublich reiche Bestände hier zu Lande, Vetter, und Hohensee hatte einen der reichsten von allen. Bei Büzenow aber gab es schon damals kein Standwild mehr, weil der Baron Jagdhunde hielt und dem Wilde keine Ruhe ließ; ’s war auch eine seiner vielen Thorheiten. – Genug, so gegen halb Sechs hatte ich den Jäger schon mit dem Bock nach Hause geschickt und kam nach einem Umwege zum „schwarzen See“, wo es an dem heißen Tag wunderbar kühl und heimlich war. Da wollte ich ein wenig ruhen, denn derartige Streifereien waren mir nicht gewohnt genug, um mich nicht zu ermüden; als ich jedoch um die „drei Eichen“ bog und auf die Moosbank zuging, die Ihr noch heute seht, fand ich dieselbe schon besetzt und zwar von Livia.

„Nun, edler Junker und großer Nimrod,“ rief sie, da sie mich überrascht stehen bleiben sah, wieder mit jenem schelmischen Lächeln vom Mittage mir entgegen, „hältst Du mich für eine [738] Waldfee, daß Du erschrickst, oder gar für ein verzaubert Stück Wild, das Du zu erlegen gesonnen? Denn ich wette, Felix,“ setzte sie lustig hinzu, „Deine christliche Gesinnung gegen den Herrn Baron hat keine Früchte getragen, und Du kommst nur mit vielen Fehlschüssen heim.“ – „Die Fehlschüsse thust Du selbst,“ versetzte ich gleichfalls heiter. „Conrad trägt den Braten nach Hause. Nun aber laß mich bei Dir sitzen, denn ich bin müde.“ – „Weshalb ist der Herr selber gelaufen und hat es nicht dem Diener überlassen?“ warf sie neckend hin, indem sie mir zugleich Platz neben sich machte. – „Ein solches Vergnügen kann freilich eine Frau nicht taxiren,“ gab ich zurück. – „Vergnügen?“ wiederholte sie, und die großen Augen sahen mich plötzlich wie nachdenklich an, – „Vergnügen? Hast Du es um dessen willen gethan, Felix? Du sahst mir heut Mittag eher nach allem Anderen aus, und ich habe fast gemeint, Du seiest nur aus Verdruß davongelaufen. Sage mir, Felix, was verstörte Dich so? Es war doch am Ende natürlich, daß Deine Mutter sich nach Dir erkundigte und nach Deinem Ausbleiben fragte. Hinüber wirst Du immerhin einmal müssen, früher oder später, und morgen wäre dazu die beste Gelegenheit. Du thätest dann auch noch ein gutes Werk an mir,“ schloß sie wieder lächelnd, „denn freilich – auch ich bin nicht gern in Büzenow, sondern fühle mich dort stets mit zusammengeschnürtem Herzen.“

Ich saß neben ihr und ließ den Zauber dieser weichen Stimme, dieses milden Auges mich umspinnen; ich hätte ihr gern stundenlang so zugehört, sie stundenlang so angesehen, dort an dem stillen Platz, in der dämmerigen Beleuchtung, in der prachtvollen Lust des Maitages, – ausruhend an ihrer Seite von meinen kleinen Strapazen. Seht, Vetter, solch ein Ausruhen zu solcher Stunde, in solcher Umgebung, ist wie das Genesen nach einer schweren Krankheit, beide Gefühle sind verwandt mit einander und unbeschreiblich wohlthuend. Und so war auch mir heut, wohlig bis in’s Herz hinein. Ich ließ eine ganze Weile vergehen, ohne zu antworten, denn ich wußte auch kaum etwas zu sagen, was mich nicht zu widerwärtigen Explicationen geführt hätte, die ich gerade in diesem Augenblick am allermeisten scheute, und überdies – ich wiederhole es – hätte ich am liebsten ihr nur zugehört, sie nur angesehen. Endlich aber besann ich mich, und indem ich ihre Hand in die meine nahm, sagte ich herzlich: „Du fragst, was mich so verstörte und verdroß? Kind, das war nicht allein die Erinnerung an den Baron, den ich nun einmal nicht leiden kann, bei dem ich jedesmal das Gefühl habe, als dränge er sich zwischen mich und mein Glück – sondern es war zuerst und hauptsächlich der traurige Gedanke, daß es demnächst mit unserem Stillleben hier aus und zu Ende. Ich habe mich durch diese Ruhe, diesen Frieden so beherrschen lassen, daß ich nicht daran dachte, wie bald es aufhören könne und müsse. Kehrt die Mutter zurück, spionirt der Baron wieder täglich hier umher, so ist es eben schon anders. Dann muß ja aber auch Julius bald wiederkommen, Du gehst mit ihm nach Sollnitz, wir sind auseinander und finden uns so schwerlich bald wieder vereint. Für mich ist die Zeit des Ausruhens und der süßen Faulheit dann auch vorbei, es geht in’s strebende und schaffende Leben hinein – freilich wohl etwas Natürliches und Nothwendiges, was mir jedoch jetzt noch gar nicht zu Kopfe will. Weißt Du noch, was Du mir neulich einmal sagtest – ich sei ein Mensch für die Ruhe und die Freuden der Heimath? – Ja, ja, Livia, so ist’s! Ich bin es mehr, als Du vielleicht denkst, als ich selber es bisher gewußt; ich habe es erst jetzt und hier recht gespürt. Und siehst Du – damit ist es für mich für’s Erste wenigstens wieder vorbei.“

Sie hatte mir die Hand gelassen, ihr Auge haftete auf mir mit einem zuerst nachdenklichen, bei einem längeren Sprechen nach und nach aber immer wehmuthsvolleren Blick. War etwas in meinen Worten, das sie besonders ergriff, oder hörte sie’s und nahm sie sich’s zu Herzen, daß ich mich traurig redete – ich sah ihren Blick plötzlich von einer aufsteigenden Thräne verschleiert, ich fühlte einen leichten Druck der feinen Finger, und dann fragte sie gedämpft: „Willst Du denn wieder fort, Felix?“ – „Hier bleibe ich nicht, kann ich nicht bleiben,“ versetzte ich. „Du mußt das einsehen, Cousine.“ – „Aber die Güter?“ sagte sie mit fragendem Tone. – „Die Güter, Livia, laufen mir nicht weg; ich habe aber jetzt gar nicht an sie gedacht. Doch wenn ich sie auch übernehme und dort zu wirthschaften beginne – was ändert sich dadurch für mich? Gewinne ich damit Heimath und Ruhe? Nein, Kind! Ich soll mir Beide ja erst gründen und erringen!“ Und wie man manchmal Einfälle hat und Antrieben folgt, über deren Entstehung, über deren – sage ich: Absicht man sich selber am wenigsten Rechenschaft zu geben vermag, so setzte ich hinzu: „Sieh, Livia, und das ist ein halb traurig und halb langweilig Geschäft, wenn man’s nur für sich allein thut. Was soll ich einsames und nichts weniger als egoistisches Menschenkind viel für meine Zukunft, meine Behaglichkeit sorgen und arbeiten! Das macht sich ja Alles ohne Sorge und Arbeit, von selbst. Ja, hätte ich einen anderen, einen rechten Zweck, bei dem auch mein Herz in’s Spiel käme! Aber so? – Ach, es schafft sich nur fröhlich zu Zweien oder für Zwei!“

Es war jetzt eine gewisse Befangenheit in dem Blick, der auf mir haftete, und in dem Klang ihrer Stimme, mit der sie wieder wie fragend nach einer Pause sagte: „Und Helene Gentzkow?“ – Die Worte waren wie ein kaltes Bad, das mich aus allen Träumen und Phantasien schreckte. Ich zuckte zusammen und auf und versetzte fast heftig: „Ach, bleibe mir mit diesen Dummheiten vom Leibe, Livia! Was habe ich mit Helene Gentzkow oder sonst einem solchen Geschöpf zu thun! Ich bin allein und bleibe allein – das ist einmal nicht anders.“ So sprach ich und stand zugleich auf, mir war unleidlich zu Muth, gerade so, als wenn uns im ernstesten, heiligsten Moment, während der tiefsten, frömmsten, inneren Bewegung etwas recht Dummes oder Frivoles, Unheiliges nahe tritt. Und Livia mochte das wohl empfinden, denn auch sie stand auf und legte mir die Hand wie begütigend auf die Schulter und sprach innig: „Felix, lieber Felix, habe ich Dir weh gethan? Das wollte ich bei Gott nicht!“ - Da entwich Verdruß und Verstimmung, denn vor diesem Zauber der Stimme, des Blicks, des ganzen Wesens hielt nichts dergleichen Stand, und ich konnte freundlich und milde antworten: „Laß gut sein, Kind, es ist schon vorüber. Aber ich bitte Dich, lasse mich in Zukunft mit allen derartigen Plänen zufrieden. Wen man wählt und ob man wählt und ob solcher Wahl und solchem Wunsch auch die Erfüllung folgt, das muß dem Herzen des Menschen selber und seinem günstigen oder ungünstigen Stern überlassen bleiben. Und ich weiß von diesem allen noch wenig oder gar nichts, zum mindesten nichts Günstiges. – Aber nun genug,“ brach ich ab. „Wohin sind wir gerathen, Livia, daß wir uns mit solchen widerwärtigen und albernen Dingen quälen! Heiter, Kind, heiter! Sei wieder fröhlich, Cousinchen!“

Ueber ihr liebliches Gesicht flog ein flüchtiges Lächeln. „Du bist ein lieber, guter Mensch, Vetter,“ sagte sie, „aber auch ein sehr wunderlicher, von dem Niemand ahnen, geschweige denn berechnen oder sagen kann, was es in ihm giebt, was ihm wohl, was ihm weh thut!“ – In dem Fall sind wir Alle,“ gab ich munter zur Antwort. „Geht es, zum Beispiel, mir besser mit Dir? Weiß ich von den Gedanken, Gefühlen, Regungen, die Du so zu sagen privatim hast?“ Und als ich die Worte gesprochen hatte und sie dabei neckend fixirte, erschrak ich fast über ihre Wirkung, denn sie wurde jählings glühend roth und fast eben so schnell tödtlich blaß, und sie bebte am ganzen Körper, so daß ich rasch den Arm um sie legte und bestürzt rief: „Aber, Kind, um Gotteswillen, was ist Dir?“ – Sie strich mit beiden Händen über die Stirn und richtete sich rasch auf. „Nichts, nichts!“ erwiderte sie hastig; „mir wurde nur so schwindlig. Jetzt ist’s schon vorüber!“ – „Leidest Du denn öfters daran?“ fragte ich, und da sie den Kopf schüttelte, fügte ich hinzu: „Ich dachte zuerst, meine Worte hätten Dich so berührt, obgleich ich freilich nicht begriff, wie das möglich sein könnte.“ – Da lachte sie wieder ganz heiter, wenn sie auch noch ein wenig blaß war, und meinte: „Nun, Vetter, so arg ist’s nicht, obschon der Gedanke sogar allerdings wohl zum Erschrecken ist, daß wohl ein Anderer die Fähigkeit besitzen könnte, uns bis in unser Eigenstes und Geheimstes zu durchschauen. Meine Bemerkung vorhin war dumm und Deine Antwort treffend genug. Aber nun laß uns heim. Ich muß nach dem Kleinen sehn.“

Wir waren schon auf dem Wege, gingen langsam und bald wieder ziemlich heiter plaudernd vorwärts und traten in den Garten. Ich weiß nicht mehr, worüber wir gerade redeten, aber es beschäftigte uns, daß wir uns nicht viel umschauten, sondern neckend und lustig weiter gingen oder stehen blieben, uns anlachend, kurz, wie man es bei solcher Gelegenheit eben treibt, wenn man jung und kein Kopfhänger ist. Das Vorhergegangene hatten wir Beide anscheinend vergessen oder abgeschüttelt. – So übersahen wir’s, daß in einem Nebensteige mein Vater mit dem Baron Gerold herankam, und erst der Anruf des Erstern: „Heda!“ ließ uns aufmerken, [739] stehen bleiben und dann des Anderen lachend vorgebrachte Worte vernehmen: „Ei guckt doch – versunken wie ein Liebespaar!“

Livia erröthete glühend, mir zogen sich die Finger der Hand zusammen, als müsse ich im nächsten Moment den Frechen zu Boden schlagen. Allein es mag nur mein Blick von dieser Regung meines Innern gezeugt haben, – der Baron verfärbte sich wenigstens, obgleich er sein Auge nicht von mir abwandte – dann war ich schon wieder gefaßt und warf ihm ein: „Nicht wahr, Cousine, gesprochen wie – Baron Gerold?“ entgegen. – Er lenkte ein. Herantretend bot er mir mit einer Art von Bonhomie die Hand und sprach mit anscheinend wohlwollendem Blick und Ton: „Also kennst Du mich doch noch, Herr Neffe! Wir sind sonst lange genug von einander gewesen und uns auch Weihnachten so wenig begegnet. Ich fürchtete fast, Du würdest mich ganz vergessen haben, zumal wir erst heut Morgen hörten, daß Du, und zwar schon seit acht Tagen, hier. Da mußte ich doch nach Dir sehen, Deine Mutter und Schwester schicken mich auch. Und nun frage ich: wie ist’s? Hilfst Du uns den Braten, den ich schon gesehen und für den ich danke, morgen verzehren?“

Das ging so schnell und geschlossen hin, als hätte er es extra für mich zurecht gedacht und auswendig gelernt. Der Mann, die Weise, der Ton, Alles und Alles mißfiel mir gründlich, und ich mußte mich ernstlich zusammennehmen, um meiner Empfindung nicht ganz und gar den Zügel schießen zu lassen. „Ich habe lange keine Gelegenheit mehr gehabt, zu erfahren, ob ich in Büzenow willkommener als vordem sein würde, Herr Onkel,“ erwiderte ich mit einer steifen Verbeugung. „Jetzt werde ich aber nicht ermangeln, von Ihrer Einladung Gebrauch zu machen, – nur morgen bedauere ich. Ich habe mich schon nach Liebenhagen, bei Onkel Hans Peter, angemeldet.“ -– „Ei, davon weiß ich ja noch gar nichts!“ schob mein Vater ein, die unschuldige Seele, der Baron aber sagte in seiner ganzen bösen Weise und mit einem schiefen Blick auf Livia, die schweigend neben uns stand: „Nun, für Herrn Hans Peter läßt man sich schon aufgeben!“ und ich endlich replicirte: „Sie wissen wohl, Herr Onkel, daß ich früher mehrere Jahre in Karlshof und Liebenhagen leben mußte und dort eigentlich mehr daheim bin, als hier.“ – „Das ist verständlich,“ meinte er, das Haupt neigend; „nun, ich muß fort. Also, wenn Du wiederkommst, Herr Neffe, sehen wir Dich wohl drüben? A revoir! – Kommt Ihr mit, Schwager?“ – Und nachdem er mit dem Vater sich einige Schritte entfernt hatte, denn ich zögerte, ihm zu folgen, und Livia blieb neben mir, – wandte er sich im Gehen und rief der Letzteren zu: „Daß ich’s nicht vergesse – Julius kommt übermorgen, schöne Nièce!“ – Sie sah auf und ihm ruhig entgegen. „Danke, aber ich wußte das schon,“ versetzte sie kühl.

„Hast Du wirklich im Sinn, nach Liebenhagen zu gehen?“ fragte sie mich, als wir so langsam den Beiden nachgingen. – „Das habe ich freilich,“ antwortete ich ernst. „Es ist ein schneller, aber fester Entschluß. Ich möchte Büren’s sehen –“. – „Die triffst Du nicht, sie sind zur Hochzeit nach G. gefahren,“ unterbrach sie mich, „und werden noch nicht zurück sein.“ – „Nun gut, so bleibe ich bei Deinem Vater und dem Magister,“ redete ich weiter; „den Einen sprach ich kaum, den Anderen seit fast fünf Jahren nicht.“ „Du verdienst ein Gotteslohn um meinen armen alten Papa,“ bemerkte sie gedrückt. „Wollte Gott, ich könnte mit Dir hinüber, Felix!“ Sie blieb fortan still und – ich will sagen gedämpft, denn das war es.

Am folgenden Morgen war ich früh auf den Beinen und ging in den Stall, um nach meinem Pferde zu sehen und das Aufsatteln zu befehlen. Da ich zurückkam, sah der Vater mit der weißen Schlafmütze und seiner langen Pfeife aus dem Fenster, und Livia ließ eben den Frühstückstisch für mich unter der Linde neben der Hausthür aufstellen. Sie sah frisch und rosig aus und begrüßte mich auf das Heiterste, und da ich sie wegen des Frühaufstehens schalt, meinte sie lachend, sie sei um diese Zeit stets auf und heut natürlich um so eher, da sie mit mir noch über den Vater und Liebenhagen plaudern wolle. Für mich möge es aber schwer sein, da ich mich sonst immer noch zwei Stunden im Bett strecke. So redeten und scherzten wir, sie gab mir ihre Aufträge für den Vater und machte dabei die sorgliche Hausfrau. Ich hatte sie niemals anmuthiger gesehen.

