Die Gartenlaube (1862)/Heft 52
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No. 52. | 1862. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.
Eine Speculation.
Wie lange dieses Arbeiten im Wasser gewährt, meinte der Deutsche endlich in keiner Weise mehr beurtheilen zu können; in dieser für das Auge undurchdringlichen Nebelmasse, welche fortdauernd über ihnen lag, schien ihm das Maß für die Zeit wie für die Schnelle ihrer Vorwärtsbewegung völlig verloren gegangen zu sein; er fühlte nur, daß er zu ermatten begann und daß er die bisherige Anstrengung kaum lange mehr werde ertragen können. „Sollten wir nicht bald am Ufer sein, Bob?“ fragte er wieder.
„Einen Augenblick ruhig, Sir! Hören Sie nichts?“ war die Antwort, deren Ton gleichfalls die eintretende Ermüdung andeutete. Behrend bemühte sich, den Kopf zu heben, und in sein gespanntes Ohr fielen plötzlich schrille Geigenklänge, zeitweise mit einem angestrengten, aber hörbar vom Nebel gedämpften „Ho ho!“ untermischt, das sich in seinem Tonfalle der wilden Melodie anschloß; der junge Mann vermochte sich die wunderliche Musik nicht zu erklären, aber er fühlte plötzlich seine Ermattung weichen – Land und Menschen mußten in unmittelbarer Nähe sein! „Es ist bei Gott der Dutch[1]-Henry, der vermuthlich den Brand bemerkt hat, und so sind wir doch auf dem falschen Wege gewesen,“ rief der Schwarze aufathmend, „thut aber jetzt nichts, wenn wir nur trockenen Boden unter die Füße bekommen!“
„Nicht das Ufer?“ frug Behrend mit einem unbestimmten Gefühle von Enttäuschung.
„Eine Insel, Sir, wir sind richtig mit der Strömung gegangen; aber es ist besser, als wenn wir im Sumpfe, in einem Rohrdickicht ohne Weg und Steg gelandet hätten. Nur vorwärts, jetzt weiß ich Bescheid!“
Nach kaum einer halben Minute neubelebten Ausstreichens der Schwimmenden wurden die Töne, die aus der Luft zu kommen schienen, in voller Deutlichkeit hörbar, und bald faßte Bob einen in das Wasser niederhängenden Zweig, während ein dunkler Schein in dem Nebel dicht emporgeschossenes Gebüsch andeutete. „Noch zehn Schritte weiter, so müssen wir an der Plattform sein!“ ließ sich Bob wieder hören – „so, jetzt vorsichtig, Sir, daß Sie sich nicht stoßen – so, jetzt gehen Sie vorweg, Sir, und helfen Sie der Lady hinauf!“
Behrend hatte abschüssigen Grund gefunden und sich zu einem schmalen Vorbau, welcher ein bequemes Landen ermöglichte, hinaufgearbeitet, während über ihm aus dem Nebel noch immer die schrille, seltsame Musik herabklang. Jetzt bog er sich nieder, um dem Mädchen, welches noch immer regungslos ihre Matratze umfaßt hielt, die nöthige Unterstützung zum Erreichen der Plattform zu geben; er hatte aber kaum, mit einem eindringlichen: „Ueberlassen Sie sich mir, Miß, und richten Sie sich auf!“ die Hände unter ihre Arme geschoben, als sie mit einer zuckenden krampfhaften Bewegung nur um so fester sich an ihren bisherigen Halt klammerte. „Miß Ellen, hören Sie mich nicht? wir sind am Lande!“ sprach Behrend noch eindringlicher, aber keine Antwort erfolgte, und eine plötzliche, peinliche Sorge über den Zustand des Mädchens schoß in der Seele des jungen Mannes auf. „Sie scheint nicht ganz bei sich zu sein, Bob, und wir werden versuchen müssen, sie mit der Matratze herauf zu schaffen,“ wandte er sich nach dem Schwarzen, welcher sich bequem in die über das Wasser ragenden Zweige des Gebüsches gehangen hatte; „könnt Ihr Halt genug bekommen, um zu helfen?“
„Wird kaum eine Mühe machen, Sir,“ war die Antwort, „ich werde heben, und dann fassen Sie nur richtig an!“ und mit der linken Hand einen festen Halt am Ufer ergreifend, brachte er die Schulter und den rechten Arm unter die Matratze. Behrend hatte, auf den Knieen liegend, von Neuem die Bewußtlose gefaßt, und mit einem lauten „lift up!“ des Negers hob sich das Lager auf die Plattform. Kaum hatte dieses aber, mit der unvermeidlichen Erschütterung, den festen Boden berührt, als das Mädchen auffuhr, ohne indessen ihren Halt zu lassen, und wild um sich blickte. „Helene, Helene!“ rief der junge Mann in einer Erregung, die ihn für einen Moment Gegenwart und Vergangenheit, Traum und Wahrheit wunderlich vermischen ließ, „wir haben ja nichts mehr zu fürchten, ich bin ja hier bei Ihnen!“ und kaum hatte ihr Auge sein Gesicht getroffen, als sich ein gepreßter unarticulirter Schrei ihrer Brust entriß, ihre Hände sich lösten und sie halb aufschnellend diese plötzlich mit einem: „Joseph, Joseph, halte mich!“ um seinen Hals warf. Dann aber schien mit einem Male alle Spannkraft aus ihrem Körper zu weichen, ihre Augen schlossen sich, ihr Kopf sank auf die Brust, und nur Behrend’s sie umschließende Arme hielten sie vom Niedergleiten zurück. – Von oben aus dem Nebel klang noch immer die tolle Musik herunter.
„Um Gotteswillen, Bob, ist denn hier irgend ein Unterkommen zur Hand?“ rief der junge Mann dem so eben auf’s Trockene springenden Neger zu, „es muß für die Lady hier gesorgt werden, sie ist bewußtlos!“
„Müssen nachsehen, Sir, ich weiß nur, daß hier der Dutch-Henry Holz schlägt und es an die vorbeifahrenden Dampfschiffe verkauft; dort vorn sitzt er jetzt mit der Fiedel auf seinem Vorrathshaufen, ich werde ihn aber geschwind heruntergeholt haben!“
[818] Ohne Aufenthalt verschwand der Schwarze landeinwärts im Nebel, und Behrend harrte, auf den Knieen liegend und den Kopf des ohnmächtigen Mädchens an seine Brust gebettet, unter einem Drange von Empfindungen, die einander ablösten und überflutheten, ehe sie einzeln ihm nur klar zum Bewußtsein gekommen, seiner Rückkehr. Die Luft war drückend warm, und kaum fühlte der Wartende eine Unannehmlichkeit von seiner nassen Bedeckung. Nach Kurzem vernahm er, wie die Geigenklänge abbrachen, und bald darauf machten sich in seiner Nähe Worte hörbar, in deren Accent er sofort den deutschen Sprecher erkannte.
„Schlechte Unterkunft für eine kranke Lady hier,“ klang es, „aber ein Schuft giebt mehr, als er hat, und wir wollen nur Gott danken, daß mir das Fiedeln noch zu rechter Zeit in die Gedanken gekommen ist; hättet sonst mit der Strömung glatt vorbei gehen können!“
„Und Ihnen selbst soll auch der Dank nicht ausbleiben, Landsmann!“ rief Behrend dem Nahenden deutsch entgegen.
„Bei Jingo! das ist wirklich ein Deutscher, so schlecht die auch hier im Baumwollenlande gedeihen!“ klang es gutgelaunt zurück, während, dem Schwarzen vorweg, eine kräftige, noch jugendliche Gestalt in grober Arbeitstracht, Geige und Bogen in der linken Hand tragend, aus dem Nebel heraustrat, bei Erblicken der Gruppe aber seinen Schritt anhielt und sich mit der Rechten unter den Hut fuhr. „Ja, da nehmen Sie nur das junge Frauenzimmer und kommen Sie,“ fuhr er nach kurzem Betrachten fort, „schlecht genug werden Sie es freilich für sie finden.“
„Nur Eins noch, Landsmann,“ fragte Behrend, den bei der einfachen Aufforderung plötzlich ein Gefühl überkam, als solle er eine Rücksichtslosigkeit gegen seine Schutzbefohlene begehen, „haben Sie nicht eine Frau hier, die Sie herbeirufen könnten?“
„Habe noch keine gefunden, die mit hierher gegangen wäre!“ erwiderte Dutch-Henry, ohne ein halbes Lachen zu unterdrücken, „wenn es aber im jetzigen Falle nöthig ist, werde ich eine vom Lande drüben beischaffen; bringen Sie nur die Lady so lange auf mein Bett, bei der Wärme schadet ihr das Bischen nasse Zeug nichts.“
Behrend hatte der Nothwendigkeit nachzugeben, aber er meinte, jeden Nerv einzeln in sich beben zu fühlen, als er sich jetzt niederbog und der Bewußtlosen Kopf auf seiner Schulter ruhen ließ, dann ihre weichen Glieder umschloß und nun, den schmiegsamen Körper bequem in seinen Armen, sich von den Knieen erhob. Vorsichtig folgte er dem voranschreitenden Landsmanne auf einem gebüschfreien Wege, bis ein kleines, niedriges Blockhaus vor ihnen stand und der Führer die Thür öffnete. Eine düster brennende Lampe erleuchtete den völlig rohen inneren Raum, der nur die allernöthigste, sichtlich von dem Eigenthümer selbst gezimmerte Ausstattung zeigte. Ueber den auf zwei verbundenen Holzkreuzen ruhenden Strohsack aber war ein preußischer Militär-Mantel als Decke gebreitet. Behrend dachte im Augenblicke nicht an eine Bemerkung der Verwunderung über die Anwesenheit des letzteren Gegenstandes; er schob diesen ruhig zurück, legte das Mädchen behutsam, rücksichtsvoll auf das Lager und hüllte sie zuletzt dicht in den über sie gebreiteten Mantel. Dann bog er das Ohr nach ihrem Munde; lange lauschte er angestrengt, aber endlich wußte er, daß er sich nicht getäuscht – er hatte ein leises, leises Athmen wahrgenommen und beruhigt richtete er sich jetzt auf, um sich nach seinem Wirthe umzusehen. Dieser schien aber, der offenen Thür nach, gar nicht mit eingetreten zu sein, und erst nach einer Weile hörte Behrend die derbe Stimme desselben in einiger Entfernung vom Hause dem Schwarzen zurufend, der sich jetzt plötzlich von Weitem in einzelnen leidenschaftlichen Ausrufungen vernehmen ließ. Verwundert horchte der junge Mann auf, hatte aber nur kurze Zeit auf eine Erklärung zu warten. Mit einem Lachen im Gesichte, das nur der Anblick des bleichen, ruhenden Mädchens nicht zum Ausbruch kommen zu lassen schien, trat Dutch-Henry ein und sagte, seine Stimme rücksichtsvoll dämpfend: „Das ist ein toller Nigger, und Sie müssen es verzeihen, Landsmann, daß ich Ihnen hier nicht behülflich war – schreit das schwarze Thier mit einem Male auf, und als ich mich umdrehe, sehe ich, wie er kopfüber wieder in den Fluß hinein setzt. So viel zu erkennen war, wollte er ein paar Gegenstände, die vom Dampfboote herunter kommen mochten, herausfischen, und wie es scheint, ist es ihm gelungen!“
Der Sprechende hatte noch kaum geendet, als sich das zerrissene Gesicht Bob’s schon zur Thür herein steckte. „Entschuldigen Sie,“ sagte der Letztere, behutsam, aber in sichtlicher Erregung eintretend, „Sie werden mir bezeugen, daß ich hier die beiden leeren Fässer aus dem Flusse geholt habe – der Nigger hat immer nur halben Glauben vor Gericht –“ er hielt mit einer halben Grimasse inne, als habe er mehr gesprochen, als er beabsichtigt.
„Zwei leere Fässer?“ fragte Behrend verwundert.
„Yes, Sir!“ nickte Bob ernsthaft, „und Sie werden es noch erfahren, was sie zu bedeuten haben. – Sie wollten nach einer Frau für die junge Lady hier sehen, Master Henry,“ wandte er sich an den Genannten, „und wenn Sie mir ein Plätzchen in Ihrem Boote geben wollen, so gehe ich mit Ihnen!“
„All right, da es einmal sein muß,“ erwiderte der Angeredete, seine Geige jetzt erst sorgfältig bei Seite legend, „der Landsmann wird sich ja wohl eine Stunde oder so etwas allein behelfen können!“
„Ich bin zu rechter Zeit wieder zurück, Sir, und werde daneben für Sie besorgt haben, was jetzt zum Nothwendigsten gehört,“ fiel der Schwarze ein, und Behrend, dem plötzlich erst der Gedanke an den Verlust seiner gesammten Habseligkeiten kam, griff mechanisch nach der Tasche seiner Beinkleider, wo immer sein Portemonnaie ruhte – das war indessen noch vorhanden.
„Nichts nothwendig, Sir, bis ich wieder zurück bin!“ rief der Schwarze, der seine Bewegung mißverstanden, und wandte sich mit einem mahnenden Blicke gegen Dutch-Henry nach der Thür.
„So lassen Sie sich die Zeit nicht lang werden!“ nickte dieser und folgte nach einem letzten Blicke auf die bleiche Mädchengestalt dem bereits vorausgetretenen Schwarzen.
Behrend ging langsam nach dem Tische, wo die Lampe stand, schnuppte die Flamme und schob den Docht weiter heraus; dann zog er einen Schemel an Ellen’s Lager, strich ihr leise und behutsam das feuchte aufgelöste Haar aus dem Gesicht und begann sich nun in ein Anschauen der hellbeleuchteten Züge, deren Reinheit und Schöne in ihrer jetzigen Unbeweglichkeit und Marmorblässe nur um so bestimmter hervortraten, zu versenken. Die gesammten Ereignisse der letzten zwei Stunden, von dem Momente, wo er ihr erstes „Joseph, Joseph!“ gehört, zogen noch einmal an ihm vorüber, aber sie erschienen ihm kaum anders als lebendige Traumbilder, und er wußte, daß mit dem Augenblicke, wo sie Beide ihren natürlichen Boden wieder betraten und die nüchterne Wirklichkeit sie umgab, auch die heutige Nacht wie ein Traum zwischen ihnen versinken mußte. Der alte Peters würde jedenfalls das Mögliche thun, um ihm seine Erkenntlichkeit zu beweisen, dennoch aber, schon des künftigen Schwiegersohns halber, die ganze Sache für sehr unangenehm halten – nur einen Augenblick schoß dem Sinnenden dabei der Gedanke an eine absichtliche Zerstörung des Dampfboots und Webster’s Antheil daran durch den Kopf; aber die Annahme war so kraß, so gewagt, und selbst die Auffindung eines möglichen Grundes dafür hätte er so wenig zu unternehmen vermocht, daß er die Idee ebenso schnell unterdrückte, als sie ihm gekommen war. Und als er jetzt in dieses stille Gesicht vor sich blickte, begann es ihn so schmerzlich zu drängen, einen ungestörten Abschied von dem schönsten Traume seines Lebens zu nehmen, so lange ihm dieses noch möglich sei, ehe sie die Augen aufschlüge und die kalten Verhältnisse der Welt wieder zwischen sie träten, daß er fast unwillkürlich sich erhob, sich über sie beugte, als wolle er den kleinsten ihrer Züge tief in sich aufnehmen, und dann, seinem vollen Herzen nicht mehr gebietend, mit seinen Lippen leise die ihrigen berührte. Aber fast mit der Bewegung eines halben Erschreckens richtete er sich wieder auf; er hatte einen warmen, weichen Mund, hatte merkbare Athemzüge gefühlt und soeben meinte er ihre Brust sich leicht heben zu sehen. In einer Art von Furcht, daß sie jetzt die Augen aufschlagen möge, faßte er seinen Schemel und zog sich damit behutsam ein Stück in das Zimmer zurück; als aber nach längerer Beobachtung sich nur ein beginnendes ruhiges Athmen als Veränderung an ihr zeigte, wandte er das Licht, daß der Schatten der Lampe auf sie fiel, ließ sich dann auf einem Schemel neben dem Tische nieder und drückte das Gesicht in seine beiden Hände, sich zuerst völlig seinen erregten Empfindungen und dann der über ihn kommenden Ermattung hingebend.
Erst als durch die offene Thür Stimmen hereindrangen, fuhr er wieder auf, ohne indessen sogleich zu wissen, ob er längere Zeit geschlafen oder nur im halbwachen Träumen dagesessen. Die Lampe war am Erlöschen, durch die Thür und das kleine Fenster ihr gegenüber aber drang der matte Schein des anbrechenden [819] Morgens. Er beeilte sich, das Licht wieder aufzustören; ehe er sich indessen noch über den Zustand seiner Schutzbefohlenen unterrichtet, trat, dem Dutch-Henry voran, eine ältliche Frau mit sicherem Schritte in’s Zimmer, legte, ohne den Anwesenden zu beachten, eine Partie Kleidungsstücke, welche sie über dem Arme getragen, auf den Tisch und breitete daneben vorsichtig eine halbe Hausapotheke von Fläschchen und Papierhüllen aus. Dann wandte sie sich nach dem Lager, schien sich eine kurze Weile von dem Zustande des Mädchens zu unterrichten und drehte sich hierauf erst mit einem Blicke voll unverhüllter Neugierde nach dem Deutschen, welcher sich schon bei ihrem Eintritte von seinem Sitze erhoben.
