Die Gartenlaube (1862)/Heft 51
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No. 51. | 1862. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.
Eine Speculation.
Das Gespräch endete, und eine Zeitlang schwebte Behrend in der Besorgniß, die Redenden auf die Gallerie heraustreten zu sehen; aber er blieb allein, und nun wollte ein peinlicher Zustand der Ungewißheit über die Berechtigung zu seinem raschen Verfahren sich seiner bemächtigen, während die Stimme des Mädchens in ihrem verschiedenen Ausdrucke noch immer in seinem Ohre klang – da bog ein schwarzes Gesicht um die Ecke der vordern Gallerie, und der Dasitzende erkannte Bob, den Porter, welcher beim Anblicke des Deutschen mit einer wunderlichen Gesichtsverzerrung stehen blieb. Damit aber trat in einer plötzlichen Ideenverbindung auch Webster’s Gesicht vor die Seele des jungen Mannes. Er wußte jetzt mit einem Male, was seinen Stolz und seine Empfindlichkeit dem Alten gegenüber so geschärft; es war der Hochmuth jenes Menschen, dessen wegwerfender Antwort ihn Peters schon bei seiner Ankunft preisgegeben, jenes Menschen, welcher der Verlobte Ellen’s war, und er wußte nun auch, was ihn in näherer Berührung mit dem Bankier und dessen Familie niemals hätte ausdauern lassen. Er war mit sich und seinem Entschlusse wieder völlig klar. Mit dem Gedanken an Webster aber waren auch alle Empfindungen, welche der letztgehörte Ruf desselben in ihm erzeugt, von Neuem erwacht, und mit unwillkürlicher Hast winkte er den Schwarzen zu sich heran.
„Well, Bob, es ist nun doch ein Mann, der Wilson heißt, unter der Schiffsmannschaft!“ sagte er, seine Stimme dämpfend, und der Herbeigetretene riß mit einer Miene, in welcher sich plötzlich Angst und Geheimniß wunderlich mischten, die Augen fast unnatürlich groß auf.
„Wissen Sie etwas davon, Sir?“ erwiderte er leise, mit einem scheuen Blicke auf die nächsten Umgebungen. „Ich bin nun ein Jahr auf dem Boote, aber ich habe ihn jetzt das erste Mal gesehen und reden hören.“
„Und was hat er mit Colonel Webster gesprochen?“ fragte Behrend, dem es klar war, daß der Schwarze soeben etwas von den zwischen Beiden gefallenen Worten aufgefangen haben mußte, halblaut und mühsam seine Spannung verbergend.
„Nichts, Sir, nichts, was nur einen Sinn für mich gehabt hätte,“ gab der Schwarze hastig und sich von Neuem scheu umblickend zurück, „aber wenn Sie etwas wüßten, Sir, und wollten mir ein Wort sagen – Sie frugen schon gestern nach dem Wilson –“ Die ängstliche Scheu in dem Wesen des Negers prägte sich jetzt in einem so seltsamen Mienenspiele aus, daß Behrend nur um so gespannter auf den Grund derselben wurde, zugleich sich aber auch überzeugt hielt, daß Jener, was auch beabsichtigt werden mochte, nirgends betheiligt war.
„Wir werden uns verständigen, Bob,“ nickte der junge Mann, seine Stimme zum halben Flüstern dämpfend, „laßt nur zuerst hören, was keinen Sinn für Euch gehabt und Euch doch in Schrecken gesetzt hat –!“
„Es waren nur die Gesichter, Sir,“ erwiderte der Schwarze eifrig; „ich bekam zuerst den Mr. Wilson vor’s Auge – ich dachte nicht an’s Horchen, Sir, ich stak zwischen dem Passagiergepäck, wo sie sich gerade hinstellten – und ich meinte dem leibhaftigen Teufel, wenn er über eine verlorene Seele lacht, in’s Gesicht zu sehen. Er lachte ganz heimlich, Sir, aber es fuhr mir in alle Knochen, und als ich nachher den Cornel ansah, meinte ich ihn kaum wieder zu erkennen, er hatte beinahe dasselbe Gesicht wie der Andere, so roth und verzogen. Sie sprachen nur ein paar kurze Worte, so lange sie still standen; Wilson sollte etwas nicht thun, so lange Miß Peters auf dem Boote sei, er schien sich aber nicht gern hinein zu fügen, weil er sich nicht um des Cornels Zärtlichkeiten, sondern nur um die beste Gelegenheit kümmern dürfe; der Cornel sagte nun etwas, das klang wie „Mörder“, wozu aber Wilson sein heimliches Lachen wieder aufschlug; dann gingen sie miteinander weg, aber ich sah noch, wie Wilson seine Hand hinreichte, als verspreche er den Willen des Cornels zu thun –“
Ein kurzes, scharfes Läuten der Schiffsglocke brach die Rede des Schwarzen ab; ein langgezogenes Brüllen der Dampfpfeife folgte nach, und mit einem hastigen Blicke in’s Freie, wo sich soeben Alles, was die Reise nicht mitmachte, vom Boote hinausgetreten zu zeigen begann, wandte sich der Sprechende zum Gehen. „Erlauben Sie mir wohl, Sir, Sie noch einmal anzureden, sobald es sich ruhiger thun läßt?“ fragte er eilig und sprang, nachdem ihm Behrend mit einem bereitwilligen: „Nur los damit, Bob!“ zugenickt, in weiten Sätzen davon. Der junge Mann sah den Bankier bereits am Lande, sah, wie Webster zu ihm trat, ohne daß indessen der Beobachtende einen Blick in des Letzteren Gesicht hätte erhalten können, und in der Minute darauf begann sich das Boot aus der Reihe der übrigen Fahrzeuge in das freie Wasser hinaus zu schieben.
Zwei Tage lang war die „Lilly Dale“ in eintöniger Fahrt den Strom hinabgeschwommen, hatte nur zweimal angelegt, um sich des größten Theils ihrer Passagiere und einiger Frachtstücke zu entledigen, und trieb jetzt Memphis zu. Behrend saß in dem offenen Eingange zur Gallerie und schien seine Aufmerksamkeit zwischen
[802] dem, was sich von den Vorgängen im Innern des Salons wahrnehmen ließ, und dem wunderlichen dicken Nebel zu theilen, welcher mit dem Niedergehen der Sonne aus dem breiten Strome aufstieg, anfänglich nur das Wasser und den unteren Theil des Fahrzeugs einhüllte, während die rothbestrahlten Ufer noch wie hinter einer Wolke hervorblickten, dann aber auch diese verbarg. Für den jungen Mann war die eintönige Fahrt indessen eine Zeit voll sich drängender Ereignisse gewesen.
Als das Boot St. Louis verlassen, hatte er mit dem Entschlusse den Salon betreten, seine unerwartete Reisegefährtin zu begrüßen und sich ihr für alle Nothfälle zur Verfügung zu stellen, dann aber jede weitere Berührung mit ihr zu vermeiden und so neuen zwecklosen Kämpfen mit sich selbst aus dem Wege zu gehen. Er hätte aber des letzteren Entschlusses kaum bedurft. Ellen Peters war ihm mit einer so kalten Gehaltenheit entgegengetreten, hatte ihm so formell für seine Erbietungen gedankt, daß von einer Annäherung seinerseits, selbst wenn er sie gewünscht, kaum die Rede hätte sein können, und umsonst hatte Behrend nach diesem Empfange sich selbst überreden wollen, daß die Weise desselben nur seinen Wünschen entsprochen. Jemehr er sich jedes Gedankens an das Mädchen zu entschlagen gestrebt, um so bestimmter hatte sich ihr Bild ihm aufgedrängt, und mehr als einmal ertappte er sich, daß er, in eine Ecke zurückgezogen, seine Augen unbewußt ihren graziösen Bewegungen folgen ließ oder sich im Anschauen ihrer Züge, in denen beim Gespräche mit ihrer heimkehrenden Freundin die ganze lebendige Anmuth von früher aufstrahlte, berauschte. Hätte sie eine ruhige Freundlichkeit gegen ihn beobachtet oder wenigstens seine Anwesenheit nicht so völlig ignorirt, so wäre ihm, wie er meinte, wohl mehr Kraft zur Bekämpfung einer Empfindung geworden, welche ihm unter den obwaltenden Verhältnissen selbst wie eine Lächerlichkeit erschien, als dieser Haltung gegenüber, die ihn durch ihre zurückweisende Kälte reizte, und ihm zugleich den Ton von Besorgniß in ihrer früheren Frage: „Aber wenn er nun wirklich nach New-Orleans ginge, Vater?“ diesen Ton, der noch immer aus seinem Herzen herauf klang, wie eine Sinnestäuschung erscheinen lassen wollte. Nur einmal meinte er bemerkt zu haben, daß sie sich mit ihm beschäftige. Es war kurz vor der Ohiomündung, an welcher sie mit der heimkehrenden Freundin das Boot verlassen sollte, als sie mitten im Gespräch mit der letzteren aufsah und wie unter einem bedrückenden Gedanken die Augen suchend über die wenigen in dem geräumigen Salon zerstreuten männlichen Gestalten laufen ließ, bis sie ihn in seiner Ecke entdeckt. Fast war es ihm, wie jetzt ihr Blick in dem seinen hängen blieb, als drücke sich eine Art ängstlicher Theilnahme darin aus, und in dem jungen Manne zuckte es, sich zu erheben und ihr, noch ehe das Boot anlegte und sie es verlassen mußte, ein herzliches Wort des Abschieds zu sagen; da aber senkte sie plötzlich, wie sich ihrer bewußt werdend, das Gesicht, und ihr nächster Ausblick zeigte ihm so kalte, steife Züge, als wolle sie damit ihr augenblickliches Sichgehenlassen ausgleichen. Behrend konnte einem Gefühle tiefinnerlicher Verletzung nicht wehren, er erhob sich rasch und wandte sich nach seiner „Cabin“, um dort sich auf sein Bett zu werfen, bis das Boot die Landungsstelle, welcher es zusteuerte, wieder verlassen haben würde. Sobald das Mädchen dort einmal das Ufer betreten, mußten alle diese quälenden Gefühlserregungen für ihn ein Ende nehmen.
Fast war ihm unter dieser ausschließlichen Beschäftigung mit sich selbst der Gedanke an jene seltsamen Unterredungen Webster’s mit einem Menschen, der kaum zu einer guten Vermuthung Anlaß geben konnte, aus der Seele gewichen; er sollte indessen auf eine überraschende Weise daran erinnert werden.
Das Boot hatte am Lande angelegt und begann wieder in sein Fahrwasser einzubiegen; nur die wenigen Passagiere, welche trotz der Jahreszeit weiter südwärts gingen, waren an Bord geblieben, und fast hatte das auffällig kurze Verbleiben an der Landung darauf schließen lassen, daß dem Capitain, der übrigens noch nirgends sichtbar geworden, kaum etwas an einem Ersatze der abgegangenen „lebendigen Fracht“ liege. Behrend war, sobald er das wiederbeginnende Arbeiten der Maschine gehört, aus seiner „Cabin“ in den jetzt völlig leeren Salon getreten und hatte sich einem der Seitenausgänge zugewandt, um dort einen letzten Blick auf die Landung und damit vielleicht auf Ellen, welche hier das Ende ihrer Reise gefunden und wohl auf Nimmerwiedersehen geschieden war, zu erlangen. Da trat ihm durch die offene Thür ein Gesicht entgegen und drehte sich, ohne ihn zu beachten, nach der im vordern Theile des Boots befindlichen Office, in welchem ihm sofort das treue Bild, welches Bob von Wilson’s Erscheinung entworfen, in die Augen sprang. Unwillkürlich wandte er sich, um dem Eingetretenen nachzublicken, und sah, wie der „Office-Clerk“, als habe er jenen bereits erwartet, hinter seinem Pulte hervor und dem Nahenden entgegentrat.
„Halloh, Butler, so eilig?“ rief der Letztere, ohne seiner Stimme einen Zwang anzulegen, „was kann’s denn jetzt noch geben?“ Und in diesem „jetzt noch“ meinte Behrend ganz den satanischen Hohn klingen zu hören, wie Bob ihn angedeutet.
„Es kann nicht nur geben, es giebt, Sir!“ war die hastige gedämpfte Antwort, mit welcher der „Office-Clerk“ dicht an den Andern herantrat, „sie hat weitere Passage bis Memphis genommen und nicht daran gedacht, das Boot zu verlassen – was nun?“
Behrend, welcher bei dem ersten gefallenen Worte sich wieder in die Deckung des Ausgangs zurückgezogen, meinte plötzlich einen Stich in der Herzgegend zu fühlen; Alles, was Bob ihm von dem letzten Gespräche zwischen Webster und diesem Wilson mitgetheilt, war mit der Schnelle des Blitzes vor ihn getreten; er verstand in keiner Weise, um was es sich handelte, aber er wußte, daß diese „sie“ doch nur Ellen Peters sein konnte.
Eine momentane Pause, wie unter der Macht einer unvorhergesehenen Nachricht, war eingetreten. „Sie geht noch mit uns?“ klang dann Wilson’s hörbar unterdrückte Stimme von einem leisen, heiseren Lachen begleitet, „und ganz allein?“
„Sie scheint sich der einzigen Lady, die Passage bis Memphis genommen hat, angeschlossen zu haben,“ war die halblaute Antwort, „die Andere, welche früher bei ihr war, ist hier an’s Land gegangen.“
„Nun, verdammt will ich sein, wenn ich mich nur eine Minute lang daran kehre!“ erwiderte Wilson, man wußte aber kaum, klang Lachen oder Aerger in seinem Tone, „ich habe bis hierher mein Wort gehalten, von Weiterem aber weiß ich nichts.“
„Noch einen Augenblick, Wilson!“ sagte der „Office-Clerk“ hastig, als habe sich Jener zum Gehen gewandt, und die ferneren Worte wurden in einem jetzt folgenden Flüstern unhörbar; Behrend aber hielt es für gerathen, auf die Gallerie hinaus zu treten, um jeden Schein, als habe er von der stattgefundenen Unterredung etwas vernommen, von sich zu halten. Es war ihm vor den eindrängenden Gedanken fast wirr im Kopfe – was konnte denn beabsichtigt werden, das mit ihr oder ihrer Anwesenheit auf dem Boote hätte in Verbindung stehen können – und was war es auf der andern Seite, das sie hier zurückgehalten, sie zum Verlassen ihrer Freundin und zur Weiterfahrt vermocht? Der Gedanke durchschoß ihn, zu ihr zu reden, ihr Alles, was er beobachtet und gehört, mitzutheilen und sich damit vielleicht selbst Klarheit zu schaffen; aber wenn sie seine Einmischung in ihre Angelegenheiten hätte dulden wollen, wäre sie dann nicht längst eine Andere gegen ihn gewesen? Er dachte an Bob, den er seit der Abfahrt von St. Louis nicht wieder gesehen, diesem mußte Gelegenheit zu weiterer Beobachtung geworden sein – und froh, wenigstens einen Gedanken zu haben, dem er nachzugehen vermochte, begann er langsam das Boot zu durchwandern, um des Schwarzen habhaft zu werden. Was noch von Reisenden an Bord war, mußte sich in die Cabins zurückgezogen haben, denn der Salon und die Gallerien waren leer; aber auch als er nach dem untern Deck, das zum großen Theile mit Frachtgütern besetzt war, hinabstieg, fiel ihm der Mangel aller Arbeiter auf, und er hatte sich erst scharf umzublicken, ehe er außer dem Wächter an der Maschine einen zweiten Menschen entdeckte. Auf seine Frage nach dem Gesuchten ward er kurz nach einem Verschlage gewiesen; als er aber dort die Thür öffnete, prallte er fast vor dem sich ihm entgegenhebenden Gesichte des Schwarzen zurück. Ueber die Nase desselben lief ein breites Pflaster, die wulstige Oberlippe war wie von einem Schlage halb durchrissen, und eins seiner Augen, welches hervorgequollen und blutig im Kopfe hing, schien der Verwundete soeben mit Wasser zu kühlen. Mit einer Grimasse, wunderlich aus Höflichkeit und Schmerz gemischt, begrüßte dieser den Eintretenden, dann aber schloß er hastig die Thür und wie den Gesichtsausdruck Behrend’s beantwortend sagte er halblaut: „Es ist wirklich der Bob, Sir, und so hat ihn der rothe Teufel zugerichtet. Der meinte, ich belauere seine Schritte, was er mir austreiben wolle; aber bei Jesus Christ, Sir, ich denke es ihm nicht schuldig zu bleiben – ich habe hier schon genug gesehen! – Nichts, Sir, nichts, was von sich schon sprechen ließe,“ [803] unterbrach er sich ängstlich, als Behrend zu einer Frage ansetzte; „aber seien Sie ganz ruhig, ich bin auf der Lauer, Tag und Nacht – die Deckarbeiter sind alle weggeschickt, daß er hier reine Bahn haben will, aber der Bob ist noch da, es soll nichts passiren, ohne daß Sie zu rechter Zeit Nachricht haben, Sir – und nun, bitte, gehen Sie, Sir, er hat seine Augen überall!“
Behrend fühlte selbst, daß ein längerer Aufenthalt in der schmutzigen Kammer des Schwarzen auffallen könne, und nahm diesem nur noch das Versprechen ab, ihn mit Dunkelwerden in seiner Cabin aufzusuchen – sich dann mit einem Gefühle entfernend, als solle jetzt erst eine bestimmte Unruhe über etwas Bevorstehendes, von welchem ihm doch jede Vorstellung fehlte, in ihm erwachen. Selbst als er, wieder auf die Gallerie gelangt, das Auge über die sonnenbeglänzte, oft von grünen Inseln unterbrochene Stromfläche und die beiden mit üppigem Gebüsch in den prächtigsten Schattirungen besetzten Ufer gleiten ließ, wollte das Bild ihm keinen freundlicheren Gedanken geben; es lag etwas in der großartigen Einsamkeit rings umher, zusammen mit der eigenthümlichen Menschenleere in dem Boote, das einmal aufgestiegene beängstigende Gedanken nur nähren konnte.