Es war ein prachtvoller Morgen, voll solcher Frische und solchem Glanz, voll solcher Himmelsbläue und so kühlem, kräftigem Duft des jungen Laubes, der Frühlingsblumen auf den beiden Rabatten, die damals – der einzige poetische Einfall, den meine Mutter vielleicht jemals gehabt – nahe vor dem Hause, hinter der Ausfahrt angelegt waren, daß es einem das Herz weit und leicht machen mußte. Von rechts herüber grüßte und winkte der Wald, der zu jener Zeit noch nahe an den Hof herantrat; über den Feldern links jubelten die Lerchen; die Hügeldüne vor uns lag mit ihrem hohen Wipfel wie in Licht gebadet. Kurz, ich selber habe meine Heimath niemals lieblicher und zugleich anmuthiger vor mir gesehen. Und da sagte Livia, die das Alles einen Augenblick träumend angeschaut, mit einem strahlenden Lächeln und einem wahrhaft verklärten Gesicht: „O Felix, an solchem Morgen ist’s mir immer, als müßt’ ich hinauf und hinaus in alle Lüfte, so froh, so leicht, so namenlos sehnsüchtig und glückselig! Ach und dann auf einem leichten Wagen sitzen, mit raschen Pferden in’s Land hineinfahren, scherzend, jubelnd, jauchzend – es wäre himmlisch! Wie beneid’ ich Dich um Deinen Ritt! Warum kann ich nicht mit Dir!“

„Warum kann ich nicht mit Dir!“ – Mein Freund, das waren so einfache, so unschuldig gemeinte, so unbefangen gesagte Worte, und dennoch waren sie es, die in meinem freien Herzen den Schmerz und Gram heraufbeschworen, die für sie und mich der Anfang eines Elendes waren, das man selber durchgemacht haben muß, um seine volle, Alles lähmende, Alles vernichtende Wucht und Schwere zu begreifen. „Warum kann ich nicht mit Dir!“ – Warum kann sie nicht mit mir? klang es in mir nach; warum sitzt sie da nicht bei dir, vor euerem eigenen Hause, an eurem eigenen Tisch, als dein eigen, dein Glück und Segen, dein Weib, wie es einmal sein sollte und sein konnte? Warum kannst du nicht mit ihr hinausziehen und diesen Herzensjubel, der dir jetzt entgegenklagt, in seiner reichsten Fülle, in seiner vollsten Seligkeit von Lippen klingen, aus dem Herzen sich aufschwingen hören, das dein ist und sein tiefstes Glück von dir empfängt? – Seht, Vetter, so wucherte es in mir auf, jäh und furchtbar rasch – ich muß eigentlich sagen: es war Alles mit einem Male da und fertig! Und hart, drückend hart daneben stand der Gedanke: sie ist deines Bruders Weib, und für dich ist Alles vorüber! –

Mir war Herz und Kehle wie zugeschnürt von diesen mich in einzigem Schwall überstürzenden Bildern und Gedanken. Ich nickte nur zu ihren Worten, ich stand auf und ging, dem im Fenster liegenden Vater die Hand zum Abschied zu bieten; ich kehrte zu ihr zurück und gab auch ihr die Hand und sah sie an – freundlich wollt’ ich, und traurig ward es, denn im Innern weint’ ich, so zu sagen, blutige Thränen über das zauberhaft emporgestiegene Bild meines verlorenen Paradieses. Und Gott weiß, was es war, das auch sie plötzlich still und trübe gemacht, ihr Auge wie schwermüthig und bangend dem meinen begegnen ließ – war es die Trauer über den vergeblichen Jubel, oder die Sehnsucht in die Ferne, noch Glück und Genügen, oder war es ein sympathetisches Fühlen, Ahnen, Verstehen dessen, was in mir vorging? –Gott weiß es, wiederhole ich! – „Viele, viele Grüße!“ sagte sie weich und gedämpft; ihre Hand glitt leise aus der meinen. Ich nickte ihr noch einmal zu, wandte mich, saß auf und ritt vom Hofe, stumm drinnen und draußen.

Der Morgen war prachtvoll und mein Weg der angenehmste fast ganz durch den duftenden, üppig grünen Wald, Alles dazu geeignet, das Herz wieder leicht und den Kopf frei werden zu lassen. Allein an mir ging es diesmal spur- und wirkungslos vorüber, mein Traum blieb gleich wüst und schwer, meine Trauer gleich dumpf, und wie sehr ich strebte, was ich versuchte, mich emporzureißen aus all den qualvollen Gedanken, es gelang mir nicht. Das Bild, wie ich mit ihr, dem jubelvollen, glücklichen jungen Weibe, diesen Weg hinausfahren könnte, wenn ich mein Glück nicht auf das Leichtsinnigste verscherzt, verließ mich nicht, und zum ersten Mal in meinem Leben erfüllte mich eine glühende Sehnsucht, durch ein anderes Wesen beglückt zu werden und ein anderes Wesen glücklich zu machen, – das Schönste zu bieten und das Schönste zu empfangen, was dem Menschen erlaubt und bestimmt ist.

Die Freude des alten Onkels über meinen Besuch war sichtbarer und größer, als ich erwartet; ich fand ihn überhaupt lebhafter, als sonst, wenn das auch leider die Folge seiner neuen Gewohnheit war, vom Morgen bis zum Abend der Weinflasche in einem selbst hier zu Lande unerhörten Maße zuzusprechen. Berauscht wurde er nicht, sondern nur animirt in seiner Weise, zuweilen freilich auch gereizt, und hiervon empfing ich noch am selben Morgen eine bittere Probe, als er zu mir, nachdem er die Grüße [740] Livia’s empfangen und nach ihrem Aussehen und Ergehen gefragt, plötzlich und mit gänzlich ungewohnter Heftigkeit und Bitterkeit sagte: „Ja, jetzt mag sie heiter und gesund scheinen, wo sie allein ist und sich einmal frei fühlt, aber später – bald! – Siehst Du, Junge, ich sollte Dich eigentlich aus dem Hause jagen und Dich mit keinem Blick mehr ansehen! Du bist daran schuld! Du hast’s gemacht, daß man mein Kind mir und Deinem Vater, Dir und ihm selber stehlen konnte, daß man sie zwang, wozu ihr armes Herz Nein schrie! Ich bin einmal ein alter, schwacher, miserabler Hund, ich hab’ keine Gewalt über Andere, keinen Widerstand gegen sie! Ich hätt’ mich eher in Stücke reißen lassen sollen, als daß ich das Elend meines armen Mädchens zugegeben! Ja, verflucht sie Alle und verflucht ich selber!“ fuhr er immer heftiger, schier wüthend fort. „Und Du, Knabe, Du bist das Licht nicht werth, daß Du das Alles verschuldet, daß Du Dich herumgetrieben, indeß die Kleine weinte und sich sehnte und kümmerte, daß Du dem Gesindel freie Bahn ließest, mein Kind unglücklich zu machen und – Dich auch,“ setzte er mit einem Male mit sinkender Stimme hinzu. „Denn Du wirst’s, verlaß Dich darauf! Ich seh’ es deutlich vor mir! Aber ihr habt’s Alle nicht anders gewollt und ich bin ein miserabler alter Kerl ohne Saft und Kraft, dem’s am wohlsten wäre, wenn er erst unter dem Stein in der Kapelle läge.“ – Und er stürzte ein neues Glas Wein hinunter. – Ich war stumm und starr vor Bestürzung und in einer halben Todesangst vor dem, was nun kommen werde. Allein es kam ebenso, wie damals im Winter, nichts mehr. Die Stunde der Offenheit war vorüber.

Was ich vernommen, und noch mehr, was ich glaubte noch weiter dahinter suchen, daraus folgern zu müssen, drückte mich so entsetzlich, daß ich Nachmittags, während der Onkel schlief, zu Eurem Vater, dem Magister, der mit uns gegessen hatte, mich offen aussprach, zum Anfang ihn an jene Mittheilung in seinem Briefe erinnernd, von der ich Euch vorhin gesagt. Ich beschwor ihn, mir die volle Wahrheit zu sagen. Hätte Livia mich geliebt, hätte sie das den Meinen nicht verborgen uns wäre trotzdem von ihnen zu dem Bunde mit meinem Bruder überredet, deutsch gesprochen, gezwungen worden, so müßte ich das Alles für um so infamer erklären, da man einerseits die auf mich gebauten Pläne und andrerseits doch die ungefähre Zeit meiner Rückkehr kannte, so daß man nur kurze Zeit hätte zu warten brauchen, um uns Allen gerecht zu werden. Und so sagte ich ihm auch von jenen Aeußerungen Büren’s, die mich schon im Winter so tief erregt hatten.

Euer Vater war sichtbar sehr betreten durch das Vernommene. „Um Gotteswillen, wie unvorsichtig, wie taktlos!“ rief er endlich. „Ich bitte Sie, junger Freund, lassen Sie sich nichts in den Kopf setzen, schieben Sie vielmehr alle diese Aeußerungen auf die Weinlaune, die unsern alten Herrn und Ihren Schwager erfüllt zu haben scheint. Halten Sie sich an das, was ich Ihnen schrieb, an nichts mehr. Ich habe es ein Unrecht genannt und halte es noch dafür, daß man die alten, Sie betreffenden Pläne umstieß, daß man gegen den Wunsch – von Willen, wissen Sie wohl, ist keine Rede! – des Vaters dem Kinde Ihren Herrn Bruder nahe brachte, daß man sie überredete – wohlverstanden: überredete, nicht zwang! – seine Gattin zu werden, während sie ihn damals sicher nicht liebte, kaum kannte. Daß Livia ernst für Sie gefühlt, mein Freund, dafür spricht nichts, das glaube ich nicht, wenn sich auch ein kindliches, halb kindisches Erinnern an die alten Reden und Spielereien in dem jungen Wesen erhalten haben sollte. Weiter aber ist es sicher nichts gewesen, und daß man sie nicht zum Jawort gezwungen, dafür bürge ich Ihnen. Ich habe vor der Trauung ernst mit ihr geredet und sie nicht gerade heiter, aber ruhig, zufrieden, hoffend auf ein friedliches Glück, ihrer Pflichten, des ganzen ernsten Schrittes sich vollbewußt gefunden. Ohne diese Einsicht in ihr Inneres hätte ich sie nicht getraut, davon seien Sie überzeugt. Und nun nehme Gott Sie Beide in seinen treusten Schutz, besonders aber Sie, mein lieber junger Freund,“ schloß er mit ernster Herzlichkeit. „Geben Sie dem Dämon, der sich in Ihnen regt, den man unvorsichtig in Ihnen wachgerufen, nicht nach, Felix! Es ist Ihr Bruder, es ist Ihre Schwägerin, an deren Ehre, an deren Glück und Frieden schon Gedanken rütteln, wie ich sie bei Ihnen leider sich erheben sehe.“

Er sprach noch lange in ähnlicher Weise fort, ohne daß mir leichter, ohne daß mir klar wurde, was demnächst geschehen könne und müsse. Was ich im Winter überwunden, war Alles wieder da; was ich heut vom Onkel gehört, war so seltsam, so gefährlich mit dem zusammengetroffen, was ich am Morgen empfunden. Die Liebe, die bisher geschlummert, war wach geworden – das war’s. Es kam in mir schon jetzt nichts mehr gegen sie auf, und die Worte Eures Vaters verklangen fast ungehört.

Ich hatte Angst vor dem Heimkehren, ich hatte keine Ruhe zu bleiben, obgleich letzteres jedenfalls das Beste für mich gewesen wäre; ich hätte Zeit gefunden, mich zu fassen, wenigstens ein Maß wiederzugewinnen. Aber es schien mir unmöglich, jetzt gerade von derjenigen nichts mehr zu sehen, die mir eben nur wie ein Stern aufgegangen, welche mir die finster aufsteigenden Wolken sobald vielleicht schon wieder entziehen würden. Und so saß ich am nächsten Morgen wieder auf und ritt heimwärts. Das Wetter – ich gab und gebe viel auf dergleichen – hatte sich geändert; es war wohl noch schön und klar, aber drückend heiß, denn ein Gewitter brütete in der Luft und ließ sie erschlaffend auf den Fluren und Wäldern ruhen. Man brauchte nicht abergläubisch zu sein, um dabei an ein drohendes Unheil zu denken. Und als ich daheim vom Pferde stieg und Livia mir mit Gruß und Frage nach dem Vater herzlich entgegenkam, war das erste Wort, das ich darnach von ihr vernahm, ein leises: „Deine Mutter ist seit gestern Abend wieder hier, Felix.“ – Mein Herz zog sich zusammen, das Stillleben mit seinem Glück und Frieden war also nun auch äußerlich schon zu Ende.

Ich hatte damals ein Recht, so zu fürchten und zu denken, ich habe jetzt das Recht, so zu sagen, denn es war zu Ende. Ich kann nicht in Einzelnheiten gehen, ich kann Euch nicht von der Mutter und ihrem Wesen, von unserem Leben mit, neben und unter ihr erzählen. Der Friede und die Behaglichkeit waren fort, wir Familienglieder gingen gelangweilt oder verdrossen umher, die Dienstleute zeigten keine zufriedenen Mienen mehr, sondern nur noch scheue und vorsichtige. Und dennoch wäre es ungerecht, zu sagen, daß die Mutter dies Alles direct verschuldet habe, im Gegentheil war sie gegen alle Welt und auch gegen mich freundlicher, milder und humaner, vor Allem weniger steif, als ich sie jemals gekannt und zu finden gehofft, obschon damit natürlich nicht gesagt ist, daß sie sich gänzlich verändert oder auch nur von ihren hervorstechenden Eigenheiten gelassen habe. Gegen Livia zeigten dieselben sich in allerlei schwiegermütterlichen Airs, in einem gewissen Mäkeln und Zurechtweisen, in einem Belehren und Besserverstehenwollen, was das junge Wesen alles mit der besten Manier von der Welt und unendlicher Geduld hinnahm. Trotzdem war von Mißwollen gegen die Schwiegertochter keine Rede; vielmehr liebte die Mutter sie anscheinend mit aller ihr möglichen Zärtlichkeit, wollte sie stets in ihrer Nähe haben oder selber bei Livia bleiben, ließ sie nie aus den Augen – um es kurz zu sagen: ich sah meine Cousine so gut wie gar nicht mehr allein. Und da wir an einem der folgenden Tage dennoch einmal einen langen Spaziergang in den Wald gemacht und zurückkehrend der uns entgegenkommenden Mutter begegneten, schickte diese Livia zum Knaben hinein und hieß mich sie selber ein Stück begleiten.

„Mein Kind,“ sagte sie, als Livia vor uns im Berceau verschwunden war, und ihr Ton und ihre Stimme waren hoch, „ich weiß nicht, wie Du bist. Die leichten Sitten der Fremde sind hier zu Lande, wenigstens bei uns in Hohensee, noch nicht daheim, und es compromittirt in manchen Augen eine junge Frau, wenn sie mit einem ebenfalls jungen Manne lange einsame Wege macht. Obendrein ist sie Deine Schwägerin, die Gemahlin Deines abwesenden Bruders, uns zum Schutz und zur Aufsicht anvertraut, und Du –“ – „Und ich,“ fiel ich ihr in’s Wort, denn länger ließ mich Stolz und Zorn nicht schweigen, „und ich, Mutter, habe meines Wissens von den Sitten der Fremde nichts in mir aufgenommen und nichts von ihnen gezeigt, da wir hier nicht in der Türkei leben, wo es schon ein Verbrechen, wenn man eine andere als die eigene Frau nur anzusehen wagt, und wo ein solcher Blick des Fremden auch der Frau selber zum Verbrechen angerechnet wird. Ich glaube auch nicht, daß Livia selbst sich ähnliche Prätensionen und Beschränkungen gefallen lassen würde, am wenigsten mir gegenüber. Denn Du weißt doch, daß sie meine Cousine war, lange bevor sie meine Schwägerin wurde, und daß ich sie damals mindestens ebenso herzlich lieb gehabt, ebenso ungenirt mit ihr verkehrte, wie jetzt, ohne daß sie dadurch compromittirt worden wäre, selbst wenn ich sie jetzt noch unverheirathet wiedergefunden und den alten Verkehr erneuert hätte, wie es nun geschah.“


(Schluß folgt.)



[741]
Ein oberfränkisches Landschaftskleeblatt.
Von L. Storch.
Nr. 2.0 Das Schloß eines deutschen Reichsgrafen.

Wie das jetzt größtentheils zu dem Königreich Baiern gehörige Land Franken eins der schönsten in Deutschland ist, so war die fränkische Ritterschaft eine der reichsten und mächtigsten in Deutschland, und noch heute schmücken viele ihrer Dynastensitze seine Berge und Hügel und die Ufer seines großen Stroms, des Mains. Zu den am treuesten gepflegten gehört das Schloß Thurnau, das noch jetzt die Residenz der in Baiern hochangesehenen Grafen Giech ist. Zu ihm lenken wir heute unsere Schritte.