„Haben nichts für sie zu fürchten, junger Mann,“ sagte sie, „gehen Sie nur jetzt mit dem Henry, damit ich das Nöthige für sie besorgen kann!“
„Dank Ihnen, Ma’m,“ erwiderte Behrend, dem die Beziehung, welche der Ton der Sprechenden ausdrückte, auf das Herz fiel, „ich möchte Ihnen indessen der jungen Lady halber andeuten, daß ich diese zwar genau kenne, aber in keinem andern Verhältnisse als dem eines Reisegefährten zu ihr stehe!“
Er wollte sich mit einer höflichen Verbeugung nach der Thür wenden, aber Dutch-Henry trat ihm mit einem leichten Kopfwinken entgegen. „Ihr Zeug mag zwar wieder trocken sein,“ sagte er, „aber besser, Sie ziehen etwas über, es bläst jetzt kühl draußen!“ Damit hatte er aus der nächsten Ecke einen leichten Rock vom Pflocke in der Wand genommen und half diesen seinem Gaste ohne weiteres Fragen auf den Leib. „Ein Weniges vollkommen,“ lachte er, „aber das schadet niemals!“
Als Behrend beim Hinaustreten in den frischen Morgen, der keine Spur von Nebel mehr zeigte, noch einmal die Augen zurückwandte, meinte er eine bestimmte Bewegung Ellen’s wahrzunehmen; die zufallende Thür aber verhinderte einen zweiten Blick, und mit dem Gefühle, daß mit ihrem Erwachen die frühere trennende Schranke wieder zwischen ihm und ihr niedergefallen sei, folgte er seinem voranschreitenden Wirthe.
„Sie leben hier ziemlich einsam!“ begann er, nur um etwas zu reden.
„O, es ist nicht so schlimm, als es aussieht,“ war die lebendige Antwort, „ich habe Verbindung mit dem Tennessee Ufer, und übrigens möchte ich wissen, ob ein Deutscher unter Amerikanern, und wäre deren auch ein ganzer Haufen, nicht einsam dastände. Es ist mir erst wieder wohl geworden, seit ich mit meiner Arbeit und meiner Fiedel hier allein für mich geblieben bin. Ich holze die Insel ab und wenn ich einmal werde damit fertig sein, werbe ich auch genug haben, um etwas anzufangen, wo andere Deutsche sind. Ich kam von Deutschland mit einem Schiffe, das in New-Orleans landete, wollte eigentlich nach St. Louis, aber blieb oberhalb Memphis wegen Mangel an Fahrgeld sitzen. Ich gedachte erst, in dem freien Strome Fischfang zu versuchen, wofür ich eine alte Leidenschaft habe, aber die Dampfboote vertreiben Alles, was etwa im Wasser Lebendiges sein möchte; bei der Gelegenheit kam ich indessen hierher und fand da eine bessere Speculation.“
„Sie sind preußischer Soldat gewesen?“ fragte Behrend, welcher kaum auf die Worte des Andern gehorcht.
„Preußischer Soldat? Gott soll mich bewahren!“ klang die lachende Erwiderung. „O, Sie schließen das von dem Militärmantel,“ unterbrach sich der Redende, „das ist aber nur ein Andenken aus der badischen Revolution, wegen der ich flüchten mußte, als die Preußen eingerückt waren. Könnte Ihnen davon eine ganze Geschichte erzählen, aber Sie werden hier zu Lande wohl schon genug mit dergleichen gefüttert worden sein!“
Sie waren zu einem hohen, wohl aufgeschichteten Haufen von Scheitholz gelangt, und Behrend hielt seinen Schritt an. „Dort oben haben Sie jedenfalls vergangene Nacht gesessen,“ sagte er, „daher konnte ich mir auch kaum diese Geigentöne, die hoch über uns wie aus der Luft herunterklangen, erklären!“
„So ist es,“ nickte Dutch-Henry, langsam mit der Hand unter seinen Hut fahrend, „es ist aber nichts Wunderliches dabei. Ich hatte ein Geschäft mit einem anderen Boote gehabt, das erst spät hier passirte, und gerade als ich eine Weile darauf nach meinem Hause gehen wollte, sah ich trotz des Nebels den Brand dort den Fluß hinauf aufgehen. Es schoß mir durch den Kopf, daß Mancher, der sich zu retten versuche, mit der Strömung herabgetrieben werden könne, ohne das Land hier zu finden, und so fing ich denn an zu rufen und zu fiedeln, weil die Geigentöne noch weiter dringen sollen, als der menschliche Ruf. Möchte aber wohl wissen, wie viel Capital hier wieder zu Grunde gegangen ist, und es sollte mich nicht wundern, wenn eine oder die andere Versicherungscompagnie einen Riß davon bekäme – von den verunglückten Passagieren will ich gar nicht reden, denn Menschenleben sind das Wohlfeilste in Amerika!“ Er hatte während des Redens sich nach der hinteren Seite des Holzstoßes gewandt, wo durch einzelne hervorstehende Scheite eine Art Treppe nach der Höhe desselben gebildet worden war, und hatte diese jetzt mit einigen Schritten erklommen. „Dort oben liegt das Boot und scheint fest zu sitzen,“ sagte er nach einer kleinen Weile, in welcher er scharf den von den rothen Lichtern des Morgens erglänzenden Strom hinaufgeblickt; „niedergebrannt bis zum Wasserspiegel; muß eine Masse Brennstoff am Bord gehabt haben, sonst müßte wenigstens von dem Eisenwerke noch Einzelnes zu sehen sein.“
„Speck, Spirituosen, so viel ich gehört,“ erwiderte Behrend halb mechanisch.
„Das nun wohl am wenigsten,“ ließ sich der Andere hören.
„Wer einmal viel Speck hat brennen sehen, der kann die Zeichen auch durch den dicksten Nebel unterscheiden, und die brennenden Spirituosen hätten Ihnen selbst den Weg in den Fluß versperrt – jedenfalls wäre ein Theil davon auf dem Wasser bis hier herunter gekommen!“
Behrend’s Seele war im Verlaufe des ganzen Gesprächs nur bei Ellen gewesen, die, sobald sie im Stande war ihn zu empfangen, sicher nach ihm senden würde; demohngeachtet regte die einfache Wahrheit der letzten Bemerkung seine Gedanken über die Entstehungsweise dieses Brandes, über das völlige Preisgeben der Passagiere seitens der Boot-Beamten, von welchen außer dem Neger nicht ein Mann zu erblicken gewesen, wieder an; er hatte ja mit seinen eigenen Ohren vernommen, daß Speck und Whisky einen bedeutenden Theil der Ladung ausmachen sollte – und er nahm sich vor, nach der Rückkehr Bob’s dessen gefallenen Andeutungen bestimmt auf den Grund zu gehen. Jetzt indessen lag noch das Gefühl von Uebernächtigkeit und Ermattung zu fühlbar über ihm, um mehr als das Nächste in’s Auge zu fassen, und als Dutch-Henry die Flußbeobachtungen von seinem hohen Standpunkte ans noch länger fortsetzen zu wollen schien, wandte sich Behrend nach der Landung, wo noch die Matratze, die Ellen getragen, lag, ließ sich dort auf den Stumpf eines gefällten Baumes nieder und blickte, sich widerstandslos seinen treibenden Gedanken überlassend, auf das vom Morgenlicht überfluthete jenseitige Ufer.
Wohl fast eine Stunde lang mochte er so, ungestört und allein mit sich selbst, gesessen haben, während die Sonne voll heraufgekommen war und schon mit ihrem Erscheinen ihre Macht fühlbar zu machen begann, als er seine Schulter berührt fühlte und zugleich Dutch-Henry’s Stimme an seinem Ohr vernahm. „Die Lady ist wieder auf dem Zeuge, Landsmann, und erwartet Sie,“ hörte er; „wenn Sie miteinander gesprochen haben, soll’s einen guten Kaffee geben; einstweilen aber, denke ich, nehmen wir einen vernünftigen Brandy, den die Frau mit herübergebracht!“ Behrend sah beim Umdrehen sich eine Flasche entgegengehalten, welche er nach den Strapazen der Nacht am wenigsten zurückweisen mochte, und schon der erste halbe Schluck schien ihm frisches Leben in alle seine Glieder zu gießen. Zwei Minuten später stand er vor der Thür des Blockhauses, in dessen Nähe die Amerikanerin dürres Holz zusammensuchte, und nicht ohne erst ein leichtes Gefühl von Befangenheit unterdrücken zu müssen, öffnete er.
Das Mädchen saß, den Kopf leicht in die Hand gestützt, am Tische, das Auge durch das Fenster dem Freien zugewandt, und der erste Blick auf sie zeigte dem jungen Manne, daß er wieder der vollen Lady in Haltung und Aeußerem gegenüberstand. Ihr reiches dunkles Haar saß glatt und in der leichten Ungezwungenheit geordnet, wie er es in den beiden vergangenen Tagen gekannt; das Kleid, welches sie trug, mochte vom billigsten Stoffe, mochte selbst nicht ganz modern sein, aber was sie trug, schien an ihrer Erscheinung kaum etwas verderben zu können. Als die Thür knarrte, drehte sie dieser rasch das Gesicht zu und erhob sich bei dem Erblicken des Eintretenden wie von einem Strahle des Morgenroths übergössen.
„Sie verlangten mich zu sprechen, Miß Peters, und ich bin völlig zu Ihren Befehlen!“ begann er, meinte aber im nächsten Augenblicke, er habe wohl kaum etwas Alberneres für ihre beiderseitige augenblickliche Lage sagen können – und doch fühlte er [820] auch, daß ihm das Anschlagen eines andern Tones völlig unmöglich geworden wäre. Sie indessen schien erst durch seine Worte ihre volle Sicherheit wieder zu erhalten. Mit dem hellen Lächeln, das ihren Zügen einen so sonnigen Ausdruck verlieh, streckte sie ihm die Hand entgegen. „Ich denke, Mr. Behrend,“ sagte sie, „wir sollten durch die Ereignisse von gestern auf heute über die strenge Form gegenseitig hinaus sein. – Ich habe zwar nur eine Erinnerung an das Geschehene, wie an einen wilden, unheimlichen Traum,“ fuhr sie fort, während ihre Wangen sich höher färbten, „möchte auch jetzt um keinen Preis mein Gedächtniß aufgefrischt sehen; indessen haben mir doch einige Worte der Frau, welche durch Ihre Sorge für mich herbeigeschafft worden, genug gesagt, um mich meine ganze Verpflichtung gegen Sie erkennen zu lassen!“ Ihr Ton hatte bei den letzten Worten eine Weiche angenommen, welche dem jungen Manne das Herz beben machte; ihr Auge ruhte so klar und doch so warm in dem seinigen, daß er die kleine Hand zwischen seinen Fingern fast gegen seinen Willen fest umschloß.
„Ich habe doch nichts als das Selbstverständliche geleistet, Miß; wollte Gott, ich hätte Gelegenheit gefunden, mehr zu thun!“ erwiderte er mit einer Wärme, die ihn selbst erschreckte; sie aber lachte wie in plötzlicher heiterer Laune auf und entzog ihm leise ihre Hand.
„Sie hätten uns doch um’s Himmelswillen nicht noch Schlimmeres wünschen mögen?“ erwiderte sie; „indessen,“ setzte sie wieder ernst werdend hinzu, „ist jetzt nicht die Zeit zum Lachen. Ich höre, daß wir die einzigen Passagiere sind, die sich nach dieser Seite hin gerettet haben, und Gott gebe nur, daß es den übrigen nicht unglücklicher ergangen ist – für uns aber bleibt nur übrig, daß wir so schnell als möglich Maßregeln treffen, um aus unserer jetzigen Lage zu gelangen.“ Sie hatte währenddem langsam ihren Sitz wieder eingenommen, und Behrend ließ sich halb mechanisch auf dem zweiten Schemel ihr gegenüber nieder. „Es sind nach Angabe der Frau nur etwa zehn Meilen vom Ufer nach Troy an der Ohio-Eisenbahn,“ fuhr sie fort, „dort ist eine Telegraphenstation, und wir könnten also schon bis Nachmittag die nöthigen Geldmittel von St. Louis angewiesen erhalten. Dann aber bringt uns die Eisenbahn noch vor Abend nach der Ohio-Mündung, wo niemals Mangel an einer Dampfboot-Gelegenheit nach St. Louis ist –“ sie blickte ihn, wie seine Aeußerung erwartend, in einer sichtlichen Spannung an. Behrend aber war bei ihren letzten Worten bleich geworden; er fühlte, daß er jetzt die letzte Hand an die Bestätigung seiner ferneren, farblosen Zukunft zu legen habe. Wie es auch in ihm selbst lockte, sich blind seinem Gefühle zu ergeben, die wohlbegründete Gelegenheit zu benutzen und an ihrer Seite umzukehren auf seinem ungewissen Wege, so stand es doch auch eben so klar vor ihm, daß er damit nur einer noch bitterern Selbstqual entgegengehen mußte, als je. „Ich werde gern sofort nach dem Nöthigen sehen, Miß,“ erwiderte er, ohne sich indessen von einem innern Druck, der plötzlich auf seiner Stimme lastete, befreien zu können; „ist die Eisenbahnstation nicht weiter entfernt, so werden Sie allerdings bald genug sich auf dem Heimwege befinden können; mein Weg aber wird dann auf eine oder die andere Weise wieder flußabwärts gehen, wie Sie wissen.“
Ihr Gesicht hatte wieder seine Farbe verloren, aber ihr Auge war größer und dunkler geworden. „Sie wollen jetzt noch immer an Ihrem frühern Plane festhalten?“ fragte sie langsam, „Sie glauben die Genugthuung, welche Ihnen uns gegenüber geworden, noch immer nicht groß genug?“
„Ellen! Miß Peters! wovon reden Sie denn?“ rief er, seiner Erregung nachgebend und sich halb von seinem Sitze erhebend, „wer hat denn Ihnen gegenüber jemals an eine Genugthuung gedacht –?“
„Halt,“ sagte sie, noch bleicher als zuvor, gleichfalls ihren Platz verlassend, „ich verstehe dann Sie und Ihr Verfahren nicht. Aber wir sind hier nicht in der Lage, um Convenienz-Rücksichten gelten zu lassen, und so will ich Ihnen ein offenes Wort sagen, nach welchem Sie dann Ihre Entschlüsse fassen mögen. Als Sie nach Ihrer ersten Vorstellung uns verließen,“ fuhr sie bestimmt und ohne Zögern fort, „und seit langen Jahren die erste freundliche Erinnerung an Deutschland wieder in mir geweckt hatten, da fühlte ich schon, daß Sie durch den gewordenen Empfang beleidigt waren, wenn auch mein Vater meinte, daß es nur möglich werde, für einen jungen, kaum von Deutschland angelangten Kaufmann zu sorgen, wenn mit dem ersten Worte sogleich seine Eigenliebe niedergedrückt und seine Hoffnungen gedämpft würden; jeder habe von unten auf erst das amerikanische Geschäft zu erlernen und meine doch stets der ersten Stelle gewachsen zu sein. Ich hoffte, Sie würden meiner Einladung zum Mittagessen folgen, damit Sie dann einen freundlicheren Eindruck von uns mit hinwegnehmen möchten, aber Sie kamen nicht; Vater hatte während der Zeit erfahren, daß Sie von New-York aus auf das Wärmste empfohlen, daß Sie dem amerikanischen Geschäfte längst gewachsen waren, und als nun die Erinnerungen an Sie und Ihr früheres Wesen immer klarer und deutlicher in mir wurden, da wußte ich auch, daß nur eine ganz bestimmte Genugthuung Sie in unserer Nähe würde halten können. Ich hatte meinen eigenen Plan dafür,“ fuhr sie langsamer fort, und ihr Gesicht erhielt zum ersten Male wieder einen Anflug von Röthe, „und baute dabei etwas auf das treue Andenken, welches Sie dem kleinen Mädchen bewahrt hatten; ich wartete nur darauf, daß Sie das erste nothwendige Gespräch mit dem Vater gehabt haben würden – er aber erklärte mir, daß mit Ihnen durchaus nichts anzufangen sei und daß Sie nach New-Orleans gingen.“ Sie stockte zwei Secunden lang, als wisse sie nicht sogleich, wie fortzufahren, während in ihren Wangen die Farbe kam und ging; Behrend aber stand ihr gegenüber, als wolle er noch einmal alles Glück und alle Qual, die für ihn in dem Anhören ihrer Worte lagen, über sich ergehen lassen; er wußte ja doch, daß Alles, was sie ihm sagen würde, nichts in seinem Schicksale ändern konnte. „Ich gestehe Ihnen, daß Ihr Verfahren mich ärgerte und verletzte,“ sprach sie weiter; „demohngeachtet hätte ich es nicht vermocht, Sie so unaufgehalten in Ihr voraussichtliches Unglück stürzen zu lassen; Sie waren eben wieder der Joseph aus meiner Kinderzeit für mich geworden, für welchen ich schon etwas thun durfte. Ich benutzte zur Verwunderung meines Vaters die Heimkehr einer Freundin, um mit ihr ein Stück den Mississippi zu befahren; ich dachte dabei Gelegenheit zu finden, Ihnen noch einmal in’s Gewissen zu sprechen. Als Sie aber so steif und formell an uns herantraten, hätte ich es auch nicht über mich vermocht, ein herzliches Wort zu Ihnen zu reden; und erst als wir die Ohiomündung erreichten, wo ich das Boot hätte verlassen sollen, erkannte ich meine Versäumnisse; beschloß aber dort auch, noch mit bis Memphis, wo ich Schulfreundinnen habe, zu gehen. Hätten Sie dort eine Stellung gefunden, so war Alles gut, und ich wäre nur mit einem freundlichen „Good bye“ von Ihnen geschieden; hätten Sie aber mit dem Boote weiter nach New-Orleans gehen wollen, so – war es mir, als hätte ich schon Kraft genug in mir finden müssen, um Sie zurück zu halten und zum Umkehren zu bewegen; Sie aber gaben mir noch gestern Abend ein Versprechen, das mir mein Vorhaben leicht gemacht haben würde. – Es ist anders gekommen, Joseph,“ sagte sie, wie in einer plötzlichen Bewegung ihm die Hand von Neuem entgegenstreckend, „aber jetzt – jetzt wo ich Ihnen Alles gesagt, jetzt wo wir nach dieser letzten Nacht unter Ihrer Entfernung zu leiden haben würden, jetzt werden Sie mit mir zurück gehen – oder,“ setzte sie mit eigenthümlich bestimmtem Tone, in welchem dennoch ihre Erregung deutlich hörbar war, hinzu, „oder mir wenigstens sagen, was Sie von St. Louis wegtreibt.“
Behrend fühlte ihre weiche Hand von Neuem in der seinen, fühlte sich durch ihre letzten Worte aus allen Barrieren seiner Zurückhaltung gedrängt; aber es schien ihm fast eine Wollust, sich jetzt auszusprechen, sich gründlich das Herz frei zu machen und dann von ihr zu scheiden, ohne Mißverständniß und gewürdigt, wie er es zu verdienen glaubte.