Das war am Spätmorgen gewesen. Behrend hatte, nachdem er sich Bilder der verschiedensten Gefahren vor Augen geführt, ohne daß er doch eins derselben mit den Verhältnissen um ihn in eine vernünftige Verbindung hätte bringen können, sich mit dem Bewußtsein seiner eigenen Kraft beruhigt; er war ein Schwimmer, der sich getraute, mit Leichtigkett das nächste Ufer zu erreichen – und mehr, als in’s Wasser geworfen zu werden, konnte ihm doch kaum geschehen und hatte dann seine Gedanken wieder dem Räthsel, das Ellen Peters ohne eine sichere Begleitung noch weiter dem Süden entgegenführte, zugewandt. Er dachte jetzt nicht daran es zu lösen, aber er sah ungeduldig dem Mittag entgegen, wo sie bei Tische sichtbar werden und er Gewißheit über ihre Anwesenheit erlangen mußte. Und das Mädchen war an der Seite einer ältlichen Frau erschienen, hatte mit einem halb scheuen, grüßenden Blicke auf den jungen Mann unter einem leichten, flüchtigen Erröthen eins der wenigen Couverts in Besitz genommen, dann aber das ernste Auge nicht von ihrem Teller aufgeschlagen und nach beendeter Mahlzeit wortlos den Tisch wieder verlassen.
Und jetzt, bei niedergehender Sonne, saß Behrend in dem offenen Eingange zur Gallerie, bald den Blick in den über dem Flusse aufsteigenden Nebel richtend, der nach Kurzem jeden Schritt Fernsicht nach außen verwehrte, bald das Auge nach dem Damensalon wendend, wo Ellen erst vor Kurzem wieder mit ihrer Begleiterin sichtbar geworden war. Es hätte ihm jetzt fast lächerlich erscheinen mögen, daß bei der eingetretenen Vereinsamung auf dem Boote sie Beide sich noch in dieser steifen Entfernung von einander hielten, wenn nur nicht ein Gefühl von Schmerz, daß eben die Verhältnisse zwischen ihnen nichts Anderes fordern ließen, die Oberhand in ihm gehabt hätte. Er war der arme Mensch, der, um sein Brod zu suchen, gezwungen war, nach New-Orleans zu gehen, und dessen „Trotz“: vom Mitleide keine Unterstützung anzunehmen, nicht einmal begriffen worden war; sie war die Bankiers-Tochter, die Verlobte des Dampfboot-Eigenthümers, die sich kaum mehr ihrer Kindheit in Deutschland entsann – was hatten sie beide mit einander zu schaffen? Er hatte mit seiner Jugenderinnerung eine unsinnige Leidenschaft in sich entstehen lassen; was wußte sie aber davon, oder wie hätte sie auch nur dadurch berührt werden können?
Draußen war mit der hereinbrechenden Dämmerung der Nebel immer undurchdringlicher geworden; es war ganz ein Wetter, um auch bei der besten Vorsicht ein Unglück zu erleben, und dieselbe Unruhe, welcher sich Behrend nach seinem Gespräche mit Bob nicht hatte erwehren können, überkam ihn bei seinem nächsten Blicke in’s Freie von Neuem – jetzt indessen weniger seinethalber, als um des Mädchens willen, das hier ohne jeden natürlichen Schutz stand. Trotz der Entfernung, in welcher sie sich von ihm gehalten, erschien es ihm plötzlich als unabweisliche Gewissenspflicht, ihr nochmals für alle möglichen Fälle seinen Beistand anzubieten, mochte sie nun dieses neue Herantreten aufnehmen, wie sie wollte – und als die angezündeten Lampen den bereits dunkelnden Salon erhellten, erhob er sich rasch, als wolle er damit jedes Schwanken in seinem Entschlusse abschneiden. Schon nach seinen ersten Schritten schien sie seine Näherung bemerkt zu haben, und ihr langsam aufgerichtetes Gesicht verfärbte sich leicht.
„Ich wage es nochmals, Miß Peters, mich Ihnen in jeder Beziehung zur Disposition zu stellen,“ begann er herantretend, ohne eine leise Bewegung in seiner Stimme verbergen zu können; „wir bekommen eine Nebelnacht, wie sie auf diesen Fahrten oft nicht ohne Unannehmlichkeiten abgeht, und mir ist es, als stände ich Ihnen, wenigstens unter der jetzigen zusammengeschmolzenen Reisegesellschaft, noch am nächsten.“
Sie hatte ihn, während die Frau an ihrer Seite den Divan verlassen, mit großem, ernstem Ange angesehen. „Das heißt also,“ erwiderte sie langsam, „Sie bieten mir Ihre Unterstützung an, nachdem Sie jeden Dienst unsererseits von sich gewiesen? Wollen Sie mir wohl sagen, wodurch Sie mir näher als Andere ständen, nachdem Sie uns so völlig als Fremde behandelt haben?“ Es klang ein eigenthümlicher Ton, wie aus verletzter Seele kommend, in ihren Worten, welcher alle niedergehaltenen Empfindungen des jungen Mannes erregte.
„Aber, Miß, Sie thun mir Unrecht mit einem solchen Vergleiche,“ rief er eifrig, „was habe ich denn weiter gethan, als mich eines Anspruchs enthalten, zu dem ich nirgends berechtigt war? Oder hätten Sie, wenn ich jemals Ihre Beachtung gefunden, wirklich lieber einen Menschen in mir gesehen, der ruhig sich durch das Wohlwollen Anderer erhalten läßt, bis er in aller Bequemlichkeit ein anderes Unterkommen erlangen kann? Und überdies: trat mir denn Mr. Peters nicht wirklich als Fremder entgegen?“
Sie schüttelte leise den Kopf. „Sie beurtheilen Menschen und Dinge zu scharf,“ erwiderte sie, „und danach könnte ich jetzt ebenfalls sagen: ich muß mich eines Anspruchs an Ihren Beistand, zu dem ich nicht berechtigt bin, enthalten, Sie sind nur ein Fremder gegen mich gewesen – aber,“ fuhr sie, sich leicht erhebend fort, während ein schwaches Roth ihre Wangen zu färben begann, „ich bin nicht ganz so empfindlich stolz als Sie; ich fühle mich aus diesem menschenleeren Boote unangenehm allein und will gern mich nöthigenfalls auf Ihren Beistand stützen, wenn Sie mir nur versprechen, daß Sie bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit auch meine helfende Hand nicht zurückweisen wollen!“ Ihr Gesicht hatte sich wundersam aufgehellt, um ihren Mund stand ein halbes Lächeln, und ihre Augen hielten mit einem so eigenthümlichen Forschen seinen Blick gefangen, daß er sich wie vor einem neuen verwirrenden Räthsel zu fühlen begann.
„Ich weiß nicht, welcher Sinn in Ihren Worten liegen mag,“ erwiderte er, kaum noch an ein Verbergen seiner innern Bewegung denkend, „aber ich möchte Ihnen Alles versprechen, Miß, nur um Ihnen zu beweisen, daß ich nicht ein Urtheil verdiene, wie Sie es wohl über mich gefällt haben –“
Ihr Auge hatte unverwandt in dem seinen geruht und schien jetzt wie unter einer ansteigenden Empfindung tiefer und dunkler zu werden. „Ich habe also Ihr Wort für unsern Contract,“ sagte sie, ihm die Hand langsam entgegenstreckend, „und werde nun sehen, ob Ihr Stolz auch vielleicht gegen Ihre Neigung Farbe hält!“ Sie hatte sich bei den letzten Worten mit einem Lächeln, das wie Sonnenschein über ihre Züge ging, zum Gehen gewandt und schritt jetzt dem Platze, welchen ihre Gesellschafterin eingenommen hatte, zu. Behrend stand noch einen Moment ohne Regung und wandte sich dann wie mechanisch dem vordern Salon zu. Als er aber seinen frühern Sitz wieder erreicht, drückte er die Hand vor die Augen. „Was will sie von mir?“ sagte er halblaut, „sie wäre im Stande, mich das, was jetzt die größte aller Thorheiten wäre, begehen zu lassen!“ – –
Das Abendessen war in einem Schweigen vorübergegangen, welches eine allgemeine Verstimmung und Unbehaglichkeit unter der kleinen Zahl der Reisenden anzudeuten geschienen; die Damen hatten sich schon, nachdem sie den Tisch verlassen, in ihre Cabin zurückgezogen, die Männer waren bald ihrem Beispiele gefolgt, und auch Behrend lag nach Kurzem, nur halb ausgekleidet, auf seinem Bette, die offenen Augen durch die Glasthüre, welche jede Cabin mit der Gallerie verbindet, in den vom Mondlichte silbern gefärbten Nebel hinaus gerichtet, bald in seinen Empfindungen für das Mädchen, dessen Thun und Wesen er nicht zu erklären vermochte, sich verlierend, bald den einzelnen Tritten, welche noch in dem Fahrzeug laut wurden, horchend und vergebens den Eintritt des Schwarzen, der ihm Aufklärung über seine heutigen Andeutungen geben sollte, erwartend. Unter dem gleichmäßigen Geräusch der Maschine begann indessen der Schlaf über ihn zu kommen, ohne daß er sich dessen nur bewußt geworden wäre, und als er nach [804] kurzer Zeit, wie er meinte, von einem leichten Ruck des Boots wieder zum halben Wachen gelangte, stand ihm nur ein köstliches Traumbild vor der Seele, in das er sich schnell, ehe es völlig verschwand, wieder zu versenken suchte. Er sah sich auf einer grünen Wiese mit malerisch eingestreuten Gebüschpartien, zwischen denen soeben die kleine Helene Peters verschwand, noch einmal die großen prächtigen Augen lächelnd nach ihm zurückwendend. Sie war dasselbe kleine Mädchen, wie er es in Deutschland gekannt, und doch konnte das auch wieder nicht sein, denn er wußte ja, daß er sie über alle Begriffe liebe, daß er glaubte sterben zu müssen, wenn er sie in diesem Gewirre von Buschwerk nicht wieder zu finden vermöge. Er war ihr nachgeeilt; bald meinte er sie hier durch das Gesträuch rascheln zu hören, bald dort ihr Kleid verschwinden zu sehen, aber immer war es eine Täuschung, die ihn geäfft. Er fühlte endlich vor innerer Angst den Schweiß auf seine Stirn treten, die ganze Luft schien ihm heiß und erstickend zu werden, aber immer trieb es ihn vorwärts aus einem Irrweg in den andern – da hörte er plötzlich wie aus weiter Ferne: „Joseph, Joseph! Joseph, um Gotteswillen!“ Das war ihr Ruf, aber wie in Todesangst ausgestoßen und in einem Gefühle, als solle ihm das Herz springen, suchte er sich gerade Bahn durch das Gesträuch zu brechen – da erfolgte ein Schlag, als solle die Erde bersten; hoch auf fuhr der Schlafende und sah die verriegelte Thür seiner Cabin in Stücken hereinbrechen. „Joseph, Joseph!“ klang es noch immer, und: „Hier ist er, Ma’am, nur hierher!“ antwortete eine athemlose Stimme.
Die erste Empfindung, welche dem Aufgeschreckten zum Bewußtsein kam, war die einer glühenden, fast den Athem versetzenden Hitze; der nächste Augenblick ließ ihn eine durch die gesprengte Thür hereindringende flackernde Helle erkennen – dann stand er auf seinen Füßen und mit dem plötzlich sein Gehirn durchschießenden Gedanken: das Boot brennt! der im Nu in allen seinen ungewissen Befürchtungen Klarheit schuf, war er auch im Salon. Er hatte indessen kaum die auf der andern Seite des Fahrzeugs aus dem untern Raume empor lohenden Flammen, von denen dort soeben die äußere Gallerie ergriffen wurde, bemerkt und das Knistern und Prasseln ringsumher in sein Ohr aufgenommen, als eine weiße Gestalt ihm entgegen stürzte und athemlos, die Züge starr vor Entsetzen, seinen Arm faßte. Ein einziger Blick hatte ihn Ellen im spitzenbesetzten bis zum Halse geschlossenen Nachtgewande erkennen lassen. „Hier hinaus, es ist nirgends mehr ein anderer Ausgang,“ rief sie, nach der nächsten diesseitigen Thür zur Gallerie deutend, während ein Strahl von kräftiger Energie durch die Angst in ihrem Auge brach, „aber um Gotteswillin rasch Matratzen her, sonst sind wir doch verloren!“
„Hier sind sie schon!“ klang die keuchende Stimme Bob’s, welcher mit Bettstücken beladen aus einer der Cabins stürzte; im gleichen Augenblicke aber wurde ein Brechen und Prasseln laut, das jedes andere Geräusch verschlang, und mit einem hastigen: „Hierher, Joseph, mir nur nach!“ ergriff Ellen eine der Matratzen und flog, sie umschlingend, nach der noch unversehrten Gallerie, an welcher indessen ebenfalls die Flammen schon herauf zu lecken begannen. Als Behrend – in diesem Momente fast mehr von der Sorge für das Mädchen als für sich selbst erfaßt – ihr nacheilte, hörte er hinter sich die Schreckensrufe der erst jetzt aus ihren Cabins stürzenden übrigen Passagiere; aber er durfte nicht darauf achten – vor ihm hatte Ellen sich soeben auf die Barriere der Gallerie geschwungen und sprang ohne einen Augenblick der Zögerung in den von den Flammen erleuchteten Strom hinab. In der nächsten Secunde hatte er den Sprung ihr nach gethan; das laue Wasser schlug über ihm zusammen, und als er wieder auftauchte, sah er sie, die schwimmende Matratze umklammert haltend, ein Stück von sich auf der Oberfläche treiben. In diesem Augenblicke fuhr ein dritter Körper in den Strom hernieder, und zugleich meinte Behrend das schwimmende Fahrzeug auf sich zukommen zu sehen. Mit zwei kräftigen Stößen war er bei dem Mädchen; neben ihm aber tauchte jetzt, wie der Kopf eines schwarzen Pudels, Bob’s wolliges Haupt empor. „Rasch zur Seite, oder das Boot faßt uns!“ rief der Deutsche, „treten Sie nur mit den Füßen aus, Miß Ellen, und es wird von selbst gehen!“ Sie schien ihn indessen nicht gehört zu haben und blieb regungslos in ihrer Lage; dagegen fuhr der halbe Leib Bob’s mit einem Umblick nach den Flammen aus dem Wasser. „Der Nebel trügt, Sir, die Mordbrenner haben schon dafür gesorgt, daß es nicht nach dem Ufer treibt – die Maschine gehemmt und das Steuer festgemacht,“ sagte der Schwarze mit heiserer Stimme, „o, ich weiß Alles – aber jetzt nur nach dem Lande, helfen kann man doch nichts mehr!“
„Hierher, Bob!“ rief Behrend, welchen bei der Sicherheit, welche der Neger im Wasser zeigte, eine Art Beruhigung überkommen hatte, „wir nehmen die Lady zwischen uns und bringen sie so leicht an’s Ufer.“
„O, Miß Peters – sicherlich, Sir!“ war die eifrige Erwiderung, und in der nächsten Minute hatten Beide ihre Plätze zur Seite des regungslosen Mädchens genommen und begannen im kräftigen Ausstreichen mit ihr die Nähe des Boots zu verlassen.
Wenige Minuten Entfernung nur mochten sie im ruhigen Vorwärtsarbeiten zurückgelegt haben, als schon von dem Brande des Schiffs nur noch ein heller unbestimmter Schein zu erblicken war. Der Nebel lag dick wie zum Greifen auf dem Flusse, daß auch das Mondlicht sich nur wie ein Dämmerschein darin geltend machte, und durch Behrend’s Kopf, in welchem sich jetzt nur die Gedanken für das Allernächste klar zu bilden vermochten, schoß plötzlich eine Sorge über die eingeschlagene Richtung. Das Wasser floß hier so träge, daß man, ohne besonders fühlbaren Unterschied, die Strömung ebenso hätte durchschneiden als mit ihr gehen können; jedes andere Merkmal aber hielt der Nebel dicht verschleiert, und nach einigen neu verstrichenen Minuten, in welchen der junge Mann sich vergebens zu orientiren versucht, fragte er: „Bob, seid Ihr sicher, daß wir auch dem Ufer entgegen arbeiten?“
„Ich denke doch, Sir,“ war die Antwort, während der Oberkörper des Schwarzen zu einem neuen Rundblick aus dem Wasser fuhr, „wir sind von der Seite des Boots, gerade dem Lande zu, losgegangen, und das Boot müßte eine Schwenkung gemacht haben, wenn wir falsch sein sollten. Aber es braucht gut eine Viertelstunde oder auch länger, Sir, um das Stück Wasser zu durchschwimmen – wir müssen noch über die Hälfte vor uns haben, und ich hatte nur Sorge, ob die Matratze der Lady lange genug das Wasser zurückhalten werde.“
„Vorwärts denn, und so rasch wir vermögen!“ erwiderte Behrend mit einem Blicke nach dem Mädchen, deren schweres dunkeles Haar aufgelöst in das Wasser niederhing und die Aussicht in ihr Gesicht verdeckte, und wieder ging es in regelmäßigem Arbeiten in der frühern Richtung vorwärts.
Das Haus Lothringen-Habsburg hat stets nach zwei Seiten hin die Pläne seiner Familienverbindungen und damit der möglichen Vergrößerung seines Länderbesitzes im Auge gehabt: nach Italien und nach Baiern. In früheren Zeiten richtete es seine Verheirathungspolitik gerade nach der entgegengesetzten Seite und stellte dieselbe hier erst ein, als Alles erworben war, was irgend nur auf solchem Wege zu erwerben ging. Die Kronen von Böhmen und Ungarn waren die Gewinnste solcher Heirathen, und sie erhoben das Erzherzogthum Oesterreich plötzlich zu einem so großen und mächtigen Staate, zu jenem Austria felix, dessen erheirathete Stücke sich zu ihrer Fortexistenz förmlich auf einander angewiesen sahen. Aber mit Böhmen und Ungarn und dessen fetten Zugehörigkeiten von Croatien und Siebenbürgen war im Osten der österreichischen Mark ziemlich Alles weg, was durch Heirathen zu erwerben ging.