Schon die äußere Erscheinung des großartigen und stattlichen Grafenschlosses regte mich ungemein an, als wir die Anhöhe in Mitte des Städtchens, an welcher es sanft emporsteigt, hinauf schritten; denn das feste Haupteingangsthor ist oben; insbesondere ist es die verschiedene und unregelmäßige Bauart, die auf jeden poetischen Sinn einwirken muß, zumal wenn er von der nüchternen Regelmäßigkeit der modernen Bauart vorher gelangweilt worden ist. Schon im Thorhause wehte uns wieder jener freundliche Geist geregelter maßvoller Ordnung, auf’s Innigste verbunden mit natürlichem Schönheitssinn, der uns beim Betreten der Marken Thurnaus und noch mehr im Orte selbst so gemüthlich begrüßt hatte, nur in erhöhter Stärke und Lieblichkeit entgegen, und er potenzirte sich gleichsam mit jedem Schritte, den wir über den geräumigen, mit einem großen und im Styl des vorigen Jahrhunderts ornirten Brunnen geschmückten Hof dem heitern Wohngebäude der gräflichen Familie zu machten. An und neben der grotesken und pittoresken Eigenthümlichkeit der verschiedenartigen Architektur ist es überall die ungesuchte und nichts weniger als pedantische Sauberkeit, die das Auge vergnügt, wohin es sich wendet. Auf dem Hofe beginnen schon die Zusammenstellungen archäologischer Sculpturen und Bildwerke monumentaler Ornamentik, die in irgend welcher Beziehung zur Geschichte und Biographik des Grafenhauses stehen.

Schloß Thurnau.

Das Schloß ist eins der größten und ältesten kleiner Dynasten in Franken und bildet ein unregelmäßiges mit acht Thürmen geziertes Viereck. Drei umfangreiche Höfe geben eine Vorstellung von der Ausdehnung dieser echten Burg. Sechs bis sieben und wohl noch mehr Jahrhunderte haben daran gebaut und jedes ihm seinen eigenthümlichen Baustyl aufgeprägt. So hat man eine wahre Musterkarte der Geschichte der Baukunst vor sich, von der hochragenden thurmartigen und auf einen zu Tag stehenden Felsen fußenden Kemnate aus dem 12. Jahrhundert, dem „Haus auf’m Stein“,[1] bis auf den neuesten Bau aus dem vorigen Jahrhundert. Doch datirt der Ausbau des Schlosses, wie er jetzt ist, zumeist von der Mitte des 16. Jahrhunderts an; denn im Bauernkriege wurde das Schloß, wie so viele fränkische Edelsitze, ausgebrannt und verwüstet. Es war ein origineller Gedanke der Pietät des jetzt regierenden Grafen gegen seine Vorfahren, den Namen eines jeden Gebäudes – und jedes hat einen besondern – und seines Erbauers, sowie die Zeit seiner Entstehung mit kalligraphischen Lettern in die Wand einhauen zu lassen. So trägt das interessante Schloß seine Geschichte in Lapidarstyl gleichsam an der Stirn.

Graf Giech, bei dem wir uns hatten anmelden lassen, trat uns als eine jener edlen einfachen Persönlichkeiten entgegen, die sich dem Blick des Menschenkenners sogleich als Träger des Genius kund geben, als Besitzer scharf ausgeprägter Individualität und der harmonischen Verbindung gleich starken Geistes- und Gemüthslebens, wie wir sie nur bei hervorragenden deutschen Naturen [742] finden. In seiner „gastlichen Gestalt“ kündigt sich ein gewinnendes patriarchalisches Wesen an, das uns sagt: dies ist ein Mann von der freilich nicht häufigen deutschen Adelstrinität, der Geburt, des Geistes und der Seele. Auch an ihm bewährt sich die alte und doch immer so wenig begriffene Wahrheit, daß alle bedeutenden Menschen schlicht und einfach sind.

Es ist dies derselbe Mann, der zu einer Zeit in Baiern offen und ehrlich die Wahrheit zu sagen wagte, wo der Renegat Karl Abel als Minister durch ultramontane Ueberschwenglichkeiten die freisinnigen Aeußerungen seiner frühern Wirksamkeit vergessen zu machen suchte, und wo es Niemand wagte die kirchlichen Neigungen des Königs Ludwig zu alteriren. Damals hatte Graf Giech durch seine würdige Sprache als Vertheidiger des in Baiern bedrohten Protestantismus und durch sein männliches Handeln meine Bewunderung, Begeisterung und Ehrfurcht erregt, und ich hatte in seinen „Ansichten über Staats- und öffentliches Leben“[2] einen wahren Schatz gediegnen Gedankengoldes entdeckt, und wenn ich später die Namen „Giech und Schön“ zusammengestellt fand, so hatte ich diese Verbindung, als eine gerechte, würdige und wahre, mit voller Seele begrüßt. Es ist für manche untergeordnete Geister ein unabweisbares Bedürfniß, Männern, die sich um die Entwicklung der Menschheit, um das Gedeihen des Vaterlandes durch Geistesklarheit, Gemüthswärme, Freimuth in Wort und That und richtige Beleuchtung der Verhältnisse mit der Fackel der Wahrheit bleibende Verdienste erworben haben, mit unbegrenzter Hingebung zu lieben und zu verehren und mit Befriedigung in Jenen aufzusuchen, was ihnen selbst abgeht. Zu diesen liebenden Geistern gehöre ich. Mein Wahlspruch ist jenes kleine deutsche Gedicht – so echt deutsche Geistesblüthe, daß man nicht weiß, ob sie in Goethe’s oder Schiller’s Garten wuchs; denn Beide haben sie als ihr Eigenthum beansprucht:

Immer strebe zum Ganzen, und kannst Du selber kein Ganzes
Bilden, als dienendes Glied schließ an ein Ganzes Dich an.

Deshalb war mir Graf Giech eine so ungemein interessante Persönlichkeit.

Der Graf führte uns selbst durch die weiten hellen Räume seines Schlosses, um uns die von ihm zusammengebrachten wissenschaftlichen und Kunstsammlungen zu zeigen und zu erklären; denn das Grafenschloß zu Thurnau ist bekanntlich ein kleines und in vieler, namentlich historischer Beziehung ein höchst merkwürdiges Museum.

Welche köstlichen Stunden hohen geistigen Genusses verlebten wir! Die Sammlungen, über deren Haupteingang mit großen Buchstaben folgende Stelle aus dem Giech-Hausgesetz (vom 5. März 1855) zu lesen ist: „Wir legen es Unsern Nachkommen an das Herz, nicht abzulassen von dem Bestreben, die schriftlichen und andern Zeichen und Denkmale des Lebens und des Wirkens ihrer Vorfahren zu erforschen, zu sammeln und zu erhalten,“ bestehen:

1) in einer an 20,000 Bände starken reichen Bibliothek, zumeist historischen, philosophischen, juristischen, staatsrechtlichen und staatsökonomischen Inhalts. Die Büchersammlung ist in einem hellen freundlichen Saale höchst zweckmäßig aufgestellt und auf das Sorgfältigste geordnet und katalogisirt. Ihr vorzüglichster Werth besteht darin, daß eben die neuesten Forschungen auf den verschiedenen wissenschaftlichen Gebieten reich vertreten sind. Als bibliologische Seltenheit verdient das durchschossene und um des Dichters eigenhändigen Emendationen versehene Handexemplar von Schiller’s Geisterseher genannt zu werden.

2) in einem nicht minder reichen Archiv und einer Urkundensammlung. Wie sämmtliche Sammlungen zunächst in einer bestimmten und klar ausgesprochenen Beziehung zur Geschichte des gräflichen Hauses stehen, so insbesondere die Urkunden. Aber indem der Ordnungssinn des Grafen in einem von ihm für seine Nachkommen aufgestellten „Hausgesetze“ seiner Pietät für seine Vorfahren ehrenvolle Rechnung trug, hatte er zugleich die Wichtigkeit der Urkunden und andrer Ueberreste des Alterthums für die allgemeine deutsche Geschichte im Auge. Außer den Schriftstücken und Antiquitäten, welche sich auf die ehemaligen Besitzer von Thurnau, das im 16. Jahrhundert ausgestorbene Geschlecht der Foertsch beziehen, von welchem das Haus Giech die Herrschaft Thurnau in Folge ehelicher Verbindung mit einer Foertschischen Tochter theilweise ererbte, sind vorzüglich die von allgemeinem Interesse, welche der Geschichte zweier österreichischer Adelshäuser, der Freiherrn Praunfalck und der Grafen Khevenhüller, angehören, die, des Protestantismus wegen aus Steyermark und Kärnthen unter Kaiser Ferdinand II. vertrieben, in Franken, vorzüglich in Nürnberg, eine neue Heimath begründeten und sich mit fränkischen Adelshäusern, namentlich dem der Giech, verschwägerten. Die Geschichte dieser österreichischen Exulanten, nicht nur für Kirchengerichte, sondern auch für die Culturgeschichte überhaupt von Wichtigkeit, die sich neuerdings durch das endliche Aufgeben des alten verderblichen Regierungssystems in Oesterreich und die Gleichstellung der protestantischen mit der katholischen Kirche erhöht hat, kann eigentlich nur mit gewissenhafter Benutzung der Urkunden im Schlosse zu Thurnau geschrieben werden, und so viel mir bekannt worden ist, werden schon die Anstalten dazu gemacht.

Ein viertes mit dem Hause Giech nah verwandtes, im Nordgau, in der Nähe von Nürnberg, reich begütert gewesenes Geschlecht, das der Grafen von Wolfstein zu Obernsulzburg und Pyrbaum, ist ebenfalls im Archiv stark vertreten. Ein künftiger Geschichtsschreiber der deutschen Specialgeschichte, beziehentlich der deutschen Adelshäuser wird in der Giech’schen Urkundensammlung reiches und kaum anderswo zu findendes Material zur Benutzung antreffen.[3]

3) in einer an 200 Bilder reichen Sammlung von Familienportraits, in einem Ahnensaal aufgestellt, von denen nicht wenige als Kunstwerke, andere wegen der Trachten wichtig, alle von relativem Werthe in Bezug auf die Localität.

4) in einer Sammlung von zum Theil kostbaren Jagdgewehren von den ältesten Schießwaffen bis auf unsre Zeit, 250 Stück. An den Wänden schöne Geweihe von Hirschen und Rehen, über 300 Stück.

5) in einer Sammlung von Ritterharnischen, Pickelhauben und Waffen aus der Ritterzeit. Das Interesse an diesen Stücken wird durch den Umstand sehr erhöht, daß sie Erbgüter der Familie sind, nicht gekaufte Waare. Man sieht Schilde und Tartschen, Lanzen, Panzerhemden, Hellebarden, auch einige türkische Waffen, welche nach sichern Quellen von gräflich Khevenhüller’schen Familiengliedern bei Einfällen der Türken in Kärnthen erbeutet wurden. Das Hauptstück ist ein ciselirter, mit Goldarabesken eingelegter Stahlharnisch, wie mit Grund angenommen werden kann, ein Geschenk des Kaiser Matthias an einen Grafen Khevenhüller.

6) in einer höchst werthvollen und bedeutenden Sammlung von Majolikageschirr, Schüsseln, Tellern, Vasen, Schalen, Aufsätzen, an 120 Stück, nebst einer kleinern Sammlung alterthümtichen Porcellans, und einer andern von Glas, Pokalen, Trinkgläsern und anderen Geschirren. Die Bemerkung drängt sich auf, aus wie vielerlei Geschirr die ritterlichen Vorfahren zu zechen liebten; man erstaunt über die Mannigfaltigkeit.

8) in einer großen Siegelsammlung vom 14. bis zum 17. Jahrhundert, kaiserliche und erzherzoglich österreichische, Siegel von zahlreichen Adelshäusern, Klöstern, Städten, Behörden etc. An allen sind die Pergamenturkunden noch befestigt. Daran reiht sich

9) eine Sammlung Giech’scher Amts- und Familien-Siegel (Petschafte). Zuletzt ist

10) die viel umfassende, in verschiedenen Zimmern placirte und in mehrfache Abtheilungen zerfallende höchst bedeutende Curiositätensammlung zu nennen. Da sehen wir denn bald eine beträchtliche Anzahl alterthümlichen Hausraths, besonders werthvoller und künstlich gearbeiteter Schränke und Truhen, in welchen zum Theil die einzelnen Sammlungen passend untergebracht sind, bald eine Sammlung interessanter, zum Theil seltsamer Tabakspfeifen, als Nachlaß früherer Generationen der Familie, bald eine respectable Zahl geschnitzter Heiligenbilder aus dem 15. und 16. Jahrhundert, bald eine Reihe von aus Hünengräbern und Giech’schen Schlössern ausgegebenen Gegenständen, Urnen, Waffen etc. nebst anderm alterthümlichen Zierrath der verschiedensten Art. Dahin gehört eine besonders für Damen interessante Sammlung alter Nippes, Putzgegenstände und Ordenszeichen, deren Werth durch die Angabe erhöht ist, von wem sie herrühren, wer sie getragen etc.; ferner eine nicht unbedeutende Sammlung von Autographen, zum Theil in Glaskästen liegend. Neben Friedrich des Großen (der sich [743] stets „Federic“ unterzeichnet) zierlicher Handschrift stechen Ernst Moritz Arndt’s kühngeschwungene Schriftzüge in’s Auge. Die Verehrer Arndt’s werden auch seinen Stock, den er bis zu seinem Tode führte, mit Interesse betrachten. Von der Wittwe des Dichter als Andenken an ihn, der dem Grafen Giech befreundet gewesen, in die Sammlung verehrt, erhöht sich sein Werth, daß er, ein von Arndt im eigenen Garten gezogener junger Eichenstamm, von diesem eigenhändig abgeschnitten wurde. Ein schwarz-roth-goldenes Band ist um ihn geschlungen. Ferner eine Kupferstich- und Holzschnittsammlung von zum Theil sehr werthvollen Blättern. Eine in einem Thurme befindliche Sammlung von Petrefacten, welche die Jurakalk- und Keupersandsteinformation enthält, hat auch, was Franken an Quarzen, Kalkspathen, Eisenerzen etc. besitzt. Endlich ist noch eine Urkunden- und Druckschriftensammlung zur Geschichte des dreißigjährigen Kriegs zu erwähnen.

Das Kostbarste unter den Werthgegenständen der Curiositätensammlung ist in aufsteigender Linie ein aus Elfenbein sehr zierlich geschnittenes Schiff, Kunstwerk aus dem Anfange des 17. Jahrhunderts; ein silbernes und vergoldetes Trinkgeschirr in Form eines Mörsers auf einer Lafette. (Mir fiel dabei das alte Studentenlied ein:

„Lasset die feurigen Bomben erschallen,
Piff, paff, puff, piff, trallerallera!“)

Ein großes Trinkhorn mit vergoldeten und gravirten Silberreisen. Ein anderes 1½ Fuß hohes silbernes und reich vergoldetes Trinkgeschirr oder vielmehr Tafelaufsatz, den Ritter St. Georg als Drachentödter vorstellend, wahrscheinlich ein Denkmal des früher in Kärnthen bestandenen St. Georgenordens und Kunstwerk eines Goldschmieds aus Benvenuto Cellini’s Schule, wenn nicht gar von diesem selbst. Endlich vier Hautelissetapeten, von welchen die erste wegen ihres hohen Kunstwerthes die Krone dieser Sammlung bildet. Kunstwerk eines niederländischen Teppichwebers aus dem 16. Jahrhundert, nach dem Carton eines vorzüglichen Meisters aus Raphael’s Schule, 8 Fuß hoch und 13 Fuß breit, prangt sie in reichster Kunst- und Farbenschöne, hat aber in Bezug auf ihre zweifelsohne mythologische Darstellung noch nicht erklärt werden können. Die übrigen drei Tapeten sind von genealogischer Bedeutung für die gräfliche Familie Khevenhüller, indem sie wie auf Votivtafeln neben oder an dem Fuße einer Scene aus der heiligen Geschichte die Gestalten der Donatoren mit ihren Kindern in ganzer Figur mit unverkennbarer Portraitähnlichkeit darstellen.

Eine Menge sehr werthvoller und interessanter Gegenstände, namentlich im Bibliotheksaal, hat hier des Raumes Wegen nicht namhaft gemacht werden können. Sind doch die genannten schon hinreichend, zu einem Besuche des Grafenschlosses in Thurnau anzuspornen. Nachdem wir die genußreiche und belehrende Schloßreise vollbracht, zog es mich mit magischen Banden in den Park, dessen prachtvolle Baumwölbungen mir schon lange verlockend zugewinkt hatten. Vorher aber und gleichsam zur Vorbereitung auf den neuen von dem zeitherigen so verschiedenen und doch nicht minder poetischen Genuß legte uns der Graf ein Gedicht von Taubmann auf Thurnau und seine Umgegend vor. Es ist die einzige poetische Verherrlichung, welche Thurnau erfahren, und es wäre doch werth, daß unsere größten Dichter es besungen hätten. Und noch dazu ist die poetische Beschreibung des so echt gemüthlich deutschen Thurnau – lateinisch! Doch hat der bekannte geistliche Liederdichter Albert Knapp, der kurz vor uns Thurnau besuchte, eine vortreffliche Übersetzung davon gemacht. Es zählt nur wenige Verse, aber sie sind von der süßesten Erinnerung einer schönen Dichterseele an seine reizende Geburtsheimath dictirt. Wir lasen es mit Vergnügen und betraten dann mit gespannter Erwartung den Schloßgarten, in seiner Art so schön und so reich, wie das Schloß in der seinigen. Wir eilten die sanfte Anhöhe hinauf und traten in die Domwölbung der prächtigen, über anderthalb Jahrhunderte alten Lindenallee, welche den untern Theil des ziemlich ausgedehnten Parkes durchschneidet. Im höchsten Grade überrascht und hingerissen, brach ich in einen Jubelschrei aus, einen Naturlaut, der die Stelle eines begeisterten Gedichtes vertrat. Diese Lindenallee hat einst Jean Paul zu dem originellen Ausspruch angeregt, „sie sei würdig, daß Fichte in ihr als dem stolzesten Laubdome Deutschlands seine Reden an die deutsche Nation gehalten hätte.“

Wie wir auch den Garren nach allen Seiten hin durchstreiften, wie wir uns auch in den an üppiger exotischer Pflanzenpracht so reichen Gewächshäusern ergötzten, wie wir die reizend schattirten Berghöhen und Thäler ringsum auf uns einwirken ließen, immer kehrte ich doch zu erneutem Genuß in die Lindenallee zurück. Und wieder war es auch im Garten, wie im Schlosse, wie im Städtchen und der nächsten Umgegend, jener wohlthuende Geist der Ordnung, der Sauberkeit, der Keuschheit und des Friedens, der wie ein süßer poetischer Hauch verklärend über dem Ganzen liegt und schöne Kunde giebt von der antiken Ruhe und deutschen Gemüthstiefe des Mannes, von dem er ausgegangen.