„Können Sie sich wohl eine Vorstellung davon machen, Miß,“ begann er nach einer kurzen Pause, in welcher sein Auge sich tief in das ihrige gesenkt, „daß ein armer Mensch einen Schatz, der seine Lebensseligkeit ausmachen würde, in den Händen eines Reichen sieht, während ihm selbst jeder Weg, danach zu ringen, abgeschnitten ist? daß er dann lieber gehen und versuchen will zu vergessen, sei es auch in den schlimmsten Verhältnissen, als täglich in vergebener, vielleicht lächerlicher Sehnsucht sich zu verzehren? Ich weiß, Helene, daß Sie sich das wenigstens denken können,“ fuhr er fort, mühsam das Zittern in seiner Stimme unterdrückend und fast unbewußt ihre Hand in der seinen pressend, „und so fragen Sie mich auch nicht weiter, sondern lassen Sie mich gehen, sobald die Zeit da ist, in der sich unsere Wege wieder von einander trennen –!“
„Warten Sie, Joseph, warten Sie,“ unterbrach sie ihn, während sich ihr Gesicht wie in einem aufleuchtendem Verständniß
[821]zu verklären begann, und ihre Finger seinen Druck erwiderten, „ich sage Ihnen, daß ich von alle Dem nichts verstehe, daß ich aber niemals die Hand missen möchte, die mich zum zweiten Male gerettet, daß, wie sie mich gehalten und dem Verderben entzogen, ich mich ihr auch völlig ergeben würde –“
„Helene – Miß Ellen, um Gotteswillen – denken Sie an Colonel Webster!“
Ein Ausdruck, so hell wie der glänzende Sonnenschein draußen strahlte in ihrem Gesichte auf. „Das also war es,“ erwiderte sie langsam; „Webster – pshaw!“ setzte sie hinzu, während einen Moment lang ihre Mundwinkel sich verächtlich zusammenzogen. „Sie haben mir schon einmal den Namen mit einer bestimmten Beziehung genannt, ohne daß ich es der Mühe werth fand, etwas darauf zu erwidern; wer hat Ihnen denn etwas von diesem unsinnigen Gerüchte gesagt –?“
In diesem Augenblicke knarrte die Thür, und die Hände der Sprechenden lösten sich von einander, während das voll ausgeprägte Gesicht eines „Hinterwald-Mannes“, den struppigen Cylinder auf dem Hinterkopfe, sich hereinschob. „Der deutsche Gentleman, welcher sich von dem verbrannten Dampfboot gerettet?“ klang die Frage an Behrend, mit welcher eine breite Gestalt in dem jetzt völlig geöffneten Eingänge erschien, der auch zugleich die zerrissenen Züge von Bob hinter dem Voraugetretenen zeigte. „Und dies ist jedenfalls die junge Lady?“
„Wir sind Beide von dem verunglückten Dampfboot – ist es ein besonderes Geschäft, das Sie zu uns führt, Sir?“ fragte der junge Mann, sich rasch sammelnd, ohne doch ganz seinen Unmuth über die ungelegene Störung verbergen zu können.
„Ich habe um Entschuldigung zu bitten,“ erwiderte der Mann sich gegen die junge Dame verbeugend und dann seinen Hut langsam von dem kahlen Kopfe nehmend, „die Sache ist aber von solcher Bedeutung, daß ich mit dem schwarzen Burschen gleich selbst herüber gekommen bin – ich bin Friedensrichter im County Obion, hier am Tennessee-Ufer – und als solcher,“ wandte er sich an Behrend, „möchte ich Sie um die gesprächsweise Mittheilung einiger Thatsachen bitten, auf welche sich der Neger bezieht, um daraus zu entnehmen, wie weit sich auf die Angaben desselben fußen läßt – die Lady wird uns entschuldigen, oder, um der Wichtigkeit der [822] Sache halber, vielleicht selbst zur Angabe einzelner Umstände bereit sein.“
„Ich stehe jedenfalls zu Diensten,“ erwiderte Behrend, „wenn Sie mich nur aufklären wollen, was der Gegenstand Ihrer Nachfrage ist –“
„Ah, ich vergaß, Sir, daß der Wollkopf geschwiegen hat, um sich allein die mögliche Belohnung zu sichern,“ lachte der Friedensrichter, seinen Hut schwenkend, „nun, es handelt sich, kurz gefaßt, um die Speculation eines Handelshauses in St. Louis, welches den Dampfer „Lilly Dale“ voll befrachtet, diese Fracht, allem Anscheine nach, als werthvolle Güter hat versichern lassen, während der angegebene Whiskey nur aus Mississippi-Wasser, das Schweinefleisch, der Speck und was sonst noch weiter aus anderem werthlosen Material, welches indessen mit leicht brennbaren Stoffen gesättigt worden, bestanden hat; es handelt sich ferner darum, daß der gestrige Nebel, welcher jede Beobachtung vom Ufer unmöglich machte, benutzt worden ist, um Seitens zweier Agenten des erwähnten Handelshauses das Boot in Brand zu stecken und so ohne Rücksicht auf das Leben der Passagiere die Versicherungssumme der gesammten Ladung als Gewinn herauszuschlagen. Die Speculation, obwohl etwas gefährlich,“ fuhr der Sprechende mit einem sardonischen Lächeln fort, „sieht sehr möglich aus und ist auch wohl schon dagewesen; nur handelt es sich darum, daß eines Niggers Zeugniß hier zu Lande kein Zeugniß ist und daß ihm von anderer Seite wenigstens die nöthigen Unterlagen geschaffen werden müssen – deshalb wollte ich mich hier sogleich unterrichten, was von einer Begründung der gemachten Angaben etwa vorhanden sein würde.“
„Und Bob’s – des Schwarzen Aussagen haben Sie zu der eben ausgesprochenen Ueberzeugung gebracht?“ fragte Behrend, welcher plötzlich in Allem, was er früher gehört und belauscht, so klar zu sehen meinte, daß er nicht begriff, wie er nicht längst selbst die Wahrheit habe erkennen müssen.
„Nicht ganz, Sir,“ erwiderte der Friedensrichter, „Sie sollen sogleich die Einzelnheiten hören, und wenn Sie dann im Stande sind, mir die nöthigen Ergänzungen zu geben, so wird es vielleicht noch möglich werden, die Hauptschuldigen hier in der Nähe zu fassen. Sie können nur am Tennessee Ufer gelandet sein, denn drüben im Rohrfelde ist meilenweit kein Unterkommen.“ Er winkte dem Schwarzen, welcher bisher unter einem seltsamen Mienenspiele dem Gespräche gefolgt, ihm den dritten Schemel neben der Thür herbeizuholen, und als er dann mit einer höflichen Verbeugung gegen das mit ernsten, großen Augen der Verhandlung folgende Mädchen dieses zum Niedersitzen eingeladen, wandte er sich mit einem: „Warte draußen, bis Du gerufen wirst!“ nach dem Neger und nahm dann selbst Platz.
„Die Sache ist die,“ fuhr er fort, während Behrend gespannt sich ebenfalls niederließ, „daß der Neger, welcher bereits ein Jahr alle Fahrten des Boots mitgemacht hat, bei der Abreise von St. Louis plötzlich einen neuen Frachtmeister am Bord erblickt, der zugleich, sonst ganz ungewöhnlich, den Dienst des Maschinenmeisters mit versieht; daß er aus einem belauschten geheimen Gespräche des Boot-Eigenthümers mit diesem Manne auf irgend ein verstecktes Vorhaben schließt und mit der Neugierde seiner Race ihn auf Tritt und Schritt während der Reise belauscht. Da nimmt er denn wahr, daß dieser Wilson, wie er ihn nennt, in jeder Nacht den Dienst an der Maschine und den Oefen selbst übernimmt und die Arbeiter zum Schlafen schickt, nimmt wahr, daß der Genannte die hart am Bord des Bootes aufgeschichteten Whiskeyfässer nach und nach leer laufen läßt, sobald er sich allein glaubt, und entdeckt bei einer gelegentlich passenden Untersuchung der ausgelaufenen Flüssigkeit, daß diese nichts als Flußwasser ist – die spätern Folgen seiner Beobachtungen trägt er noch heute im Gesichte, wie er Ihnen erzählt haben will. Er sieht ferner, daß die Deckarbeiter nur bis zu einzelnen Stationen angenommen sind und dort das Boot verlassen, da in Memphis, wie es heißt, die frühere Mannschaft wartet, um die Reise nach New-Orleans mitzumachen, sieht gestern das untere Deck bis auf diesen Wilson, welcher zu Zeiten in heimlichem Gespräche mit dem herunter gestiegenen Office Clerk steht, völlig entblößt und findet sich endlich bei beginnender Nacht in seiner Kammer eingeschlossen. Aus Furcht vor neuen Mißhandlungen wagt er nicht, sich zu befreien, bis plötzlich eine blendende Helle und ein lautes Prasseln ihn aus einem kurzen Halbschlummer aufschreckt. Er sprengt die Thür und sieht die gesammte aufgestapelte Fracht in eine emporflammende Feuermasse gehüllt, während nirgends sich ein lebendes Wesen erblicken läßt. Sein erster Gedanke ist, den äußeren Bord zu gewinnen und nach dem Steuerruder zu eilen, um zu versuchen, dem Boote die Richtung nach dem Ufer zu geben; dort findet er aber jede Mühe vergebens, das Ruder steht unbeweglich, und zugleich entsinnt er sich, daß auch die Maschine stillgestanden, als er seine Kammer verlassen. Jetzt stürzt er nach dem Salon hinauf, um die Passagiere wach zu rufen, und findet bereits eine junge Lady, wie sie in Hast die Cabin verlassen, nach ihrem Begleiter rufend –“ ein Blick nach Ellen, während der Sprecher seine Worte unterbrach, schien diese zur Bestätigung aufzufordern.
Ein hohes Roth stieg in das Gesicht des Mädchens und verschwand wieder. „Ich war allerdings schon im Salon, als der Schwarze hereinstürzte,“ sagte sie nach einer sekundenlangen Pause, „ohne daß ich mir indessen klar bewußt bin, was mich von meinem Lager aufgetrieben hat. Mir ist es, als hätte ich die Stimme Mr. Butler’s, des „Office-Clerks“, gehört: „Retten Sie sich, Miß Peters, das Boot brennt!“ ebensowohl kann das indessen auch eine Sinnestäuschung gewesen sein!“
„Aber Sie haben, so lange Sie wach waren, Niemand von den Beamten des Boots wahrgenommen?“ fragte der Friedensrichter und nickte auf ihre Verneinung dann nachdenklich. „Und nun, Sir,“ fuhr er, mit hellem Aufblick sich an Behrend wendend, fort, „was hätten Sie mir wohl zu sagen? Ich möchte nur noch bemerken, daß ich zwei der leeren Whiskeyfässer, welche der Neger aus dem Flusse gefischt, betrachtet und damit allerdings einen Theil der mir gewordenen Erzählung bestätigt gefunden habe. Jedes volle Whiskeyfaß hätte in diesem Brande explodiren müssen.“
Der junge Mann erhob sich erregt und machte einen raschen Gang durch das Zimmer; er wußte jetzt, daß an seiner Aussage Webster’s ganzes Schicksal hing, wußte auch, daß es in seiner Hand lag, die Versicherungsbank, welcher Peters vorstand, vor einem gewaltigen Schlage zu bewahren oder ihn auf sie fallen zu lasten – er hatte ja selbst gehört, daß dort die gesammte Ladung versichert war. An sich selbst dachte er in diesem Augenblicke gar nicht, es war nur die Wucht, die jedes Wort seines Zeugnisses ausüben mußte, welche ihn einen Moment lang zum Bedenken seiner Aussage gebracht. Dann aber hatte er auch erkannt, daß er, auf jede Folge hin, der einfachen und ganzen Wahrheit die Ehre geben mußte.
Er ließ sich langsam wieder nieder und begann dem Friedensrichter ausführlich die beiden von ihm belauschten Unterredungen mitzutheilen und daran die Bemerkungen Dutch-Henry’s über die Eigenthümlichkeit des Brandes zu knüpfen.
„Greift wie ein regelrechtes Mühlwerk ineinander!“ nickte der Hörer, als Behrend geschlossen; „unter diesen Umständen aber, lieber Herr, werden sofortige weitere Schritte nöthig, von denen der erste sein wird, Sie als einen der Hauptzeugen festzuhalten, bis Sie mir die nöthige Bürgschaft geleistet haben, daß Sie bei den kommenden Criminalverhandlungen sich auf die erste Aufforderung des Gerichts stellen und Ihre Aussage machen werden. Den Neger will ich, wenn er mir auch, schon seiner Belohnung von der Versicherungs-Compagnie halber, nicht davon laufen würde, dennoch in bequemen Verwahr nehmen, und für den Dutch-Henry muß auch ein Bürge gefunden werden –“ er wandte sich mit einem leichten Lächeln nach dem Mädchen, welches indessen den Sinn desselben sofort zu verstehen schien.
„Sie sollen noch heute Bürgschaft haben für uns Alle, die wir nach St. Louis zurück gehen werden, Sir!“ sagte sie, „gestatten Sie uns nur, daß wir von Troy aus die nöthige telegraphische Depesche nach Hause senden!“
Der Richter verbeugte sich zustimmend und erhob sich. „Ich werde der Angelegenheit sofort die erforderliche schriftliche Fassung geben und Sie der Kürze halber sodann selbst nach Troy begleiten!“ sagte er. „Im Uebrigen bitte ich, mein Eindringen mit der Wichtigkeit der Sache zu entschuldigen.“
Er verließ das Zimmer, und Ellen wandte sich mit einem großen, bedeutungsvollen Blicke nach dem jungen Manne. „Das ist Webster!“ sagte sie, sich langsam von ihrem Sitz erhebend. „Jetzt aber, ehe ich die Hand zu der geforderten Bürgschaft biete,“ setzte sie mit einem aufglänzenden, wunderbar aus Glück und Schelmerei gemischten Ausdruck ihrer Züge hinzu, „sagen Sie mir, ob Sie noch immer stromabwärts gehen wollen?“
[823] „Helene – Miß Ellen!“ rief er aufspringend, „spielen Sie nicht mit mir, wenn ich Ihnen auch nur das Kleinste werth bin!“
Sie senkte das dunkele, strahlende Auge in das seine. „Meinen Sie, Joseph,“ sagte sie mit ruhiger Innigkeit, „daß es Spiel gewesen sei, als ich das Boot nicht eher verlassen wollte, bis Sie dem Feuer entrissen waren, als ich ruhig in den Abgrund von Wasser hinabsprang und ohne Angst meine Besinnung schwinden fühlte, weil ich wußte, daß Sie hinter mir waren? – Warte, Joseph,“ fuhr sie mit leuchtendem Blicke fort, als in dem Gesichtsausdruck ihres Gefährten sich der Ausbruch aller seiner unterdrückten Empfindungen verkündete, und faßte mit festem Drucke seine beiden Hände, „laß uns der Zeit ihr Recht geben, und es wird Alles kommen, wie es kommen mußte!“
Sie hatte sich rasch nach der Thür gewandt und war dahinter verschwunden, ehe er nur zu einem neuen, klaren Gedanken gelangt war.