So kam es, daß die italienischen Prinzessinnen und die süddeutschen, namentlich die bairischen, am Wiener Hofe die Blicke des Begehrens auf sich zogen, weil seit Maria Theresia’s Zeit die Heimath beider als zukünftige, höchst angenehme Adnexe der österreichischen Monarchie auserkoren waren. Italien zu besitzen und Deutschland zu beherrschen wurde Hauspolitik von Oesterreich. Maria Theresia selbst hatte durch ihren Gemahl Franz von Lothringen das Großherzogthum Toscana erworben; Joseph II. heirathete zuerst eine Prinzessin von Parma und nach deren frühem
[805]Tode mußte er, so widerstrebend es ihm auch war, eine baiersche Fürstin wählen. Es wurde damit für den längst vorbereiteten baierschen Erbfolgekrieg ein neuer Reichstitel geschaffen, und wenn trotzdem das Haus Zweibrücken mit seinen Erbansprüchen auf das schönste aller Kurfürstenthümer weiland des heiligen römischen Reichs deutscher Nation siegte und es noch heute als „Königreich“ Baiern beherrscht, so ist das bekanntlich einzig und allein dem alten Fritz zu danken, der lieber mit seiner Armee in Böhmen einfiel und mit Kaiser Joseph den berühmten Zwetschenrummel oder Kartoffelkrieg trieb, als daß er dem verhaßten Oesterreich das reiche Baiern erwerben ließ. Leopold II., von Toscana, war mit einer spanischen Prinzeß vermählt – ein Geschlecht, welches aus alter Tradition beim österreichischen Hause noch in Ansehen steht. Franz des Ersten vier Frauen waren aus würtembergischem, neapolitanischem, modenesischem und baierschem Stamm. Sein Sohn Ferdinand heirathete eine piemontesische Prinzeß. Seit hundert Jahren hat also, wie man ersieht, die habsburgische mit nur wenigen Ausnahmen immer in die italienischen Fürstenfamilien und in das Haus Baiern geheirathet. Die Vortheile davon haben denn auch vor Aller Augen gelegen. Jedermann wird sich entsinnen, [806] daß ganz Italien bis 1859, ausgenommen Piemont, ziemlich eine österreichische Provinz bedeutete; die Lombardei war sein eigen, ebenso wie Venedig; Toscana, Modena und Parma waren österreichische Souverainetäten; Neapel nicht viel mehr als ein Vasall: Oesterreich herrschte in Italien, wenn es auch nicht überall regierte. Das genügte auch vollständig der Wiener Politik, und mehr als ein gleiches Verhältniß erstrebte es auch nicht zu Deutschland; durch das benachbarte, engverwandte Baiern fand es eine starke Stütze für seine Politik nach dieser Seite hin.
Die Mutter des jetzigen Kaisers Franz Joseph ist die baiersche Prinzessin Sophie, eine der geistvollsten und zugleich diplomatisch geschicktesten Frauen, welche für die österreichische Politik in Baiern wohl das Meiste gethan hat. Sie war die Seele der Politik Neu-Oesterreichs, wie es aus der Reaction des Jahres 1848 hervorging; sie hatte es durchgesetzt, daß Metternich abtrat und dem Volke 1848 alle Redouten freiwillig preisgegeben wurden, um sie später desto sicherer wiederzuerobern; sie war es, die zu diesem Zwecke den alten guten Kaiser Ferdinand zum Abdanken und ihren eigenen Gemahl, den dem Kaiser Ferdinand ähnlichen Erzherzog Franz Karl zur Thronentsagung bewog, damit ihr junger Sohn Franz Joseph Kaiser werde, was bekanntlich am 2. December 1848 geschah. Dieser war sonach bestimmt, der Baumeister des neuen Oesterreichs zu werden, und sicherlich hatte sich die Mutter mit ihrem feinen politischen Kopf dabei eine Hauptrolle im Hintergründe zuertheilt. Die kühne Politik des Fürsten Schwarzenberg war ihr aus der Seele genommen, und nach der in Folge der Schlacht von Novara als felsenfest gesicherten Herrschaft Oesterreichs in Italien galt es, dieselbe auch über Deutschland zu befestigen. Eine innige Verbindung mit Baiern war dazu eine sehr werthvolle Stütze, und deßhalb erwählte die Erzherzogin Sophie die fast noch im Kindesalter stehende Prinzessin Elisabeth, Tochter des Herzogs Max Joseph in Baiern, zur Gemahlin ihres kaiserlichen Sohnes. Vielleicht rechnete die kluge Frau auf den mütterlichen Einfluß, den sie auf die junge Kaiserin und durch diese wieder auf den Sohn gewinnen würde, vielleicht war sie auch durch den Zauber der jugendlichen Erscheinung bezwungen und wußte, daß an der Seite dieses Wesens der geliebte Sohn ganz glücklich werden würde.
In der Hauptsache aber war die Vermählung des vierundzwanzigjährigen Kaisers Franz Joseph mit der kaum siebzehnjährigen Prinzeß Elisabeth von Baiern am 24. April 1854 doch durch die berechnende Politik herbeigeführt worden. Man weiß, daß die fürstlichen Heirathen gewöhnlich aus solchen Motiven hervorgehen und Ehen, wie andere Menschen sie nach ihrem Herzenswunsch schließen und darin den großen sittlichen Halt finden, in jenen Regionen zu wahren Wundern gehören. Das Schicksal hat in seiner strengen Gerechtigkeit dafür gesorgt, daß Menschen im Vollbesitz aller Güter des Lebens, der Macht über Ihresgleichen, dem Menschlichen gleichwohl unterworfen bleiben und im Glück ihrer äußerlichen Stellung das höhere Glück eines befriedigten Herzens gemeinhin entbehren. Schein ist der Glanz der Throne, Schein sind meist die weicheren Empfindungen, welche dort als vorhanden bezeichnet werden. Selbst fürstliche Ehen, die die Welt als glückliche preist – wie oft ist dies Glück nur Schein und nagt hinter der glücklichen Maske des Einen oder des Anderen die herbe Sorge am Herzen! Wie könne es auch anders sein? Der Fürst, der sich vermählt, hat selten sein Herz, er hat vor Allem die kalte, herzlose, egoistische Politik zu fragen; die Prinzessin ist noch unglücklicher daran; ihr läßt man nicht einmal die Wahl, sondern sie wird verhandelt nach Belieben der Diplomaten. Selten daher, daß solche politische Ehen zu Herzensverbindungen werden und beide Theile es ihrer Geburt und ihrem Stande vergeben können, für den schönsten Zweck des menschlichen Lebens als wenig mehr denn als bloße Kaufmannswaare gedient zu haben!
Franz Joseph und Elisabeth waren zu jenen Glücklichen zu rechnen, deren Ehe mehr als ein bloßer Bund der Politik bedeutete. Die Jugend Beider war der Talisman, welcher ihre Herzen zusammenführte, und ihre äußeren Eigenschaften waren der Art, daß sie eine Steigerung der Herzensgefühle, die sie vereinigten, bewirken konnten. Alle Welt war einig, daß dies fürstliche Paar glücklich sein müsse, daß Eines zum Andern in seltener Weise passe. Franz Joseph war eine gewinnende Erscheinung; seine Jugendlichkeit, seine Soldatenliebhaberei, die heut als Ersatz des alten ritterlichen Charakters gilt, verbunden mit der glänzenden Stellung, die er in der Welt einnahm – dies Alles war übergenug, jedes weibliche Herz sogleich zu erobern. Prinzeß Elisabeth war nicht minder geeignet, der Huldigung eines Mannesherzens sicher zu sein. Sie war eine Knospe zartester Schönheit, ein Kindesgesicht voller Unschuld und Fröhlichkeit, graziös in allen ihren Bewegungen, von jener natürlichen Liebenswürdigkeit, welche einen so mächtigen Zauber um die Damen zu legen weiß. Die hingebende Innigkeit, das fröhliche, unschuldsvolle Gemüth, ihr sanfter, reiner, tiefgründiger Blick, der eine warm fühlende, liebende Seele abspiegelte, sie zeigten nur zu deutlich das Glück dieser Fürstin an, als sie an der Seite ihres kaiserlichen Gemahls in die alte Hofburg zu Wien einzog, erfüllt von den Träumen eines glänzenden Lebens, einer herrlichen Zukunft. Das Volk, selbst die politischen Gegner des Kaisers, jubelten ihr zu – damals, als sie zum ersten Mal in keuscher Jugendschönheit die schöne Kaiserstadt betrat, als sie wie ein Symbol des guten Genius durch das noch schwer an seinen Wunden liegende Oesterreich zog; es war der Jubel des Volkes, den es so gern seiner Fürstin entgegenträgt, wenn es sie in dem ihr doppelt kostbaren Besitz rein menschlichen Glückes sieht. Das Volk in seiner unverwüstlichen Einfachheit der Empfindungen betrachtet eine solche Fürstin wie ein ihm vom Schicksal gegebenes Gut, welches es in Ritterlichkeit zu schützen habe. Es zaubert sich daraus sein Ideal; es sieht darin die milde, versöhnende Macht für seine kommenden Sorgen; es hält die Fürstin immer für sein Eigen und glaubt, daß ihr Herzensglück auch dem Allgemeinen zu Gute komme. Zwischen ihm und ihr besteht die Sympathie sanfter und reiner Gefühle.
In der That, die Kaiserin Elisabeth, strahlend in jugendlicher Schönheit auf einem stolzen Throne, der nach den Zeiten der Revolution durch die Versöhnung, die von ihm auf das besiegte Volk ausging, durch die kühne Politik, mit der er sich umgab, einen neuen Glanz erhalten hatte, genoß eines beneidenswerthen Glückes und sie selbst war weit entfernt, es zu verbergen. Der Triumphzug nach Triest überwältigte dies zarte Herz vor Entzücken. Was konnte Elisabeth auch noch wünschen, damit sie das höchste Maß irdischen Glückes besäße? Nichts, in Wahrheit Nichts. Sie blicke mit Stolz auf einen geliebten Gemahl; sie hatte das Bewußtsein, durch die Liebe des Volkes zu ihr der Dynastie selbst wieder neue Sympathien zugewendet zu haben; sie sah Oesterreich groß und stolz dastehen in der Welt und im Innern in tiefer Ruhe – daß es die Ruhe eines Kirchhofs war und die Größe Oesterreichs nur eine scheinbare, welche beim ersten Sturm der Weltgeschichte zum Erstaunen Aller jäh zusammenbrechen sollte, wie hätte sie es ahnen können, da die Herren des Staates selbst nicht eine Idee davon hatten?
Und mehr als Alles dies noch, was sie glücklich machte, war das beseligende Bewußtsein, Mutter zu sein. Was jeglichem Weibe den Stolz verleiht, die Hoffnungen der Liebe, gewissermaßen die ihm auferlegte Mission erfüllt zu haben, indem es Mutter wurde, übt bei der Gemahlin eines regierenden Fürsten eine viel intensivere Macht aus. Mehr als eine andere Frau hat sie die Pflicht, Mutter zu werden; denn so verlangt es das Interesse der Dynastie und des Staates. Alles andere Glück kann leicht zerschellen, wenn ihr das Schicksal eine Unfruchtbarkeit auferlegt hat. Napoleon ließ sich von Josephine scheiden, weil er um jeden Preis einen Erben brauchte. Je größer daher die Sorge um ein Kind, welche eine junge Fürstin erfüllen muß, desto gewaltiger die Freude, wenn es da ist. Mit dem beseligenden Muttergefühl mischt sich dann ein politischer Stolz, den Platz sich förmlich erkauft, des Fürsten und des Landes Erwartungen entsprochen zu haben. Kaum ein Jahr nach ihrer Vermählung gebar die Kaiserin Elisabeth die Erzherzogin Marie Anna. Dies Kind, galt es auch dem politischen Interesse wenig, war ihr deshalb um so theurer; es war ihr erstes, und wer wüßte nicht, wie eine Mutter ein solches liebt! Es war in Wahrheit ihr Kind, auf welches nicht, wie bei einem Sohne, der Staat seine maßgebenden Ansprüche erhob. Die Kaiserin besaß zudem eine zu weiche, leidenschaftliche Natur, als daß sie all diese Empfindungen nicht in verstärktem Maße besessen hätte. Zu viel Schmerz, zu viel Sorgen hatte der zarten Dame dies Kind gemacht, als daß sie es nicht in Leidenschaftlichkeit an ihr Herz gepreßt, nachdem Schmerz und Sorge vorüber waren.
Es verfloß ein Jahr und abermals wurde sie Mutter. Im [807] Juli 1856 wurde die Erzherzogin Gisela geboren. Wohl liebte sie auch dies Kind mit derselben Innigkeit, wie das erste; aber unwillkürlich mischte sich in die Rührung, mit welcher die schwache, junge Mutier es im Wochenbett küßte, das beklemmende Bedauern, daß es kein Sohn sei. Nur einmal ist der Fürstin vergönnt, ganz Mutter und Weib zu sein: ihr erstes Kind läßt man ihr, wenn es eine Tochter ist, weil man hofft, daß das zweite dem Staate gehören wird. Aber wird diese Hoffnung getäuscht – wie fangen dann die Staatsmänner an mit den Köpfen zu schütteln, und der Fürst selbst ist wohl verdrießlich, daß seine Familie sich nur mit Töchtern mehrt und mit keinem Erben. Dann kommt es oft, daß sein Interesse an der Gemahlin erkaltet, daß sie nicht mehr den früheren Reiz auf ihn ausübt und das unschuldige Weib, welches mit ungeschwächter Liebe an ihm hängt, still eine Zähre vergießt, weil es keinem Sohne das Leben gegeben. Es nagt an der Mutter Herzen der Gram, sich gegen sonst vernachlässigt zu sehen, und die Qual peinigt sie, daß ihr Gatte wohl nicht mehr ihr allein gehöre. Gewiß, die zweite Tochter einer Fürstin als zweites Kind ist eine brennende Sorge!
Die Kaiserin von Oesterreich mag hier zum ersten Mal den Kummer des menschlichen Lebens kennen gelernt haben; aber der Himmel endete ihn bald. Zwei Jahre nach der Geburt der Prinzessin Gisela war wieder ihre Entbindung nahe. Welche Aufregung muß sie während der Zeit empfunden haben, in der sie das Kind unterm Herzen trug, bis zu dem Augenblick, da sie mitten in den marternden Schmerzen, umringt von gespannten Hofdamen und Diplomaten, erfuhr, ob es wieder eine Tochter oder ob es endlich ein Sohn sei, dem sie das Leben gab! Die Angst zehrte gewiß nur zu oft an ihrem Gemüth, daß die dritte, fast die letzte Hoffnung sie täuschen kennte und sie durch die abermalige Geburt einer Tochter bei ihrem Gemahl, bei der Dynastie und im Lande an politischer Bedeutung verlieren mochte. Endlich, am 21. August 1858 kam die Entscheidung: 101 Kanonenschüsse donnerten von den Wällen der Stadt Wien, denn die Kaiserin halte den Kronprinzen Rudolph geboren. Ein Hochgefühl der Freude beseelte das Volk – und die Kaiserin? O man wird es glauben, welche Seligkeit sich auf ihr schönes, blasses Antlitz malte, als sie die Nachricht von diesem Ereignis; aus des Arztes Munde vernahm! Nun war Alles überstanden, all Kummer und Angst dahin; die Schmerzenszüge verschwanden, die leidenden Mienen wandelten sich in die des stillen Entzückens – jetzt stand sie auf dem Gipfel ihres Glücks; jetzt fehlte nichts mehr daran, nicht einmal der Sohn.
Doch ein jeder Sterbliche erfährt es, daß das vollkommene Glück nur zu schnell entschwindet und daß es nirgends des Menschen Wille und Macht festzuhalten vermag, selbst nicht auf einem Kaiserthrone. Die Kaiserin Eisabeth war kaum ihrem Wochenbett entstiegen, schöner denn je mit dem leidenden Ausdruck ihres Gesichts, durch den hindurch die Seligkeit des Glücks schimmerte, als über die zarte Natur der Sturm des Unglücks kam. Ihr erstgeborenes Töchterchen erkrankte und starb am 28. December 1858.
Es war das Kind, welches sie mit reiner, inbrünstiger Mutterliebe zuerst an ihr glückliches Herz geschlossen, dessen Lächeln sie unschuldsvoll und in ungetrübter Freude erwidert, dessen Lallen in ihr noch keinen Mißton geweckt halte. Nun war es todt; im Sarge lag der theuere Gegenstand der ersten heiligen Empfindung. Es war ein schwerer Schlag für das Herz Elisabeths, und die Thränen, welche ihren Augen reichlich entströmten, sie wuschen das letzte Roth der Gesundheit und der jugendlichen Fröhlichkeit von ihren Wangen.
Noch war der heftigste Schmerz der armen Mutter durch die Bestattung ihres todten Kindes nicht zu Ende, als die Fürstin in ihr einen neuen herben Schlag erhielt. Inmitten der ersten Trauer am Hofe zu Wien flog die Nachricht von dem Neujahrsgruß Napoleon’s an den österreichischen Gesandten. Der Schrei der Entrüstung, der darauf aus Wien antwortete, er entstieg dem tiefverletzten Stolz des kaiserlichen Hofes über die Verwegenheit des Decemberhelden. Zu den Waffen! hieß es, und plötzlich tönte Kriegsruf durch das tief im Frieden ruhende Land, und die Welt wußte, daß zwischen den Riesen Oesterreich und Frankreich ein furchtbarer Kampf auf den blühenden Schlachtfeldern der Lombardei geschlagen werden würde.
Die Tage, die seit jenem Neujahrsfest kamen, waren erschütternd für die Kaiserin Elisabeth. Ihr Stolz als Fürstin, den sie in hohem Maße besaß, war rebellirt, und sie stand zudem in dem Strudel der heftigen Strömungen und Intriguen, welche damals in der Hofburg vorhanden waren. Die Aufregung steigerte sich natürlich, als nun im Frühjahr 1859 der Krieg wirklich ausbrach. Mit Siegeszuversicht zog Oesterreich über den Tessino, und am Hofe schwelgten Alle in der Erwartung stolzer und großer Triumphe à la Novara. Auch die Kaiserin lebte ganz in diesen Hoffnungen, und man kann sich denken, wie schwer sie litt, als die Nachricht von der verlorenen Schlacht bei Magenta eintraf. Die bittersten Gefühle brachen bei ihr durch; denn längst lebte eine Ahnung in ihr, daß der Mann, welcher durch seinen Einfluß auf den Kaiser die Seele der Kriegführung geworden war, des Landes und ihr persönliches Unglück bedeute. Dieser unheilvolle Mann mußte fort – es kostete manchen Kampf des gekränkten Weibes, ehe es gelang. Der Kaiser war zudem selbst in den Krieg gezogen, und seiner Gemahlin bangte um sein Leben und um das Geschick der letzten Schlacht; denn Franz Joseph war heißblütig, feurig; es war nur zu möglich, daß er sich mitten in’s Kampfgewühl stürze. Nach dieser Angst, vermehrt mit dem Drucke eines andern stillen Kummers, folgte das schmerzliche Empfinden der Demüthigung durch die Schlacht von Solferino und den Frieden von Villafranca. Für eine zarte Frau, in welcher still und unbemerkt schon das Gift der Schwindsucht arbeitete, war dieser jähe Wechsel heftigster und erschütterndster Gefühle ohne Nachtheile für ihre Gesundheit nicht zu ertragen. Seit dem Frieden von Villafranca war die Kaiserin von Oesterreich eine gebrochene Blume der Jugend, und schnell arbeitete die Krankheit an der Zerstörung ihrer Brust.