Es wurde noch berichtet, daß Wilhelm von Humboldt in seinen berühmten „Briefen an eine Freundin“ Thurnaus und seines Grafenschlosses erwähnt, dessen Gast er 1828 war. Damals war Graf Hermann von Giech Besitzer der Herrschaft, dessen Gemahlin eine Tochter des großen Stein.




Die Zerstörung der deutsch-amerikanischen Stadt New-Ulm durch die Indianer.
(Original-Bericht.)

Der Leser dieses Blattes wird zweifellos in den jüngst vergangenen Monaten von dem Aufstande der Indianer in Minnesota (Nord-Amerika) gehört und gelesen haben. Bereits brachten verschiedene deutsche Zeitungen die traurigsten Nachrichten von dort über den Ocean in unser glücklicheres Vaterland, doch waren sie weniger ausführlich, und erst jetzt geben Privatnachrichten nähere Kunde über die dort stattgehabten Ereignisse, vor allen über die gänzliche Zerstörung der Stadt New-Ulm. Möge daher der nachfolgende Bericht eines jungen Deutschen, der vor 3 Jahren von Pennsylvanien, wo er 8 Jahre gelebt, nach Minnesota auswanderte und der die Schreckenstage in New-Ulm mit durchgemacht, hier eine Stelle finden. Derselbe lautet also:

Die Stadt New-Ulm mit 1400 meistentheils aus Deutschen bestehenden Einwohnern, eine der blühendsten Städte in Minnesota, wurde im August d. J. 1802 durch die Indianer zerstört. – Es ist dem deutschen Leser vielleicht nicht ohne Interesse, wenn ich – bevor ich den Aufstand der Indianer mit seinen traurigen Folgen schildere – einige Worte über den auswärts noch wenig gekannten Staat Minnesota im Allgemeinen voranschicke.

Minnesota, eine jetzt bereits von der Cultur theilweise eroberte Provinz, liegt, begrenzt von Canada, Iowa, Nebraska und Wisconsin, im fernsten Nordwesten Nord-Amerika’s, und war noch vor wenigen Jahrzehnten eine fast vollständige Wildniß, bewohnt von drei mächtigen indianischen Nationen verschiedenen Stammes, den Chippeways, Sioux und den Dacota’s, deren Ueberreste jetzt noch, auf ein kleines Gebiet beschränkt, an den Grenzen des Staates hausen. Noch vor wenigen Jahrzehnten war der weiße Mann in Minnesota nur ein gelegentlicher Besucher, und die Urgeschichte des Landes und seiner ältesten Bewohner ist diejenige eines unaufhörlichen Kampfes der bedeutendsten Stämme um seinen Besitz, eines Kampfes, von dessen mannigfaltigen Wechseln und Heldenthaten nur noch die indianische Sage meldet.

Französische Pelzhändler und Abenteurer, bald auch Verkündiger des Evangeliums waren die ersten Europäer, die sich vor zwei Jahrhunderten in die Wildniß am obern Mississippi wagten. Frankreichs Flagge wurde 1689 durch Nicolas Perrot hier aufgepflanzt, doch 1763, im Frieden zu Versailles, trat Frankreich jene Gegenden und die dort angelegten Forts an England ab, dessen Herrschaft wiederum 1815 dem nordamerikanischen Sternenbanner wich. Jetzt erst drang die Cultur in das Land, sie hielt mit dem ersten Dampfboote „Virginia“ ihren Einzug und blieb nur so lange noch unsicher, als die untereinander in mörderischem Kriege begriffenen [744] Indianer ihr Land an die Regierung noch nicht vertragsmäßig abgetreten hatten.

Dies geschah nach und nach seit 1837, wo die Vereinigten Staaten zunächst ein durch reiche Fichtenwaldungen ausgezeichnetes Gebiet erhandelten, auf welchem bald zahlreiche Sägemühlen angelegt wurden. Endlich wurden 1847 mit allen drei Stämmen Verträge abgeschlossen, wornach sie alles Land am obern Mississippi und das herrliche Minnesota-Thal, zusammen gegen 3,000,000 Acker trefflichen Landes, gegen eine Jahresrente auf einige Jahrzehnte verschleuderten. Als lachende Erben nahmen bald zahlreiche weiße Ansiedler den fetten Boden zu 1¼ Dollar den Acker in Besitz, und bald machte sich Cultur und Unternehmungsgeist in immer neuen Einrichtungen geltend. Kirchen und Schulen wurden, wenn auch einstweilen nur als Blockhäuser, angelegt, wissenschaftliche Vereine gegründet, 1849 entstand selbst eine Zeitung.

So sahen wir denn den jungen Staat immer mehr und mehr sich heben, und die Bewohner der immer größern und blühendern Ansiedelungen – glücklich bei wachsendem Wohlstande, hatten die größte Ursache, sorgenfrei der Zukunft entgegen zu sehen, als – ein Schlag sie traf, unvorbereitet, wie ein Blitz aus unumwölktem Himmel! Es war dies der Aufstand der Indianer! Die Sioux nämlich, die nächsten Nachbarn von New-Ulm, meines damaligen Wohnortes, durch jahrelangen Handel mit uns befreundet und verbunden, vergaßen plötzlich die Bande, welche sie an unsere Regierung fesselten, und verübten Gräuelthaten, welche ihre sichere und gänzliche Vertilgung nach sich ziehen müssen und werden.

Die Ursachen dieser Empörung nun sind so mannigfach und dunkel, daß nur eine der natürlichsten und deshalb glaubwürdigsten hier genannt werden kann. Die Agenten der Regierung hatten, anstatt ihrer Pflicht nachzukommen und den Indianern ihr Jahrgeld pünktlich auszuzahlen, schon seit Jahren sich nicht allein die größte Nachlässigkeit in diesen ihren Pflichten, sondern auch Betrug zu Schulden kommen lassen und dadurch einen Zündstoff des Unwillens unter denselben angehäuft, der nur des Funkens bedurfte, zu explodiren und die Grenz-Counties von Minnesota mit Blut zu tränken. Dazu kommt, daß man bereits seit längerer Zeit südliche Emissäre unter den Indianern gesehen haben will, deren Zweck es gewesen, die Stämme aufzuregen und mit Waffen zu versehen. Brown-County mit der Stadt New-Ulm hat am meisten darunter gelitten, und das Schicksal dieser eben noch so blühenden deutschen jungen Stadt hat sich bereits erfüllt. Trotz der langen heldenmüthigen Vertheidigung mußte es nach einem letzten blutigen Kampfe den Wilden überlassen werden, die bis zu der Zeit, wo ich dieses schreibe, lange das, was von der Stadt übrig geblieben war, zerstört haben, sodaß nur Asche und Trümmer die Stätte bezeichnen, die eben noch der Wohnplatz von Hunderten glücklicher Familien, die Scene der Betriebsamkeit und erfolgreichen humanen Strebens war. So furchtbar ist dieser Schlag, so entsetzlich die Zerstörung von Habe und Gut und Menschenleben, die er verursacht, daß man auf die Frage: „Wann wird New-Ulm wieder erstehen aus der Asche?“ keine Antwort hat.

Kommt die Zeit, wo wir unsere Thränen über die, welche unter der Mordwaffe der Indianer geblutet, trocknen, dann wird Noth und Hunger neue auspressen. Dort nun sind die gesegneten Fluren verödet, getränkt zum Theil mit dem Blute der Besitzer, die Ernte verfault auf den Feldern, und die Tausende, die den Ertrag ihrer Arbeit aus wohlgefüllten Scheunen hatten zu Markte bringen können, werden für ihren Unterhalt auf Andrer Hülfe angewiesen sein. New-Ulms Fall ist aber ein Unglück, das auch den ganzen Staat betrifft, und da die Grenzlande von Minnesota mit ihren blühenden Ansiedelungen, von denen New-Ulm der äußerste Posten war, das Asyl für Heimathsuchende in allen Staaten bildeten, ein Unglück, das über das ganze Gebiet der Union sich fühlbar machen muß. Jetzt ist der schönste Theil, der Garten von Minnesota, verödet, Millionenwerth von Eigenthum der Vernichtung verfallen, Hunderte hingemetzelt, im Norden des Staats die gleiche Gefahr im Anzuge und noch kein Ende abzusehen. Die ersten Nachrichten über die Empörung der Indianer lasen wir am 12. August, wo ein Inserat der Minnesota-Zeitung also lautet:

„Am Anfang der Woche wurde die Hauptstadt St. Paul vom Norden her alarmirt. George W. Sweet, ein Abgesandter des Häuptlings Hole-in-the-Day, kam am Sonnabend direct von Crow-Wing hier an und brachte die Nachricht, genannter Häuptling habe eine Proclamation erlassen, worin er erklärt, daß er nach Dienstag den 19. August nicht mehr für seine Leute einstehen könne, daß mithin die Ansiedler am besten thäten, ihre Haut vor dem genannten Tage in Sicherheit zu bringen, das Gleiche sei von Haufen von Chippeways und Sioux den Ansiedlern bei Sunrife angedroht. Es wird ferner versichert, daß beide genannte Stämme ein Bündniß geschlossen und ihre Streitkräfte bei St. Cloud zusammenstoßen sollen. Die Sioux arbeiten sich nach dem Chippeway-Territorium durch, und sobald sie sich vereint haben, mag der Tanz losgehen. Beide Stämme verlangen Revidirung der Verträge und aller Verhandlungen mit ihnen seit mehreren Jahren und werden überhaupt der Regierung solche unverschämte Forderungen stellen, daß an eine Bewilligung nicht zu denken und der Krieg unvermeidlich ist.“

Noch beunruhigender wirkte auf uns eine zweite Nachricht, die sich unter demselben Datum in dem genannten Blatte fand:

„Depeschen von Fort Abercrombie melden, daß schon das Land am Redriver von Indianern heimgesucht worden. Die kleine Ortschaft Breckenridge wurde von ihren Bewohnern verlassen, die nach Fort Abercrombie ihre Zuflucht genommen haben. Man fand in Breckenridge die Leichen von drei Ermordeten. Capitän von der Hork, Platzcommandant von Fort Abercrombie, hat die Besatzung von Georgetown – eine Compagnie – nach dem Fort gezogen.“

Es war nur den Ungläubigsten vorbehalten – Leuten, die sogar bei drohendsten Gefahren an nichts zu glauben pflegen – erst durch das Hereinbrechen einer wirklichen That aus ihrem Unglauben aufgerüttelt zu werden; sie wurden dies durch die Schreckensnachricht, die am Nachmittage des 16. August sich plötzlich in New-Ulm verbreitete. – Antoine Frenier, einer von dem kühnen Geschlechte der Coureurs de bois, ein Canada-Franzose, der seit vielen Jahren, im Dienste der Indianerhändler stehend, sich eine genaue Bekanntschaft mit den Indianern und ihrem Charakter angeeignet, ja fast selbst zum Indianer geworden, erschien plötzlich in der Stadt und überbrachte dem Sheriff die Kunde, daß die Indianer im Aufstande begriffen und in Brown-County – zu dem auch unsere Stadt gehört, bereits die gräßlichsten Gräuelthaten verübten. Er selbst habe es unternommen – gemalt und herausgeputzt, wie ein Dacota-Krieger, nach den Massacres in Fort Bidgley und Redwood, durch die Schaaren der entmenschten Feinde hindurch zu dringen, den Schauplatz ihrer Gräuelthaten zu besuchen und sich wo möglich mit der Garnison in Fort Bidgley in Communication zu setzen. Auf seiner Tour sei er am Tage bis auf fünf Meilen von der obern Agentur gelangt und habe diese in finstrer Nacht erreicht. Er erzählt, daß er buchstäblich eine „Wohnung der Todten“ gefunden habe, denn selbst die blutgierigen Mörder hätten die grausige Stätte verlassen. Sämmtliche Bewohner seien auf das Schrecklichste verstümmelt und hätten todt in den Häusern, auch theilweise auf den Thürschwellen, theilweise auf den Höfen gelegen.

Unsere unglücklichen Einwohner sollten indeß tropfenweise den bittern Kelch leeren, ehe auch über uns das entsetzliche Geschick hereinbrach, denn kaum war die Schreckenskunde des tapfern Frenier von Haus zu Haus geeilt, als ein Trupp Flüchtlinge auf schaumbedeckten Pferden andere, noch schrecklichere Nachrichten überbrachten. Sie waren die Ueberbleibsel einer Gesellschaft von zwanzig Personen von einer in der Nähe von St. Cloud liegenden norwegischen Ansiedlung Norway Lake. Diese Gesellschaft hatte Tags vorher einer religiösen Versammlung beigewohnt und war auf dem Heimwege zu ihren Wohnungen von mehreren Haufen Indianern angegriffen worden, von denen einige zu Pferde, einige zu Fuß waren. In kurzer Frist waren vierzehn der unglücklichen wehrlosen Menschen niedergemetzelt. Sie nannten die Opfer als drei Brüder Lomberg, der jüngste 20, der älteste 25 Jahre alt, drei Brüder Broback, deren zwei verheirathet, und die Frauen und Kinder der Letztern. Man fand die Leichen der Gemordeten auf das Allerfürchterlichste zerstümmelt. Etlichen waren die Nasen, Andern die Ohren, Anderen Backen und Finger abgeschnitten. Ein junges Mädchen, Mary Croll, das man auf einen Pony gesetzt hatte, um es zu entführen, ward dadurch gerettet, daß durch sein entsetzliches Hülfegeschrei das Pferd scheu wurde und die Reiterin im dichten Gebüsch abwarf, der es dann gelang, sich vor den rothen Bestien zu verstecken und später, mit den Uebrigen vereinigt, bis zu unserer Stadt zu entkommen. Die Indianer raubten aus der wohlhabenden Ansiedlung 44 Ochsen, zwei mit Beute aller Art beladene Wagen und gegen 2000 Dollars in Gold.

So stieg die Aufregung der Bewohner New-Ulms von Stunde zu Stunde, und als am Montag Nachmittag ein Eilbote die Nachricht [745] brachte, daß in Milfund Township, acht Meilen von hier, die Indianer soeben eingebrochen, ihr blutiges Handwerk dort begonnen, und eine andere Abtheilung auf dem Wege hierher nach New-Ulm sei, trat sogleich die ganze wehrfähige Mannschaft unter die Waffen. Mir gab der Sheriff die erste Nachricht von der nahen Gefahr gegen zwei Uhr Nachmittags, und sogleich nahm ich meine zitternde Frau und meine drei Kinder und brachte sie nach dem Mittelpunkt der Stadt in ein Backsteinhaus, und somit in verhältnißmäßige Sicherheit. In immer größeren Schaaren kamen im Laufe des Nachmittags die Flüchtlinge an und erhöhten durch ihr Jammergeschrei die Angst und Verzweiflung der Unsrigen. Barrikade auf Barrikade wurde gebaut! Scheunenthüren, Wagen, Steine, Alles diente zur Verrammelung der Eingänge der Stadt; Jeder half – Männer, Frauen, Kinder, Greise, Jeder trug etwas herbei. Ein junges, schönes Mädchen, die Königin unserer Tanzvergnügen, Miß Sara O’Kelly, feuerte durch ihr Beispiel selbst die Muthlosesten an, und unter glühend heißen Sonnenstrahlen vollbrachte sie die schwersten Arbeiten zum Schutz der Ihrigen und ihrer Vaterstadt. Der Nachmittag verging in banger Erwartung, und die Nacht brach herein, eine Nacht der Angst und Verzweiflung; doch ging auch sie ruhig vorüber – wenn auch kein Auge sich schloß. Es brach der 19. August an, und früh, fünf Uhr Morgens, riefen die Glocken der Thürme zum Gebet. Auf offenem Platze, inmitten der Stadt, fiel die ganze Einwohnerschaft auf die Kniee, und der Geistliche der Stadt, Superintendent Godell, erflehte im heißen Gebet den Schutz des Höchsten auf die Verzweifelnden herab. Gestärkt nach dem kurzen Gottesdienste trat die Bürgerwehr auf ihre Posten, und Alles war bereit zum Kampfe. So wurde es fast Mittag. – Da plötzlich sahen wir in der Ferne Rauchsäule nach Rauchsäule aufsteigen, und die Kennzeichen der Annäherung der entmenschten Feinde wurden immer unverkennbarer. Ich eilte nochmals nach dem Hause, das meine theuersten Schätze barg, um mir durch ihren Anblick neuen Muth zu holen. Wohl eine Stunde war ich da, da – welch Geschrei – über die Häuser hinweg – welcher Angstruf von Frauen und Kindern! – Ich öffnete das Fenster und reckte den Kopf hinaus und noch gellt mir der Schreckenston in die Ohren, den ich vernahm, noch höre ich das kreischende Geschrei von tausend Stimmen – den Schrei: Die Indianer kommen! Noch einmal drückte ich meine laut weinende Frau an mein Herz, herzte meine Kinder – vielleicht zum letzten Male – empfahl sie der Sorge des Höchsten und eilte hinaus, um meiner Pflicht nachzukommen.