Den Mississippi herauf arbeitete sich ein mächtiges Dampfboot
und begrüßte die vor ihm liegende Häusermasse von St. Louis
mit einem kaum enden wollenden Brüllen der Dampfpfeife. Kaum
daß es angelegt hatte, sprang allen übrigen Reisenden voran ein
riesiger Neger mit bepflastertem Gesichte an’s Land und winkte eine
der wartenden Lohnkutschen herbei. Ihm folgte unter dem sich
jetzt nach der Stadt ergießenden Menschenstrome ein junges Paar
– die Dame, wie von innerer Unruhe getrieben, voran dem Wagen
zueilend, beim Einsteigen aber mit einem hellen Aufblicke zu
ihrem Gefährten sich voll auf dessen Arm stützend.
„Es muß schon etwas los sein, Sir!“ sagte jetzt der Schwarze, nach Webster’s Verladung-Office deutend, die sich fest geschlossen und ihre Umgebung von Frachtgütern und Arbeitern völlig entblößt zeigte, „Alles wie gefegt dort!“
Der farbige Kutscher hatte gleichfalls die Augen dem Fingerzeige folgen lassen und drehte sich jetzt zurück. „Wenn von Cornel Webster die Rede ist, Sir,“ sagte er, während der junge Mann den Platz neben seiner Begleiterin einnahm, „so ist er wegen der „Lilly Dale“-Geschichte, die Sie heute in allen Morgenblättern lesen können, schon seit zwei Tagen verschwunden. Es heißt, daß ihm von irgend einer Gerichtsperson noch zu rechter Zeit ein Wink gegeben werden ist, denn als er hat sollen verhaftet werden, ist er nicht aufzufinden gewesen und wird sich freiwillig wohl auch nicht wieder zeigen. Zwei andere Betheiligte aber, meldet der Telegraph von heute Morgen, sind in Tennessee eingefangen worden.“
Der junge Mann hatte mit der neben ihm Sitzenden nur einen langen Blick gewechselt und winkte sodann dem Neger.
„Steigt auf den Bock neben den Kutscher, Bob, wenn Ihr jetzt auch wenig Staat macht,“ rief er, „und dann rasch nach der Bank der Versicherungs Compagnie – Gepäck haben wir ja nicht!“
Fünf Minuten darauf hatten die Drei vor dem Bankgebäude den Wagen verlassen, und während Bob sich am Innern des Eingangs einen Platz zum Warten erwählte, durchschritt die junge Dame, von ihrem Gefährten gefolgt, rasch den vordern Raum, ohne auf die sichtliche Ueberraschung der von ihren Pulten auffahrenden Clerks zu achten, öffnete dann fast unhörbar die Thür zu des Bankiers Arbeitszimmer und trat ein. „Da sind wir, Vater!“ sagte sie, als Peters, in die Papiere auf seinem Schreibtische vertieft, ihren Eintritt nicht wahrgenommen, und der Angesprochene fuhr, wie von einem Schlage getroffen, in die Höhe, wurde bleich und faßte nach seinem Tische; im nächsten Augenblicke aber lag auch Ellen schon an seiner Brust. Behrend wollte sich bescheiden zurückziehen, aber noch ehe er es vermochte, hatte sie sich schon nach ihm umgewandt. „Da ist er wieder, Vater, und nun halte ihn fest – wäre es nicht der Bürgschaft halber geschehen, die Du für ihn gestellt hast, so wäre er selbst jetzt noch kaum mitgekommen!“
„Well, Sir,“ sagte Peters, wie sich nur langsam sammelnd, und streckte dem jungen Manne die Hand entgegen, „Sie treten in einer Weise wieder in mein Haus, die mich für meinen Irrthum in dem Verfahren gegen Sie recht gründlich bestraft –“
„Mr. Peters!“ unterbrach ihn Behrend im Tone abwehrender Bitte, zugleich aber kräftig die ihm gebotene Hand ergreifend.
„Lassen Sie mich zwei Worte reden, Sir,“ fuhr der Erstere fort, „ich bin völlig unterrichtet und zwar habe ich Ellen’s Brief, der mir das Räthselhafte der Fortsetzung ihrer Fahrt löste, erst gestern Abend erhalten – Sie aber werden einzelne Umstände des Geschehenen wohl noch kaum in ihrer Tragweite erfaßt haben.
Zuerst, Sir, habe ich nur dies eine Kind, ich möchte sagen nur die einzige Freude, das Wesen, für welches ich allein gespart und gearbeitet habe – und das haben Sie mir erhalten. Zum Zweiten sind durch Ihre Aussagen der Bank Summen gerettet worden, deren Bedeutung Sie bald selbst beurtheilen sollen –“
„Mr. Peters, warum sagen Sie mir Alles das?“ unterbrach Behrend den Sprechenden von Neuem; „draußen steht ein Neger, der fast mehr Antheil als ich an dem gesammten Verdienst hat, das Sie mir zuschreiben –“
„Auch gut, Sir, ich konnte mir schon etwas Aehnliches denken,“ rief Peters rasch den Kopf hebend, aber die Hand des jungen Mannes fest umschließend, „da man indessen ebenso in Andern den Stolz achten muß, als man Achtung gegen den eigenen verlangt, so werden Sie mir erlauben, daß ich vorläufig einmal Ihre Zukunft in meine Hand nehme und mir nicht umsonst von Ihnen Glück und Vermögen schenken lasse. Schreiben Sie Ihrem Vater, daß ich versuchen wollte, an Ihnen auszugleichen, was er einmal für mich gethan – und wenn ich davon erst jetzt rede, so nehmen Sie einen Theil der Schuld auf Ihre Empfindlichkeit, die früher meinem guten Willen gleich von vorn herein jeden Weg verlegte. So, und jetzt nach Hause; der Neger geht ebenfalls mit, damit man in Ruhe sehen kann, was am besten für ihn zu thun ist. Im Uebrigen werde ich allerdings erst noch Manches aus der innern Geschichte dieser letzten Tage zu verstehen haben –!“ setzte er mit einem forschenden halben Seitenblick auf seine Tochter hinzu; sie aber hob klar das glänzende Auge zu dem seinen. „Und nicht wahr, Vater,“ fragte sie, „ein eigentliches Mißverstehen hat es zwischen uns noch gar nicht gegeben?“
Der hier erzählte Fall von verbrecherischer Speculation machte
seiner seltenen Rücksichtlosigkeit gegen die auf dem Boote befindlich
gewesenen Menschenleben halber ungewöhnliche Sensation in
den Vereinigten Staaten; von Webster, welcher den vorhandenen
Spuren nach unter fremdem Namen seine Richtung nach Texas
genommen hatte, ist indessen nie wieder etwas gehört worden –
die Untersuchung seiner Vermögensverhältnisse ergab einen an der
Grenze des Bankerotts hängenden Geschäftszustand.
Behrens machte im Juli 1861 unter Begleitung seiner jungen schönen Frau und zweier Kinder seine erste Besuchsreise nach Deutschland; er war damals bereits gegen fünf Jahr verheirathet und seit dieser Zeit auch der Mitleiter des Bankgeschäfts; von den Versicherungs-Unternehmungen aber hatte sich der alte Peters seit dem „Lilly-Dale“-Falle gänzlich losgesagt. – Von Bob hörte der Verfasser nur, daß er das Dampfbootfahren aufgegeben, eine farbige Wäscherin geheirathet und mit dieser in einem für ihn eigenthümlich erworbenen Häuschen eine größere Waschanstalt etablirt habe.
Die Mississippi-Insel ist nicht völlig abgeholzt worden. Dutch-Henry fand das ihm gewordene Geschenk hinreichend, um seine bisherige Beschäftigung aufgeben zu können. Mit seinem preußischen Militär-Mantel und seiner Fiedel ist er den Mississippi hinauf gegangen nur soll sich in dem jungen Minnesota angesiedelt haben.
In der so verschrieenen sandigen Mark fehlt es nicht an einzelnen
reizenden Landschaftsbildern, an freundlichen Oasen in der
berüchtigten Wüste. Einen solch überraschend schönen Punkt bildet
Schloß Rheinsberg, wo Friedrich der Große als Kronprinz nach
seiner Versöhnung mit dem strengen Vater gewiß die angenehmsten
Tage seines vielbewegten Lebens zubrachte, die reizende, friedliche
[824] Idylle vor dem blutigen Drama des schlesischen und siebenjährigen Krieges. – Am Ufer des Grinerick-Sees erhebt sich der stattliche, von Knobelsdorf geleitete Bau in französischem Geschmack, umgeben von alten Bäumen, sich in den stillen Fluthen spiegelnd. Das Schloß besteht aus einem Mittelstücke und zwei Seitenflügeln, ähnlich dem Charlottenburger Schlosse, dessen kühn gewölbte Kuppel ihm jedoch fehlt. Dafür besitzt es zwei Thürme, welche sich an die Seitenflügel anlehnen und von denen der eine das Studirzimmer Friedrich des Großen enthielt. Dasselbe ist klein, höchstens 12 Fuß im Quadrat und hat nach drei Seiten eine entzückende Aussicht über Wald und See. An den Wänden sind Consolen angebracht mit den Büsten Voltaire’s, Diderot’s, Rousseau’s und Cicero’s. Ueber dem Eingange befinden sich die Zeichen des Freimaurer-Ordens, dem bekanntlich Friedrich angehörte. An der Decke erblickt man ein Gemälde von dem Hofmaler Pesne, eine sitzende Minerva darstellend, der ein Genius ein Buch überreicht, auf dessen Blättern man die Namen Horaz und Voltaire liest. In der Mitte des Zimmers steht der Arbeitstisch, an dem der große König als Prinz gesessen; derselbe ist kaum so groß wie ein jetziger Damen-Schreibtisch und besaß eine mit rothem Sammt überzogene Schreibplatte, die jedoch längst von Reliquiensammlern zerstört und abgerissen worden ist. Die übrigen Zimmer sind höchst einfach und keineswegs bemerkenswerth, mit Ausnahme des großen Concertsaals, in welchem Friedrich mit seinem Capellmeister Graun und den beiden Breda’s die classischen Compositionen jener Zeit zur Aufführung brachte, wobei er selbst die Flöte meisterhaft blies.
Die Wände dieses Saales sind von Stuck, die Fensterpfeiler mit Spiegeln in prächtigen Goldrahmen reich verziert; den Hauptschmuck jedoch bildet das Deckengemälde von Pesne, den Aufgang der Sonne nach Ovid’s Metamorphosen darstellend. Auf einer Seite sieht man die Nacht, in dunkle Schleier gehüllt, von den ihr geweihten Vögeln begleitet; sie flieht, um der Morgenröthe Platz zu machen, neben der der Morgenstern in Gestalt der Liebesgöttin strahlt. Auf der andern Seite erscheint Apollo, der Gott des Lichtes, auf goldenem Sonnenwagen in leuchtender Glorie. Vier milchweiße Rosse ziehen ihn, und ein Lichtstrom fließt von seinen wallenden Locken nieder. Der Künstler hatte dem Sonnengott die Züge des Kronprinzen gegeben, aber die höfische Schmeichelei sollte diesmal zur Wahrheit werden und verkündete prophetisch den kühnen Flug des Sonnenaars.
An das Schloß grenzt der schöne Park in französisch-englischem Geschmack, der sich in weitem Halbkreis um die links gelegene Seite des Sees zieht und die herrlichsten Baumpartien zeigt. In den Zeiten, wo noch Friedrich in Rheinsberg weilte, war der französische Gartenstyl vorherschend. Zwischen verschnittenen Taxuswänden, welche grünen Tapeten glichen, verlief der breite, wohlgepflegte Weg. Die Hauptallee bestand aus alten Linden und schloß mit einem schlanken Obelisk, dessen Wände mit Hieroglyphen beschrieben waren. Hier und dort lag ein lauschiges Bosket, wölbten sich Lauben von duftendem Jasmin. Zwischen den Taxuswänden schimmerten weiße Götterbilder, die holde Venus, Apollo mit der goldenen Cither und ein Hercules, der mit dem nemeischen Löwen rang. In den Gewächshäusern reifte das seltenste Obst, von dem der berühmte Besitzer ein so großer Liebhaber war und das er von Zeit zu Zeit mit seinem „gnädigen Herrn Vater“ pflichtschuldigst theilte. – Durch ein künstliches Labyrinth gelangte man zu dem Tempel des Bacchus, dessen Dach die Form einer umgekehrten Punschbowle zeigte. Ein dichtes Gewinde von rankendem Wein, Epheu und blühenden Schlingpflanzen verhüllte den Bau, der ausschließlich dem Vergnügen und heiteren Genüssen gewidmet war. Kleine Gondeln mit bunten Wimpeln belebten den See und luden zu angenehmen Fahrten auf den kühlen Fluthen ein, in denen die weißen Schwäne im Abendsonnenstrahl sich wiegten und ihre stillen Kreise zogen. Dieser herrliche Aufenthalt wurde von Friedrich und den Freunden seiner glücklichen Jugendzeit bewohnt; hier lebte er dem Zauber der Natur und seinen Studien hingegeben, hier bereitete er sich im Stillen für seine große Laufbahn vor und reifte zum Genius seines Jahrhunderts. In Gedanken versetzen wir uns in das Jahr 1735, wo Friedrich mit seinen Freunden in Rheinsberg seinen Sitz aufgeschlagen hat. Es war eine liebenswürdige, geistreiche Gesellschaft, die er um sich versammelt hatte und deren strahlenden Mittelpunkt der geniale Prinz bildete; Officiere und Gelehrte, Franzosen und Deutsche, Adlige und Bürgerliche, und auch an holden Frauen fehlte es nicht. – In lautem Gespräche, daß man glauben kann, sie zanken sich, wandeln dort Knobelsdorf, der geistreiche Erbauer des Rheinsberger Schlosses, und Jordan, der früher die Stelle eines Pastors in Prenzlau bekleidete. Der ehemalige Theologe ist ein kleiner Mann mit einem dunklen ausdrucksvollen Gesicht und schwarzen feurigen Augen; seine lebhaften Bewegungen, sein heiteres Wesen bilden den merkwürdigsten Gegensatz zu der ernsten Ruhe seines Begleiters, dessen Stirn mit tiefen Runzeln bedeckt ist und der in seiner Derbheit und Rauhheit keineswegs für einen Hof geschaffen scheint. Aber die rauhe Schale birgt auch bei ihm den edlen innern Kern. Er ist Maler, Dichter und Musiker – ein Genie, das auch in den Kriegswissenschaften Ausgezeichnetes geleistet hätte, wenn er nicht dem Geräusche der Waffen den Umgang der sinnigen Musen vorgezogen. Wenn man die Beiden sieht, welche ohne Streit und wissenschaftlichen Disput nicht zwei Minuten leben können, so muß man glauben, daß sie ihre Bestimmung verfehlt haben. Man ist nur zu leicht geneigt, den gewandten, in allen ritterlichen Künsten wohlerfahrenen Jordan für einen ehemaligen Officier, dagegen den ernsten, tiefsinnigen Knobelsdorf für einen Gelehrten, wo nicht gar für einen Geistlichen zu halten. Während der Erstere von Witz und Geist übersprudelt, horcht man gern der belehrenden, streng wissenschaftlichen Unterhaltung des Letzteren. Zu dem originellen Paare gesellt sich ein alter Stelzfuß in der Uniform des Ingenieurcorps; es ist der wackere Senning, Friedrich’s Lehrer in der Mathematik, der im flandrischen Kriege ein Bein verloren hat. Er liebt es von seinen Kriegsthaten zu erzählen, obgleich er nichts weniger als ein Aufschneider, sondern ein tapferer Soldat und ausgezeichneter Mathematiker ist. Plötzlich unterbricht der alte Krieger seine etwas weitschweifigen Erzählungen, um den Hofmarschall von Wolden, Friedrich’s Mentor in Küstrin, und dessen junge liebenswürdige Gemahlin zu begrüßen, welche dem gefangenen Prinzen manche trübe Stunde durch ihre anmuthige Gesellschaft vertreiben half. An ihrer Seite befindet sich der gewandte ritterliche Chazot, ein französischer Officier, der das Unglück hatte, einen Verwandten des Herzogs von Boufflers im Duell zu tödten, und den Friedrich aus den Trancheen von Philippsburg, wo er als Flüchtling in dem Lager des Prinzen Eugen eine Zuflucht suchte, nach Rheinsberg brachte. Wie die Windsbraut stürmt jetzt ein junger Mann herein mit langen, braunen Locken, ungepudert. Obgleich die untersetzte, gedrungene Gestalt, das gelbe markirte Gesicht mit den kleinen, geschlitzten Augen und dem breiten Munde keinen Anspruch auf Schönheit machen, so entschädigt er hinlänglich durch seine hinreißende Laune, seine entzückende Unterhaltung und durch eine Fülle von Kenntnissen. Es ist der Liebling Friedrich’s, sein „Cäsarion“ und heißt ursprünglich von Keyserling, von Geburt ein Kurländer und so begabt, daß er in seinem siebzehnten Lebensjahre, als er die Universität bezog, Griechisch, Lateinisch, Französisch und Russisch wie seine Muttersprache redete. Ihm liest Friedrich seine Manuskripte vor, und sein Urtheil ist ihm maßgebend. Er verkündigt den Anwesenden die große Neuigkeit des Tages, welche nicht verfehlt, das höchste Aufsehen zu erregen.