Bei der zarten Natur Elisabeth’s war sie offenbar zu jung vermählt worden; die schnelle Folge der Entbindungen, die seit dem Tode des ersten Kindes so gewaltig auf sie einstürmenden und marternden Empfindungen; dann auch die scharfe Zugluft in Wien, die so viel Procent der Todesfälle daselbst an Schwindsucht und Lungenkrankheiten bewirkt – dies Alles halte die Gesundheit der Kaiserin schnell zerstört – bald war das liebliche, schöne Weib ein leidendes Wesen, dem der Tod schon auf den Fersen folgte; die Wangen waren verblüht, die Augen leuchteten mild, aber tief traurig; das Glück rief kein Lächeln mehr um den schönen Mund – die Kaiserin war tiefen Mitgefühls werth!
Vergebens hatte man sie gebeten, nach einem milderen, wohlthätigeren Klima zu gehen, um die verheerende Krankheit aufzuhalten, und vielleicht noch zu ertödten. Sie wollte Wien nicht verlassen um des Kaisers willen. Endlich, als die Gefahr zu groß wurde, rang man ihr die Einwilligung ab, nach Madeira zu gehen. Im Frühling 1861 führte sie eine österreichische Fregatte nach der herrlichen südlichen Insel, und wehmüthige Gedanken des Volkes begleiteten sie dahin. Jedermann wußte, daß es die lebende Leiche der Kaiserin war, die über’s Meer getragen wurde, und Niemand glaubte, daß sie den Boden Madeiras betreten werde. Von Tag zu Tag fürchtete man die Nachricht von dem Erlöschen dieses jungen Lebens; von Tag zu Tag jedoch hob sich die niedergedrückte Hoffnung mehr empor, denn man vernahm, daß die verloren Gegebene lebe und in wunderbarer Weise ihre Kräfte zurückgewinne. Madeiras weiche, warme Luft gab diesem vom Tod schon ergriffenen Körper die Lebensbedingung, den Athem, zurück. In Venedig gewöhnte man die Kaiserin dann wieder an die europäische Atmosphäre; in Ischl und Kissingen wurden ihr durch die heilbringenden Wasser Blut und Kräfte zurückgezaubert. So war es möglich, daß sie im Hochsommer 1862 wieder in die verwaiste Hofburg zu Wien einzog, ein Wunder der Natur, eine neue Braut mir einem neuen Leben, die das Volk im herzlichen Jubel als eine dem Tode abgerungene Beute begrüßte.
Ja, mit einem neuen Leben stieg Elisabeth wieder auf den Kaiserthron, dessen verschwundener Pomp und Glanz damit zurückkehrte. Aber welch eine Masse von Erfahrungen, von Angst, Herzenssorge, Schmerz und Leidenschaft lag zwischen damals, als sie unschuldvoll wie ein Kind aus ihres Vaters Schloß in die Hofburg zog, und jetzt, als sie aus dem rettenden Exil zurückkehrte! Die Glückseligkeit des Herzens, die hingebende Fröhlichkeit der Jugend – diese Schätze erwirbt kein Sterblicher zurück, Hai er sie einmal verloren, und alle Macht der Fürsten erweist sich hierin als ohnmächtig. Das Schicksal ist demokratisch genug, alle Menschen gleich zu machen; gönnt es dem Armen still das Glück seines Herzens, [808] so trachtet es begierig danach, auf den Thronen solches Glück zu zerstören. Die mit Glanz aller Art umgebene Kaiserin sah an ihrer eigenen Schwester, wie wahr dieser Ausspruch ist. Nicht die Königin von Neapel, nein, das deutsche Weib trauert in den Mauern des Ursuliner-Klosters zu Augsburg um ihre Jugend, die an das Schicksal eines ruhmlos und unbedauert untergegangenen Gatten gekettet war. Wie oft hat doch eine Fürstin den traurigen Vorzug, das echte Weib verleugnen zu müssen! Sei es nun durch Erziehung oder durch die Intriguen, durch die ausmergelnde Luft der Höfe oder durch die Erfahrungen des Lebens – es wird schon dafür gesorgt, daß die weibliche Natur sich in das enge Corset der Fürstin füge und zuletzt auf die Glückseligkeiten reiner Frauenempfindungen freiwillig Verzicht leiste, um Ruhe zu haben und um ihrer Bestimmung gemäß das glänzende, prunkende Glück auf dem Throne zu genießen. Wohl sieht dies stolz und schön aus; aber wahrlich! ein braves, frohes, freies Weib aus dem Volke mit einem Mann von Redlichkeit und Fleiß, mit rosigen Kindern, die lustig den Tag begrüßen, mit einem frischen Herzen voll Liebe und Zufriedenheit, wird es nimmer zu beneiden haben!
Der Verrath des Barons Warkotsch gegen Friedrich den Großen.
Als der Baron Warkotsch und Kappel auf diesem Nachtritt bei der Treppendorfer Walkmühle ankamen, begann der Erstere eine Unterhaltung.[1] „Habt Ihr bemerkt, Kappel, wie schlecht der König von Preußen in seinem Quartier steht?“
„Ich denke, gnädiger Herr, er hat seine Garden?“
„Nur 13 Mann sind zur Bedeckung bei ihm. Ein österreichischer General stände nicht so bloß.“
Kappel antwortete Nichts. In diesem Augenblicke ritten sie durch ein Piquet der Zastrow’schen Dragoner; als sie dasselbe hinter sich hatten, begann der Baron wieder: „Wenn die Oesterreicher wüßten, wie der König steht, könnten sie ihn abholen und ohne alle Umstände gefangen nehmen.“
„Wer wird das den Oesterreichern sagen?“
„Ei, glaubt Ihr nicht, daß sie Spione haben?“
„Wenn sie auch Spione haben, so es Gott nicht zulassen will, werden sie den König nicht bekommen.“
„Narr Ihr! glaubt Ihr Gott kümmert sich um den König?
Das ist nur der großen Herren Sache.“
„Ums Himmelswillen, Herr Baron, redet nicht so laut; wenn man uns hörte!“
„Treibt Euer Pferd dicht an das meine, damit ich nicht so laut zu reden brauche.“ Kappel that es. „Wie oft sind wir,“ fuhr Warkotsch fort, „in der Nacht hier geritten, ohne Patrouillen zu sehen oder eine Wache. Es ist sehr kalt, und sie sitzen in den Quartieren, ohne sich zu fürchten, daß die Oesterreicher kommen sollten und sie angreifen. Es ließe sich schon was ausführen.“
Kappel bekreuzte sich im Stillen. Um zwei Uhr nach Mitternacht kamen sie in Schönbrunn an. Der Baron befahl dem Jäger, er solle zu Bett gehen. Kappel trat in sein Zimmer, als seine Ehefrau mit besorgter Miene auf ihn zukam. „Matthias,“ rief sie, „hier ist ein Brief, den mir der Curatus Schmidt selbst überbracht hat. Der Herr, sagte er, müsse ihn haben und sei es noch so spät. Er war bei der Baronin sehr lange, warum gab er ihr das Schreiben nicht? nur Dir soll ich ihn geben! Matthes, was ist’s mit den Briefen? lieber Gott, es geht was vor! thust Du auch keine Sünde? dem Koch und dem Verwalter habe ich den Brief gezeigt, aber sie wollen ihn nicht aufmachen. Matthes, mir drückt’s das Herz ab.“[2]
Kappel beruhigte sie, obwohl er selbst erregt genug war. Der erhaltenen Weisung gemäß brachte er den Brief zu Warkotsch. Als er in das Schlafzimmer trat, fand er den Baron neben der Baronin auf dem Sopha sitzen. Die Dame wurde sehr ungehalten darüber, daß der Curatus ihr nicht den Brief übergeben habe. Warkotsch herrschte ihr zu: „Madame, begeben Sie sich in Ihr Schlafzimmer, Sie haben mit meinen Briefen nichts zu schaffen.“ Er schickte Kappel ebenfalls zu Bette. Dieser lag bald im ersten Halbschlummer. Plötzlich hörte er auf dem Corridor vor seiner Wohnung Jemand gehen. Seine Frau erwachte und sagte: „Hörst Du nichts?“ Beide hörten nun, wie eine Thür geöffnet ward, und die Stimme der Anne Dutkin, Kammerjungfer der Baronin, rief: „Wer ist da?“ Hierauf ward es still, fing aber nach einer Weile wieder zu gehen an. Kappel schlug Licht. Da klopfte es leise an seine Thüre. Er öffnete. Der Baron stand vor ihm, einen Brief in der Hand. „Kappel,“ flüsterte er, „Ihr müßt heute früh um 4 Uhr den Brief an Schmidt bringen.“
„Soll ich auf Antwort warten?“
„Nicht nöthig.“
„Kann ich morgen,“ fragte Kappel, „zu Schmidt in die Kirche gehen? wir Katholiken haben Andreastag.“
„Geht in die Kirche.“ Warkotsch schlich sich fort.
Kaum hatte Kappel die Thüre geschlossen, so warf sich seine Frau ihm zu Füßen, sie beschwor ihn, den Brief zu öffnen, der gewiß ein Verbrechen enthalte, dem er als Werkzeug dienen müsse, er möge bedenken, was er thue, und wie der Baron berüchtigt sei. Anderthalb Stunden wartete Kappel noch, ob Alles still bleibe. Dann löste er mit zitternder Hand das Siegel. Seine Ehefrau hielt das Licht. Beide athmeten kaum. Das erste Couvert, an Schmidt adressirt, enthielt inwendig nur die Worte: „Der Herr Curatus beliebe diesen Brief auf das Allerschleunigste zu bestellen.“ In dem Couverte lag ein zweiter Bries, adressirt: „A Monsieur le baron de Wallis“ Nachdem Kappel das Siegel erbrochen, las er folgendes Schreiben: „Mein lieber General von Wallis! Ich zeige Ihnen an, daß ich gestern in dem Hauptquartiere des Königs gewesen bin und genau alle Nachrichten gebe. Der König hat die mehrsten Regimenter unvermerkt gegen Breslau in die Winterquartiere abmarschiren lassen. Das Geschütz, wie auch die Kriegscasse ist auch bereits abgegangen, der König selbst, wie es sicher ist, wird den 30., als Mittwoch Nachts, nachfolgen. Sein Wagen steht vor der Thür; er ist nur des Regens wegen weggeschoben gewesen. Es ist Zeit; machen Sie Ihr Glück. Man muß den Vogel nicht ausfliegen lassen. Sie haben nichts zu riskiren, da Sie jetzo Wegweiser haben. Lassen Sie Treppendorf rechter Hand liegen, worin etwas Dragoner von Zastrow liegen. Eine halbe Meile am Gebirge linker Hand sind etliche Fußjäger auf Vorposten. Sie können hinten durch den Garten gerade in des Königs Quartier, wo eine Brücke geschlagen ist, eindringen. Bei sich hat der König, rechter Hand im Eingänge des Hauses, nur 13 Mann von seiner Garde zur Bedeckung.
Kappel zitierte während des Lesens an Händen und Füßen. Seine Haare sträubten sich, kalter Schweiß bedeckte seine Stirne. „Hast Du’s gelesen, Frau?“ rief er, „sie wollen den großen König abholen.“
„Sst! Mann,“ flüsterte die Frau, „kein Wort! die Wände haben Ohren. Du mußt ihnen zuvorkommen.“
„Ich liefere den Brief dem Könige aus.“
„Nein, Matthes, horch. Mir kommt ein Gedanke.“ Die Frau theilte nun dem Jäger einen Plan mit, den Kappel befolgte. Leise schlüpfte er aus dem Schlosse, und die Dorfstraße vermeidend, gelangte er an das Haus des lutherischen Predigers Gerlach im Dorfe Schönbrunn. Alles schlief noch im Predigerhofe. Geweckt durch das Klopfen an den Fensterladen, sprang Gerlach auf, erkannte Kappel an der Stimme und ließ ihn ein. Mit Grauen vernahm er die Nachricht. Beide kamen nun überein, daß Kappel sofort dem Könige Meldung machen solle. Um aber jeden Verdacht des Barons oder Wallis’ abzuwenden, copirte Gerlach die beiden Briefe an Schmidt und Wallis, während Kappel das Original dem Könige zustellen sollte. In’s Schloß zurückgekehrt fand [809] Kappel die Kammerjungfer Anna Dutkin schon erwacht. Unter dem Vorwande, ein Schreiben abgeben zu müssen, ließ er sich von ihr in das Arbeitszimmer des Barons führen. Hier siegelte er den von Gerlach copirten Brief mit dem Petschaft seines Herrn und ging dann vorsichtig in den Hof. Er weckte den Jägerburschen Johann Böhmelt, befahl ihm, sich schleunig anzukleiden und heraus zu kommen. Er händigte dem Burschen die Copie des Briefes ein und beauftragte ihn, das Schreiben nach Siebenhuben an den Curatus Schmidt zu bringen, aber, so lieb ihm sein Dienst und sein Rücken sei, Niemandem, auch wenn er zurückgekehrt sei, ein Wort von der Sache zu sagen. Diesen Auftrag hat Böhmelt pünktlich ausgerichtet. Kappel verabschiedete sich nun von Gerlach, der ihm seinen Segen gab, und ging bis zum Vorwerk Casserei; hier borgte er ein Pferd und sprengte mit verhängten Zügeln nach Strehlen. Als der Hufschlag über das Steinpflaster donnerte, liefen die Wachen zusammen, aber er kümmerte sich nicht darum. Endlich hielt er, in eine Dampfwolke gehüllt, vor der Thür des Hauses, welches der König bewohnte. –
Vor der Thür der Wohnung stand der im Briefe bemerkte Wagen, an welchen Kappel sein Pferd band. Der Jäger hatte sich während des Rittes noch einmal Alles überlegt und war zu dem Resultate gelangt, daß er in diesem Augenblicke eine Person von großer Wichtigkeit sei und das Geschick von Ländern in Händen hatte. Kraft dieses Bewußtseins trat er deshalb keck in den Hausflur und auf des Königs Zimmer zu. Hier aber stellte sich ihm ein baumlanger Grenadier in den Weg, der ihn mit den Worten: „Zurück! So geradezu geht man nicht zum König,“ bei Seite stieß.
„Ich aber,“ entgegnete Kappel, „habe Sachen von Wichtigkeit abzugeben.“
„Dafür ist in der andern Stube der wachthabende Officier, wenn der Ihn annimmt, so wird Er beim König gemeldet.“
Der Officier schien jedoch nicht geneigt dazu. Er sagte: „Ich bin nicht dazu da, Leute beim Könige zu melden, besonders solche, die so verwirrt aussehen. Geh’ Er über die Straße zum General-Adjutanten von Krusemark.“
„Aber, mein Lieutenant,“ entgegnete Kappel, „ich habe einen offenen Brief, den der König gleich haben muß. Wenn Sie mir nicht glauben wollen, so lesen Sie ihn. Sie werden dann erfahren, wie wichtig die Sache ist.“
„Ich lese keine Briefe, die der König haben muß,“ versetzte der Officier, „und nun scheert Euch zum General Krusemark.“
Damit warf der Mann sich wieder in seinen Sessel.
Kappel eilte, immer besorgter werdend, zum General Krusemark. Hier war er glücklicher. Er wurde eingelassen. Der General lag im Bette. Eilig übergab Kappel den Brief und begann seine Erzählung.[4] Je weiter er in der Darlegung kam, desto höher richtete Krusemark sich wie eine Steinfigur im Bette aus, desto länger und bleicher ward sein Gesicht. Endlich warf er die Augen auf den Brief, durchflog ihn und war mit einem ungeheuern Satze aus dem Bette, fuhr wie der Blitz in die Beinkleider und Stiefel, dann in seinen Rock, stülpte den Hut auf den Kopf, legte seinen Degen an und packte den erschrockenen Kappel. „Er bleibt hier im Zimmer,“ rief er, „läßt sich nicht am Fenster sehen, denn Er ist in Strehlen bekannt. Ich werde Ihn durch einen Officier abholen lassen.“
Nach diesen Worten eilte Krusemark aus dein Zimmer und schloß die Thüre zu. Eine Viertelstunde verstrich. Dann erschien ein Lieutenant, der Kappel aufforderte, mit ihm zum Könige zu kommen. Der Jäger mußte einen blauen Roequelor umhängen und einen Federhut aufsetzen; so vermummt ward er durch den Garten in das Zimmer des Königs geführt. Es war außer dem König nur noch Krusemark zugegen. Friedrich ging eine Zeitlang schweigend heftig auf und ab. Plötzlich blieb er vor dem Jäger stehen und fragte mit bewegter Stimme:
„Weiß Er nicht, womit ich das an Seinem Herrn verdient habe?“
„Ich weiß es nicht. Nur so viel ist mir bekannt, daß der Baron sehr unzufrieden mit Ew. Majestät Regierung ist, weil er mit seinen Gutsbauern nicht machen kann, was er will.“ – –
Kappel mußte nun eine genaue Schilderung machen, von dem Plane selbst, dessen Entstehung und Fortgang reden und darlegen, wie es in der nächsten Nacht hätte kommen sollen. Schweigend hörte der König ihn an und wendete nicht eine Secunde seine Augen von Kappel’s Antlitz. Als dieser geendet, fragte der König: „Wie lange dient Er dem Baron?“
„Acht Jahre lang.“
„Er muß ihm nicht mehr dienen. Er ist ja wohl aus Mitrowitz? Wessen Unterthan?“
„Des Grafen Wratislaus, in der Nähe von Kollin ansässig.“
„Ich kenne die Gegend.“ Der König trat dicht an den Jäger heran, so nahe, daß dieser den Athem spürte. „Katholisch ist Er? Nicht wahr?“ fragte Friedrich.