Mit Mühe gelingt es mir, die Treppe zu erreichen, der Andrang zu dem massiven Hause war unglaublich; ich stürze über Alles hinüber, erreiche die Hausthür in dem Augenblick, als die erste Büchsensalve der Indianer die Luft erzittern macht, und – welcher Anblick wird mir! – Dicht an den Stufen der Treppe, die zur Hausthür führt, liegt – von der ersten feindlichen Kugel getroffen, jene Miß Sara O’Kelly – die am Tage vorher so brav und tapfer ihre Kräfte der Vertheidigung der Stadt lieh. In ihren schönen Zügen war bereits der Tod zu lesen, doch athmete ihre Brust noch. Ich beugte mich zu ihr herab – sie erkannte den Freund in mir und bat mit sterbender Stimme, sie zu verbergen und ihren Eltern ihren Tod zu melden. Ich trug sie durch den feindlichen Kugelregen zu dem Hause ihrer Eltern, die schon in der entsetzlichsten Angst über ihr Ausbleiben waren; zu arm und schwach ist die Feder, das Jammergeschrei der Mutter zu schildern, die in ihr das einzige Kind, die Stütze und Freude ihres Lebens verlor. Noch einmal schlug sie in deren Armen ihre Augen auf, dann enteilte ihre Seele, um an Gottes Throne für die Errettung der Ihrigen zu bitten.

Die Indianer hatten ihre Stellung trefflich gewählt. Die Stadt wird nämlich nach Westen von einer kleinen Anhöhe beherrscht, und von diesem Punkte herab sandte die eine Abtheilung ihre tödtlichen Geschosse mitten in die Stadt, während die Hauptmacht am Nordende erschien. Hier wurde sie von zwei Compagnien Bürgerwehr empfangen, die muthig den Eingang von den Barrikaden aus vertheidigten. Zu bemerken ist, daß die Indianer sämmllich mit ausgezeichneten Büchsen bewaffnet waren, während zwei Drittel unserer Leute nur Doppelflinten hatten, eine bei solchem Kampfe fast ganz unnütze Waffe. Die Vertheidigung unserer Stadt wurde unter der trefflichen Leitung von Major Flandran geführt. Er selbst führte eine Compagnie Bürger gegen den Hügel vor, nahm nach kurzem Kampfe den wichtigsten Platz ein und besetzte die dort stehende Windmühle. Der Kampf in der Stadt währte bis zum Abende. Schwere, finstere Gewitterwolken hatten den Horizont umzogen, und tiefe Dämmerung senkte sich auf Flur und Stadt. Schon am Morgen waren Staffetten nach allen Richtungen abgegangen, und mit banger Sehnsucht sah jedes Auge der erbetenen Hülfe entgegen. Da – endlich knattern ferne Schüsse – nochmals – und abermals, und eine aus 60 Mann bestehende Compagnie zu Pferde erreicht im entscheidenden Moment die Stadt, als gerade der Feind, die eintretende Dunkelheit benutzend, theilweise die Stadt umschleicht, eindringt und die von ihm genommenen Häuser in Brand steckt. Mit Hülfe dieser von St. Peter kommenden Mannschaft gelang es uns, den Feind überall zurückzutreiben, und um 8 Uhr Abends waren wir wieder im vollen Besitze der Stadt. Das Gewitter entlud sich mittlerweile in aller Furchtbarkeit, und der niederströmende Regen verlöschte bald die rasch um sich greifende Feuersbrunst. Die Nacht ging ruhig, ungestört vorüber, doch kam kein Schlaf in die Augen der geängsteten Einwohner, die in jedem Heulen des Sturmes das Heulen und Jauchzen der Indianer zu vernehmen meinten. Die wiederkehrende Sonne erst gab den Meisten Muth und Kraft zurück.

Trotz des heißen mehrstündigen Kampfes hatten wir nur acht Todte und zwölf Verwundete, während wir den Verlust der Indianer auf zwanzig bis fünfundzwanzig Todte und circa dreißig Verwundete taxirten. Unsere Todten zu bestatten, war die traurige Arbeit des frühen Morgens, doch ließ uns die beständige Furcht vor der baldigen Wiederkehr der Barbaren keine Zeit zu größerer Feierlichkeit. Ein großes Grab nahm sieben gefallene Helden auf, und nur die liebliche Sara O’Kelly bekam ein eigenes; es war ein feierlicher Augenblick, als die Erde ihre Todten aufnahm und bedeckte, und jetzt bezeichnet nur ein einfach daraufgewälzter Stein die theure Stätte, wo sie ruhen.

Mittwoch, Donnerstag und Freitag ließen uns die Wilden in Ruhe, und Viele gaben sich schon dem Gedanken hin, daß die Gefahr vorüber sei. Es war aber nur eine kurze Frist, ein kurzes Aufathmen, das uns der Himmel gestattete, ehe wir der Uebermacht erliegen und der Untergang New-Ulms erfolgen sollte. Schon brachten Freitags, den 22. August, ausgesandte Boten die schreckliche Nachricht, daß jetzt Chippeways und Sioux sich wirklich verbunden hätten und eine Streitmacht von 800 Mann auf dem Wege nach New-Ulm sei. Ich bekenne unsere Ohnmacht und die Verzweiflung nach diesen auf uns einfluthenden Nachrichten und dem, was unser Auge fortwährend schaute, die immer in Schaaren ankommenden Flüchtlinge von nah und fern. Aufgescheucht von den Zeugen der haarsträubenden Metzeleien, Zeugen, die zum Theil in ihren klaffenden Wunden und verstümmelten Gliedern die gräßlichsten Spuren der Tomahawks der rothen Wütheriche an sich trugen, betäubt und besinnungslos von Schrecken, welche durch das Angstgeschrei der Weiber und Kinder, durch das Bewußtsein der Wehrlosigkeit, durch die Ungewißheit, von wo und wann der Feind komme, vermehrt ward und sich zu kopflosem Entsetzen steigerte, eilten oft halb nackt, immer aber nur mit spärlicher Habe versehen, die Männer der umliegenden Farmen fort von Haus und Heerd, zu deren Vertheidigung sie bereitwillig das Leben in die Schanze geschlagen hätten, wenn nur von irgend einer Seite her eine Hoffnung sich gezeigt, daß der Widerstand gemeinsam und planmäßig geführt werde.

Die Indianer erschienen zum zweiten Male am Sonnabend Morgen und zwar, wie uns richtig gemeldet war, an 7–800 Mann stark. Ich war eben dabei gewesen, unsere werthvollsten Sachen in einen Koffer zu packen, um ihn in die Mitte der Stadt in Sicherheit zu bringen, sah mich darauf nach Hülfe um, ihn fortzutragen, fand aber keine. Da er zu schwer für mich allein war, mußte ich ihn stehen lassen, um nur mein eigenes Leben vor dem schon näher und näher rückenden Feind in Sicherheit zu bringen. Von dem mir anvertraueten Posten konnte ich genau mein stolz sich erhebendes Haus und den dasselbe umschließenden Garten sehen. Es war das erste, von dem die Indianer Besitz ergriffen, und wohl eine Stunde lang schossen sie darauf; als sie es darauf verließen, um weiter vorzudringen, legten sie Feuer hinein – und vor meinen Augen ging mein schönes Eigenthum in Flammen auf. Einen Augenblick schnürte der Schmerz meine Brust zusammen und Thränen umflorten mein Auge, war es doch die Frucht meines jahrelangen redlichen Strebens und Schaffens und meine und meiner Kinder Heimath. Wer konnte indeß wissen, wie bald nicht der [746] Tod uns alle in seinen kalten Arm schloß, deshalb verschmerzt man in solchen Augenblicken leichter den Verlust von Hab und Gut; die Rettung des eigenen Lebens ist das erste Ziel, und erst wenn dieses in Sicherheit, dann kommt die Freude am Besitz wieder in das Spiel. Der Kampf, ungleich heftiger als am Dienstage, verbreitete sich, da der Andrang der Wilden zu entsetzlich war, bald über die ganze Stadt und nahte schon deren Mittelpunkte. Hier war das Centrum unserer Macht; drei Vierecke der Hauptstraße bildeten eine förmliche Festung, die, von uns besetzt, in ihrem Innern sämmtliche Bewohner der Stadt barg. Mehrere Male zog sich der Feind zur Berathung zurück und glaubte endlich das Mittel zu unserm sichern Untergange gefunden zu haben, indem er gegen 200 Häuser – darunter 3 Mühlen, 2 Brauereien und 1 Brennerei in Brand steckte.

Die Hand zittert, die Augen füllen sich mit Thränen und die Feder sträubt sich, die gräßliche Verzweiflung zu schildern, die beim Anblick des entsetzlichen Feuers – das rasch um sich griff – sich unser Aller bemächtigte. Umgeben von den drohendsten Gefahren sahen wir Alle dem nahenden Tode in’s Auge, und kraftlos ließ Mancher den Arm sinken, den er bis zu diesem Augenblicke muthig zur Vertheidigung der Seinen gebraucht hatte; denn wäre es dem Feinde gelungen, auch nur ein Haus von unserm Festungsquadrate anzuzünden, so wäre auch unsere Zufluchtsstätte niedergebrannt und mit ihr jede Hoffnung auf Rettung verloren gewesen. Glücklicherweise wehte der Wind den Qualm und die immer mehr steigende Gluth nicht uns – sondern dem Feinde entgegen, und zu spät mochte er erkennen, daß das zu unserm Untergange Ersonnene ihm selbst am meisten schadete. Allenthalben flüchteten die Ungeheuer vor den nach ihnen züngelnden Flammen, und leichter wurde es uns, durch diese auf der einen Seite gedeckt, sie da zu vertreiben, wo sie von Neuem einzufallen drohten. Der Kampf währte wieder bis zum späten Abend, und mit immer entsetzlicherer Wuth und unter dem gräßlichsten Geheul suchten sie den Durchgang zu erzwingen und, da der von uns vertheidigt ward, den Durchgang durch die Flammen. So sah ich denn auch von meinem Posten aus eins dieser Scheusale, wie es, in der einen Hand den Tomahawk, in der andern die Büchse, sich in eine Tigerhaut wickelte und den Weg, den verzweifelten Weg durch die Flammen nahm, um diesseits sein blutiges Handwerk von Neuem zu beginnen. Sich erholend stand das Ungeheuer einen Augenblick nach dem gefährlichen Laufe still, schüttelte die halb brennende Hülle ab und mit erhöhter Mordlust vorwärts stürzend, schwang es unter gellenden Tönen den Tomahawk hoch über seinem Kopfe. Nicht weit von mir lag ein schwer Verwundeter in den letzten Zügen, nur dann und wann kam ein Seufzer über die sterbenden Lippen, und ein öfteres Zucken verrieth, daß er von seiner Qual noch nicht erlöst sei. Auf diesen von den Flammen hell erleuchteten Unglücklichen stürzte das Scheusal mit cannibalischem Jauchzen los; schon streckte sich die eine Hand nach dem Haupte des lauter stöhnenden Sterbenden, schon sauste der Tomahawk durch die Luft – da traf meine sichere Kugel das Ungeheuer, und zusammen stürzend wälzte es sich in seinem Blute.

Gegen 9 Uhr Abends, nachdem sie überall zurückgedrängt, zogen sich die Wilden völlig außer Schußweite, sammelten ihre Todten, soweit sie konnten, und hielten sich während der Nacht ziemlich fern. Als sie am Sonntag Morgen wieder erschienen, hielten sie sich ebenfalls außer Schußweite und waren mehr darauf bedacht, ihre Beute an Vieh zu sammeln, als uns zu schaden. Wir hatten in dem heißen Kampfe wieder viele Tapfere verloren, hatten 23 Todte und 52 Verwundete, die Indianer gegen 90 bis 100 Todte. Sonntag Mittag endlich erschien eine zweite Verstärkung von 150 Mann mit Vereinigten-Staat-Gewehren, und unermeßlich war der Jubel, mit dem sie empfangen wurden. Die langangespannten Nerven forderten ihr Recht; Männer weinten wie Kinder, und – darf ich es gestehen? – auch ich war unter der Zahl, hatte mir doch der Himmel bis da meine Lieben erhalten und mich ihnen.

Kurz nach deren Ankunft sammelten sich die Anführer zur Berathung, und es stellten sich bei dieser Gelegenheit folgende Thatsachen heraus: 1) Wir hatten nur noch für vier Tage Lebensmittel, 2) die wenigen Häuser, welche noch standen, waren dergestalt mit Frauen und Kindern überfüllt, daß durch die entsetzlichen Ausdünstungen schwere Krankheiten unvermeidlich waren; und so beschlossen die Anführer, die Stadt am Montag Morgen räumen. – Welch ein entsetzliches Bild aber gewährte, bei einigermaßen ruhiger Betrachtung, unsere noch vor kurzem so blühende schöne Stadt! Die stolzen Häuserreihen waren verschwunden; es stand nur noch das tapfer vertheidigte Centrum, und dieses sah fast gespensterhaft über die Brandstätte hinweg. Ueberall begegnete man bleichen Gesichtern, überall hörte man nur Jammer und Klagen; hier suchte ein Mann verzweiflungsvoll seine Gattin und Kinder, suchten weinende Kinder ihre Eltern, und dort kniete eine Frau an der Leiche ihres gefallenen Mannes, und als ob ihr Wehklagen das theuere Leben zurückrufen könne, flehte sie in lautem Jammer zu Gott um Hülfe und Erbarmen.

Während der Nacht wurden alle aufzutreibenden Wagen, 142 an der Zahl, mit der übrig gebliebenen werthvollsten Habe bepackt und die Zugthiere in Bereitschaft gehalten, damit beim Beginn des Tages sich der Zug in Bewegung setzen könne. Viele Hundert Menschen, die die Stadt verlassen wollten, hatten nichts weiter gerettet, als das nackte Leben; auch ich und meine Familie waren unter der Zahl. Das Zeug, mit dem wir gerade bei der ersten Annäherung der Wilden bekleidet waren, war – Alles – was uns geblieben. Es war eine kalte, sternenhelle Nacht – die letzte in der Heimath –; ich verließ nach Mitternacht das Haus, das die Meinigen und noch viele Hundert andere Menschen aufgenommen, und suchte mich durch die brennenden Trümmer hindurch zu arbeiten zu der theuren Stelle, wo mein Eigenthum gestanden. Die Sehnsucht trieb mich dahin – ich hätte nicht anders scheiden können.

Lange mußte ich suchen, ehe ich sie fand, die Stätte, wo ich zufrieden und glücklich so lange im Kreise meiner Theuren gelebt hatte. Ich umging die noch rauchenden Trümmer und versuchte den Garten zu erreichen; er war – wenn auch verwüstet – doch noch zu erkennen. Bei einem blühenden Rosenstrauche – der schönsten Zierde des Gartens – sank ich von Schmerz überwältigt in die Kniee; – das Herz wollte mir fast brechen; die hier verlebten Jahre gingen mit Allem, was sie mir gebracht, an meinem Geiste vorüber. Wohl waren schwere Tage darunter gewesen, Noth und Sorgen waren häufige Besucher, doch waren sie vorübergehend und hatten dem wachsenden Wohlstande Platz gemacht. Und nun mit einem Schlage Alles dahin!

Wohl mochte ich eine Stunde dort geruhet haben, da tönte von der Stadt herüber das Signal auf dem Sammelplatze zu erscheinen; rasch erhob ich mich, pflückte mir als letztes Angedenken zwei der schönsten Rosen und verließ bebenden Schrittes den geliebten Platz, um mir in weiter unbestimmter Ferne eine andere Heimath zu suchen. Mein Weg führte mich an den Gräbern der im Kampfe Gefallenen vorüber, und unwillkürlich hielt ich meine Schritte an; mein Herz war so voll Dank gegen sie, und es war mir, als könne ich nicht scheiden, ohne ihnen einen Tribut dieses Dankes zu zahlen. Rathlos sah ich mich um – da fielen mir meine beiden Rosen ein –; ich pflücke die Blätter der einen ab – es war ja Alles, was ich besaß – streute sie auf das Grab, das die liebenswürdige Sara barg, und nahm betend Abschied von denen, die nun einsam und verlassen hier zurückbleiben sollten.