„Der Kronprinz hat soeben einen Brief von dem göttlichen Voltaire erhalten und wird in wenig Augenblicken erscheinen, um der Gesellschaft die herrlichen Zeilen des genialsten Mannes unserer Zeit vorzulesen.“
„Und was schreibt ihm der Fürst der Denker und Dichter?“ fragte der neugierige Jordan.
„Wie läßt sich das wiedergeben,“ erwiderte der lebhafte Cäsarion, „was der Einzige allein nur auszudrücken vermag? Jedes seiner Worte ist ein Blitz, jede Wendung, jeder Ausdruck von unnachahmlicher Grazie. Nur so viel kann ich Ihnen mittheilen, daß der Kronprinz wahrhaft entzückt ist und, wie Alexander die Gesänge Homer’s in einem goldenen Schreine, den Brief Voltaire’s auf seinem Herzen trägt.“
In der That erschien jetzt Friedrich selbst mit freudestrahlendem Gesicht; sein großes blaues Auge leuchtete in lebhaftem Glanze, und seine damals noch so schönen, nicht von Sorgen, Alter und Menschenverachtung gefurchten Züge glichen einem sonnigen Frühlingsmorgen. Sein jugendliches Herz schlug warm und groß für alles Edle, Gute und Schöne. In Voltaire verehrte er den Genius der neuen Zeit, den hochbegabten Geist, der mit siegreichen Waffen das Vorurtheil und die Heuchelei bekämpfte, den Vertheidiger der [825] unterdrückten Unschuld, den muthigen Streiter für Recht und Freiheit. Später im persönlichen Umgange mußte leider Friedrich als König auch die Schattenseiten des großen Mannes, seine kleinliche Lust an Intriguen, seine Habsucht, seine Falschheit und all die Fehler kennen lernen, welche leider das Genie entstellen, wie die Flecken den Sonnenball. Damals aber glühte Friedrich noch für Freundschaft, und seine Verehrung für Voltaire trug den Stempel jugendlicher Schwärmerei.
„Bon jour, Mesdames et Messieurs,“ sagte der Kronprinz, indem er die Anwesenden mit dem ihm eigenen bezaubernden Lächeln grüßte. „Cäsarion wird Ihnen bereits gesagt haben, welch ein glücklicher Tag der heutige für mich ist. Ich bin aber zu wenig Egoist, um meine Freude für mich allein zu bewahren: Sie Alle sollen daran Theil nehmen und hören, was der größte Geist des Jahrhunderts mir schreibt.“
Auf einen Wink des Prinzen nahm die Gesellschaft Platz, um den Inhalt des Briefes aus dem Munde des fürstlichen Vorlesers zu vernehmen. Auf allen Gesichtern drückte sich die größte Spannung und Theilnahme aus. Man lebte noch in einer Zeit, wo Geist und Wissen die höchste Verehrung einflößte, wo in der That der Dichter mit dem König ging, wo Fürsten sich durch den Umgang mit Männern wie Voltaire, Diderot u. s. w. geehrt fühlten. Nicht das neunzehnte Jahrhundert, sondern das achtzehnte kannte allein den Cultus des Genius und saß in Andacht zu den Füßen seiner großen Denker und Dichter. –
So hoch aber auch Friedrich Wissenschaft und Künste stellte, so ließ er darum sein eigentliches Ziel nicht aus den Augen, und mit dem heiteren Spiele der Musen wechselten auch ernste Stunden, in denen er sich auf seinen Beruf im Verborgenen vorbereitete. Vor Allem erkannte er schon damals die Nothwendigkeit, sich mit der Praxis und dem Leben vertraut zu machen. Wie er in Küstrin, wenn auch nicht ganz freiwillig, bei der dortigen Regierung in der Stellung eines jüngsten Rathes die Bedürfnisse des Landes, seine Hülfsquellen und seinen Mangel aus eigener Anschauung kennen lernte, so beschäftigte er sich in Rheinsberg angelegentlich mit seiner militärisch-praktischen Ausbildung, indem er das ihm von seinem Vater geschenkte, in dem benachbarten Ruppin garnisonirende Regiment auf eine möglichst hohe Stufe zu bringen suchte, was ihm auch gelang. Mit den Officieren desselben stand er in einem freundschaftlichen, fast cameradschaftlichen Verhältnisse, das sich besonders schön in dem von ihm gestifteten Bayardorden bekundete, dessen Mitglieder wie Bayard ritterliche Ehre und kriegerische Bildung zu ihrer Devise machten. Ihr Sinnbild war ein auf einem Lorbeerkranze liegender Degen mit der Umschrift: „Sans peur et sans reproche“, ihr Ordenszeichen, das sie nie ablegen durften, ein zu einem Ringe zusammengebogenes Schwert mit der Inschrift: „vivent les sans-quartier“. Zwölf Ritter versammelten sich an bestimmten Tagen in Rheinsberg unter ihrem Großmeister, der nicht der Kronprinz, sondern der wackere Fouqué war. Um jeden Standesunterschied zu beseitigen, führten die Mitglieder besondere Namen, die sich meist auf ihre Charaktereigenthümlichkeiten bezogen; so hieß Fouqué „le Chaste“, Friedrich selbst „le Constant“. Sämmtliche Ritter des Bayardordens blieben ihrer Devise treu und bewährten sich im ernsten Waffenspiel und in blutigen Schlachten als wirkliche „Chevaliers sans peur et sans reproche“.
So war das Leben in Rheinsberg beschaffen, so lange Friedrich daselbst verweilte. Einige Zeit nach seiner Thronbesteigung machte er die reizende Besitzung seinem Bruder Heinrich zum Geschenk, der bis zum Jahre 1802 daselbst ein nicht minder interessantes Leben führte, das der liebenswürdige Dichter Fontane ausführlich in seinen trefflichen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ schildert. – Nicht ohne Wehmuth scheiden wir aber von dem stattlichen Schlosse, das in seinen Mauern einst so viele edle und große Männer, so viele schöne und geistreiche Frauen und vor Allen den jugendlichen Friedrich gesehen, den die Welt mit Recht den Großen nennt. Ein eigener Zauber umschwebt noch immer den stillen See und den grünen Park; es ist, als ob sein Geist noch immer dort verweilt, als müßte er jeden Augenblick aus den schattigen Baumgruppen hervortreten und den Wanderer mit seinen blauen durchdringenden Augen ansehen. –
Vom verlassenen Bruderstamme.
Es regnete immer noch, als ich am andern Tage von dem Hofe abfuhr, um einen Gutsbesitzer zu besuchen, an den ich bereits aus Hamburg von einem dort lebenden schleswig’schen Patrioten einen Empfehlungsbrief mitgebracht hatte. Der hochrädrige, offene Wagen hielt vor der Steintreppe, welche zu der Hausthüre führte; eine geschlossene Kutsche war nicht vorhanden. Ein großer Mantel und eine dicke, wollene Decke schützte mich vor dem herabfallenden Sprühregen. Die Dämmerung begann bereits anzubrechen; den größten Theil des Tages hatten wir mit dem Besuch eines benachbarten Hofbesitzers zugebracht. Mein Gastfreund, seine Frau und seine Tochter nahmen nochmals an der Thüre ihres Hofes in herzlichster Weise von mir Abschied; ich kletterte auf den hohen Wagen, die Pferde zogen an, und in gestrecktem Trabe ging es in die dämmernde Landschaft hinein, welche der Abend bald völlig in seinen dunkeln Schattenschleier hüllte. Der Abendwind rauschte in den Knicks und warf mir die Regentropfen in’s Gesicht. An einsam gelegenen Höfen vorüber und durch ein aus wenigen Häusern bestehendes Dorf, dessen Bewohner sich bereits zur Nachtruhe zu rüsten begannen, ging es zu der großen Straße, welche von der nächsten Stadt zu dem Gute führte, wo ich die Nacht zubringen sollte. In der Schenke außerhalb des Dorfes hielten wir einige Minuten, um ein Glas Grog zu trinken, da Regen und Wind immer heftiger wurden, und setzten dann unsern Weg fort, bis wir auf die Landstraße kamen.
Noch eine halbe Stunde, und wir fuhren durch ein Thor von alterthümlicher Bauart. Der Weg war mit Kies belegt, zu beiden Seiten des Weges erschienen große Rasenplätze und dunkle, hohe Baumgruppen. „Wir sind wohl schon auf dem Gute angekommen?“ rief ich dem Kutscher zu.
„Ja, Herr,“ war die Antwort, „hier wohnt er, er ist auch ein großer Deutscher. O, unsere Edelleute sind brave Männer, sie haben es immer mit uns und mit dem Lande gehalten. Gleich werden Sie den Hof sehen.“ –
Die Pferde zogen rascher an. Rasenplätze, welche große Blumenbeete einzurahmen schienen, prächtige, breitästige Eichen, Gruppen von Pappeln, Linden und Eschen flogen vorüber, dann rollte der Wagen über eine hölzerne Brücke mit steinernen Pfeilern an beiden Enden; nochmals durchschnitten wir den Park in gerader Richtung, vor uns lag ein großes Bassin mit einer Reihe hoher, dunkler Pappeln eingerahmt, und jenseits des Wasserspiegels erhob sich ein großes, hohes Gebäude mit zwei Flügeln von alterthümlicher Bauart. An den beiden Enden des Mittelgebäudes schienen zwei abgetragene Thürme mit ihren dunkeln Mauerkronen in den Abendhimmel hineinzuragen, an welche sich die Seitenflügel von neuerer Bauart anlehnten. Das ganze Schloß lag vor mir, wie eine dunkle Steinmasse, nur vier Fenster des untern Stocks waren hell erleuchtet. Ein breiter Fahrweg führte um das Bassin herum, in dessen Wasserspiegel die erleuchteten Fenster strahlende Reflexe warfen. Der Wagen hielt vor einer hohen, mit eisernem Geländer versehenen Steintreppe, welche zu dem altmodischen Hausthore und in den untern Stock des Schlosses führte.
Der Kutscher klatschte mehrmals mit der Peitsche, die Thür öffnete sich, und auf der Höhe der Treppe erschien die Gestalt einer Magd, ein Licht in der Hand, welches in demselben Augenblick verlöschte, als sie aus der Thür trat. Sie rief in den Flur hinein, und nach einigen Minuten stieg ein Knecht mit einer Laterne die Steintreppe hinab. „Ist der Herr zu Hause?“ fragte ich, mit seiner Hülfe vom Wagen hinabkletternd.
„Nein,“ erwiderte er in plattdeutscher Sprache, „er ist vor einer Stunde auf die Entenjagd gegangen.“ –
„Und die gnädige Frau? –
„Sie ist auf Besuch gefahren.“
[826] Er nahm meinen Koffer vom Wagen, in der stillen Voraussetzung, daß ich im Schlosse zur Nacht bleiben würde. Der Regen hatte fast aufgehört. Mein Kutscher sagte, daß er sofort zurückfahren würde, um mit den Pferden vor Anbruch der Nacht zu Hause zu sein, und ich stieg die hohe Steintreppe hinan. In dem gewölbten Vorhause empfing mich eine ältliche, kleine Dame, welche sich mir als die Haushälterin vorstellte und mich einlud, im Wohnzimmer die Rückkehr der Herrschaft abzuwarten, welche jede Minute eintreffen müsse. Dann öffnete sie die hohe, mit Schnitzwerk geschmückte Eichenthür, welche in das Zimmer führte, dessen erleuchtete Fenster ich schon draußen gesehen hatte. Es war ein großes, alterthümliches Gemach mit vier hohen Fenstern in weit vorspringenden Nischen. Die Wände waren mit weißer Oelfarbe gestrichen und in mehrere Felder abgetheilt, welche mit vielen arabeskenartigen Verzierungen geschmückt und in der Höhe der ebenfalls mit Stuccaturarbeit reich gezierten Decke mit vergoldeten Leisten umgeben waren. Drei Spiegel mit reich geziertem Rahmen, der Decoration des Zimmers angemessen, reichten von der Höhe der Decke bis zum Boden, den ein starker, weicher Teppich durch den ganzen Raum hin bedeckte. Die Lehnen des Sopha’s und der Sessel waren von weißgestrichenem Holz, künstlich mit Arabesken und vergoldetem Zierath ausgelegt. In dem marmornen Kamin flackerten einige Scheite Holz, da der Abend kalt und regnerisch war; auf dem Tische brannten zwei große Astrallampen mit weißen Kuppelgläsern. Der ganze Raum machte einen reichen und zugleich sehr wohnlichen Gesammteindruck. Ich schob einen der Sessel zum Kamin, sagte der Haushälterin, welche mich fragte, ob ich ein Glas Wein oder ein Glas Grog zu trinken wünsche, daß ich nichts bedürfe, und setzte mich nieder, die flammenden Holzscheite mit der Eisenstange, welche an dem Kaminpfeiler lehnte, von Neuem zurechtlegend.
Die Zeit, wo in Schleswig der Adel einen harten und oft grausamen Druck auf die Landbevölkerung ausübte, ist lange vorüber, und die Erinnerung daran hat sich nur in der Sage im Lande erhalten. Hie und da wurden mir noch Geschichten von Edelleuten erzählt, welche auf der Jagd die Grundstücke ihrer Unterthanen verwüsteten, die Saaten niederritten und die Peitsche und den Stock gegen ungehorsame und faule Leibeigene gebrauchten. Alles gehörte damals dem Gutsherrn, das Haus, das Land, das Vieh, die Ackergeräthschaften, die Arbeit des Leibeigenen; auch seine Arbeitskraft gehörte ihm; täglich mußte er Frohndienste thun, und kaum ward ihm Zeit gelassen, seinen eigenen Acker zu bestellen. Reich und wohlhabend war nur der Edelmann, der Bauer war arm und war an manchen Orten zufrieden, wenn er mit Saubohnen sein Leben fristen konnte. Aber, wie gesagt, diese Zeit hat lange aufgehört. Schon vor anderthalb Jahrhunderten begann in Schleswig-Holstein die Ablösung der Leibeigenschaft und der Frohnden. Große adlige Güter zerfielen, und die einzelnen Parcellen gingen in die Hände freigewordener bäuerlicher Besitzer über. Viel wirkte auch zur Aufhebung der Frohndienste mit, daß im vorigen Jahrhundert ein großer Theil der im Lande befindlichen Domänen parcellirt und die einzelnen Parcellen an Bauern in Erbpacht gegeben oder verkauft wurden. So ist nach und nach ein großer Theil der adligen Güter in die Hände von Bürgerlichen und Bauern übergegangen, und nichts erinnert an den ehemaligen Zustand der Dinge, als die bevorrechtenden Privilegien, welche noch an dem frühern adligen Grundbesitz haften, aber auch von dem jetzigen Besitzer der Parcellen, mag derselbe ein Edelmann oder ein Bauer sein, ausgeübt werden. Von einer feindlichen Gesinnung zwischen den Adligen und Bauern, welche sich auf den Standesunterschied gründet, ist jetzt nirgends mehr die Rede; der zehnjährige Druck, den die dänische Herrschaft auf dem Lande ausübt, hat den Bauer und den Edelmann noch näher aneinander gerückt. Sie haben während der schweren Kriegsjahre und auch jetzt unter dem Druck der dänischen Beamten treu mit einander ausgehalten; als [[Jacob Venedey]] in einer Volksversammlung in Angeln, welche in der Nähe von Cappeln abgehalten wurde, der im Lande herrschenden Zustände unkundig, gegen die Edelleute und die Pastoren zu Felde ziehen wollte, wurde er von allen Seiten mit dem Ausrufe „Wat segt de Kehrl?“[2] unterbrochen, und als er noch weiter fortfuhr, wurden die ernstesten Bemühungen einiger angesehener Hofbesitzer nöthig, um ihn vor thätlichen Insulten zu schützen. Auch in der Form unterscheiden sich heute im Lande die Wohnungen der adligen Herren wenig oder gar nicht von den Höfen der Bauern. Die Ritter und die Burgen sind aus dem Lande verschwunden. Ein Hausgraben mit den Resten einer alten Zugbrücke, von Rüstern und Erlen beschattet, ist meist Alles, was einen schleswigschen Edelhof charakterisirt. Wirklich schloßartige Gebäude giebt es nur sehr wenige im Lande.