„Ja, Majestät.“
„Und Sein Herr ist lutherisch?“
„Ja, Majestät.“
„Nun sieht Er, Jäger, es giebt unter allen Religionen ehrliche Leute und Schufte. Die Sache kommt aber nicht von Ihm selbst; Er ist ein bestimmtes Werkzeug für mich von höherer Hand abgeschickt und nicht schuld daran. Ich werde Ihn gut aufheben lassen.“ –
Kappel bezeigte nun sein Bedauern, daß der Baron solchergestalt gegen den König verfahren. Hierauf entließ ihn Friedrich, gab aber Befehl, ihn mit Niemandem, bis auf weitere Ordre, sprechen zu lassen. Er erhielt sein Quartier beim Jägercorps und ward schon am folgenden Tage in Strehlen verhört, darauf aber nach Breslau abgeführt.[5] – Es ward sofort Befehl gegeben, den Warkotsch zu verhaften, und der Hauptmann von Rabenau mit 100 Dragonern zur Arretirung abgesendet. Rabenau fand den Baron im Schlafrocke bei Tische. Er kündigte ihm den Arrest an. Warkotsch benahm sich sehr ruhig, lud den Hauptmann ein, mit ihm zu speisen, und während des Desserts ging er in das Nebenzimmer, sich umzukleiden. Da er die sein Haus umzingelnden Dragoner bemerkte, bat er den Hauptmann, er möge die Soldaten in das Wirthshaus des Dorfes senden und nicht fürchten, daß er, der Baron Warkotsch, entrinnen werde, dafür seien die großen Besitzungen, die er ja dann im Stiche lassen müsse, Bürge. Rabenau war unvorsichtig genug, auf des Barons Bitten einzugehen. Kaum waren die Posten abgezogen, als Warkotsch, der dem Hauptmann fleißig zutrank, in sein Schlafzimmer ging. Er hatte vor Rabenau’s Augen Geld zu sich gesteckt, eilte von seinem Schlafzimmer in den Stall, wo ein trefflicher Engländer für alle Fälle gesattelt stand, und jagte durch den Schloßpark auf die österreichischen Vorposten zu. Nach Verlauf einer Viertelstunde ward Rabenau unruhig, er fragte nach dem Baron – Niemand wollte mit der Sprache heraus, bis endlich einer der Diener die sehr unerwünschte Auskunft gab, der Herr sei in gestrecktem Galopp durch den Park geritten. Ein nachgesendetes Commando kehrte unverrichteter Sache zurück; der Baron war schon im Gebirge, wohin er nur eine halbe Stunde zu reiten hatte, verschwunden. Rabenau, einer der tüchtigsten Männer der Armee, wollte sich in Verzweiflung den Degen durch den Leib rennen, woran ihn die Frau von Warkotsch hinderte. Rabenau ward später arretirt, vor ein Kriegsgericht gestellt, aber nur mit Arrest und Verweis bestraft. Sein Avancement ließ jedoch fünf Jahre warten. Endlich erhielt er den Majorscharakter und nahm dann seinen Abschied. Er starb auf seinem Gute Tschertschendorf bei Grünberg.
Nicht glücklicher war man mit dem Einfangen des Curatus Schmidt. Dieser war bei dem Herrn von Nimptsch zur Tafel. Ein Unterofficier von den Zastrow’schen Dragonern verhaftete ihn. Schmidt entfloh durch einen seiner priesterlichen Würde sehr unangemessenen Ort – – dessen Besuch der Unterofficier ihm gestattet hatte. Herr von Nimptsch ward an seiner Stelle arretirt, aber auf Kappel’s Zeugniß freigelassen. – Warkotsch hatte die Frechheit, in derselben Nacht nach seiner Flucht unter Escorte von 300 österreichischen Husaren nach Schönbrunn zurückzukehren. Er fand sein Schloß ganz verlassen, und nur die Frau des Jägers Kappel hütete das öde Gebäude, da Rabenau die Baronin in das preußische Hauptquartier transportirt hatte. Warkotsch weckte die Kappel und rief ihr freundlich zu: „Liebe Susel, mach auf.“ Er fragte zuerst: „Wo ist Kappel?“
„Ich weiß es nicht.“
„Gott stehe ihm bei.“[6]
Sodann forderte er die Schlüssel und ging mit dem Officier in sein Arbeitscabinet. Er nahm 30,000 Thaler aus dem Schreibspinde, [810] auch viele Juwelen, vertheilte dann Geld unter die Husaren und wollte noch zwei kleine Koffer voll Geld mitnehmen, die im Schlafzimmer standen, aber der Officier ließ es nicht zu, da sie vor einem Ueberfall der Preußen nicht sicher wären. Warkotsch befahl der Kappel, diese beiden Koffer nach Kloster Hennrichau zu schaffen. Dann nahm er noch Wäsche und seine Wildschur und verließ sein Schloß auf immer. Am folgenden Morgen ließ der König die Kappel und sämmtliches Geld nach Strehlen holen. Uebrigens war der Baron sehr glücklich. Es lag ein starkes preußisches Detachement im Hinterhalte, um ihn zu fangen. Der Commandant desselben, Lieutenant von Brausen, hatte Ordre bis zwölf Uhr zu bleiben, da man eine Zurückkunft des Verräthers erwartete. Brausen zog um zwölf Uhr ab, und Warkotsch kam erst um 1 Uhr an, entging also glücklich seinen Häschern. –
In Breslau nahm das Verhör seinen Anfang. Viele Zeugen traten auf, fast Alle gegen Warkotsch und Schmidt. Es wurden verhört: der Jäger Matthias Kappel; dessen Ehefrau; Anna Dutkin, Kammerjungfer der Baronin; Benjamin Gerlach, lutherischer Pastor zu Schönbrunn, und dessen Ehefrau; Gottlob Böhmelt, Jägerbursche; Joseph Reipricht, Verwalter auf Schönbrunn; die Baronin von Warkotsch; der Freiherr von Nimptsch; eine gewisse Eva Paul, Tochter einer Bewohnerin des Dorfes Siebenhuben. Diese Eva scheint der im Briefe angeführte „Wegweiser“ zu sein. Sie war dem „Curatus Schmidt“ wahrscheinlich mehr, als nur Hausmagd. Der Gang des Processes, so wie verschiedene untergeordnete Zeugenaussagen, als z. B. die des Koches, Portiers etc., bieten nichts Bemerkenswertheres dar. Für das Gericht fungirten: Generalfiscal Schultes, Criminalrath Böhm, Inquisitor Belach und als Vertheidiger des Angeklagten: Fiscal Gerlach. Dieser gab sich alle erdenkliche Mühe, für seinen Schutzbefohlenen zu wirken. Verschiedene Male ließ er Handschriften vergleichen, Zeugen verdächtigen etc. Seine ganze Vertheidigung zerfiel jedoch in Nichts, als ein aufgefangener Brief des Barons, an die Baronin gerichtet, bei der Verhandlung verlesen und als echt anerkannt wurde. Der Inhalt lautete:
„Mein Kind! Der verfluchte Gedanke, den ich gegen meinen König gefaßt habe, hat Mich in das Elend gestürzt. Und wenn ich den höchsten Berg bestiege, kann ich solches nicht übersehen. Lebe wohl. Ich befinde mich an der äußersten Grenze der Türkei.
Warkotsch erhielt den verdienten Lohn des Verrälhers. Er entrann zwar der Körperstrafe, starb aber verachtet und von Jedem gemieden, belastet mit dem Fluche der That, in der Nähe von Pesth. Die Kaiserin Maria Theresia bezeigte ihm ihre Verachtung und ließ ihm sagen: Er möge sich fortpacken. Er erhielt ein kleines Sündengehalt von 800 Gulden. Das gesammte österreichische Officiercorps, Laudon an der Spitze, erklärte sich für unbetheiligt bei dem Anschlage, obwohl es nicht wahrscheinlich ist, daß ein Hauptmann wie Wallis auf eigne Verantwortung einen Handstreich von solcher ungeheuren Tragweite, und mit so großen Vorbereitungen verknüpft, zu unternehmen gewagt hätte. Wallis’ Person selbst ist nie bekannt oder aufgeklärt worden, man scheint ihn sorgsam verborgen zu haben. Die gräfliche Familie Wallis machte öffentlich bekannt, daß der Verschworene Wallis nicht zu ihrer Verwandtschaft gehöre. – Die Baronin Warkotsch starb 1789 zu Raab, nachdem sie eine Art von Bußzwang durchgemacht hatte. Sie vermachte ihr Vermögen ihren Angehörigen und Domestiken. Für ihren Mann ließ sie 30 Seelenmessen lesen. Sie ward schon nach dem ersten Verhöre in Freiheit gesetzt.
Kappel erhielt die Hegemeisterstelle zu Oranienburg, und 1779 ließ der König ihm ein neues Haus erbauen, sah ihn aber sehr selten. Kurz nach dem Schlusse der Verhandlungen sagte der König zu ihm: „Lasse Er sich nicht von den Oesterreichern fassen, sonst wird Er in Oel gesotten.“ Dem Prediger Gerlach ward eine Pfarrstelle zu Brieg ertheilt. Böhmelt wurde Unterförster bei Bromberg. – Der Curatus Schmidt ist vollständig verschollen. Man hat niemals erfahren, wo er nach seiner Flucht hingekommen. Das aus der Warkotsch’schen Gesammtmasse stammende Vermögen ließ der König den Breslauer Schulen und Stiftungen überweisen.
Am 22. März 1762 ward das Urtheil des Breslauer Gerichts in contumaciam gegen Warkotsch und Schmidt veröffentlicht. Es lautete: Daß Heinrich Gottlob ehemals Freiherr von Warkotsch und Franz Schmidt durch die wider ihren Souverain geschmiedete Unternehmung, ersterer seines Adels verlustig, beide recht- und ehrlos werden, und ihr gesammtes Vermögen, beweg- und unbewegliches, mit Vorbehalt derer der Eheconsortin des ersteren Verbrechers und einem jeden davon zustehenden erweislichen Anforderungen, dem fisco als verwirktes Gut zu verabfolgen. – Daß demnächst Ersterer lebendig zu Viertheilen, der Zweite zuvörderst zu enthaupten, und sodann der Körper in vier Theile zu theilen, auch bis zu Erfolg ihrer Habhaftwerdung das Urtheil in effigie zu vollziehen und dabei des ersteren Verbrechers Wappen durch den Scharfrichter zu cassiren und zu zerbrechen. –
Diese Strafen wurden „im Bilde“ an den Verbrechern auf dem Salz-Ringe zu Breslau vollstreckt. Der König war innerlich sehr froh, daß Beide entkommen waren, denn er verabscheute die Todesstrafe, und es kostete ihm furchtbare Ueberwindung ein Todesurtheil zu unterschreiben. Auf den Rand des Erkenntnisses schrieb er: „Soll also geschehen; die Portraits werden wohl so wenig taugen, als die Originals.“
Von Carl Vogt in Genf.
Nr. 8. Die Schmetterlinge.
(Schluß)
Auch die sogenannten Eulen, deren kleiner Kopf tief in den Schultern steckt und deren Puppen meist nackt oder nur von sehr geringem Gespinnste umgeben in der Erde sich entwickeln, stellen ihr Contingent zu den Heeren unserer Feinde. Da ist namentlich die Kohleule, deren Raupe unter dem Namen des Herzwurmes bekannt ist, weil sie sich in das Innere der Kohlhäupter bohrt, das sie durch Anhäufung ihres ekelhaften Unrathes ungenießbar macht. Da ist die Latticheule, welche Salat und Kohl in unseren Gärten vernichtet; die Lolcheule, welche es namentlich auf künstliche Wiesen und Raygras abgesehen hat; die Erdraupe, welche erst im Herbste erscheint, die jungen Getreidepflanzen verwüstet und sich durch Eingraben in die Erde in der Nähe der Wurzel allen Nachforschungen zu entziehen weiß; die Graseule, welche namentlich im Norden weite Wiesenstriche förmlich abweidet, so daß nicht ein Hälmchen übrig bleibt, und endlich die Ypsiloneule, deren Raupe schon den Spannraupen ähnlich wird und namentlich Gemüse, sowie Flachsfelder verwüstet. Ich beeile mich, über all diese durch ihre Lebensart wenig interessanten Falter hinwegzugehen, um zu den Spannern zu gelangen, von denen einige in ihrer Lebensweise ganz eigenthümliche Verhältnisse darbieten.
Die Arten, welche ich hier im Auge habe, sind der große und kleine Frostspanner (Geometra defoliaria und brumata), von denen der letztere namentlich zuweilen in verheerender Menge erscheint und schon in manchem Jahre die Obsternte bis auf den letzten Stumpf zerstört hat. Die Schmetterlinge erscheinen erst im Spätherbste und Winter von Ende October bis in den December hinein, wo die Männchen mit ihren großen dünnen Flügeln überall in den Obstgärten umherschwärmen. Die Weibchen sind glücklicherweise der Fähigkeit zu fliegen gänzlich beraubt; denn das Weibchen des großen Frostspanners ist ganz ungeflügelt, dasjenige des kleinen dagegen nur mit sehr kurzen Stummeln versehen. Dagegen haben die Weibchen sehr lange, gedornte Beine, mit welchen sie sogar senkrechte, glatte Flächen hinaufklettern können und deren sie sich bedienen, um an den Stämmen der Bäume hinaufzusteigen und an den Zweigen die Eierchen einzeln abzusetzen. Es hält sehr schwer, die kleinen Eierchen zu entdecken, obgleich sie sich an allen Obst- und Gartenbäumen in manchen Jahren in ungeheuerer Menge finden. Sie überdauern die strengste Kälte, schlüpfen mit dem ersten Frühlinge aus und fressen sich sogleich in die Knospen hinein, wobei sie vorzugsweise die Blüthenknospen aufsuchen, indem sie zugleich zu Schutz und Obdach Blüthen und Blätter zusammenspinnen. So werden namentlich von dem kleinen Frostspanner ganze Gemarkungen [811] von Obstbäumen dergestalt verwüstet, daß auch nicht eine Blüthe zur Entwicklung kommt und die Bäume wie roth und verbrannt aussehen.
Glücklicher Weise giebt die Natur selbst durch den Mangel der Flugfähigkeit des Weibchens die Mittel an die Hand, seinen Verheerungen eine Grenze zu setzen. Man schabt eine ringförmige Stelle in einer gewissen Höhe um den Stamm herum glatt ab und klebt darüber ein Theerband, welches man am besten aus angefeuchtetem Papier bereitet, das man mit einem Bindfaden fest bindet. Man trägt zuvor Sorge, mit Lehm, Kalk, Gyps alle Zwischenräume zwischen dem Stamme und dem Bande dergestalt zu verkleben, daß auch nicht das kleinste Thierchen zwischen dem Stamme und dem Bande durchschlüpfen kann. Dann überstreicht man dasselbe, das wenigstens handbreit sein muß, mit dickflüssigem Theer und wiederholt den Anstrich so oft, als seine Oberfläche trocken wird. Man legt diese Theerbänder im October an und unterhält sie, je nach Bedürfniß, durch öfteres Ueberstreichen bis in den Januar in der Weise, daß sie stets eine klebende Oberfläche darbieten. Man wird nun mit Erstaunen sehen, welche Unzahl von verschiedenen kleinen Bestien, die in den Rindenspalten eine Zuflucht suchen, sich auf diesen Theerbändern fängt und wie namentlich in Jahren, wo die Verhältnisse die Entwickelung des Frostspanners begünstigen, oft eine Nacht hinreicht, das Theerband so über und über mit Spannerweibchen zu besetzen, daß man die Vermuthung hegen kann, einige derselben seien über die Leiber der angeklebten hinüber doch zu den Zweigen gelangt. Ich erinnere mich noch sehr wohl, daß in meiner Vaterstadt Gießen erst gegen das Ende der zwanziger Jahre den Gartenbesitzern ein Licht über die Verheerungen des Frostspanners aufging und daß mein Vater sich unendliche Mühe gab, die Naturgeschichte des Thieres durch gemeinnützige Belehrungen bekannt zu machen. Nichts half im Anfang! Man lachte ungläubig zu der Behauptung meines Vaters, daß das Weibchen flügellos sei und durch Theerringe gefangen werden könne, während das Männchen vortreffliche Flügel besitze. Wir besaßen einen großen Obstgarten mit mehr als hundert hochstämmigen Obstbäumen, der dem früheren Walle abgewonnen und mitten zwischen anderen Obstgärten derselben Art gelegen war. Mehrere Jahre hindurch bepinselte mein Vater unverdrossen alle Bäume bis in die letzten Zweige hinein mit ungelöschtem Kalk und legte dann seine Theerringe im Herbste an. Der Kalkanstrich, öfter wiederholt, schuf förmlich eine neue, glatte Rinde um die Bäume, welche dem Ungeziefer keine Schlupfwinkel mehr bot; auf den Theerringen fingen sich Millionen von Spannern, so daß die ganze Familie Nachmittags in hellen Haufen ausziehen mußte, um den Anstrich zu besorgen. Die Spaziergänger, welche um den Wall herumgingen, hatten mancherlei spitzige Redensarten und höhnende Zurufe über meines Vaters Gespenstbäume zur Hand, und die „Schmeerbuben“ mit ihren Theertöpfen wurden auch nicht übel gehänselt. Als aber im nächsten Frühjahre unser Garten in vollem Blüthenschmuck prangte, während die benachbarten Gärten alle aussahen, als hätte sie der giftige Hauch der Wüste versengt, als wir im Sommer Kirschen, im Herbste Pflaumen, Aepfel und Birnen, die Nachbarn aber nur das Nachsehen hatten: fand man die weißen Bäume doch nicht so ganz unschön und die Theerringe nicht übel, und es brauchte nicht einmal die Probe eines zweiten Jahres, um die Maßregel fast allgemein durchgeführt zu sehen.