Ein großer freier Platz vor dem östlichen Ende der Stadt war zum Versammlungsplatz der Scheidenden bestimmt; als ich ihn erreichte, war er bereits mit Menschen, Thieren und Sachen aller Art überfüllt. Das Fuhrwerk, für mich bestimmt, stand fertig da, und so trat ich den schweren Gang an, meine Familie zu holen. Ich fand meine arme Frau, wie sie, mit nur weniger Kleidung versehen, vor Kälte zitternd, unsere drei schlafenden Kinder weinend umfaßt hielt; die Stimme versagte mir, ihr den entschiedenen Moment anzukündigen, ich drückte sie nur stumm an meine Brust, nahm die beiden ältesten Knaben, vier und zwei Jahr alt, auf meinen Arm, unterstützte mit dem andern meine treue Leidensgefährtin, die unser kleines, erst 10 Monate altes Töchterchen trug, und so erreichten wir unser kleines Gefährt, das, nur mit etwas Stroh belegt, kaum Raum für Frau und Kinder hatte.

Noch höre ich das Winseln und Wimmern der vielen Kleinen, die, wie die Meinigen, nur mit dünnem Sommerzeuge bekleidet, viele sogar ohne Kopfbedeckung, schon vor der Abfahrt vor Kälte in laute Klagen ausbrachen. Ich war so glücklich gewesen, durch die Barmherzigkeit eines Freundes eine wollene Decke zu erhalten; in diese wickelte ich die beiden Knaben, während meine Frau das jüngste Kind an ihrem Herzen zu erwärmen suchte. So bereit zur Abfahrt [747] warteten wir auf das zu gebende Signal. Tausend Herzen lauschten mit Angst auf dieses Zeichen, und aus dem Herzen dieser Tausend tönte ein einstimmiger Schrei, als durch den stillen, eben heranbrechenden Morgen drei dumpfe Glockenschläge über den Platz herüber tönten. Es setzte sich auf dieses Zeichen der Zug mit 1400 Menschen, unter Bedeckung der gesammten bewaffneten Mannschaft und unter dem Commando unseres tapferen Major Flandran, in Bewegung. –

Nie wurde wohl eine gefährlichere Reise durch die Wildniß unternommen, und jede Minute mussten wir eines Ueberfalls durch die Cannibalen gewärtig sein. Diese beständige Gefahr ließ uns die starken Strapazen weniger achten, und so begleiteten wir vierzig Meilen weit die Karawane zu Fuß, dann aber, als wir in die Nähe größerer Dörfer und Städte kamen, wurden wir abwechselnd von den Wagen aufgenommen und legten fernere 40 Meilen zurück. Dank sei es der kundigen Führung unseres tapferen Flandran, die ganze Karawane – die wohl mit Recht an den Auszug der Israeliten aus Aegypten erinnerte, langte endlich glücklich in Mankato an.

Hier trennte ich mich nach einigen Tagen der Ruhe von meinen übrigen Leidensgefährten, und unterstützt von edlen Menschenfreunden, die mich mit Kleidung, Lebensmitteln, ja sogar mit dem nöthigsten Gelde versahen, langte ich nach neunzehntägiger Dampfschiffahrt mit meiner Familie hier in Pittsburg (Pennsylvanien) an. Hier im vorläufigen Hafen der Ruhe eingelaufen, von Verwandten mit liebevoller, aufopfernder Theilnahme empfangen, schrieb ich das Vorstehende.

Wenn auch augenblicklich entblößt von den nöthigsten Bedürfnissen des täglichen Lebens, so ist unser Herz dennoch unendlich dankbar gegen Gott, daß er uns unter den Händen der Wilden und in den entsetzlichen Gefahren so gnädig beschützte, und mit Zuversicht blicken wir in die Zukunft, überzeugt daß Gottes Barmherzigkeit unser Loos bald freundlicher gestalten wird, indem er uns Ersatz für die verlorene Heimath giebt.

Möge aber New-Ulms Fall in die Ohren Derer, welche die Macht haben, die Mahnung erdröhnen lassen, daß, wenn sie nicht wollen, daß der Westen von Minnesota wieder eine Wildniß werde, die Grenze bewehrt und eine Kriegsmacht zum Ausrottungskriege gegen die Rothhäute gehalten werden muß, unter deren Schutze allein das der Cultur verloren gegangene Land wieder erobert werden kaun. –

R. L.




Ein preußischer Volksvertreter.

Wohl ist es ein auffallender Umstand, daß in der preußischen Volksvertretung ein Reichthum an tüchtigen und populären Männern, an glänzenden Rednern sich findet, wie nirgend anderwärts.[4] Man braucht dabei gar nicht die kleineren Landesvertretungen Deutschlands in Vergleich zu stellen, obwohl sie im Verhältniß doch viel localeren Charakter haben, als sie bei einer größeren Zahl von auf der Höhe der Zeit stehenden Capacitäten haben könnten. Nirgends in Europa, kann man behaupten, sind in den letzten dreizehn Jahren, seitdem in Preußen überhaupt Abgeordnete des Volks existiren, so viele glänzende und volksthümliche Parlamentsmänner erstanden, wie hier. Ihre Bedeutung, ihr Name reicht weit über die Grenzen des engeren Vaterlandes, vielfach sogar über Deutschland hinaus. Und dabei muß man bedenken, wie kümmerlich das constitutionelle und parlamentarische Leben gerade in Preußen bis zum Jahre 1859 gestaltet war, wie nichts unversucht blieb, es unvolksthümlich und zu einer leeren Form zu machen, und das eigentliche Volk davon fern zu halten. Aber trotz alledem ist neben den alten parlamentarischen Helden ein neues kräftiges Geschlecht, ein deutscher Kernschlag von Volksmännern entstanden, welches mit dem ersten Eintritt in die Landesvertretung eine Fülle des Talents und der Begabung entfaltete, wodurch der gekünstelten Form des preußischen Constitutionalismus ein lebendiger und volksthümlicher Inhalt gegeben und das preußische Abgeordnetenhaus schnell zu seiner jetzigen imposanten Höhe und politischen wie moralischen Bedeutung für ganz Deutschland getragen wurde. Männer wie Virchow, Hoverbeck, Forkenbeck, Hagen, Duncker, Baron von Baerst, Twesten, sie gehören alle zu dem jüngeren und jüngsten Geschlecht des preußischen Parlamentarismus, und Niemand wird leugnen, daß das deutsche Volk diese Namen kennt.

Diesem glanzvollen Rednertalent und der volksthümlichen, mannhaften Gesinnung, welche so viele Männer des preußischen Abgeordnetenhauses besitzen, verdankt die große Debatte über das Budget vornehmlich die Bedeutung, welche sie in ganz Deutschland und selbst im Auslande gefunden. Der 11., 12. und 15. September, der 6., 7. und 13. October, das waren heiße Tage im Abgeordnetenhause, aber auch große Ehrentage, die das deutsche Volk aller Stämme nicht vergessen wird. An diesen Tagen schlug das preußische Abgeordnetenhaus die Schlacht gegen die geheime Partei im Lande, welche die Ausübung wirklicher Rechte des Volks nicht ertragen kann; an diesem Tage zwangen die Volksmänner Preußens den Scheinconstitutionalismus, sich offen zu erkennen zu geben als der falsche Freund und der alte Feind. Klarheit mußte in das Verhältniß kommen; es mußte erprobt werden, ob denn die Ausübung der noch unverkümmerten Volksrechte in der Verfassung eine leere Form oder eine Wahrheit sei.

Die Volksmänner des preußischen Abgeordnetenhauses sagten: Ihr Minister habt unserer Meinung nach ohne gesetzliche Berechtigung eine neue Heeresorganisation eingeführt, die Millionen jährlich mehr kostet. Gut, wir wollen weiter darüber reden, aber erst bringt das Gesetz für diese neue Organisation ein und bittet uns, wie es euere Schuldigkeit ist, das ohne unsere Zustimmung von euch dafür verausgabte Geld nachträglich zu bewilligen. Si non, non. Thut ihr das nicht, so handelt ihr nicht constitutionell und verfassungsmäßig, und dann gebrauchen wir unser Recht und bewilligen euch das verausgabte Geld für die ungesetzliche Heeresorganisation nicht. – Den Ministern indessen schien diese Haltung des Hauses völlig über dessen Befugniß hinauszugehen, und sie erklärten geradezu, daß die Rechte des Königs verletzt würden, wenn die Rechte des Volkes sich soweit erstrecken sollten. In der Schlacht am 11. und 12. September wurde diesem Theil des Scheinconstitutionalismus die Maske von den Abgeordneten abgerissen, und als er nun so nackt und offen dastand, da sagten 308 von 319 Abgeordneten: Nein, wir sind dieser Nichtachtung unserer Rechte müde. Ihr respectirt diese nicht; gut, so wenden wir sie an und bewilligen euch nicht die sechs Millionen, welche ihr ungesetzlich für eine neue ungesetzliche Heeresorganisation verausgabt habt.

Am 6. und 7. October fand die zweite Schlacht statt. Ein neuer Minister, Herr von Bismarck, wollte sich das Regieren erleichtern. Da die Abgeordneten das Budget für 1862 um sechs Millionen vermindert hatten, so hätten sie dies natürlich auch bei dem Budget für 1863 gethan, welches gleichfalls für die Reorganisation seine Millionen enthielt. So hielt’s denn Herr von Bismarck für angemessener, sich sein Budget für 1863 zurück zu nehmen. Aber darauf erklärten 251 Abgeordnete gegen 36, daß die Regierung verfassungswidrig handle, wenn sie für 1863 Gelder ausgebe, die ihr nicht bewilligt seien. Herr von Bismarck lächelte; er hatte schon längst sich die „beklagenswerthe“ Freiheit gesichert, ganz ohne Budget zu regieren, falls die Abgeordneten nicht ihr Recht so verstehen, daß sie sich der Regierung zu fügen haben.

Während im Abgeordnetenhause das einzige Bollwerk der Verfassung vertheidigt wurde, begann auch das Herrenhaus Hand an dies Bollwerk zu legen. Es erklärte in seiner junkerlichen Neigung, der Regierung immer Recht zu geben, den Etat, wie ihn das Abgeordnetenhaus feststellen wolle, zu verwerfen und die Vorlage der Regierung anzunehmen. Das war Seitens des Herrenhauses ein offener Bruch der Verfassung, und noch in der letzten Stunde seines Lebens erklärte das Abgeordnetenhaus einstimmig: Was die Herren beschlossen, ist null und nichtig; wir halten fest an unserem guten Recht!

Ganz Deutschland, das ganze gebildete Europa hat erwartungsvoll auf diesen Kampf gesehen; denn dabei handelte es sich nicht um ein paar Millionen mehr oder weniger, sondern darum, ob das klare [748] und verbriefte Recht des Volkes anerkannt oder mißachtet werde. Hier galt es einen Kampf des echten, wahren Constitutionalismus gegen den scheinbaren und von der Partei des Absolutismus nur als moderne Maske benutzten, und der Ausgang desselben ist für ganz Deutschland wichtig, für jedes Volk von Bedeutung. Brav und tapfer haben die preußischen Abgeordneten diesen Kampf bisher bestanden; aber er ist noch nicht aus, noch lange nicht zu Ende, und noch oftmals wird man die preußischen Volksmänner in allem Glanz und im Stahl ihrer Rüstung für die Idee unserer Zeit, für das Recht des Volkes, streiten sehen. Denn das übersehe man doch gar nicht, daß Alles, was das preußische Abgeordnetenhaus sich erkämpfen wird, der allgemeinen Sache des politischen Fortschritts zu Gute kommt.

Aus dem oben erwähnten jüngeren Geschlecht der preußischen Volksmänner heben wir diesmal einen Mann heraus, der gerade in dem Kampf gegen den Scheinconstitutionalismus die glänzendsten Fähigkeiten, die entschlossenste Energie entwickelte, nämlich Rudolph Virchow.

Virchow, geboren 1821 bei Cöslin in Pommern, ist ein Zögling der königlichen Pepinière in Berlin. Mit 22 Jahren machte er sein Doctorexamen und trat darauf als Unterarzt in die Charité. Drei Jahre später war er bereits Prosector. Zugleich begann er Vorlesungen über physiologische und pathologische Chirurgie zu halten, die wegen der Schärfe ihrer Auffassung eines sehr vernachlässigten Gegenstandes und wegen der Neuheit der Schlüsse bald ungewöhnliches Aufsehen erregten. Physiologie und Pathologie sind die beiden Grundeintheilungen der Organik, die eine sucht die Bedingungen des Lebens in der organischen Natur, die andere die der Krankheiten und Abnormitäten, die Erkenntniß der Ursachen, welche jede Abweichung von dem natürlichen Typus einer Form oder einer Function bestimmen. Beide Wissenschaften kann man die Philosophie der Medicin nennen, und sie nach langer Mißachtung wieder zu Ehren gebracht und mit neuen großen Entdeckungen und Forschungen bereichert zu haben, ist die Ursache, welche Virchow schon früh zu einer der vornehmsten Zierden der medicinischen Wissenschaften machte. Mit der unerbittlichen Energie und dem gewaltigen Fleiß, die Virchow zu bethätigen weiß, verfolgte er sein wissenschaftliches Bestreben. Er gründete 1847 mit Reinhardt zusammen das „Archiv für pathologische Anatomie und klinische Medicin“, welches die Waffe der Eroberung für seine Forschungen wurde. Nach Reinhardt’s Tode, im Jahre 1847, leitete Virchow diese hochangesehene Zeitschrift allein weiter und hat ihr bis heute mit rastlosem Eifer seine Thätigkeit gewidmet.

Aber der junge Gelehrte mit einem den Neid erregenden Ruhm erfaßte mit seinem vielseitigen Geist auch die Politik. Die Bewegung des Jahres 1848, als er Docent an der Berliner Universität war, rief in Virchow den Geist wach, der bis dahin vergeblich nach Aeußerungen gestrebt hatte. Er war im Februar 1848 vom Ministerium nach Oberschlesien gesandt worden, um die Ursachen des dort wüthenden Hungertyphus zu erforschen. Als er zurückkam, noch voller Eindruck von dieser Reise durch das Elend, fand er den Absolutismus niedergeworfen, das Volk freudetrunken auf den eroberten Citadellen des alten Staatswesens. Was er in der medicinischen Wissenschaft erstrebt, ganz dasselbe war jetzt in dem politischen Leben zum Durchbruch gekommen. Virchow’s wissenschaftlicher Kampf ist durchaus demokratischer Natur, reformatorischen Charakters, der auf die Grundtiefen des Bestehenden hinarbeitet, um von hier aus sich gegen die Abnormitäten, Gebrechen und Heucheleien des medicinischen Gelehrtenstands zu richten und diesen vielfach auf ganz neuen Grundlagen aufzubauen. Aehnlich richtet sich die Demokratie gegen die verrotteten Zustände des Feudalismus und das bequeme Recht des Absolutismus. Wie die Demokratie gewissermaßen die Pathologie, die Lehre von der Krankheit des absolutistischen Staatswesens betreibt, so war Virchow speciell den medicinischen Wissenschaften ein Lehrer und Bekämpfer ihrer Krankheiten. Es ist interessant genug, daß Virchow später diese beiden Richtungen in sich vereinigte und, wie ein großer Demokrat der Wissenschaft, so auch ein bedeutender Demokrat der Politik wurde.

Schon 1848 zeigte sich diese Vereinigung. Virchow gründete ein neues Journal: „die medicinische Reform“, in der die demokratischen Tendenzen stark genug zu Tage traten, um der Reaction von 1849 Veranlassung zu geben, es zu unterdrücken. Doch auch außerhalb der Presse kämpfte Virchow für die politische Sache. Mit seiner fertigen Rednergabe wirkte er von der Tribüne herab, und zwar, da er ein Mandat zur Nationalversammlung ablehnen mußte, weil er noch nicht dreißig Jahr alt war, gründete er mit einflußreichen Freunden zusammen den seiner Zeit sehr bedeutenden Bezirksverein der Friedrich-Wilhelmstadt. Später trat er als dessen Vertreter in den Berliner Centralbezirksverein und nach Auflösung der Nationalversammlung präsidirte er als Mitglied des Centralwahlcomités der volksthümlichen Partei den stürmischen Sitzungen des dritten Berliner Wahlkreises.

Wie nun die Reaction regierte, suchte sie ihre kleinliche Rache auch an dem demokratischen Prosector der Charité zu üben. Man unterdrückte, wie gesagt, sein Journal und setzte ihn überdies ab. Aber diesmal siegte denn doch die Macht des Wissens über die Bornirtheit der Gewalt. Die ärztlichen Vereine Berlins drangen auf Wiederanstellung eines so hervorragenden Anatomen und Pathologen wie Virchow, und das Ministerium mußte zuletzt nachgeben. Indessen rächte es sich doch insoweit, daß diese Wiederanstellung widerruflich und mit Verlust der freien Station erfolgte.