Ein Mann im vorgerückten Mannesalter, von mittlerer Größe, mit intelligentem Gesicht, trat, mir einen guten Abend wünschend, in das Zimmer. Ich stand auf und stellte mich ihm vor, in der Meinung, den Gutsherrn vor mir zu sehen. „Nein,“ erwiderte er lachend, „der Gutsherr bin ich nicht, der ist in tiefem feuchten Regenwetter einmal wieder auf die Entenjagd gegangen, obschon ich es ihm täglich verbiete; ich bin der Arzt im Districte und wohne hier im Dorfe. Aber seien Sie uns willkommen, wir erwarten Sie schon seit acht Tagen. Setzen wir uns wieder zum Kamin, es ist draußen windig und regnerisch, ein verteufelt schlechtes Wetter für diese Jahreszeit. Ich höre, daß Sie schon über drei Wochen im Lande sind? Wird den Dänen sehr unangenehm sein. Nun, wie finden Sie’s hier? Uebertreiben wir, wenn wir von dem „Unglück im Lande“ sprechen?“ –
„Nein, wahrhaftig nicht; während der drei Wochen, daß ich hier umherreise, bin ich einmal auf einige Tage wieder nach Hamburg zurückgekehrt, um für einige vierundzwanzig Stunden nichts mehr von dieser dänischen Wirthschaft zu hören und zu sehen, in solch eine erbitterte Stimmung war ich hinein gerathen. So arg habe ich es mir wahrhaftig nicht gedacht.“
„Ja,“ fuhr er auf, „es ist arg, und täglich wird’s ärger. Die Beamten saugen das Land aus, wo sie können. Willkür, Erpressung und Gesetzlosigkeit, wohin man blickt. Die Beamten unterlassen nichts, um ihre Säckel zu füllen. Noch heute war ein Landmann bei mir, der seine Hufe seinem Sohne überlassen hat, und von seinem Hardesvogt bei Ausfertigung des Kaufbriefes übervortheilt war. Er war zu dem Hardesvogt gegangen und hatte ihm in ganz ruhiger Weise vorgestellt, daß sich der Herr Hardesvogt doch wohl bei Notirung der Gebühr für Ausfertigung des Contracts geirrt und er darnach zu viel bezahlt habe. Was war die Antwort? Er wurde tüchtig angefahren und ihm gesagt, die Gebührenrechnung sei richtig, wenn er ihm etwas wolle, so möge er ihn verklagen. Was die Klage hilft? Nichts. Und wenn wirklich schließlich das Appellationsgericht in Flensburg erkennt, daß der Bauer Recht hat, die Kosten muß er doch bezahlen, und die Kosten sind schließlich noch zwei oder drei Mal höher, als die zurück bezahlten Gebühren. Das wissen die Beamten ebensogut, wie die Armen, denen sie das Geld abnehmen, und deshalb schweigen diese lieber still und fügen sich in das Unvermeidliche. Das Land wird vollständig ausgesogen. Aber diesmal soll der Mann nicht so davon kommen, dieser dänische Kammerjunker. Der Landmann ließ den Kaufbrief in meinen Händen, und ich werde die Sache verfolgen. Das ist ein einzelner Fall von Hunderten, wie sie täglich vorkommen.“
„Und wenn es sich um einige Bankschillinge handelte,“ fuhr der Doctor erregter fort, indem er aufstand und einige Holzscheite in den Kamin warf, „dann ließe man es noch gehen, aber sie sind unersättlich, wie die Vampyre; am Mittwoch war ein Landmann aus der Gegend von Missunde bei mir und sagte mir, er würde mir nächstens auch seinen Kaufbrief mitbringen. Er hatte nicht weniger als 600 Bankthaler Kosten gehabt. Was sagen Sie dazu? – Nach den Mittheilungen, welche er mir machte, muß sich ein Minus von mehreren Hundert Thalern herausstellen. Ist das nicht enorm? – Ich theile Ihnen keine losen Gerüchte mit; ich berichte Ihnen Thatsachen, welche vollkommen wahr sind, und wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen die Documente. Erzählen Sie’s in Deutschland.“
Ich erstaunte. Daß die Uebervortheilungen sich bis zu dieser Höhe verstiegen, hatte ich doch nicht geglaubt. Der Arzt sah, wie sich mein Erstaunen auf meinen Gesichtszügen ausprägte, und sagte:
„O, ich will Ihnen noch einige andere, noch schlagendere Beispiele zu den Gebührenrechnungen mittheilen. Neulich betrug die Gebührenrechnung eines dänischen Beamten in einem kleinen Dorfe in Angeln 574 dänische Thaler. Sie wurde auf 263 dänische Thaler 64 Schillinge und 17 Thaler 22 Schillinge Gebühren modificirt. Ein dänischer Communalbeamter in Hadersleben hatte eine Gebührenrechnung auf nicht weniger, als 1350 Bankthaler zu hoch formirt. Was sagen Sie zu solchen Summen? Er hatte [827] ganz einfach eine Erbschaftsmasse, über welche kein Concurs verhängt war, als Concursmasse angesehen. Mein Gott, es ist ja ein Princip in diesem Erpressungssystem. Nur die deutsche Bevölkerung wird in dieser Weise ausgesogen. Die kunstvollsten Mittel und Kniffe werden angewandt, damit nur recht Viele dabei zu Grunde gehen, damit sie auswandern und den Dänen zu Spottpreisen ihr Hab und Gut überlassen. Sie waren ja in Schleswig. Sehen Sie sich die einst so blühende Stadt an. Die Nahrungslosigkeit greift dort täglich mehr um sich; Fallissements über Fallissements; die meisten Nahrungsquellen werden den Bürgern entzogen; viele Wohnungen stehen leer; die Häuser sind zu verkaufen; es ist aber weder Jemand da, der miethet, noch der kauft. In dieser Noth und Nahrungslosigkeit, wo es sich um das tägliche Brod handelt, greift so mancher sonst brave Mann zu eben keinen moralischen Mitteln. Er wird ein Renegat; er geht zu den Dänen über, oder er macht Concurs und übervortheilt seine Gläubiger. Und wem haben wir das Alles zu verdanken? Schleswig war einst ein so wohlhabendes und glückliches Land!“
„Der preußischen und österreichischen Regierung,“ antwortete ich, „welche das Land entwaffnet, gebunden und erschöpft den Dänen auslieferte; wem anders?“
Hundegebell draußen vor dem Thor und das Vorfahren eines Wagens unterbrach unser Gespräch. Der Arzt sprang auf. „Da kommt mein Freund von seiner verdammten Entenjagd,“ rief er, „welche ihm noch Gicht und Podagra einbringen wird; auch die gnädige Frau scheint von ihrem Besuch zurück zu sein.“
Ich stand ebenfalls auf und wandte mich nach der Thüre, welche in das Vorhaus führte. Die Thür öffnete sich, und der Besitzer des Gutes trat mit seiner Frau in den Saal. Er war noch im Jagdanzuge, in hohen Wasserstiefeln, das Gewehr über der Schulter, ein schöner, stattlicher Mann in den Dreißigen; seine Gemahlin war eine schöne Blondine, mit großen seelenvollen lichtblauen Augen; ihr zarter, weißer Teint war rosig angehaucht von der scharfen Abendluft; ihr reiches, vorn gescheiteltes Haar hatte einen goldigen Reflex. Sie war eine Holsteinerin; Schleswig und Holstein hatten sich auch hier verschwägert. Der Arzt stellte mich vor; sie hießen mich auf das Herzlichste willkommen. Dann erfolgte die ärztliche Standrede wegen der verbotenen Entenjagd. „Geschossen hast Du nichts,“ rief er, „aber der Sprühregen und der Teich haben Dich durchnäßt, mit allen meinen Medicamenten kann ich Dir das Podagra nicht wegcuriren, wenn Du es erst in den Füßen hast!“
„Tröste Dich, Doctor,“ rief der Gutsbesitzer lachend aus, „die Dänen waschen mir den Pelz alle Tage, und doch wird er nicht naß. Du weißt, ich habe eine zähe Natur und einen energischen Willen. Ich soll schon wieder 50 Bankthaler Brüche bezahlen; heute habe ich die Verfügung bekommen; aber so leicht kommt der dänische Amtmann nicht mit mir zu Rande; erst werde ich mich wehren.“
„Was ist denn wieder vorgefallen?“
„Vorgefallen? nichts; ich habe das Verbrechen der Mißlichkeit begangen, und der Amtmann braucht Geld. Ich erzähle Dir’s hernach. Aber erst werde ich mich, Deiner Besorgniß zu Liebe, umkleiden. Und dann wollen wir zu Abend speisen. Unterhalte unsern Besuch so lange.“
Der Gutsherr und seine Gemahlin entfernten sich, um andere Toilette zu machen. Ich blieb mit dem Arzte allein, der sich noch gar nicht wegen der Entenjagd in diesem Regenwetter beruhigen konnte. Dann kam ein Diener in den Saal, um den Tisch zu decken. Nach einer Viertelstunde saßen wir zusammen an der reichbesetzten Abendtafel Zwei Diener warteten auf. Der Wein war vortrefflich. Der Gutsbesitzer gehörte zu den reichsten des Landes; er besaß große Complexe von Ländereien, welche er durch Ankauf noch vergrößert hatte. Intelligent, von bedeutender wissenschaftlicher Bildung, von energischem Charakter und mit den Zuständen im Lande vollkommen bekannt, gehörte er zu den bedeutendsten Repräsentanten des deutschen Elements. Da er vornehme verwandtschaftliche Beziehungen in Kopenhagen hatte, wagten sich die dänischen Beamten nicht so leicht an ihn heran, so verhaßt er ihnen auch war. Seit mehreren Jahren waren unter der Hand Versuche gemacht, ihn zum Verkauf seines großen Grundbesitzes an einen Dänen zu vermögen. Verschiedene Kniffe und Ränke waren zu dem Zwecke in Bewegung gesetzt. Er hätte mehrmals sehr vortheilhaft verkaufen können. Aber er wollte grundsätzlich nicht verkaufen, weil, wenn er das Land verließ, das deutsche Element in Schleswig eine bedeutende und mächtige Stütze verlor. Er schlug deshalb die vortheilhaftesten Anerbietungen aus. Ich bin dieser ehrenhaften und braven Gesinnung in Schleswig vielfach, sowohl auf dem Lande, wie in den Städten, begegnet. In den Friesen und Angeln ist ein Element des Widerstandes und des Ausharrens, wie es sich in keinem deutschen Volksstamm in diesem Maße vorfindet. Renegaten giebt es auch dort; aber im Allgemeinen tritt dieser Widerstand und dieses Ausharren den Dänen in massenhafter Weise und mit zäher Consequenz, selbst oft unter den ungünstigsten äußeren Verhältnissen, entgegen. Die Lombarden und Venetianer haben den Oesterreichern keinen zähern Widerstand entgegengesetzt, als diese braven Angeln und Friesen, welche zur Ehre Deutschlands, welches sie verließ, hier an den äußersten Grenzen deutscher Erde ihren heimtückischen und mit großer Zähigkeit ihre Zwecke verfolgenden Feinden nun seit zehn Jahren mannhaft widerstehen. Es kann das in Deutschland nicht genug gewürdigt werden.
Ich kenne Männer in Flensburg, Tondern und Schleswig, welche selbst unter den drückendsten Nahrungssorgen aushalten. Der „Märtyrer von Oland“ bleibt auf seiner einsamen, von Weststurmfluthen umbrausten Insel in der Nordsee und kämpft mit den salzigen Meereswogen, weil er es für charakterlos hält, Nordfriesland in der Noth zu verlassen. Noch vor wenigen Tagen waren dem braven Manne, an dessen Tische ich heute Abend saß, von seinem Hardesvogt im Namen eines reichen, in Kopenhagen ansässigen Dänen die vortheilhaftesten Anerbietungen zum Verkauf seines Grundbesitzes gemacht worden. Er hatte sie ausgeschlagen. Am andern Tage hatte der schlaue Däne die Anerbietungen in drohender Weise wiederholt und einen noch höheren Kaufpreis geboten. „Ich kann mein Gut nicht verkaufen,“ hatte der deutsche Edelmann erwidert.
„Warum nicht?“ fragte der Däne.
„Weil es Fideicommiß ist, Herr Hardesvogt.“
Da lächelte der Däne schlau und verächtlich. „Wenn es nur das ist,“ sagte er, „dann ist leicht abzuhelfen. Ein Ministerialrescript, nöthigenfalls eine Cabinetsordre wird die Fideicommißqualität für ungültig erklären. Das ist sehr leicht zu bewerkstelligen.“
„Aber ich erkläre sie für gültig und bestehend, Herr,“ erwiderte der Edelmann.
Nach dem Abendessen verließen wir den Speisesaal und blieben noch mehrere Stunden in dem Studirzimmer meines Gastfreundes zusammen. Ich war genöthigt, am andern Morgen abzureisen, um mich nach Flensburg zu begeben. Der Verwalter, an den der Gutsbesitzer einen Theil seines Grundbesitzes verpachtet hatte, leistete uns Gesellschaft. Das letzte Mißlichkeitsdecret wurde mir in Original vorgelegt. Der Gutsbesitzer war in eine Strafe von 50 Bankthaler genommen, weil er einen Bericht an das Ministerium nicht in dänischer, sondern in deutscher Sprache abgesandt hatte. „Ist das nicht, um toll zu werden?“ fuhr er heraus; „ich verstehe kein Wort dänisch, spreche und schreibe kein Wort dänisch, und in meinem ganzen District, in dem das Gut liegt, lebt kein Däne, außer dem dänischen Pastor, den dänischen Beamten und dem dänischen Schulmeister. Trotz alledem ist es ein sogenannter „gemischter District“, wo ein um den andern Sonntag dänisch gepredigt, wo in den Schulen in dänischer Sprache, außer drei Stunden wöchentlich, unterrichtet wird, und wo nun durchaus die dänische Sprache als Geschäftssprache eingeführt werden soll. Bestätigen Sie das, Doctor, Sie kennen durch Ihre Praxis jedes lebende Wesen in unserm District.“
„Ich kann Alles das nur bestätigen,“ sagte der Arzt, „in keiner Familie wird dänisch weder verstanden, noch gesprochen. Es leben hier nur zwei alte Leute, welche, weil sie in ihrer Jugend auf der dänischen Flotte dienten, etwas dänisch verstehen, ohne die Sprache vollständig sprechen, geschweige denn dieselbe schreiben zu können.“
„Noch gestern,“ fügte der Pächter hinzu, „hat der Hardesvogt wieder versucht, mit zwei Landleuten in dänischer Sprache zu verhandeln. Sie verstanden auch nicht ein Wort. Da ist die Verhandlung gar nicht zu Stande gekommen, sehr zum Schaden der Leute, welche einen nothwendigen Vertrag abschließen wollten.“
„Und wie ist denn Ihr Schulmeister und der Pastor?“ fragte ich.
„Der Schulmeister ist dumm, wie ein Klotz, der Pastor ist wie die andern im Lande. Seit Jahren habe ich die Kirche nicht [828] besucht, der Doctor auch nicht, der Pachter auch nicht. Es besucht überhaupt Niemand die Kirche. Wir leben hier wie die Wilden. Für meine Kinder habe ich einen Hauslehrer, der gerade verreist ist, einen Candidaten der Philologie aus Kiel. Der Pachter hat keine Kinder, der Doctor ist unverheirathet. Hätten sie Kinder, ich würde in viele hundert Bankthaler Strafe verurtheilt, wenn mein Hauslehrer sie unterrichten wollte. Beispiele zu diesem Verfahren sind Ihnen ja zur Genüge bekannt.“
„Eine scandalöse Geschichte ist hier kürzlich wieder in der Nähe passirt,“ sagte der Pachter, „leider wieder nur eine unter so vielen. Hören Sie, und machen Sie sich ein Bild von unseren Zuständen. Der dänische Pastor in ** übernahm eine Roggenlieferung an die dortige Armenanstalt. Er beschaffte die Lieferung ohne weitere Controlle, ließ sich aus der Armencasse bezahlen und giebt eine Quittung ab über 14 Scheffel gelieferten Roggen. Dann geht das Gerücht im Orte um, daß der Pastor unrichtig geliefert habe. Das Gerücht dringt zu den Ohren der Armenvorsteher; sie lassen nachmessen und finden zu ihrem nicht geringen Erstaunen, daß nur 10 Scheffel vorhanden sind. Als der Pastor sieht, daß sein Betrug entdeckt ist, antwortet er ganz dreist, daß ihm dies bekannt sei, er werde die 4 Scheffel nachliefern. Natürlicherweise geschah es nicht. Das Armencollegium, dessen Präses der Pastor ist, hatte den Muth, ihn beim Kirchenvisitatorium zu verklagen. Das Kirchenvisitatorium hat das Armencollegium abgewiesen. Es wundert sich hier Niemand darüber; denn Jeder weiß, daß es kein Recht in Schleswig giebt. Und gegen den bösen Schein wußte sich der Pastor auch zu decken: er hatte, als sein Betrug ruchbar wurde, sich von dem Gastwirthe und dem Kirchenboten eine Bescheinigung ausstellen lassen, worin beide Subjecte erklären, der Pastor hätte ihnen bei der Entgegennahme des Geldes gesagt, er wolle die fehlenden 4 Tonnen nachliefern. Was diese Bescheinigung zu bedeuten hat, kann man ermessen, wenn man weiß, daß der Gastwirth zwei Concessionen, als Krüger und als Höker hat, und der Andere als Kirchenbote ganz in der Hand des Pastors ist. Aber trotz alledem erhielt die Armenanstalt nie die 4 Tonnen Roggen und wird sie auch niemals erhalten, während der Pastor das Geld in der Tasche hat.“
Aus Graubündens Hochalpen.[3]
Wie große Städte ihre Kathedral-Signale, ihre riesigen Münsterthürme haben, welche, das Dächer-Chaos hoch überragend, der Häusermasse den ihr eigenen physiognomischen Ausdruck geben, so erblickt der Wanderer auch in den Alpen einzelne hochaufstrebende Gebirgs-Individuen, die in auffallender, fast möchte man sagen, bevorrechteter oder sich hervordrängender Haltung und Stellung vorzugsweise die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und jenen Domthürmen zu vergleichen sind.