Mit den bis jetzt erwähnten Schmetterlingen ist indessen die Reihe unserer Feinde bei Weitem noch nicht geschlossen. Es giebt eine Unzahl sogenannter Kleinfalter (Microlepidoptera), welche in Dämmerung und Nacht ihr Wesen treiben, durch ihre Kleinheit und meist Unscheinbarkeit der Farben wenig die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, von den jugendlichen Sammlern deshalb meist verschmäht werden und dennoch die höchste Beachtung verdienen. Die Zünsler (Pyralis), deren Schmetterlinge besonders große Taster besitzen, Schnurren, die wie Hörner am Kopfe hervorragen, die Wickler (Tortrix) mit geschulterten Flügeln, deren Raupen meist die Blätter in Gestalt einer Cigarre zusammendrehen, häufig aber auch in Früchte und Schossen bohren, die Motten oder Schaben (Tinea), deren Flügel in der Ruhe etwa wie ein Hofdamenmantel den Leib decken – all dieses Kleinzeug der Schmetterlingswelt treibt beständig seine Minengänge gegen uns in Feld und Wald, Garten und Wiese, in Häusern, Ställen und Speichern, in Kleidern und Vorräthen, so daß wir kaum wissen, wo wehren. Und wenn es noch mit den sichtlich in die Erscheinung tretenden Wicklern und Motten gethan wäre! Aber all jene unsichtbaren Wickelraupen, welche durch Spinnen und Nagen die vielfachen Blätter, aus welchen das einige Deutschland gemacht werden soll, so gerollt und gewickelt haben, daß kein Mensch mehr in der welken Cigarre sich wohl fühlt und Niemand weiß, wie die Verwicklung zu lösen sei – und all jene lichtscheuen Motten, welche nach den germanischen Köpfen umherflattern und hier preußisch schwarz-weiß sich kleiden, dort schwarz-gelben Hofmantel tragen oder gar lichtensteinische Verbrämung an ihr scheckiges Gewand setzen – wer, meine Herren, treibt uns diese Wickler und Motten aus? Die Polizei wenigstens gewiß nicht!
Unter den deutschen Zünslern ist es namentlich der Pfeifer (Pyralis mararitalis), welcher hie und da bedeutenden Schaden zufügt, indem er in die jungen Schoten von Raps und anderen kreuzblüthigen Pflanzen, welche zur Oelgewinnung benutzt werden, große Löcher bohrt, so daß die Schoten etwa wie Querpfeifen aussehen. Die Raupe frißt nur den Samen und lebt lange genug, um mehrere Schoten nach einander auszuhöhlen. Haben wir auf der rechten Seite des Rheins es mit diesem Musikliebhaber zu thun, so kämpft dagegen die linke Rheinseite, und zwar mit weit geringerem Erfolge als gegen die Oesterreicher, gegen den Weinzünsler (Pyralis vitana), welcher durch die Vernichtung der Weinernten den kriegerischen Geist der Franzosen bedeutend herabzustimmen droht und schon zu verschiedenen Zeiten die Heimath Lamartine’s, die Umgegend von Macon, ohne die mindeste Rücksicht auf die finanziellen Verhältnisse des Dichters auf die grausamste Weise mißhandelt hat. Der Falter fliegt im August, legt seine gelblichen, mit härtlichem Schleime bedeckten Eier in einen Haufen auf die Oberseite der Blätter, so daß sie leicht sich erkennen und wegnehmen lassen. Die Räupchen spinnen Alles zusammen, was sich nur irgend in ihrer Nähe befindet: Blätter, Ranken, Schossen, thun indessen zu dieser Zeit noch nicht viel Schaden, da sie noch klein sind, nur das Blattgrün fressen und bei dem ersten Froste sich in Schlupfwinkel in der Rinde und den Weinpfählen zurückziehen, wo sie den Winter über in Erstarrung zubringen. Mit dem ersten Frühlinge aber brechen sie aus, fallen über die Knospen her, spinnen stets größerwerdende Nester zusammen, aus welchen man sie nicht herausschütteln kann, und verheeren nun den Weinstock in schauerlicher Weise. Als einziges Mittel gegen diese Verheerungen empfiehlt man das Einsammeln der Eier auf den Weinblättern im August.
Der deutsche Weingärtner beklagt sich über den Sauerwurm oder Heuwurm (Tortrix uvana), dessen erste Generation im Beginne des Frühlings, die zweite im Juli erscheint. Die Frühlingsräupchen oder Heuwürmer fressen in den Knospen hauptsächlich die Blüthenknöpfe, die im Herbst erscheinenden Räupchen der zweiten Generation die Traubenbeeren selbst, in welche sie sich einfressen und nach dem Kerne hinbohren. Diese angestochenen Beeren zeigen in der Nähe des Stieles einen blauen Fleck mit einem Löchelchen darin, durch welches der Unrath herausgeschafft wird. Die Raupe höhlt eine Beere nach der andern aus, spinnt sie zusammen, erzeugt saure Fäulniß und hat namentlich in dem Seegebiete Würtembergs und Badens öfters schon die ganze Traubenernte zerstört.
Sowie in den Traubenbergen haust ein anderer Wickler, dessen Raupe gewiß allen meinen Lesern wohl bekannt ist, in den Aepfeln (Tortrix pomonana), ein anderer in den Pflaumen. Die Eier werden von den kleinen Faltern in die Blüthen gelegt, die jungen Raupen bohren sich meist oben von dem Kelche der Aepfel aus in das Kernhaus hinein, legen sich einen Gang nach außen an, durch welchen sie den Unrath hinausschaffen, und haben ein ganz besonderes Talent in der Auffindung derjenigen Stellen, wo zwei nebeneinander hängende Aepfel sich berühren, wo sie dann von einer Frucht in die andere hinübergehen. Die angebohrten Früchte fallen meist früher ab, als die andern, worauf die Raupe sie verläßt und sich irgendwo an einem geschützten Orte, am liebsten an morschem Holze, mit dessen abgenagten Schabseln sie ihr Gewebe vermengt, einspinnt und als Raupe das Frühjahr erwartet. Ganz in ähnlicher Weise haust der Pflaumenwickler (Tortrix nigricana) in allen Sorten von Pflaumen und namentlich Zwetschen. Das sorgfältige Abschütteln und Auflesen der frühreifen Früchte ist gewiß das beste Mittel, den Verheerungen des ekelhaften Wurmes Einhalt zu thun.
In jeder Beziehung die unangenehmsten Raupen für den Obstzüchter sind die unleidlichen Wickelraupen, welche vorzugsweise in den Blüthenknospen der Obstbäume sich festsetzen (Tortrix variegana, Tortrix orellana, Tortrix pruniana), diese zusammenspinnen [812] spinnen und nun von innen heraus die noch unentwickelten Blüthen und zarten Sprossen verwüsten. Jeder Baum hat fast seine eigene Art, und es ist wirklich kummervoll zu sehen, wie hier und da noch eine nur halbzerfressene Blüthe sich aus der zusammengerollten Knospe hervordrängt, ohne doch eine genießbare Frucht hervorzubringen, und wie selbst die Laubknospen verwüstet werden, ohne im nächsten Frühjahre Tragholz und Früchte entstehen zu sehen. Während man an den Zwergbäumen noch die Raupen innerhalb der zusammengeklebten Knospen zerdrücken kann, ist man vollkommen ohnmächtig gegen den Feind, der sich auf den Hochstämmen angesiedelt hat.
Unter den Motten ist es namentlich der weiße Kornwurm oder die Kornmotte (Tinea granella), welche schon manchem Oekonomen und Getreidespeculanten den Schlaf gestört hat. Die Motten fliegen hauptsächlich im Mai und Juni, legen ihre Eier nur an aufgespeichertes Getreide, das von den kleinen weißen Räupchen, die braunen Kopf und weißes Nackenschildchen haben, sogleich angegriffen wird. Das Räupchen frißt nur den mehligen Inhalt des Korns, spinnt denselben mittelst seines Unraths zusammen und zerstört bis zum September, wo es ausgewachsen ist, zwanzig bis dreißig Körner, welche alle zusammengesponnen werden und in faulige Gährung übergehen. Die Raupen verpuppen sich theils im Getreidehaufen selbst, theils in den Ritzen der Breterböden, wo sie ihr Gespinnst mit zernagtem Holze bedecken, verwandeln sich aber erst im nächsten Frühjahre innerhalb dieses Gespinnstes in Puppen. Das einzige durchaus wirksame Mittel ist das heftige Ausdörren des angegriffenen Getreides im Backofen bei solcher Hitze, daß dadurch Raupen und Puppen getödtet werden. „Doch,“ sagt Oken, „der geizige Kornjude spart wohl auch hierin, und obschon der Kornwurm zu seiner Züchtigung erschaffen ist, indem durch ihn das Getreide Flügel bekommt und zu den Dachlöchern hinausfliegt: so machen sich doch dergleichen Wucherer kein Gewissen daraus, diese leeren Getreidehaufen als gutes Korn zu verkaufen oder wenigstens unter solches zu mischen, ohne zu bedenken, daß sie ihren Nächsten dadurch gottloser Weise nicht nur um das Geld betrügen, sondern ihn auch durch das daraus gebackene stinkende Brod um seinen gesunden Leib bringen. Dieses ist jedoch eine Art Kornwürmer, von denen ich eigentlich nicht zu handeln habe; darum will ich die Untersuchung derselben Andern überlassen.“
Vater Blumenbach in Göttingen pflegte bei seinen Vorlesungen, wenn er an die Motten kam, einen alten zerfressenen Pelz mitzubringen und ihn vor seinen Zuhörern mit einem Stückchen auszuklopfen, indem er dabei beständig rief: „Hospitanten heraus!“ Ich erwähne dies nur, um auf die Pelz- und Kleiderschabe, die Tapeten- und Polsterschabe, die Woll- und Haarschabe (Tinea pellionella, Tinea crinella, Tinea tapezella etc.) aufmerksam zu machen, die in all diesen Stoffen zerstörend hausen und hauptsächlich nur durch Ausklopfen, Lüften, scharfes Trocknen im Backofen, Bestreuen mit Sublimat oder Arsenik getödtet werden können. Es sind gewissermaßen Warnungszeichen gegen die Manie mancher Hausfrauen, große Sammlungen dieser Stoffe anzulegen, die weniger zum Gebrauche als zum Prahlen dienen, da diejenigen Stoffe, welche häufig in Gebrauch gezogen, gewaschen und gelüftet werden, schon an und für sich durch diese Behandlung dem Schmetterlinge die Zeit nicht lassen, sich in gehöriger Weise zu entwickeln.
Nur die Wachsschabe (Tinea cerella) will ich noch erwähnen, die den Bienenzüchtern manchen Schaden zufügt. Der holzgraue Falter findet sich meist an den Bienenkörben, durch deren Ritzen er seine Eierchen in das Innere zu schieben oder auch durch deren Flugloch er in unbewachten Augenblicken einzudringen sucht, bei welchem Versuche freilich viele Schaben von den Bienen überfallen und getödtet werden. Die Räupchen graben sich Gänge in die Waben ein, welche zuletzt bei zunehmender Größe der Raupe selbst die Dicke eines Federkiels erreichen können, und überspinnen sorgfältig alle Gänge und Waben mit dichten Seidengespinnsten, so daß sie häufig sogar den Bienen den Zugang zum Honig verlegen und so Ursache sein können, daß die Bewohner eines Stockes im Winter zu Grunde gehen. Sie fressen nur das Wachs, verrathen ihre Anwesenheit leicht durch den platten, braunen, gekerbten Unrath und sind schwer zu vertilgen, während es ziemlich leicht hält, Falter und Puppen zu vernichten und ersteren den Zugang zu den Stöcken durch sorgfältiges Verstreichen aller Ritzen und Verengern des Flugloches zu verwehren.
Es gehört schon ein Bischen Glück der Geburt dazu, wenn ein Kind in den Besitz eines Bilderbuchs gelangen soll. Die Preise selbst mittelmäßiger Bilderbücher sind durchschnittlich noch zu hoch für den Geldbeutel des Arbeiterstandes, der die Mehrzahl aller Bevölkerungen ausmacht. Man muß das beklagen, denn ein hübsches Bilderbuch ist eine außerordentliche Kinderlust und der erste Schatz, aus dem der erwachende Geist des Kindes nachhaltige Nahrung zieht. Deshalb ist es durchaus nothwendig, daß die Speculation ernstlich auf technische Mittel sinnt, um der Kinderwelt auch bis in die weniger vom Mammon bedachten Kreise dennoch mit guten, das Auge des Kindes gleich für das Schöne gewinnenden Bilderbüchern zu erfreuen.
Vor der Hand ist das noch frommer Wunsch, und auch die paar uns soeben vorliegenden Bilderbücher werden nur auf Weihnachtstische kommen, die auch außerdem von jenem ersten Kindesglück, dem der Geburt, zeugen. Je weniger dies ihnen von ihrem Werthe nehmen kann, um so mehr gerade bedauert man, daß sie nicht eine größere Anzahl der funkelnden Augen ergötzen können.
Den ersten Rang unter allen uns vorliegenden „Weihnachts-Schriften“ nimmt, was künstlerische Ausstattung anlangt, unbedingt das in Berlin bei Weidmann erschienene Kinderbuch: Was willst Du werden? von Oskar Pletsch, ein. In einer Reihenfolge von 22 Zeichnungen, die in Auffassung und Ausführung mit den besten Leistungen Ludwig Richter’s concurriren, führt uns der Künstler in ganz reizender Weise die verschiedenen Handwerker und Berufsarten des Lebens vor, die er zugleich mit höchst naiven, oft schalkhaften Reimen [813] begleitet. Denn nur der Schalk war es wohl, der folgenden Reim dichtete:
Ruhmvoll ist des Soldaten Stand!
Mit Gott für König und Vaterland
Zieht freudig Jeder in den Krieg,
Ein Braver sagt: „Tod oder Sieg!“
und oben drüber den Vater Wrangel zu Pferde abbildete und daneben – eine steif präsentirende Schildwache! – Die meisten der Bilder, von denen wir mit Erlaubniß der Verlagshandlung nebenstehend zwei Proben geben, sind kleine Meisterwerke in ihrer Art und können zu den besten Erzeugnissen der Holzschneidekunst gerechnet werden.
Für Kinder von 6 bis 9 Jahren ist „der runde Tisch“ von R. Horter bestimmt, dem 6 colorirte Zeichnungen von G. Bartsch beigegeben sind. Die 25 Erzählungen des Büchleins sind größtentheils für die Kinderwelt geeignet. Die Sprache ist einfach, sollte jedoch hie und da correcter sein. Provincialismen, wie „seine Mutter machte sich alt“, statt „kam in die Jahre“ etc., und Sätze wie S. 189: „Glücklicherweise traf er ihn zu Hause und ließ ihn vor sich“, dürften nicht vor Kindesaugen kommen, die, wie leider der meisten Menschen Augen, an Fehlern leichter haften bleiben, als an Gutem, Tüchtigem und Schönem.
Diesen Tadel können wir auch dem Texte B. Rein’s zu den „24 alten und neuen Spielen mit Versen, Erklärungen und 12 farbigen Bildern von August Reinhardt“ nicht ersparen. Verse und Ausdrücke wie: „Wenn nicht auch blind ich wär’“ – „Schämt Euch, wer solch Jäger wär’“ – „Wirst Du oder ich es sein“ – „Fangt ihn auf“ (nämlich den Fuchs) etc. sollten in unserer hochgebildeten Sprache vermieden werden. Von diesen Schwächen abgesehen, ist das Buch besonders seiner hübschen Bilder wegen zu empfehlen. Die Kinder erfinden sich zwar ihre liebsten Spiele am besten selbst; – indeß mag es Kreise und Zeiten geben, wo den Kleinen die Lust oder das Zeug dazu gebricht, oder wo die kleine Unruhe nach Neuem sucht; dann giebt dies Buch eine treffliche Aushülfe an die Hand. Für den Zeichner die Bemerkung, daß auf seinem Bildchen zu „Storch und Frösche“ eine so reizende Kinderlust, wie ein Storchnest ist, nicht fehlen dürfte. – Noch möchten wir – namentlich unsern sächsischen Lesern – „die gesammelten Erzählungen von Märchen der Frau Charlotte Krug, geb. Schnorr von Carolsfeld“ empfehlen, wovon bis jetzt zwei Bändchen erschienen sind. „Das böhmische Harfenmädchen“ – „der Schatz bei Aue“ – „ die Steinkohlenprinzessin“ (preisgekrönt) behandeln sächsische Stoffe und sind sehr gut erzählt.
Wir wissen nicht, ob die deutschen Ehen noch immer im
Himmel geschlossen werden, wie man ihnen dieses früher nachsagte;
was die englischen Ehen anbetrifft, so haben diese einen sehr irdischen
Ursprung. Die Verhandlungen vor dem neugeschaffenen
Ehescheidungs-Gerichtshofe haben in letzter Zeit sehr sonderbare
und charakteristische Aufschlüsse hierüber gebracht. Die Existenz der
Heiraths-Agenturen scheint zwar in allen Ländern fest gegründet
zu sein, die Vermittelung der Zeitungs-Annonce ist bekanntlich
ein nicht mehr ungewöhnlicher Weg, aber der Versuch, die Redaction
eines populären Journals zur Vermittlerin passender Ehen zu benutzen,
ist bisher nur in England erfolgreich gemacht worden. Es
giebt hier eine Menge billiger Wochenblätter, die sich einer ungeheuren
Verbreitung erfreuen und offenbar für ein Publicum geschrieben
werden, das noch vor einem Jahrzehnt nicht existirte.
Wer liest das „London Journal“, den „Family Herald“, „Reynolds’
Miscellanies“, deren Auflage zusammen auf eine halbe Million geschätzt
wird? Auf welches Publicum sind alle die zahlreichen
unpolitischen Wochenblätter à 1 oder ½ Penny, welche jeden
Sonnabend haufenweise in den Londoner Zeitungs-Läden aufgespeichert
und am nächsten Montag verkauft sind, berechnet?
Man braucht nur einen oberflächlichen Blick in diese Publicationen
zu werfen, um sofort zu sehen, daß wir hier ein ganz neues Publicum
vor uns haben.