Virchow hatte inzwischen von der Universität Würzburg als Professor der pathologischen Anatomie einen Ruf erhalten und sah keinen Grund, in einer seinen Verdiensten unwürdigen Stellung zu Berlin zu bleiben. So nahm er hier seinen Abschied und ging nach Würzburg. Aber das baierische Ministerium hatte gehört, daß der neue Professor ein Demokrat sei, und deshalb verweigerte es ihm die Bestätigung. Es mußte erst die ganze Facultät und der Senat auf Bestätigung ihres Rufes dringen, ehe dieselbe endlich erfolgte. Bei seinem Abschied von Berlin veröffentlichte er die berühmte Abhandlung über die „Einheitsbestrebungen in der wissenschaftlichen Medicin“ (September 1849), in der gewissermaßen die Idee, welche die Demokratie jener Tage aus dem Sturm der Revolution für eine zukünftige Entwicklung mit fort trug, in medicinischer Gewandung ausgedrückt war.

Würzburg hatte Virchow’s Berufung nicht zu beklagen; die Universität kam zu neuem Flor, und mehrere Hundert Schüler, darunter 200 bis 300 Ausländer, sammelte dort sein gelehrter Ruf. Virchow arbeitete in dem nun folgenden Jahrzehnt mit einer erstaunlichen Energie auf sein Ziel der medicinischen Reform hin; es war die Epoche der politischen Apathie, die er mit den höchsten wissenschaftlichen Leistungen ausfüllte. Wir müssen uns hier mit kurzen Andeutungen derselben begnügen. Virchow gründete zunächst die zu hohem Ansehen gekommene Gesellschaft für Medicin und Naturwissenschaft, deren Präsident er später wurde; er übernahm neben seinem „Archiv“ noch einen Theil der Redaction des berühmten Canstatt’schen Jahresberichts über die Fortschritte der Medicin in allen Ländern. Wie einst die Ursachen des Hungertyphus in Oberschlesien, untersuchte er 1852 auf Wunsch der bayrischen Regierung den Typhus im Spessart und veröffentlichte seine geistvollen Beobachtungen in einer besonderen Schrift; wir fügen gleich bei, daß er 1859 eine eben solche Mission für Norwegen erhielt. Im Jahre 1856 erschienen seine „gesammelten Abhandlungen zur wissenschaftlichen Medicin“, in denen bereits die große Entdeckung angedeutet liegt, welche Virchow’s mikroskopische Forschungen an den organischen Körpern bewirkte und die für die moderne Medicin eine wirklich neue Aera eröffnete. In späteren Vorlesungen erst gab Virchow seinen erstaunten Zuhörern als Beweise, was so lange in ihm als Ahnung gelegen: es war seine aus mühsamsten Eigenuntersuchungen hervorgegangen Cellularpathologie, in welcher als Grundform der gesammten organischen Welt die Zelle, und in deren Beschaffenheit, Störung oder Verletzung nunmehr die erste Ursache alles Krankseins und aller Abnormität hingestellt wurde. „Das Wesen der Krankheit ist die veränderte Zelle“, das war der kühne und viel befehdete Satz, zu dem sich Virchow’s Schlüsse in seinem weitberühmten Werke: „Die Cellularpathologie in ihrer Anwendung auf physiologische und pathologische Gewebelehre“ gipfelten.

Virchow, von den Akademien zu Paris und London mit hohen Auszeichnungen beehrt, hatte mittlerweile von den verschiedenen Berufungen, die an ihn ergingen, die nach Berlin angenommen. Im Jahre 1856 kehrte er hierher zurück, und die auf ihrer Höhe stehende Reaction mußte wohl oder übel dem berühmten Gelehrten eine seiner Bestrebungen würdige Stellung geben. Die Wissenschaft triumphirte hier abermals über die Parteifanatismen, denn die Berliner medicinische Facultät unter specieller Mitwirkung von Johannes Müller hatte diese Rückberufung Virchow’s durchgesetzt. Man gab ihm nun nicht nur eine Professur, sondern ernannte ihn

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Rudolph Virchow.
Nach einer für die Gartenlaube gefertigten Photographie.

[750] auch zum Director des pathologischen Instituts und einer Abtheilung der Charité. Dem ersteren verlieh Virchow eine totale Umgestaltung, so daß es heut das ausgedehnteste und bedeutendste in seiner Art ist.

So wurde die Epoche, in der das Volk lethargisch die Reaction wirthschaften ließ, von Virchow mit glänzenden wissenschaftlichen Erfolgen ausgefüllt. Er war gerade auf einem ruhefordernden Höhepunkt als Gelehrter, da erwachten die Geister wieder, um von Neuem mit dem Feind des Fortschritts zu ringen. Nun lebte auch in Virchow wieder der Sinn auf, aus der Studirstube in die offene Arena des politischen Lebens zu treten und hier für die Sache des Volks und des Fortschritts mitzukämpfen. Beim Seciren der Leichen hatte er für den frischen Geist des Lebens die Theilnahme niemals verloren; aber was er im Jahre 1848 nur mit dem Feuer der Jugend begeisterungsvoll erfaßte, das war jetzt zu einer unerschütterlichen Ueberzeugung in ihm geworden, und mit der Ruhe des Mannes erfaßte er die Ziele, nach denen die Idee der Zeit sich zuwälzte. Der Student der Politik war, so zu sagen, jetzt auf die Praxis angewiesen. Die jüngere Demokratie machte die Bewegung von 1848 wie ein Universitätsjahr durch, und als sie in’s praktische Leben trat, nahm sie den Boden, wie er war, d. h. sie fand einen Verfassungsstaat vor, über dessen Grenzen hinaus sie nicht wollte, aber dessen Ausbau und Festigung ihre Aufgabe blieb. Darin liegt der Unterschied zwischen der alten Demokratie und der jüngeren in Preußen, daß jene mit dem octroyirten Verfassungsstaat im Stillen lange grollte und auch wesentlich preußisch war, diese aber auf dem Boden der Verfassung von 1850 wie auf einem heimischen stand und vor Allem die deutschen Interessen Preußens in’s Auge faßte. Diese Andeutung hielten wir für nöthig, um die Stellung Virchow’s im politischen Leben genau erkennen zu lassen, die Idee seiner Thätigkeit nach dieser Richtung hin. Es ist dies um so wesentlicher, als er eins der hervorragendsten Häupter der jüngeren Demokratie ist, die das wahre und erhaltende Stammelement der deutschen Fortschrittspartei bildet.

Die erste Gelegenheit, eine öffentliche Thätigkeit zu entfalten, fand Virchow durch seine Wahl zum Stadtverordneten. Er war als solcher einer der Entschlossensten, das Patzke’sche Polizeiregiment zu stürzen. Als bei den Wahlen im Jahre 1861 namentlich die jüngere Demokratie zum ersten Mal vom Volk berufen wurde, die constitutionelle Form nun endlich einmal mit wirklichem Inhalt zu erfüllen, da erhielt auch Virchow von Berlin wie von Saarbrücken Mandate.

Gleich bei der ersten und der einzigen größeren Debatte des neuen Abgeordnetenhauses, der über Kurhessen, zeigte sich Virchow als der entschlossene, schonungslose Kämpfer, als gewandter und glänzender Redner. Er ist kaltblütig, nüchtern, der zersetzende Anatom spricht aus ihm; er zergliedert unerbittlich die Argumente des Gegners, und hat er dann die Blößen desselben aufgedeckt, so stößt er schnell und fest, mit der Eleganz eines Fechters, sein Floret in dieselben. Die kalte Ruhe und die scharfe Ironie macht ihn zu einem gefährlichen Feind. Er trat instinctartig gegen die Altliberalen, gegen das Vincke’sche Sophistenwesen auf, mit Erbitterung und Rücksichtslosigkeit; denn lange, ehe es aller Welt klar wurde, erkannte er, daß diese Halbheit jener Partei und der Einfluß, den sie im Parlament besaß, indirect der Sache des Fortschritts den meisten Schaden brachte; denn sie scheute sich nicht, Principe des Constitutionalismus zu mißbrauchen, um nur ihrer Eitelkeit und ihrem Ehrgeiz genügt zu sehen. So glücklich Preußen auch unter den Liberalen war, so ist ihnen doch gewiß, ihrer Halbheit und Schwäche wegen, alles spätere so schwere Unheil zu danken.

Virchow erwies sich zugleich als einer der rastlosen Arbeiter in den Commissionen, ein Umstand, den man bei den preußischen Abgeordneten immer sorgfältig hervorheben muß. Er versteht es, sich mit durchdringendem Geist schnell zum völligen Herrn ihm fremder Materien zu machen, und in den Sitzungen dieses Sommers trat deutlich genug diese Mannigfaltigkeit seines Wissens, dieser brennende Eifer, Allem auf den Grund zu sehen, zu Tage.

Eine angreifende, energische Natur, die nicht stürmt, aber fest auf ihr Ziel losgeht, setzte Virchow auch bei jeder Gelegenheit den Hebel an, Mißbrauche und Steine des wahren Constitutionalismus fortzuschaffen und unverfälschte Grundsätze an deren Stelle zu setzen. Er war als Mitglied der Budgetcommission in richtiger Vorahnung des Kommenden schon im März 1862 mit dem Antrag hervorgetreten, die Regierung zu verpflichten, den Etat des nächsten Jahres vor Beginn desselben berathen zu lassen. Wenn damals dieser Antrag fallen gelassen wurde, so lernte man einige Wochen später erkennen, wie übel diese Rücksicht vergolten wurde. Und heut ist ein Hauptpunkt des Streites zwischen dem Ministerium und der Volksvertretung, daß das Budget für 1863 nicht zur Berathung und Feststellung gekommen ist.

In dem Kampf, der nach dem Rücktritt der liberalen Minister um die Bedeutung der verfassungsmäßigen Rechte begann, war Virchow immer unter den Vordersten und Muthigsten, für diese Rechte des Abgeordnetenhauses einzutreten. Mit dem Hagen’schen Antrag ward dieser offene Kampf begonnen; heut ist er bis auf die Grundlage der Verfassung gedrungen. Virchow hat die Bedeutung des Hagen’schen Antrages für die größere Specialisirung der Etats in klarer Weise in der Nationalzeitung aus einander gesetzt; er hat in der Adreßdebatte des neugewählten Abgeordnetenhauses dem Mißtrauen gegen das Ministerium v. d. Heydt unverhohlen Ausdruck gegeben; über den Antrag bezüglich der Anerkennung Italiens hielt er eine der durchschlagendsten Reden, und in dem dann folgenden Hauptkampf um die Budget- und Militärfrage hatte er sowohl in der Commission wie im Plenum seinen Degen immer fest auf den Gegner gerichtet. In der Debatte über die Reorganisation wies er in gedrungener Logik die Ungesetzlichkeit derselben nach und vertheidigte das Princip der Landwehr mit Citaten aus einem Werk des Kriegsministers. Bei der letzten Debatte, welche sich um die Wiedereinbringung des vom Ministerium zurückgezogenen Etats für 1863 bis vor Ablauf des laufenden Jahres und um die Verfassungswidrigkeit der ohne Genehmigung des Abgeordnetenhauses verausgabten Gelder drehte, folgerte er schlagend aus den eigenen Auslassungen der Krone das verfassungsmäßige und jetzt von der neuen Reaction bestrittene und bedrohte Recht des Abgeordnetenhauses, das Recht der Geldbewilligung und Verweigerung.

Schmidt-Weiß



Zugvogel.

Aus den Erinnerungen eines Schauspielers.

Es war im Sommer des Jahres 1817. Theuerung und Noth, verursacht durch zwei auf einander folgende Mißernten, hatten fast überall in Deutschland den Bestand der Theaterunternehmungen in Frage gestellt. Ich kam von einem bekannten Stadttheater am Rhein, dessen Director durch die in solcher Zeit leicht erklärliche Theilnahmlosigkeit des Publicums bankerott geworden war, und sah mich nun nach einem bescheidenen Engagement um, wo ich eine günstige Wendung der Verhältnisse abwarten konnte. Ein Theateragent legte mir ein langes Verzeichniß von Vacanzen vor, verschwieg mir aber nicht, daß alle ihm bekannten Directionen tief verschuldet wären, und daß außer den Hoftheatern nur diejenigen Bühnen von der drohenden Katastrophe verschont bleiben könnten, die für die ganze Dauer der diesmaligen Sommersaison ihre Pforten geschlossen hätten. Hoffnungslos kehrte ich in den Gasthof zurück, und da es gleichgültig war, wohin ich mich wandte, so bestieg ich eine Stunde später ein Dampfschiff, um anderswo mein Heil zu versuchen. Ich mochte ein paar Stunden lang auf dem Verdeck meinen Gedanken Audienz gegeben haben, als das Läuten der Schiffsglocke die einförmige Fahrt auf eine kurze Weile unterbrach. Ich fragte, welche Station wir erreicht hätten, und man nannte mir einen Namen, der in einem sehr ausführlichen geographischen Handbuche gewiß zu finden, mir aber so neu war, wie irgend ein Weiler im Innern Australiens. Am Ufer sammelte sich, wie gewöhnlich, ein müßiger Haufe, der das täglich um dieselbe Stunde wiederkehrende Ereigniß wie etwas nie Dagewesenes anstaunte; eilfertige Passagiere gingen und kamen, und neugierig betraten Andere das Verdeck des Schiffes, um während der schnell verrinnenden Pause nach irgend einem erwarteten [751] Bekannten oder Verwandten auszusehen. Unter diesen Letzteren bemerkte ich einen etwas auffallend gekleideten Mann, der hastig auf einen der Schiffsleute zulief mit der Frage: „Haben Sie die Zettel?“ Der Gefragte winkte bejahend und übergab ein längliches Paguet, wofür er ein Trinkgeld empfing.

Der Mann in ungewöhnlicher Tracht und „Zettel“? Nichts Anderes als ein Theaterdirector und Theaterzettel, die anderswo gedruckt sind, weil das Städtchen zu klein ist, um eine Druckerei zu unterhalten! rief mir mein spiritus familiaris zu. Halb willenlos griff ich in demselben Augenblicke nach meinem Mantelsack und eilte, als das Schiff sich eben wieder in Bewegung setzen wollte, über die Landungsbrücke dem Unbekannten nach. Ich hatte mich nicht geirrt. Hocherfreut reichte er mir die Hand und gab sich mir als Principal einer wandernden Truppe zu erkennen, die in diesem Städtchen seit einiger Zeit Vorstellungen gab.

„Sie kommen wie ein Gesandter des Himmels!“ rief er voll Emphase aus. „Ich soll an diesem Abend die Räuber geben und habe keinen Carl. Im Nothfall müßte ich ihn spielen, denn das Publicum will sich nun einmal nicht mit kleinen Stücke abfertigen lassen. Sie werden den Carl spielen, und ich kann an der Casse bleiben.“

Ohne meine Antwort abzuwarten, führte mich der Impresario nach dem Theaterlocal, d. h. in einen Gasthofssaal, in welchem eine Bühne aufgeschlagen war, und stellte mich dem bereits versammelten, aus sieben Männern und fünf Damen bestehenden Personal vor.

„Sieben Männer und die Räuber!“

„Warum nicht? Es giebt sinnreiche Auskunftsmittel, um fehlende Darsteller zu ersetzen. Man läßt mehrere Rollen von einer Person spielen. Ich kannte einen alten Komödianten, der sein Leben lang keine Ortschaft von mehr als 3000 Einwohnern gesehen hatte und nicht froher war, als wenn ihm drei Rollen in einem Stücke zugetheilt waren. Was Andern nur als ein widerwärtiger Nothbehelf erschien, war ihm Sache des Ehrgeizes, denn er suchte ein künstlerisches Verdienst darin, durch den Wechsel des Anzuges und der Schminke seine Person unkenntlich zu machen.

Er spielte in „Kabale und Liebe“ sämmtliche Kammerdiener des Präsidenten und der Lady Milford und glaubte dadurch, daß er in den Zimmern des Präsidenten Schuhschnallen, bei der Lady aber keine trug, alle Zuschauer über die Identität besagter Kammerdiener zu täuschen. Zu einer Posse hatte derselbe Mime einen Schreiber und einen Postbeamten zu spielen. Beide kamen rasch aufeinander; zum Umkleiden war also nicht Zeit. Was that unser Roscius? Er nahm als Schreiber den Hut unter den rechten, als Postbeamter aber unter den linken Arm und blickte mit triumphirender Miene in’s Publicum, als wollte er sagen: „Es erkennt mich Niemand!“ Und das Alles vollführte dieser erfinderische Genius mit einem treuen Pflichteifer, einem naiven Ernste, der einer höheren Aufgabe würdig gewesen wäre. Er hatte niemals den Gegensatz größerer Theater erfahren und verstand daher unser Lachen nicht, wenn er sich vor uns in der ganzen Glorie seines künstlerischen Bewußtseins spreizte. Unvergeßlich bleibt er mir in der Rolle des Geistes im Hamlet. Schon einige Tage vor der Aufführung hatten wir ihn nachdenkend umhergehen sehen, so daß wir auf große Dinge gefaßt sein durften. Und richtig – so war es! Nach langer Erwägung, wie sich die Schauer der Geisterwelt am passendsten versinnlichen ließen, beging unser College, von den Eingebungen einer unerschöpflichen Phantasie getrieben, folgenden Meisterstreich. Er band an die Spitzen seiner gelben Sandalen ein Paar gelblackirte, offene Blechdosen und füllte diese mit Räucherkraut, das er kurz vor dem Auftreten anzündete. Und wirklich war es grausig anzusehen, wie vor den Füßen des weitausschreitenden Phantoms Rauchwolken aus dem Boden zu steigen schienen.