Zu diesen Berg-Aristokraten gehört der Piz Ot im Ober-Engadin. Wer aus dem Traubenthale des Veltlins über den Bernina-Paß kommt, oder wer auch nur als Curgast der alljährlich lebhafter besuchten, starken, kohlensaueren Heilquelle zu St. Moritz einen Spaziergang zum gewaltigen Morteratsch-Gletscher macht, dem fällt unwillkürlich jene riesige Felsenpyramide auf, die über den breiten Schultern des Piz Padella, oberhalb Samaden, frei und kühn in’s lichte Blau emporstrebt. Es umstehen ihn Nachbarn, die seine Höhe erreichen, wenn das Auge nivellirende Linien zieht; aber sie stecken so breit philisterhaft, so schwerfällig unbeholfen im großen Profil des Alpenhorizontes, sie zeigen so wenig selbstständig Hervortretendes, daß der Blick des Touristen theilnahmlos über sie hinweg gleitet und mit Wohlgefallen nur an dem genialen Piz Ot haften bleibt.
„Piz“ wird in Graubünden, besonders im Romanischen, fast jede Spitze genannt, die der deutsche Schweizer mit „Horn“, der französisch redende mit „dent“ (Zahn), der Savoyarde mit „aiguille“ (Nadel) bezeichnet. So charakteristisch für viele derselben diese figürlichen Bezeichnungen sind, so sind sie doch zu allgemein gebräuchlich geworden, und es giebt eine ganz namhafte Anzahl Berggipfel, die nichts weniger als einem Horne oder Zahne ähnlich sehen. So ist’s auch in Graubünden. Unser Piz Ot ist aber ein echter, vollberechtigter Piz, für den man, wenn dieser Ehrentitel nicht schon existirte, ihn besonders einführen müßte. Der individuelle Name Ot ist eigentlich ein Adjectivum und entspricht dem französischen haut, so daß der ganze Name, in gutes Deutsch übersetzt, eigentlich „hohe Spitze“ heißen würde.
Er ist ein Wanderziel, wie man deren in der Schweiz, trotz des beinahe unzählbaren Bergereichthums wenige hat. Ein Gipfel, wie der des Piz Ot, von mehr als zehntausend Fuß Höhe – also etwa fünf Siebentel der Erhebung des höchsten europäischen Berges, des Montblanc – gehört in der Regel schon zur Classe jener Alpen-Notabilitäten, zu deren Ersteigung einige Sicherheit in Schritt und Tritt, ziemliche Gewandtheit im Klettern, besonnener Muth bei der Wanderung über Firnfelder und spaltenreiche Gletscher, sowie Ausdauer und Elasticität der Pedalmuskeln erforderlich sind. Berge von acht- bis zehntausend Fuß Höhe ragen nämlich mit ihren Kulmen schon einige tausend Fuß in die Schneeregion hinein und sind deshalb, wenn sie nicht allzu steilwandig anstreben, Jahr aus Jahr ein ganz oder doch theilweise mit Schnee bedeckt. Die Ersteigung derselben ist darum auch gewöhnlich mit der Nothwendigkeit des Uebernachten-Müssens in einer Sennhütte verbunden, und zwar aus folgendem Grunde: In den warmen Sommermonaten (während welcher man doch nur Wanderungen in’s Hochgebirge unternimmt) wird der Schnee durch die Insolation (d. h. durch die Einwirkung der Sonnenstrahlen) auf seiner Oberfläche so geschmolzen, daß nicht nur das Gehen über den völlig durchfeuchteten Schnee unangenehm wird, weil das geschmolzene Schneewasser die Schuhe gleichsam durchbeizt, – sondern auch beschwerlich, ermüdend, weil der Fuß nicht mehr festen Tritt fassen und in Folge dessen unter Umständen das Wandern gefährlich werden kann. Deshalb übernachten Bergsteiger und Führer in den Hütten der oberen Staffeln (Alpweiden), um vor Tagesanbruch, wenn die Luft noch kühl, der Schnee noch hart und tragfest ist, mit frischen Kräften, rüstigen Schrittes emporeilen und, wenn immer möglich, bei guter Zeit den Gipfel erreichen zu können. Nach ein- oder zweistündigem Aufenthalt mahnen die Führer zur Rückkehr, um noch vor Eintritt der hohen Nachmittagswärme wieder über den Schnee hinabzukommen.
Von welch entsetzlichen Folgen eine Verspätung bei hoher Luft- oder Sonnentemperatur für den entschlossensten, klettergeübtesten Bergsteiger werden kann, zeigte ein Vorfall des letzten Sommers, den ich kurz erzählend hier einschalten will. Mitglieder des englischen Alpine-Club belagerten mehrere Wochen lang von Zermatt (im Wallis) aus den noch nie erstiegenen 13,900 Fuß hohen Mont Cervin (Matterhorn), um den Unbezwinglichen zu besiegen. Unter ihnen war auch ein Mr. Whimper, der in verwegener Tollkühnheit seinen Führern oft vorauseilte, alle Regeln vorsichtigen Steigens außer Acht lassend. So auch, bei einem Versuche auf eigene Faust, kam er eines Tages in bedeutender Höhe bei einer beinahe senkrechten Felsenwand an, die mit dichtem Firneis dick überzogen war. Dahinauf mußte er. Dies ist ein Umstand, der den Bergsteiger nicht abschreckt und oft vorkommt. Mr. Whimper hieb mit dem Beile, das er zur Hand hatte, Tritt um Tritt vor und über sich in’s Eis, einige Hundert Fuß hoch, bis er weiter oben wieder auf’s „Abere“, d. h. auf den schneefreien Felsen kam. Nach
[829][830] langen fruchtlosen Versuchen, weiter empor zu dringen, mußte er, wie früher (und wohl auch noch oft nach ihm) die Anderen, unverrichteter Sache wieder umkehren. Es war am hohen Nachmittage. Aber wehe! Als er auf dem Rückwege an seinen Eisstufen wieder ankam, hatte die Sonne dieselben hinweg geschmolzen, so daß sich ihm nur eine jedes Anhaltpunktes beraubte, glatte, fast verticale Eiswand darbot. Unerschrocken begann er das einzige mögliche, aber lebensgefährliche Auskunftsmittel durchzuführen, nämlich mit der rechten Hand Stufen unter seinem Standpunkt in’s Eis zu hauen, während die Linke krampfhaft an das tödtendkalte Frostgebilde sich anklammerte. Für einige Dutzend Tritte gelang ihm das schwindelnde Werk. Da aber, weiß der Himmel, durch welchen unbedeutenden Umstand, glitt der Unglückliche aus und stürzte dem Abgrunde zu. Zerschmettert würde er drunten angekommen sein, wenn nicht eine hervorragende Felsenzacke ihn aufgefangen und in die mit frischem Schnee weich ausgepolsterte Gabelung gebettet hätte, wo er allmählich wieder zur Besinnung kam. Unter Mühsalen erreichte er endlich die sichere Thalsohle wieder. Nach dieser Abschweifung zu unserem Thema zurück.
Eben diese Schnee- und Gletscher-Passagen bedingen in der Regel ferner, daß nicht etwa eine Gesellschaft von Touristen nur einen Führer bei sich habe, sondern daß jeder Reisende für seine Person einen Führer engagirt, der wiederum mit Eissporen, Leitseil und anderen Bergsteiger-Requisiten ausgerüstet sein muß.
Man pflegt nämlich Firnfelder und Gletscher in der Weise zu überschreiten, daß der Hauptführer (der Geübteste, Hochgebirgskundigste und Besonnenste) vorangeht, ihm dann in Entfernung von etwa fünf bis sechs Schritten einer der Reisenden folgt, nach abermals gleicher Distanz der zweite Führer und dann der zweite Tourist kommen, bis ein Führer oder Träger den Schluß bildet. Alle sind durch ein um die Hüfte geschlungenes Seil mit einander verbunden. Diese Vorsicht wendet man deshalb an, um einer trügerischen, heimtückischen Eigenschaft der Gletscher und Firnfelder zu begegnen. Wie bekannt, sind die Gletscher und zum Theil auch die mit sogen, „ewigem Schnee“ bedeckten Flächen im Hochgebirge von Querspalten durchzogen und zerrissen, die das Marschiren auf denselben sehr beeinträchtigen und aufhalten. Nun begegnet’s, daß bei frisch gefallenem Schnee (der, wie wir aus den Flachlands-Erscheinungen wissen, in feucht angewehtem Zustande frei in die Luft hinaus stehende Vorsprünge ansetzt) sich sogenannte Schneebrücken über jene Risse und tiefen Spalten wölben, welche dieselben völlig verdecken, so daß der auf der Oberfläche Marschirende, wenn er nicht ein ungemein geübtes, gleichsam instinctiv die Gefahr erkennendes Auge hat, unbesorgt über die gräulichen Abgründe hinwandert, aus denen in manchen Fällen Rettung unmöglich ist. Da aber solche Spalten nicht breiter als einige Fuß sind, so können von einer Bergsteigungs-Expedition, wenn die Theilnehmer derselben in Gänsemarschlinie mit Distanzen gehen, nie Alle zu gleicher Zeit, sondern höchstens Einer durch solch eine Schneebrücke einbrechen. Um nun die Folgen solchen Einsinkens zu paralysiren, findet eben das oben berührte Anbinden an’s Seil statt, so daß, wenn einer der Alpengänger plötzlich einbricht, er nicht tief fallen kann, sondern im Augenblick von den Anderen wieder herausgezogen wird. Dieses Manöver erregt bei Neulingen einiges Grauen, aber man lernt so rasch, diese Gefahr mißachten, daß die Durchfälle zu den lustigsten, die allgemeinste Heiterkeit unterhaltenden Episoden gehören. Von allen diesen Bedingungen, Vorkehrungen und Inconvenienzen hat unser zehntausend Fuß hoher Piz Ot nicht die Spur. Man braucht bei ihm nicht, wie bei den andern hohen Alpen-Magnaten, stundenlang auf Schnee und Eis zu antichambriren, ehe man in das Allerheiligste der Pracht- und Wunderwelt eingelassen wird. Einfach, gerade und biderb, aber auch ein wenig rauh, wie eine echte, urchige Bündner Natur, steht er da. Er macht nicht viel Wesens, es bedarf keiner besondern Einführungs-Weitläufigkeiten; selbst den des Steigens ungewohnten Flachlandssohn läßt er leicht auf gänzlich unbeschwerlichem Wege bis an die Sockel seines Felsenschemels herankommen, und dann ruft er dem ihn besuchenden Fremdling zu: „Jetzt, Bursch, wenn du Courage hast, versuch’s, komm herauf zu mir; der Lohn für dein Mühen soll dir werden.“
Und das ist’s, was den Piz Ot vor Tausenden seiner Commilitonen auszeichnet. Dadurch, daß er von dem Ober-Engadin, einem der am höchsten gelegenen bewohnten Thäler Europa’s, aus erstiegen wird, hat man von Samaden (5360 Fuß überm Meeresspiegel), dem schönen, großen, reichen Dorfe, in dem man übernachtet, nur noch 4640 Fuß eigentlich zu steigen, also etwa so viel wie von Wäggis am Vierwaldstätter See bis auf den Rigi. Wer diese zuletzt genannte, weltbekannte Favorit-Bummel-Promenade gemacht hat, weiß, wie wenig dies besagen will. Auch nicht mehr als vier Stunden Zeit, gerade wie auf den Allerwelts-Rigi, braucht man von Samaden bis den Gipfel des Piz Ot, und der ganze an großartigen, mächtig sich aufdrängenden Eindrücken so überreiche Weg ist für den, der nicht gar zu sehr Stuben-Pantöffler ist, so recht eine Partie, die ganz in den mittleren Kräften liegt.
Freilich muß der Piz Ot-Gänger Einer sein, der ein wenig frisch in die Welt hinauszusehen gewohnt ist, – dem die märchenhafte Herrlichkeit unseres Hochgebirges, die wir alte Bursche jubelnd anjauchzen wie die kleinen Schulbuben, während uns die Augen voll Thränen stehen und das Herz puppert und stößt, als ob es aus seinem Brustkämmerlein heraushüpfen möchte, – freilich muß es Einer sein, sage ich, dem der Kopf nicht schwindelt ob alle dem, was da rundum sich aufbaut. Denn mit dem Wege da hinauf hat’s folgende Bewandniß:
Drunten in Samaden haben wir in dem kleinen, nur über vier freundliche Zimmerchen gebietenden, aber ungemein heimlichen Gasthofe zum Piz Ot bei Herrn Bernhard logirt. Das Mamachen hat in gewinnender, ruhiger Freundlichkeit Alles aufgeboten, was Küche und Keller vermögen, um von ihren Gästen mit einem anerkennenden Händedruck erfreut zu werden, und Meister Bernhard, der seines Zeichens eigentlich ein Giftmischer und Pillendreher, vulgo Apotheker ist, daneben aber famose Veltliner Weine conservirt, in seinen Mußestunden recht frisch hervorquellende Gedichte improvisirt und nur nebenbei Gastwirth zu sein scheint, hat dem altehrwürdigen Papa Krätli, dem hochgewachsenen, mit seinem langen grauen Barte einem Alpengeiste gleichenden Botaniker in Bevers (eine halbe Stunde von Samaden), es wissen lassen, daß wieder Bergsehnsüchtige aus der Ferne da sind, und siehe, der gute treue Alte hat sich eingestellt, uns zu begleiten. Denn ihm macht’s Freude, wenn er sieht, wie die zu seinem Herzen, zu seinem Leben gehörenden Alpen auch Andere mit Begeisterung erfüllen.
In schweigender Nacht sind wir ausgewandert. Rings hehre heilige Stille unter dem funkelnden Sternenheere. Nur fernher braust’s von dem zu einem allgemeinen, großen, unbestimmten Naturlaute ineinander zerfließenden Rieseln und Schäumen und Plätschern der Bergbäche, die dem Innstrome zueilen; das Wehen des frühen Morgenwindes durch die Wipfel der Arven und Lärchen mischt sich darein und umhüllt jedes einzeln sich hervordrängen wollende Rauschen mit seinen linden, leisen Accorden. So geht’s hinauf durch thaubenetzte Bergwiesen, am einsam liegenden, uralten St. Peterkirchlein vorüber, in dessen Mauermarken die zur großen Friedensheimath eingegangenen Bewohner von Samaden den Todesschlaf schlummern. Horch! Glockengeläute unterbricht das große Schweigen. Es ist 3 Uhr; der Thurmruf mahnt das Volk, in die oft stundenweit entfernten Heuwiesen zum Mähen zu gehen. Drüben überm Piz Mezzem und tiefer hinein, ob den Bergen des Unter-Engadins, dämmert’s hell am Horizonte auf. Wir steigen immer leicht bergan. Nun nimmt uns Waldung auf, und längs einer Schlucht windet der immer erkennbarer werdende Pfad im Zickzack sich empor. Ein leuchtend schöner Tag ist im Anbruch; denn im Osten zieht’s durchsichtig purpurn auf und sendet seine Lichtströme immer weiter herauf durch die unendlichen Räume des Universums, daß der Sterne blitzendes Feuer ermattet. Kein Wölklein hemmt den freien vollen Ausstrom von Lucifers flammender Fackel; nur leichte Nebelflaggen zerflattern da und dort an den Felsenspitzen und Firnzinken. Nun, nach etwa dreiviertelstündigem Wandern haben wir die Baumregion schon unter uns, ein Zeichen, daß wir in einer Höhe von mehr als 6000 Fuß weilen. Jetzt Halt! ein Augenblick der Rast, – des Schweißabtrocknens, – der erste Rückblick und der erste Jubelruf aus Aller Munde; denn drüben an dem Riesenbau der Bernina hat die Sonne die höchsten, blendend weißen Spitzen mit ihren Strahlen vergoldet, während drunten das Thal noch im bläulichen Morgenschatten schlummert.