Die Novellen und Romane, welche den Mittelpunkt dieser Blätter bilden, sind viel zu naiv, dünn und ursprünglich, als daß sie dem verwöhnten Geschmack blasirter Romanleser genügen könnten. Da ist nichts von den spannenden Situationen und dramatischen Entwirrungen eines kunstreich geschürzten Knotens, wie in den Romanen des modernen Frankreichs, keine Verherrlichung des pikanten Lasters, keine Erfindung außerordentlicher Tugenden, kein Thackeray’scher Humor, kein Dickens’sches Talent für photographische Skizze, keine Bulwer’sche Philosophie; sondern Alles ist einfach, kühl, gesund und nur im Stande, der anspruchlosesten Bescheidenheit eines primitiven Publicums zu genügen. Der Bösewicht ist schwarz ohne alle Hüllung und Schattirung, der Held und die Heldin sind Tugendmuster, die von einem[WS 1] bitterbösen Lord verfolgt werden, dieser wird schließlich exemplarisch bestraft, und die Tugend triumphirt. Die Rührung ist der einfachsten Natur und kann nur dem genügen, dessen Nerven noch nicht überreizt worden sind. Es sind weder die höheren Stände, welche ihre literarische Unterhaltung aus den Revuen und Magazinen schöpfen, noch die Mittelklassen, welche Dickens’ „All the year round“ und „Chambers Journal“ wöchentlich zu kaufen pflegen, sondern die Küche und die Werkstatt, welche den erwähnten Blättern ihre Millionen von Lesern liefern. Dieses Publicum hat erst neuerdings, wo die National-Schulen eine größere Verbreitung gefunden haben, buchstabiren gelernt und [814] lernt nun im „London Journal“ lesen; die ganze moderne Literaturbewegung ist ihm daher fremd, und es tritt mit primitiven Anforderungen an seine Lectüre heran.
Interessante Aufschlüsse über den Bildungsstandpunkt dieser Art von Lesern liefert die letzte Seite eines solchen Blattes, auf welcher der Herausgeber seine Correspondenz mit den Lesern veröffentlicht. Diese ist der mannigfaltigsten Natur. Die Leser scheinen den Herausgeber als ihren besten Freund zu betrachten und von der naiven Ueberzeugung auszugehen, daß der Mann, welcher so rührende Novellen zu schreiben und so schöne Gedichte zu machen verstehe, Alles wissen müsse. Wenn Therese in der Corsets-Linie von ihren Hühneraugen geplagt wird. so wendet sie sich an den verehrten Herausgeber ihres Penny-Blattes und verlangt ein probates Recept, welches ihr dieser auch theilnehmend auf der letzten Seite liefert. Ist Marie in der Strumpfwaaren-Linie von Herzensangelegenheiten incommodirt, so bittet sie den geliebten Editor um Rath und Trost, der ihr auch nie versagt wird. Ist der Köchin, welche Reynolds’ Miscellanies zu lesen pflegt, ein Gericht mißrathen, so schreibt sie an Herrn Reynolds und bittet ihn, mit seiner Küchen-Erfahrung ihr zu Hülfe zu kommen, was dieser auch zuvorkommend thut. Kurz, über alle Dinge und noch einige andere muß der Redacteur Auskunft ertheilen. Jurisprudenz, Medicin, Theologie, Philologie, Geschichte, Geographie, Kalligraphie und Orthographie werden seiner Weisheit unterstellt. Er muß über alles, was seine Leser nicht wissen, Bescheid geben, und da diese sehr Vieles nicht wissen, so hat er alle Hände voll zu thun, um mit Hülfe eines guten Conversationslexikons den an ihn gestellten Forderungen zu entsprechen.
Der hauptsächlichste Theil der eingesandten und beantworteten Briefe bezieht sich jedoch auf Liebe und Heirathen; daher haben zwei oder drei der jüngsten Penny- und Halfpenny-Blätter geradezu eine „matrimonial column“ (Heirathsspalte) errichtet und gründen ihre Hoffnung auf Absatz und Popularität vorzugsweise auf diese Einrichtung. Dies ist natürlich genug. Da der vorjährige Census nachweist, daß es in Großbritannien eine halbe Million mehr Weiber als Männer giebt, so ist es nur natürlich, daß ein großer Theil heirathsfähiger Jungfrauen zu dem Zustande bestimmt sind, den die Königin Elisabeth als einen „gesegneten“ zu preisen pflegte. Dazu kommt nun noch, daß die männliche Bevölkerung Englands zum Wanderleben geneigt ist und theilweise ihre Jugendkraft in Indien, China, Amerika, Australien u. s. w. erschöpft, um frühzeitig gealtert mit erworbenem Vermögen und Podagra nach England zurückzukehren und hier den Comfort des Hagestolzthums zu genießen oder eine späte unfruchtbare Ehe einzugehn. Daher giebt es nirgends so viele alte Jungfern als in England, und die Zahl der Hagestolze scheint mit ihnen im Verhältniß zu stehen. Eine wirksame Heiraths-Agentur ist unter diesen Umständen eine Art von National-Bedürfniß, und der confidentielle Herausgeber eines Penny-Blattes, der eine solche in seinen Spalten errichtet, erwirbt sich große Verdienste um die heirathslustige Welt.
Ein junges Mädchen wünscht zu wissen, ob es anständig sei, ihren Liebhaber, mit dem sie versprochen ist, vor der Heirath zu küssen. Die Antwort ist, daß eine solche Handlung entschieden unanständig sei; aber wir zweifeln sehr, ob die Correspondentin von dieser Antwort befriedigt sein wird, und noch viel mehr, ob sie sich in ihrem zukünftigen Verhalten von dem Rathe des sittenstrengen Redacteurs bestimmen lassen dürfte. Es ist sonderbar, daß irgend ein Mädchen einen Fremden für einen kompetenteren Rathgeber in Sachen des Zartgefühls und Anstandes halten sollte, als ihre eigne Mutter oder ihren Bruder; aber die Leser dieser Blätter scheinen den großen Unbekannten, der seine Beschlüsse auf der letzten Seite kundgiebt, fast mit übernatürlichen Eigenschaften auszustatten. Die größere Hälfte der Correspondentinnen scheinen verkörperte Liebenswürdigkeiten zu sein, obgleich die „goldenen Locken“, welche als Probe ihrer Reize den Briefen beigelegt werden, oft für „roth“ erklärt werden, und der Herausgeber des Family Herald mehrere seiner schönen Correspondentinnen warnt, ihr Haar mit ranzigem Fett zu salben. Der kleinere Theil scheint jedoch auf alle Reize verzichtet zu haben und an den wunderthätigen Freund sehr schwierige Anforderungen zu stellen. Jene verlangen Männer und Myrtenkränze; diese haben entweder kahle Köpfe oder krumme Beine und verlangen Heilmittel für beide. So lesen wir in einem der Blätter: „Es giebt kein Mittel für krumme Beine, wenn die betreffende Person bereits die Grenze der Kindheit überschritten hat;“ und dieses Decret ist gewiß für viele Leser und Leserinnen eine niederschlagende Nachricht gewesen.
Das dieswöchentliche „Half-Penny Journal“ veröffentlicht eine lange Liste der wünschenswerthesten Houris zur Auswahl. Sie sind fast alle vollkommen, und eine derselben, welche sich „Madoline“ unterzeichnet, ist noch dazu sehr aufrichtig; denn sie sagt: „Ich habe ein Gesicht, das bei Nacht am besten aussieht, und ich bin eine große Freundin von Gesellschaften und Vergnügungen.“ Eine Andere, welche unter dem duftigen Namen „Schneeglöckchen von Monmouth“ schreibt, erklärt, daß „sie eben so sehr im Salon, als in der Küche zu Hause ist“ – und hieran zweifeln wir durchaus nicht. Noch eine andere der Sirenen singt einen keineswegs bezaubernden Gesang: „Ich bin 26 Jahr alt, hochgewachsen, mit hellem Haar und blauen Augen, ich habe ein Herz an irgend welche Person zu vergeben, welche es für der Mühe werth halten sollte, auf diese Anfrage zu antworten; am liebsten würde ich einen zartfühlenden Arbeiter haben, da ich selbst gewohnt bin für meinen Lebensunterhalt zu arbeiten. Ich bin durchaus nicht hübsch und ziemlich bleich.“ Große Nachfrage scheint nach „hochgewachsenen Gentlemen“ zu sein, und es ist gewöhnlich eine unerläßliche Bedingung, daß der ersehnte Liebhaber zu einem Freiwilligen-Corps gehöre. Schnurrbärte werden als wünschenswerth betrachtet und gewinnen immer den Vorzug. In einigen Fällen scheinen die durch diese Correspondenz vermittelten Zusammenkünfte kein sehr befriedigendes Resultat zu liefern. Wenigstens läßt die Antwort, welche eine Correspondentin in dem erwähnten Blatte erhält, auf so etwas schließen, denn sie endet mit dem bezeichnenden Rathe: „Wenden Sie sich an einen Detectiv (Mitglied der geheimen Polizei), um den Aufenthalt Ihres Bezauberers aufzufinden.“ Indeß nicht immer kommt es zu diesem Aeußersten. An Fischen, welche an die vorgehaltene Lockspeise anbeißen, scheint wenigstens kein Mangel zu sein. Die Correspondenz mit den heirathslustigen Junggesellen ist durchweg ernsteren Charakters, und der Herausgeber scheint mit größerem Interesse die Sache seiner Geschlechtsgenossen zu vertreten. In dem Falle, wo diese auf keine persönlichen Reize Anspruch machen, wird ihr Gesuch gewöhnlich durch andere schwer in die Wagschale fallende Gründe unterstützt, und so erfolgt auf einen an den „würdigen Herausgeber“ gerichteten Brief folgende warme Empfehlung in dem vorliegenden Blatte: „Ein Liverpooler Drucker ersucht uns, ein gutes Wort bei unsern schönen Correspondentinnen für ihn einzulegen, da er trotz seiner ängstlichen Bemühung, sich ein Weib zu verschaffen, in Folge des gegenwärtigen frivolen und überkünstelten Zustandes der Gesellschaft unfähig ist, solches zu thun. Dieser junge Mann ist 21 Jahr alt, und eine tugendhafte und liebenswürdige Frau könnte ihn vom Verderben retten. Wir empfehlen ihn ernstlich der Aufmerksamkeit unserer jungen Damen als einen Preis, der der Bewerbung würdig ist, obgleich sein Einkommen gegenwärtig nur 30 Schillinge pr. Woche beträgt. Er ist ein über die Frivolitäten unseres Zeitgeistes erhabener Drucker und sucht in einem guten, treuen und liebenden Weibe nichts zu finden, als ein Herz, das er sein eigen nennen könne.“
Die Kaltblütigkeit, womit ein solcher Herausgeber seine Hand bietet, um ganz unbekannte Personen zusammen zu bringen, ist erstaunlich. Der Gedanke an das namenlose Elend, das er durch derartige Heirathen in vielen Fällen vermitteln muß, scheint ihn keinen Augenblick in der Erfüllung seiner selbstübernommenen delicaten Pflichten zu stören; gleichwohl scheint die Ausübung seines Berufes nicht ohne Schwierigkeiten zu sein, denn die betreffenden Correspondenten und Heirathscandidaten sind, wie oben bereits angedeutet, nicht immer ohne Makel. Einer wünscht zu wissen, wie er das Wachsthum seiner Augenbrauen befördern kann, ein Anderer beklagt sich über Schwäche in seinen Knieen, ein Dritter bittet um ein Mittel zur Vertreibung von Finnen. Eine junge Dame wünscht von der Gewohnheit des Erröthens geheilt zu werden; wir sollten kaum glauben, daß irgend eine Jungfrau von erröthender Schüchternheit geplagt werde, wenn sie derartige Briefe zu schreiben vermag; aber die Thatsache steht fest, und der Rath des Redacteurs legt der Briefstellerin die wahrscheinlich schwer zu erfüllende Aufgabe auf, „sich oft in gute Gesellschaft zu mischen und vor derselben so oft als möglich zu singen oder wenigstens zu declamiren.“ Ein junges Mädchen hinkt und bittet um Rath, wie sie diesen Naturfehler heilen oder wenigstens verstecken könne; eine Andere fragt, ob hysterische Zufälle erfolgreich angewandt werden könnten, um einen scheuen Liebhaber zu einer schnellen Erklärung zu veranlassen [815] Wieder eine Dame beklagt, daß ihr Liebhaber „braune Augen und rothen Schnurrbart“ besitze – Farben, die ihrer Ansicht nach nicht wohl mit einander harmoniren. Sehr viele der schönen Correspondentinnen sehen mit Bedauern, daß „die jungen Männer des heutigen Tages ungeheuer schüchtern sind,“ – eine Unvollkommenheit, die man den heirathsungeduldigen Schreiberinnen selbst allerdings nicht zum Vorwurf machen kann.
Die bestimmte Tendenz, Heirathen zu vermitteln, wird jedoch nur in einigen, meistens neuern und weniger beachteten Blättern dieser Art vertreten. Im Allgemeinen ist der Unterricht, den der Herausgeber auf der letzten Seite seinen Lesern und Correspondenten giebt, harmlos genug, und man kann nur mit Befriedigung bemerken, daß diejenigen Journale, welche sich der weitesten Circulation erfreuen, auch den discretesten Gebrauch von ihrem Einflüsse machen. Denn es läßt sich nicht bezweifeln, daß der Einfluß dieser billigen Presse auf die ärmern Classen sehr groß und tiefgehend ist, und Niemand kann die „Antworten für Correspondenten“ lesen, ohne sich zugestehen zu müssen, daß dieselben großes Unheil anrichten könnten. Tausende von Personen sind bereit, ihr Betragen in den kritischen Perioden des Lebens nach dem Rathe eines Fremden zu reguliren, und nehmen sein Urtheil über Recht oder Unrecht ohne Bedenken als Autorität an. Der Herausgeber eines solchen Blattes wird von seinen Lesern vollständig ins Vertrauen gezogen; sie enthüllen ihm ihre persönlichen Mängel, welche sie vor allen Andern verhüllen würden; sie weihen ihn in ihre geheimen Leiden und Verlegenheiten ein; sie machen ihn zu ihrem Rechts-Beistand, ihrem Arzt, ihrem Lehrer und ihrem vertrautesten Freunde. Blätter, die einen so ungeheuren Einfluß ausüben, bezeichnen eine Epoche in der gesellschaftlichen Entwickelung und werden dereinst eine werthvolle Quelle des Geschichtsschreibers sein.
Blätter und Blüthen.
Deutsche im Auslande. Alfieri behauptet in seiner Selbstbiographie,
es gebe nur zwei Länder auf der Welt, in denen zu leben eines
Menschen würdig sei – Italien und England, das erstere seiner herrlichen
Natur, das andere seiner gesellschaftlichen Verhältnisse wegen. Ich habe
es im ersteren versucht, und schaue auf die darin verlebten Jahre zurück,
als auf die schönsten meines Lebens. Im zweiten versuche ich’s jetzt, und
ich gestehe, das; ich darin soweit gekommen, daß ich es rätselhaft finde,
wie man in Deutschland, bei seinen politischen Verhältnissen, leben kann! –
Es kommt mir beinahe vor, als sei es immer noch besser, ein Deutscher
im Auslande zu sein, als ein Deutscher in Deutschland … Ach, Sie müssen
entschuldigen, wenn ich zu weit gehe. Ich kann nun einmal das
deutsche Unglück nicht mit diplomatischer Glätte hinweglächeln.
Wie gerne würden wir Deutsche im Auslande stolz sein auf unsere Nation, die trotz alledem und alledem immer die größte bleibt! Während aber jede Nation ihr Nationalbewußtsein mit sich herumträgt wie ihren Schatten, ist es unter sothanen Verhältnissen nicht zu verwundern, wenn sich Deutschland draußen seines Nationalbewußtseins begiebt, ein Peter Schlemihl unter den Nationen. Um stolz sein zu können auf unsere Herkunft, fordern wir in unserm materiellen Jahrhundert Reelleres noch als Triumphe der Wissenschaft.
Das Militärwesen ist in Deutschland mehr als eine bloße Spielerei der Fürsten, es ist eine Liebhaberei des Volkes. Kein Volk leidet so viel und so geduldig für eine perennirende Kriegsbereitschaft – vor der sich indeß kein Feind fürchtet. Die Flotte des Nationalvereins ist gescheitert, bevor der erste Kiel gelegt war. Wir treiben so viel particuläre Geschichte, und so heftig, daß wir für die allgemeine Weltgeschichte keine Zeit übrig behalten. Wenn wir aber die Weltgeschichte ignoriren, ist es nur billig, daß sie uns wieder ignorire. Eine Nation wird nach der Stellung geschätzt, die sie sich selbst giebt. Eine Nation, die nicht aufs sich hält, sich nicht zu präsentiren weiß, gilt außer ihren Landesgrenzen nichts.
Welch ein jämmerliches Bild machten z. B. wir Deutsche im April und Mai 1860 in Palermo! Während England Schiffe über Schiffe sandte, unter deren Kanonen seine Bürger Schutz fanden, oder Zuflucht an deren Bord, vor den Uebergriffen der in den Todeszuckungen liegenden bourbonischen Despotie – ebenso Frankreich und Amerika; als sogar Rußland, Schweden und Spanien Schiffe sandten, und zu Zeiten die Marine von ganz Europa auf der Rhede von Palermo vertreten war – wo war da die deutsche Flagge? Wo war da Preußen? Allerdings, seine Flotte hatte damals die wunderbaren Erfolge in Japan. Unser, der Deutschen, waren aber doch viel mehr in Palermo als Engländer oder gar Franzosen, und später gab es doch eine Lorelei und dergleichen. Wenige Tage vor dem Bombardement erst trafen drei große österreichische Schiffe ein – der Segler Schwarzenberg mit 64 Kanonen – und zwei Dampfer, Sta. Lucia und Conte Dandolo. Wie haben wir gejubelt, als wir die rothweiße Flagge sahen! Wir sind gute Preußen und haben unser Vaterland sehr lieb, aber da war wahrhaftig Keiner unter uns, der nicht im Herzen gut österreichisch geworden wäre. Nicht genug ist die Zuvorkommenheit zu loben, mit welcher jeder Deutsche, der es wünschte, Aufnahme bei den Oesterreichern fand – aber sie kamen zu spät – die deutschen Familien, meist sehr wohlhabend, hatten längst Unterkommen gefunden auf Kauffahrteischiffen, gegen schweres Geld. Die meisten der Familienväter waren Consuln, preußische, hannöversche, badische, oldenburgische, bremische, hamburgische etc. Was würde der Welfenkönig dazu sagen, wenn er wüßte, daß damals sein Consul nichts Besseres zu thun wußte, als sein Eigenthum unter englischen Schutz zu stellen? Wo blieben aber auch seine Orlogschiffe, wo die Dreidecker der Mecklenburger und Oldenburger Großherzoge?