Kaum aber begann der Geist „das Innere seines Kerkers zu enthüllen“ und Dinge zu erzählen, „deren kleinstes Wort die Seele zermalmte“, als er an den Fußzehen eine glühende Hitze verspürte und mitten in seiner Rede zur großen Belustigung aller die Sandalen ausziehen mußte, um sich die Füße nicht zu verbrennen. – Ich könnte noch einen ganzen Glorienschein solcher Geschichten um das Künstlerhaupt meines nun längst verschollenen Collegen weben; ich könnte Euch noch mehr von ihm erzählen, als daß er in einem großen Ritterschauspiele in der vierten Scene in gelben Ritterstiefeln erschlagen wurde und in der fünften in schwarzen Stulpen seinen eigenen Tod meldete – aber ich mochte doch vor Allem noch meines alten Freundes und Collegen Zugvogel gedenken, den ich in jenem Städtchen zum ersten Male traf.

Ich trat in die Garderobe. An einem langen Tische saßen vor ihren Toiletten, resp. Spiegelscherben, die sieben Männer, welche Schiller’s dramatisches Erstlingswerk darzustellen bestimmt waren. Franz Moor zupfte schwarze Wolle zu einem Knebelbart zurecht und zog sodann einen schwarzen Tuschstrich über die untere Hälfte der Augenringe, um sich jenen wüsten, unheimlichen Blick zu verleihen, der dem Bösewicht eigen ist. Neben ihm saß Zugvogel, dessen zaghaftes, wortkarges Benehmen mitten in diesem Kreise redelustiger Genossen meine Aufmerksamkeit erregte. Er hatte erst vor Kurzem, wie ich nach der Vorstellung erfuhr, mit seinen abnehmenden Kräften ein Engagement bei dieser Truppe gefunden und mußte, da sein Gedächtniß ihn nicht mehr zum Auswendiglernen befähigte, sich zu allen möglichen theatralischen Hülfsleistungen bequemen. Auf dem linken Ohr hörte er schlecht – spottlustige, jüngere Mitglieder sagten, der Souffleur habe es ihm taub geschrieen – und so bildete er stets, das rechte Ohr zum Souffleurkasten gewandt, mit dem Publicum einen rechten Winkel. Wenn ein verliebter Geck Schläge bekommen sollte, so war Zugvogel sicher, ihn zugetheilt zu erhalten; er spielte, was kein Anderer mochte: die kläglichen, zärtlichen Väter. Für diesmal hatte er den alten Moor und nebenbei einen Räuber und den Daniel zu spielen. Er bedurfte nicht der weißen Perrücke, um seinem Haare die Farbe des Alters zu geben, und seine zitternde Greisenstimme war keine Verstellung. Da zu seinem Ressort auch die Beleuchtung gehörte, so begab er sich früher als alle Uebrigen auf die Bühne, um die Lampen anzuzünden und so lange auf- und niederzuschrauben, bis das richtige Maß der Helle erzielt war. Bald darauf verließ auch ich die Garderobe, um mir die Räumlichkeiten unseres Bretergerüstes etwas näher anzusehen. Zugvogel stand an eine Coulisse gelehnt, seine Züge verriethen eine feierliche, sonntägliche Stimmung – er mochte das Elend seiner Existenz vergessen und sich zurückträumen in eine längst verflossene Blüthenzeit. Die Ausführung nahm ihren gewöhnlichen Verlauf. Nur im vierten Act trat eine Störung ein, die ich versucht wäre, komisch zu nennen, wenn sie mich nicht schmerzlicher Weise an Zugvogel’s Altersschwäche erinnert hätte. Es war, da das Räuberpersonal gar zu winzig ausfiel, auf der Probe die Verabredung getroffen worden, das bekannte Räuberlied zu Anfang des vierten Actes wegzulassen. Zugvogel, der den alten Moor spielte und der Handlung gemäß im Thurm saß, war seit Jahren gewohnt, da er in seinem Kerker den Zuschauern ohnehin unsichtbar war, den Chor durch Mitsingen zu verstärken. Der Vorhang rollte in die Höhe – und unser Kunstinvalide, dessen Gedächtniß die getroffene Uebereinkunft entfallen war, intonirte mit seiner zitternden Stimme das Räuberlied. Nun denke man sich den Jubel des Publicums, das den alten, halbverhungerten Grafen von Moor in seinem Kerkerthurm singen hörte: „Ein freies Leben führen wir!“ Es war komisch genug, und ich mußte in das allgemeine Gelächter einstimmen, als der alte Moor von einem „freien Leben voller Wonne“ sang, aber wie tief ergriff es mich, als ich von der Coulisse aus den Ausdruck der tiefsten Verlegenheit auf Zugvogel’s Gesicht las und den hülflosen Mann die zitternde Hand erheben sah, als wollte er dem schallenden Gelächter, das aus Coulisse und Zuschauerraum auf ihn eindrang, Halt gebieten!

Ich begleitete den bedauernswerthen Veteranen an demselben Abend nach Hause, um mich von ihm über die näheren Verhältnisse der Theaterentreprise unterrichten zu lassen, und benutzte diese Gelegenheit, seine niedergeschlagene, trostlose Stimmung durch den Hinweis auf eine bessere Zukunft zu verscheuchen. Aber Zugvogel kannte seine Lage zu wohl, um sich durch solchen Trost täuschen zu lassen.

„Sie wissen nicht,“ erwiderte er mir, „wie viel Bitteres und Herbes ich erfahren habe seit jenem Tage, da ich zum ersten Male die Breter betrat bis zu dieser Stunde, da ich, ein Bild des tiefsten Verfalls, Ihnen gegenübersitze. Ich war nicht ohne Begabung und durfte mich der Hoffnung hingeben, dereinst unter den wahren Jüngern der Kunst genannt zu werden, und doch mußte ich elend untergehen, weil ich nirgends ein Verständniß meiner reinen Intentionen fand. Bei kleineren Bühnen zu selbstbewußt, um mich zum Coulissenreißer zu entwürdigen, und in besseren Verhältnissen zu stolz, den gehorsamen Diener hochnäsiger Directoren und adliger Intendanten zu spielen, sah ich mich zu einem Wandern ohne Ende [752] und Ziel verdammt. Nur einmal stieg an meinem Lebenshimmel ein helleres Gestirn auf und schien mir jenen beseligenden innern Frieden zu verheißen, der allein des Künstlers Streben und Schaffen die rechte Weihe verleiht. Ich war an einem mittleren Hoftheater angestellt, und meine Leistungen erfreuten sich einer so beifälligen Aufnahme, daß mir von der Intendanz ein Contract von längerer Dauer in Aussicht gestellt wurde. Ich begrüßte diese glückliche Wendung meiner Laufbahn mit hoher Freude, denn ich hatte keinen sehnlicheren Wunsch, als mir einen eigenes Heerd zu gründen und in dem Genusse häuslichen Glücks eine Befriedigung zu gewinnen, die mir der Umgang mit meinen Collegen nicht gewähren konnte. Seit längerer Zeit hatte ich ein stilles Einverständniß mit einer gleichgestimmten jungen Schauspielerin unterhalten; was stand jetzt, da mir eine gesicherte Stellung zugesagt war, im Wege, uns dem Personal der Hofbühne als Brautleute vorzustellen? Es geschah – doch kaum hatte der Intendant unsere Verlobung erfahren, als er sein bisheriges Benehmen gegen uns urplötzlich änderte. Wir sahen uns den erbärmlichsten Chicanen und Zurücksetzungen preisgegeben; Rollen, in denen wir früher die ehrenvollste Aufnahme gefunden hatten, wurden uns abgenommen und an Unfähigere vertheilt, bezahlte Federn wurden in Bewegung gesetzt, um unsere Leistungen in den Augen des Publicums durch hämische Angriffe herabzusetzen, und schmutzige Geschichten erfunden, um unser Privatleben zu verdächtigen. Zu spät erfuhr ich von meiner Verlobten, daß der Intendant sie seit langer Zeit schon mit den zudringlichsten Anträgen verfolgt und sie mir diese nur verschwiegen hatte, um mich vor unbesonnenen Schritten, die meine Stellung gefährden konnten, zu bewahren. Die Veröffentlichung unserer Verlobung, hatte sie geglaubt, würde den Nachstellungen des Unverschämten ein Ende machen und diesen für immer in die gebührenden Schranken zurückweisen. Wie sehr hatte sie sich getäuscht! Der elende Höfling, der es nicht ertragen konnte, die redlichen Bewerbungen eines bescheidenen Schauspielers seinen unverschämten Anträgen vorgezogen zu sehen, vergällte uns unsere Stellung derart, daß wir entschlossen waren, dieselbe um jeden Preis aufzugeben. Wir forderten unsere Entlassung, die uns auch bereitwilligst gewährt wurde. Wenige Tage darauf ließen wir uns trauen und sagten dem Schauplatze unserer schmählichsten Enttäuschung Lebewohl. Da unsere beiderseitigen Ersparnisse uns in den Stand setzten, eine günstigere Wendung der Dinge abzuwarten, so durften wir allerdings der nächsten Zukunft ruhig entgegensehen. Wir lebten der Hoffnung, ein Engagement, ähnlich dem, welches wir aufgegeben hatten, wieder zu finden, aber weder Reisen noch Correspondenzen führten ein nennenswerthes Resultat herbei. Der Winter rückte heran, und ich war froh, wenigstens für mich ein Engagement bei einer reisenden Gesellschaft zu finden, da meine Frau, die sich Mutter fühlte, nicht im Stande war, die Breter zu betreten. Der Augenblick der Entbindung kam; die trüben Erlebnisse des letzten Jahres hatten die Aermste zu tief gebeugt und ihr alle Kraft vorweggenommen – die Stunde, welche mir eine Tochter schenkte, brachte mich um die Mutter… Es war mir wehe um’s Herz, als ich der theuern Leiche die Augen zudrückte und rathlos auf das nackte kleine Wesen blickte, dein ich keine Pflege bieten konnte.

Glücklicherweise erbarmte sich meiner eine entfernt wohnende Verwandte, an die ich unter dein vollen Eindruck der ersten Verzweiflung geschrieben hatte. Sie unternahm die weite Reise zu mir und enthob mich der Sorge für mein hülfloses Töchterchen, dem ich nichts, gar nichts mitzugeben hatte, als ein Medaillon mit dem Bilde der verblichenen Mutter. Ich habe mein Kind seit jenem Tage nicht wiedergesehen. Jene Verwandte, eine herzensgute, aber beschränkte Frau, fürchtete, daß mein persönliches Erscheinen die Neigungen des Kindes den Kreisen des bürgerlichen Lebens entführen und dem Schauspielerstande zuwenden möchte, und beschwor mich daher in ihren Briefen, meine väterliche Sehnsucht zu beherrschen, bis meine Tochter erwachsen wäre und eine passende Versorgung gefunden hätte. Was sollte ich thun? Ich mußte mich dem Wunsche der guten Frau fügen, denn welche Erziehung hätte ich aus meinen planlosen Kreuz- und Querfahrten meinem Kinde bieten können? Ich blieb nach wie vor auf briefliche Mittheilungen beschränkt – aber eben durch diese erfuhr ich von meiner Verwandten, daß ihre vorsichtige Erziehung keineswegs von dem erwünschten Erfolge begleitet war. Je mehr meine Emilie heranwuchs, desto häufiger wurden die Klagen über ihren unlenksamen Sinn und hartnäckigen Widerstand gegen Alles, was herkömmlicher Sitte und Gewohnheit ähnlich sah. Das Blut der Eltern war zu mächtig in dem Kinde, als daß es sich je in die beschränkten Verhältnisse des kleinbürgerlichen Lebens hätte fügen können. Plötzlich und unerwartet empfing ich die Nachricht von dein Tode der guten Verwandten. Ich brach schleunig auf, um meine Tochter, die ich vor achtzehn Jahren in den ersten Wochen ihres Lebens von mir gegeben hatte, endlich in meine Arme zu schließen – aber welche Enttäuschung stand mir bevor! Kaum war ich in dem Städtchen angekommen, als ich erfuhr, daß das tolle Kind auf und davon gegangen war. Nur einige Zeilen hatte sie für mich zurückgelassen. „Nur mit blutendem Herzen,“ so schrieb mir mein böses Kind, „gehe ich der Begegnung mit Dir, aus dem Wege, die nur dazu führen könnte, mich in meinem längst gefaßten Entschlusse, Schauspielerin zu werden, zu erschüttern. Forsche nicht nach mir! Unter fremdem Namen werde ich die Bühne betreten und meinen Vater nicht sehen, bis ich als ruhmgekrönte Tochter zu ihm treten und die Tage seines Alters verschönern kann.“ Das also war die ganze Ausbeute achtzehnjähriger Hoffnungen! Meine Tochter auf demselben abschüssigen Wege zum Untergange, den ihre unglücklichen Eltern einst betreten hatten – und ich an der Schwelle des Alters, ohne Hoffnung, sie je wieder zu sehen! … Acht Jahre sind seitdem vergangen, doch meine Emilie habe ich nicht wieder gesehen. Ich fühle mich hinfällig und dem Ende nahe und will gern die Breter, auf denen ich ein freudenarmes Leben hingebracht, mit der letzten kahlen Breterwohnung vertauschen, wenn ich vorher nur einmal mein Kind wiedersähe, wenn ich nur wüßte, daß die liebevollen Blicke meiner Emilie den meinen begegneten, ehe sie für immer erlöschen. Dann mag der alte Regisseur da oben immerhin zum Schluß klingeln und den Vorhang fallen lassen über das traurigste Stück, das je gespielt worden.“

So schloß mein guter, unvergeßlicher Zugvogel. Ich aber nahm kurze Zeit darauf Abschied von ihm und den übrigen Mitgliedern, deren ordinärer Ton mir als die widerwärtigste Carricatur auf ihren Stand erschien und mir allen längern Aufenthalt gründlich verleidete.

Zugvogel hat seine Tochter wieder gesehen, aber in einer Weise, die er nicht geahnt hatte. Ungefähr sechs Monate nach jener Räubervorstellung erfuhr ich Zugvogel’s Tod und die merkwürdigen Umstände, unter welchen derselbe erfolgt war. Der gute Alte hatte nach meiner Abreise ein anderweitiges Engagement bei einem kleinen Stadttheater gefunden und von der Direction die Vergünstigung eines Benefizabends erhalten. Um sich eine erträgliche Einnahme zu verschaffen, hatte er sich an mehrere Mitglieder eines benachbarten Hoftheaters mit der Bitte gewandt, ihn in dieser Vorstellung durch ihre Mitwirkung zu unterstützen, und freundliche Zusage empfangen. Unter den Stücken, welche für jenen Abend gewählt waren, befand sich auch das alte Kotzebue’sche Schauspiel „der arme Poet“. Zugvogel, der in besseren Tagen die Titelrolle mit großem Erfolge gespielt hatte, schien angeregter als je und spielte mit überraschender Rüstigkeit und Frische. Die Scene, in welcher der alte Poet seine verloren geglaubte Tochter – diesmal von einer der Hofschauspielerinnen dargestellt – wieder erkennt, kam heran. Zugvogel hatte die Worte zu sprechen: „So bist Du meine Tochter?!“ In der vollen Wärme seines naturwahren Spiels schwankte er der Schauspielerin entgegen, um sie zu umarmen – da plötzlich fielen seine Blicke auf ein Medaillon, das sie an ihrem Halse trug … die Kapsel war aufgesprungen, er erkannte das Bild seines längst entschlafenen Weibes … kein Zweifel – es war seine Tochter, die vor ihm stand. Die zitternden Lippen wollten ansetzen: „Du bist – Du bist –“ mehr konnte er nicht hervorbringen, seine Arme fielen schlaff herunter, seine Augen schlossen sich und machtlos sank er in seinen Sessel zurück. Schauspieler und Zuschauer verstummten vor der ergreifenden Wahrheit dieser Darstellung – Keiner ahnte, daß in diesem Moment Dichtung und Wahrheit einander die Hände reichten, und daß hier eine Scene voll erschütternder Wirklichkeit gespielt worden. Erst als Minute auf Minute verrann und Zugvogel immer noch bewegungslos dasaß, durchzuckte die Mitspielenden eine Ahnung des Vorgefallenen. Man ließ den Vorhang fallen … In dem Sessel des alten Poeten saß eine Leiche.“

Adolph Fr–s.




  1. Urkundliche Benennung.
  2. Zweite Auflage, Nürnberg, Lotzbeck 1857, mit Hinweglassung der Vorrede.
  3. Insbesondere sind höchst interessante Correspondenzen, Tagebücher, Reisebücher etc. des bekannten Verfassers der „Annales Ferdinandei“, Grafen Franz Christoph Khevenhüller, und andrer Glieder seiner Familie, welche hohe Staatsämter einnahmen, vorhanden, selbst für allgemeine Geschichte reiches Material.
  4. Hier dürfte der preußische Patriotismus doch etwas ungerecht sein. Benningsen in Hannover, Hölder und Sigm. Schott in Stuttgart, Fries in Weimar, Friedleben in Frankfurt, Metz in Darmstadt, Völkel in München, Giskra und Berger in Wien, Braun in Wiesbaden geben den preußischen Rednern an Capacität und glänzendem Vortrag nichts nach.
    D. Red.