Gerstäcker erwähnte jüngst in Ihrem Blatte der deutschen Consulate im Auslande. Jeder der Deutschen draußen wird ihm beistimmen, daß diese Institutionen in ihrer jetzigen Form dem deutschen Namen im Auslande nicht Ehre machen, sondern das Gegentheil. Der überseeische Kaufmann, welcher sich den Consultitel verschafft und die Etikette, alias Wappen, irgend eines Duodezpotentaten über seine Hausthür heftet, aber niemals dem Unrecht entgegentreten wird, das einem seiner Schutzbefohlenen widerfährt, weil er wohl weiß, daß niemals ein Schiff seiner Flagge im Hafen erscheinen kann, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen – ein solcher Consul – ich hätte beinahe gesagt honoris causa! – ist doch nichts Anderes als die personificirte Manifestation der deutschen Ohnmacht … Es ist allerdings leicht einzusehen, daß unter den gegenwärtigen Verhältnissen Deutschlands an eine einheitliche Vertretung nicht zu denken ist. Lassen wir somit die badischen, oldenburgischen, hessischen, waldeckischen, selbst die reußischen und lichtensteinischen Regierungen Consuln ernennen, so viel sie wollen, in Honolulu und unter den Botokuden – so lange sie noch Leute finden, die ihre Consulate mögen. Wären die betreffenden Regierungen indeß nicht über die Lächerlichkeit erhaben, so möchten wir sie darauf aufmerksam machen, daß, wenn z. B. den Botokuden ein vierschrötiger hannöverscher Consul ebenso sehr imponiren wird als ein ähnlicher britischer, in einer italienischen oder spanischen Stadt die Sache eine ganz andere wird. Die Italiener wenigstens haben in den letzten Jahren in der Geographie große Fortschritte gemacht, und wissen viel besser Bescheid über die politische Bedeutung von Hannover als die Sandwichinsulaner oder die Franzosen. Dürfen wir es ihnen übelnehmen, wenn sie z. B. das würtembergische Consulatswappen über irgend einer Comptoirthür ungeheuer lächerlich finden? Nun soll sich aber – um ein Anderes zu erwähnen – ein Deutscher in Italien präsentiren als Suddito Wurtemberghese - er wird schwerlich den Bürgermuth haben, sich als Tedesco zu entlarven –: kaltes, höfliches Schweigen oder ein vielsagendes „Davero!“ wird die Antwort sein. In Sicilien vollends wird Einer den Andern kopfschüttelnd fragen: Di che paese è? und der Andere wird antworten: Che so io? Dal paese de’ Minchioni! (Sicil. Redensart, s. v. a. „Aus Krähwinkel“.)
Die größte Enttäuschung bleibt indeß in Italien dem „durch Notorität als unverdächtig legitimirten“ etc. Unterthanen aufbewahrt, bis er seinen Consul, den Vertreter seines Landesvaters, von Angesicht zu Angesicht kennen lernt.
Die österreichischen Consulate ausgenommen, welche vor 1859 in Italien wirklich nichts zu wünschen übrig ließen und selbst in Piemont ihrer Schutzbefohlenen in energischester Weise sich annahmen – liegen die deutschen Consulswürden in Italien meist in den Händen von Kaufleuten, welche noch lange nicht immer Deutsche sind. Diese Würdenträger würden wirklich durchaus keinen Zweck haben, wenn sie sich nicht anheischig machten, dem Reisenden für 2 oder 3 Franken seinen Paß zu visiren. Erlauben Sie mir, in einem Exemplar die ganze Classe zu zeichnen …
Da ist der Vertreter der fünften Großmacht in Genua. Er wohnt in dem Prächtigen Palast Tagliavacca, hat ein großes Schild, von dem die wilden Männer grimmig niederschauen, und erhebt von jedem Preußen seine 2 Franken Barrieregeld. Glauben Sie aber, daß derselbe jemals einem seiner Schutzbefohlenen mit Rath oder gar That an die Hand gegangen? Nur Eins lobe ich mir bei ihm, daß er seine gänzliche Ignorirung aller Preußen von den 2 Franken abgesehen – zu einer Regel erhoben, die keine Ausnahme kennt. Vor sechs oder sieben Jahren lag in Genua monatelang der Sprosse einer der ersten pommerschen Junkerfamilien krank, ein Herrchen, das im vollsten Hautgout des Berliner „Jardeleitnants“ duftete – dem Consul wurde Anzeige von dem Falle gemacht, er nahm aber keine Notiz davon. Was hätte übrigens auch der Consul anfangen sollen mit unserm Junker? Der Junker verstand kein Wort französisch – der Consul kein Wort deutsch; seine Unkenntniß des Deutschen geht soweit, daß sogar die Umschrift seines Stempels: „Consulat prussien à Gênes“ französisch ist, statt deutsch oder italienisch!! Der arme Junker war aber doch nicht ganz tombé sur son Prussien, wie sich ein Franzose vielleicht in solchem Falle ausdrücken würde – ein paar junge Deutsche, welche in Genua lebten, thaten für ihn, was sie konnten.
Es lautet sonderbar, ist aber eine Thatsache, daß die Schweizer draußen, wenn auch durch Kaufleute, viel besser vertreten sind, als irgend ein deutscher Staat. Wie gerne erinnere ich mich der interessanten, liebenswürdigen Erscheinung des Schweizer Consuls in Palermo, Hirzel, seiner Sympathien für die Sache der Revolution in 1860, wie er jedes Mittel, dessen er sich als Consul bedienen konnte, benutzte, um proscribirten Patrioten zu helfen, wie er energisch der Regierung entgegentrat, wo sie die Interessen eines Schweizers bedrohte! Auch will ich nicht behaupten, daß Preußen nicht respectablere Consuln habe, als den genuesischen – derjenige in Palermo wenigstens, Kreßner, empfängt jeden ihm Empfohlenen mit großer Freundlichkeit und macht sich ein Vergnügen daraus, ihm mit seinen Rathschlägen an die Hand zu gehen, welche dem Fremden in einer großen
[816] Stadt, deren Verhältnisse ihm ganz neu sind, von so unschätzbarem Werthe sein müssen. Wie wäre er aber im Stande gewesen, während der Revolution 1860 uns Preußen irgend welchen Schutz angedeihen zu lassen, wenn die Regierung ihm nicht ein einziges ihrer Schiffe sandte?
Sollte jemals eine einheitliche Vertretung Deutschlands im Auslande möglich werden, so beginne man womöglich in der Nähe, in Europa. Man besetze wenigstens in den Hauptstädten die Consulate mit tüchtigen Leuten und gebe ihnen ein ausreichendes Einkommen, damit sie kein Gewerbe nebenbei zu treiben brauchen. Es ist aber durchaus nicht gesagt, daß es lauter pensionirte Lieutenants „von die Jarde“ sein müssen. Muß ich hinzufügen, daß es unerläßlich ist, daß hin und wieder ein Schiff unter deutscher Flagge sich in den Häfen sehen lasse?
Kurz und gut – man bringe dem Deutschen im Auslande ein wenig Vaterland hinaus in einer tüchtigen Vertretung, man mache ihm ein Bild, zu dem er beten möge, wenn er den vergeistigten unsichtbaren Vaterlandsbegriff nicht länger fassen kann, damit er nicht mehr nöthig habe, fremden Göttern nachzuhinken. Wenn Deutschland für seine Militärspielereien so viel Geld verbraucht, daß es für seine Vertretung im Auslande Nichts übrig behält (bei uns draußen hat’s ganz den Anschein): so frage man rund bei den Deutschen im Auslande, und ich bin überzeugt, sie werden ein Opfer nicht scheuen, wenn es nöthig wird.
Zur Nachahmung empfohlen. Es war im Anfang der vierziger Jahre, als in dem sogenannten Club-Locale des hannöverschen Fleckens N. a. d. O., wo allabendlich die Honoratioren des Orts, Civilisten wie Officiere, sich zum L’Hombre- und Whist-Spiel zusammen zu finden pflegten, zwischen dem Dr. med. G. und dem Dragoner-Lieutenant v. d. D. ein Wortwechsel entstand, welcher von beiden Seiten zu heftigen Aeußerungen führte, in Folge deren der Officier sich gemüßigt hielt, den Doctor auf Pistolen zu fordern. Allein Dr. G. verweigerte dies Duell, einmal aus dem Grunde, weil er Familienvater sei, seine Aeußerungen auch nicht für so beleidigend halte, daß man darauf ein Duell postuliren könne, andererseits weil er bei einem unglücklichen Ausgange gerade dieser Art von Duell, d. h. im Falle der Tödtung seines Gegners, dem Gesetz gegenüber eine zu unverhältnißmäßige Stellung habe. Nach dem hannöverschen Militärstrafgesetz erleidet nämlich ein Officier bei einem Duell, welches das Officier-Corps, als jedesmal vorher darüber entscheidendes Ehrengericht, für seine Standesehre nothwendig erkannt hat, sobald er in einem solchen seinen Gegner tödtet, nachher durchaus gar keine Strafe, wogegen der Civilist, welcher seinen Gegner im Duell tödtet, nach dem hannöverschen Civil-Strafgesetz eine Gefängnißstrafe von vier bis fünf Jahren Festungshaft zu erwarten hat. Aus diesen mehreren Gründen verweigerte G. das Pistolenduell, auch gegen einen Tags darauf nochmals zu ihm entsandten Cartellträger des Officiers. Was geschieht? Um einige Tage später tritt eines Morgens früh der Lieutenant v. d. D., begleitet von zwei seiner Dragoner, unangemeldet bei dem in seinem Studirzimmer sich allein befindenden G. ein und fragt denselben in kategorischem Tone: ob letzterer sich jetzt zu dem von ihm verlangten Pistolenduelle bereit erklären wolle? – G. verweigert auch jetzt, aus denselben Gründen, wie die früheren Male, dies Duell. – „Nun, so greift und haltet mir den Kerl,“ ruft da wüthend Lieutenant v. d. D. Es geschieht, und der Officier D. schlägt nun den dergestalt wehrlosen Arzt mit seiner Hetzpeitsche in brutalster Weise. Nachdem er so seine, wie er meinte, ihm gebührende Satisfaction sich verschafft, verläßt der Officier mit seinen Begleitern den Gemißhandelten und dessen Haus. Selbstverständlich erhob der Dr. G., nachdem er so weit von den Folgen dieses Ueberfalls sich erholt hatte, allsobald Klage bei dem zuständigen Militärgerichte. Die Familie v. d. D. ist die bedeutendste Adelsfamilie des hannöverschen Landes; die Anverwandten des Lieutenant v. d. D. erwarteten und hofften deshalb auch mit Zuversicht, daß der König ein vielleicht sehr strenges Urtheil des Militärgerichts durch Strafumwandlung mildern werde. Allein sie hatten sich sehr getäuscht. Alle ihre Intercessionen halfen nichts. König Ernst August wollte hier ein für allemal ein Exempel statuirt sehen, daß seine Officiere und Militärs sich keine Vergewaltigungen im Dünkel von Standes-Bevorrechtungen hierzu herausnehmen sollten. Der Dragoner-Lieutenant wurde wegen seiner an dem Dr. med. G. in besagter Weise verübten Mißhandlung nicht nur als Officier infam cassirt, sondern er wurde auch seines Adels verlustig erklärt. In unerbittlicher Strenge mußte dies Urtheil, nach des Königs Willen, vollzogen werden. Der Lieutenant v. d. D. ging später nach Texas und ist verschollen. – Was man auch über Ernst August denken mag, in solchen Dingen ließ er stets seinen Gerechtigkeitssinn frei walten.
Ludwig Uhland.
Ein Nachruf von Julius Mosen.
Was war das für ein Singen
Und Klingen die ganze Nacht,
Als hätten bei einem Todtkranken
Viel tröstende Engel gewacht?
Bald ging es wie ein Flüstern
Von einem Bergesquell,
Dann wieder wie Glockenklingen
Von ferner Bergkapell’,
Dann wieder, als hörte man singen
Das schlachtenmuthige Lied,
Das der junge Siegfried gesungen
Beim Amboß in der Schmied’.
Zuweilen wollt’ es tönen
Von fern her wie ein Horn,
Und wie das Wort, das gesprochen
Zum König Bertram de Born. –
Als weihete der Priester
Die Jünglinge zum Tod
Für Vaterland und Freiheit
Im Frühlingsmorgenroth.
Ein scharfer Luftzug streifte
Die Harfe an der Wand:
Sie klang wie Todtenklage
Gerührt von Geisterhand.
„Uhland ist von uns geschieden!“
So rief ich weinend aus,
Und junge Soldaten zogen
Singend vorüber am Haus:
„Ich hatt’ einen Cameraden,
Einen bessern findst Du nit.
Die Trommel schlug zum Streite,
Er ging an meiner Seite
In gleichem Schritt und Tritt.
– – – – – – – – – – – – – – –
– – – – – – – – – – – – – – –
Kann Dir die Hand nicht geben,
Bleib Du im ew’gen Leben
Mein treuer Camerad!“
Und weiter rollen die Wogen
Der heißen, drängenden Zeit –
Sie tragen Uhland’s Namen
Hin zur Unsterblichkeit.
(Fortsetzung der Quittung aus Nr. 49.) 30 Thlr. –, „Sturz der Spielcasse zwischen Julius Lemmé, H. Kornstein, H. Pfahler und C. Lange in Odessa,“ durch W. Ph. Clausius in Frankfurt a. M.; – 8 Thlr. von einer Whistpartie, arrangirt im Interesse des deutschen Taucherwerks, aus Grünberg in Schlesien; 4 Thlr. von den Unterprimanern des Friedrich-Wilhelms-Gymnasiums zu Posen („Vor allen Andern glaubten wir vornehmlich verpflichtet zu sein, der allgemeinen Sammlung für Bauer’s Taucherapparat beitreten zu müssen, weil wir an den fernsten Grenzen Deutschlands zeigen müssen, daß namentlich die deutsche Jugend es nicht an sich fehlen lassen darf, wenn es gilt, einen zum allgemeinen Besten erfindenden Denker zu unterstützen.“); –5 Thlr. 6 Ngr. 8 Pf. gesammelt auf der Silber-Hochzeit des Försters Hrn. Hahn zu Dürsfort, durch C. B. in Wesel; – 1 Thlr. von einer Maisdorfer Damengesellschaft; – 6 Thlr. 10 Ngr., ges. von dem Turnverein zu Langenbielau, durch G. Langer; – 4 Thlr. 25 Ngr. (5 Rubel S.) von Pet-Beck zu St. Petersburg, durch G. Haeßel; 6 Thlr. zweite Sendung von G. Müller und 5 fl. rhn. erste Sendung von H. Reimann zu Oberleutersdorf; 1 Thlr. von M. R–l in Leipzig; 5 Thlr. Scatgeld von mehreren Handlungsgehülfen in Mannheim: „Beharrlichkeit führt zum Ziel!“; 3 Thlr. erster monatlicher Beitrag eines Vereins Frankfurter Gymnasiasten, durch Johannes W… e: „Nichtswürdig ist die Nation, die nicht ihr Alles freudig setzt an ihre Ehre.“; – 1 Thlr. vom Rechtsanw. Erdmann in Leipzig; 10 Thlr. 5 Ngr. von den Primanern des Gymnasiums von Kloster U. l. Fr. zu Magdeburg; 1 Thlr. von Gottlieb Köppel in Bodenneukirchen; 7 Ngr. „für einen verauctionirten Pfennig“; – 20 Ngr. von E. H. R. und A. Sch. in Heilbronn; 3 Thlr. 15 Ngr. 7 Pf. gesammelt bei einem gemüthlichen Beisammensein des Männerturngesangvereins zu Crimmitschau, durch B. Zill; 1 Thlr. gesammelt von einigen Handwerkern bei der Kindtaufe des Handschuhm. H. Hötzel in Waldenburg in Schlesien; 4 Thlr. (7 fl. rhn.) gesammelt auf der Kirchweihe in Harxheim im Zellerthal, Pfalz, durch G. Herr; 3 Thlr. von den Mitgliedern des Rettungsvereins und 5 Sgr. von einem Nichtmitglied zu Greußen (Schwarzburg-Sondershausen); 4 Thlr. gesammelt von einigen Mitgliedern des landwirthschaftlichen Zweigvereins für das Amt Rickhausen in Ostfriesland, durch J. Strenge in Halte b. Leen; 6 Thlr. gesammelt unter Turnern in Königsberg in Pr., durch H. Corsepius; 13 Thlr. 18 Ngr. gesammelt in Groß- und Neu-Schönau, durch C. H. Haebler; 10 fl. rhn. von dem Gewerbeverein zu Nagow, durch Herm Reichert: „Ohne Kampf kein Sieg!“; – 3 Thlr. 12 Ngr. gesammelt auf Veranlassung einer fröhlichen Abendunterhaltung von Mitgliedern des Vereins „Vorwärts“, durch F. Hartwig und C. Alicke in Leipzig; 3 Thlr. von 6 Lesern der Gartenlaube in Harzburg, Herzogthum Braunschweig; – 4 Thlr. 20 Ngr. von dem Gesangvereine „Concordia“ zu Sarstedt.
(Fortsetzung dieser Quittung in den folgenden Nummern); im voraus wollen wir unsere Leser mit der Notiz erfreuen, daß die Gesammtsumme dieser (23.) Quittung nahe an 1200 Thaler beträgt.- ↑ Wörtliche Aussage des Jägers Kappel und seiner Ehefrau, Fol. 3.
- ↑ Verhörsacten des Jägers Kappel, Fol. 3. Die ganze Scene wörtlich nach Kappel’s Aussage und der seiner Gattin.
- ↑ Verhörsacten, Fol. 72 u. ff.
- ↑ Verhörsacten Fol. 198, 199, wörtliche Aussage Kappel’s.
- ↑ Mündliche Aussage Kappel’s.
- ↑ Aussage des Jägers Kappel Fol. 125, 128.
- ↑ Prozeßacten, Fol. 68, 200.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: einen