Am Wege eine Schäferhütte. Der borstbärtige Insasse, wohl ein Bergamaske, durch seines Hundes Ruf unter die Thür gelockt, mag am Polenta-Kochen oder am Milchgeschäfte sein; denn aus den Fugen des rohen Steingemäuers dringt träg emporsteigender Rauch hervor. Die Alpenregion beginnt, so zeigen es uns die kleinen zierlichen Pflänzchen an. Die Flora dieses Weges ist weit [831] reicher, farbiger, vielgestaltiger, als jene am Piz Languard, dem gegenüberliegenden Concurrenten des Piz Ot. Drüben bei jenem ist’s bis hinauf Granit-Terrain, hier Kalkboden und erst weiter droben krystallinisches Gestein. Die Alpenpflanzen aber sind kleine eigensinnige Starrköpfchen, nichts weniger als kosmopolitische Weltbürger. Die Auswanderungssucht ist noch nicht in sie gefahren, und urpatriotisch gedeihen sie nur da, wo ihre eigenste Heimath, ihr rechter Grund und Boden ist. Da wuchert die schwarze süßliche Rauschbeere in miniatur-strauchartiger Form, ein kleiner Gerngroß, den aber die halbjährige Schneelast darniederhält. Daneben Senecio abrotanifolius[WS 1], mit seinen goldlack-gelben Blüthensonnen an Crepis aurea erinnernd. Dann Ranunculus parnassifolius und Arabis caerulea, sowie Dianthus glacialis und Viola calcarata, lauter Pflänzchen, die, in Verbindung mit den noch später zu nennenden, den Botaniker wohl reizen können, eine Wanderung zum Piz Ot zu unternehmen.
Nun biegt der Weg links ein, um den seltsam zerklüfteten Piz Padella herum. Drüben, uns zur Rechten, wächst ein sonderbar gestaltetes Felsengemäuer empor, die Cima da Spignas, vom Volke auch Chaste, d. h. Burg, genannt. Und in der That, je weiter wir kommen, desto mehr gleichen die scharfkantig abgeschnittenen, geradlinig gezackten Kalkmauern einem thurmreichen, zinnengekrönten Ritterschlosse aus alter Normannenzeit, das wie gefeiet und verfehmt hier oben, in der nun beginnenden Steinwüstenei, der Erlösung harrt. Denn mit jedem Schritt, den wir tiefer in das hier sich öffnende Hochthal eindringen, wird die Scenerie wilder, seltsamer, abenteuerlicher. Soweit das Auge umherschweift, allüberall begegnet es Merkmalen schrecklicher Zerstörung und Verwüstung. Alles ist Ruine, Ueberbleibsel einst noch größerer Verhältnisse, hier durch Frost und Wetter zerfressen und abgesprengt, dort durch Lawinenstürze zur glatten grauen Böschung umgewandelt. Auch die Vegetation schrumpft immer niedriger zusammen und zeigt sich nur noch höchst sporadisch; reizende Androsaceen, Saxifragen grüßen mit ihren porcellan-weißgelblichen Blüthensternchen, und Geum reptans, Phyteuma pauciflorum und die am Boden kriechende Sibbaldia (procumbens) lauschen zwischen dem Trümmergestein hervor.
Allmählich wendet sich der Pfad. Im Hintergrunde dieser großartigen Einöde rückt allmählich neben dem Kamme von Spignas ein Felsenkoloß hervor, senkrecht abfallend, mehrere tausend Fuß aufragend, dem Anscheine nach unerklimmbar. „Da ist er!“ ruft Papa Krätli und deutet auf den Piz Ot. Es ist der Standpunkt bei der Fontana fredda (kalte Quelle, die mit nur 2° Réaum. Temperatur unter einem gewaltigen Granitblock hervorquillt), von welchem unsere Zeichnung aufgenommen wurde. „Da hinauf geht’s?“ fragt Jeder ungläubig. Ja, prächtig, lustig geht’s hinaus. Früher war’s freilich ein Wagestücklein, zu dem ganz erprobte Alpengänger gehörten. Seit jedoch die Samadener mit Kostenaufwande von einigen Tausend Franken den Felsen aussprengen und treppenförmig Steine legen ließen, da wandert sich’s so gemächlich und sicher dort hinauf zu der 10,000 Fuß hohen Warte wie auf den Mailänder Dom oder den Straßburger Münster.
Hier wartet des Wanderers auf dem nun über rauhe Platten an der Cresta naira (dem Vorkopf des Piz Ot) sich emporwindenden Wege eine neue Ueberraschung. Man kann wochen- und monatelang in den Alpen reisen, einsame Bergthäler besuchen, wenig begangene Pässe überschreiten und doch nicht ein einziges Mal die Genugthuung haben, eines der vornehmsten Alpen-Attribute, ein Gemsthier, gesehen zu haben. Hier am Piz Ot ist’s keine Seltenheit auf Gemsen zu stoßen. Noch öfter erblickt man Schnee- und Steinhühner und zwar in solcher Nähe, daß man hinter denselben herläuft und sie mit dem Alpenstock todtschlagen zu können glaubt, da ihr Lauf schwerfällig und ihr Flug niedrig und unbeholfen ist.
So geht’s im treppenförmigen Zickzack zur Cresta naira hinauf. Links baut sich der verwitterte, höchst wunderbar ausgezackte Felsenkamm der „trais Sruors“ (drei Schwestern) auf, aus deren phantastischen Verwitterungs-Gebilden besonders zwei sofort die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Das Volk nennt sie Fra Scala und Donna Lucrezia; und wirklich sehen beide wie mittelalterlich costümirte menschliche Figuren aus, Reminiscenzen an Mönch und Nonne zunächst der Wartburg, nur ausgeprägter und bestimmter in den Formen, so daß wenig Spiel der Phantasie dazu gehört. Bald darauf erreicht der hochaufathmende Wanderer einen Prachtaussichts-Punkt „alla veduta della Bernina“ genannt. Hier überblickt man zum ersten Mal über den Kamm des Piz Padella mächtig herauswachsend das kolossale, über und über mit Firn bedeckte Bernina-Massiv mit allen seinen Spitzen, Gräten, Zacken und Ausgipfelungen. Doch wir sättigen uns noch nicht an diesem auf Abschlag gegebenen Partial-Panorama; wir behalten uns den ganzen Vollgenuß vor. Jetzt gilt’s nun kniefest und frischen Auges, behenden, rasch auswählenden Trittes vorwärts zu dringen. Denn es kommt die letzte, etwa eine Stunde beanspruchende Erklimmungstour des eigentlichen Piz Ot-Obelisken. Wer am Schwindel leidet, mag hier seinen Führer immer zur Handhülfe bereit haben; schwindelfreie Touristen steigen so fröhlich, so sicher, so unbehindert über den treppenförmigen Pfad hinauf, daß sie überrascht sind, wenn man ihnen zuruft: „Noch fünf Minuten, dann ist’s gewonnen.“
Und endlich, endlich ist’s gewonnen, das hohe, herrliche Wanderziel; endlich stehen wir droben auf dem halbmondförmig gebogenen, für mehr als vierzig Personen Raum gebenden Gipfel, und unter uns ausgebreitet liegt, gleich einem im wildesten Wogen-Aufruhr versteinerten Meer, die unendliche, prachtvolle Alpenwelt. O, was ist alle Menschenmacht und alle durch Menschenhand und Menschenfleiß geschaffene Größe und Majestät gegen diese unerreichbare Natur-Erhabenheit, von welcher der, der sie noch nie zu sehen Gelegenheit hatte, sich wohl kaum einen Begriff zu bilden vermag!
Ich breche ab, denn mir fehlen Worte, um den gewaltigen Eindruck nur einigermaßen annähernd zu schildern. Das bekenne ich offen, ich habe mit diesem Artikel Propaganda für einen der herrlichsten Aussichtspunkte unseres Alpenlandes machen wollen, Propaganda im Interesse der Touristen-Welt selbst. Vielleicht begegnen wir uns, lieber Leser, nächsten Sommer droben auf dem schönen, schönen Piz Ot!
Blätter und Blüthen.
Leipziger Erinnerungen. Nr. 1. Es war an einem Sommervormittage des Jahres 1833, als in das Lesezimmer des Leipziger literarischen Museums, welches damals im ersten Stockwerk des neben Auerbach’s Keller gelegenen Hauses befindlich und dem Buchhändler Reclam gehörig, ein nicht zu großer, aber ziemlich wohlbeleibter Herr mit gutmüthigem Gesicht trat und, ohne von den am großen, mit grünem Tuch behangenen ovalen Lesetisch versammelten Museum-Stammgästen irgend weiter Notiz zu nehmen, am kleinen Tisch am Fenster Platz nahm und sich sofort in die Zeitungen vertiefte.
Die damaligen Besucher des literarischen Museums, die sich fast täglich zu einer bestimmten Stunde des Vormittags oder am Spätnachmittage am großen Tische zusammen fanden, waren sich einander persönlich so bekannt, daß die Erscheinung eines Fremden stets die Aufmerksamkeit des Stammtisches auf sich zog. Zu den hervorragendsten Persönlichkeiten dieses Stammtisches gehörten damals der in Leipzig seit einer langen Reihe von Jahren wohnhafte Prinz von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augusteburg Emil, ein ebenso humaner wie gebildeter und sich für die Tagesereignisse sehr interessirender alter Herr, der nur die für uns andern Leser etwas störende Angewohnheit hatte, daß ihm Hamann, der Museumdiener, die neuangekommenen Zeitungen jedesmal zuerst bringen mußte. Das hätte sein mögen, wenn Se. Durchlaucht, so wurde der Prinz genannt, sofort zur Lectüre der neuen Zeitungen übergegangen wäre; aber nein, erst wurde die bereits in der Hand befindliche Zeitung gelesen und die Neulinge gleichsam als Reserve darunter versargt. Spazier, der bekannte Polenfreund, ebenfalls ein Museenbesucher, sprach sich einmal ziemlich ungenirt über diese zeitweilige Confiscation aus. Neben dem Prinzen, der am oberen Ende der Tafel seinen Platz hatte, saß Professor Traugott Krug, der Philosoph, der mit Sr. Durchlaucht sehr befreundet schien. Anderweitige Stammgäste waren: der Professor Bülau, der Herausgeber der Pölitzischen Jahrbücher, stets sehr schweigsam und immer lesend; der für die Wissenschaft viel zu früh durch den Tod entrissene Prof. Richter, eine der liebenswürdigsten Persönlichkeiten; dann ein damals sehr radicaler Geschichtsschreiber aller Revolutionen, jetzt Mitarbeiter einer sehr conservativen Zeitung –; ferner Friedrich Gleich, der Herausgeber des „Eremiten“, nächst der Zwickauer „Biene“ damals das einzige sächsische Oppositionsblatt; der als freisinniger Publicist nicht unbekannte Dr. Hermes, der bereits erwähnte Dr. Spazier, der durch seine ultramontanen und absolutistischen Gesinnungen in Leipzig bekannte Dr. d’Alnoncourt, der Buchhändler Molbrecht und einige Kaufleute. Auch Ernst Ortlepp, damals eine recht geachtete Persönlichkeit, und Schreiber dieses erschienen oft auf dem Museum. Sobald die Stammgesellschaft Vormittags zwischen 11 und 12 Uhr beisammen war, wurde die lex regia eines Lesemuseums, [832] das „Schweigen!“ nicht immer gewissenhaft beobachtet. Fand der Eine oder Andere irgend eine interessante Notiz, so wurde sie mitgetheilt; ja, zuweilen entspann sich selbst politische Discussion, wo die sich entgegenstehenden Principien ihre Vertreter fanden. Spazier stand bei solchen Gelegenheiten stets auf der äußersten Linken. Ueberhaupt gerirte sich dieser auch in seiner äußern Erscheinung als Radicaler, wie die Demokraten damals genannt wurden. Spazier legte keinen besondern Werth auf die übliche gesellschaftliche Form und breitete sich, wenn Platz war, aus Bequemlichkeit mit dem halben Leibe über den Lesetisch. Er stand daher als Politikus, wie als Mann von feiner Sitte, bei den conservativen Elementen des Lesetisches nicht eben in besonderer Gunst. Der Professor Krug liebte es, seine Anschauungen über schwebende politische Fragen durch Broschüren der Öffentlichkeit zu übergeben. Diese Anschauungen waren aber in der Regel der Art, daß sie bei den liberalern und namentlich jüngern Politikern wenig Anklang fanden. Als sich daher Krug eines Tages eine Notiz auf ein Zettelchen schreiben wollte, stieß er aus Versehen das Tintenfaß um, so daß die schwarze Fluth die grüne Ebene überschwemmte. Spazier brummte ziemlich verständlich: „Er kann die Tinte nicht halten!“
Als der im Eingang erwähnte mittelgroße wohlbeleibte Herr mit dem gutmüthigen Gesicht am andern Tage zur selbigen Stunde wieder erschien und seinen Platz am Fenster einnahm, wandte sich der Kopf des Prinzen Emil zu Krugen und schien etwas zu fragen, worauf der Philosoph sein Haupt schüttelte. Auch Hamann, vom Prinzen später befragt, wußte keine Auskunft über den Fremden zu geben, da dieser sich nicht die Mühe genommen, seinen Namen in das Fremdenbuch einzuschreiben. Am dritten Tage endlich ward Licht. Der sehr sommerlich gekleidete Herr in gelben Nankinghosen war Niemand anders, als der aus den parlamentarischen Zeiten der zwanziger Jahre her bekannte würtembergische Abgeordnete und gegenwärtige nordamerikanische Consul, der Nationalökonom Friedrich List. Die conservativen Persönlichkeiten am Lesetische erinnerten sich jetzt mit bedenklichem Kopfschütteln, daß List wegen politischer Wühlereien, wie sie es nannten, in Würtemberg in Untersuchung gewesen, ja selbst auf dem Hohenasperg gesessen und später nach Amerika ausgewandert sei. Da indeß die Bestrebungen dieses Mannes in neuerer Zeit allein auf National-Oekonomie gerichtet waren, und er zugleich als Consul eine Art officielle Stellung bekleidete, gab man sich der Hoffnung hin, daß List von seinen früheren politischen Ausschweifungen curirt sei. Er ward darum bald, zumal er recht interessant von Amerika zu erzählen wußte, selbst in den conservativen Kreisen der Museenbesucher eine nicht ungern gesehene Persönlichkeit, wenn auch Mancher zuweilen den Kopf schüttelte, sobald List sich über deutsche Zustände mit rückhaltloser Offenheit aussprach.
Noch mehr aber gewann List an Interesse, als er mit seiner Idee, Leipzig und Dresden durch eine Eisenbahn zu verbinden, hervortrat und dieselbe in einer Schrift: „Das sächsische Eisenbahnsystem als Grundlage eines deutschen Eisenbahnsystems“ eines Weiteren entwickelte. Kein Tag verging, wo nicht diese Frage auch im Lesemuseum in Gegenwart von List selbst verhandelt wurde. Alle damals im Publicum gegen eine Eisenbahn zwischen Dresden und Leipzig anstrebenden kleinbürgerlichen Bedenklichkeiten und Engherzigkeiten fanden auch auf dem Museum ihre Vertreter, und der gute List hatte die unsäglichste Mühe, diese Eisenbahnwidersacher eines Besseren zu belehren, indem er ihnen die Sache so klar wie immer möglich auseinander setzte. Doch stand auch ein nicht unansehnlicher Theil der Stammgäste, namentlich der jüngeren Generation angehörig, auf der Seite List’s, da man die Großartigkeit und den praktischen Nutzen einer solchen Bahn einsah und anerkannte.
Die Hauptsachen, um die es sich vorzüglich handelte, waren natürlich der Kostenpunkt und die Rentabilität einer solchen Bahn. Ja, hieß es, die Engländer können wohl Eisenbahnen bauen, die haben das Geld dazu; wo soll aber solches bei uns armen Deutschen herkommen? Und selbst wenn die enorme Summe beschafft würde, wo ist nur die entfernte Aussicht vorhanden, eine dereinstige Verzinsung zu erlangen? Die Paar mit Post- und Lohnkutschen zwischen Leipzig und Dresden hin und wieder Reisenden sind ja nicht der Rede werth.
Vergebens wies List nach, daß, sobald eine Eisenbahn in’s Leben träte, die Erfahrung hinreichend lehre, wie sich der Personenverkehr um das Fünf- und Sechsfache erhöhe. Er machte ferner auf den so wichtigen Gütertransport aufmerksam; half Alles nichts, immer dasselbe ungläubige Kopfschütteln.
„Wie lange soll denn wohl eine solche Fahrt von Leipzig nach Dresden dauern?“ frug eine Stimme.
„Drei bis vier Stunden,“ antwortete List.
„Gerechter Himmel!“ rief ein Anderer, auf dessen Brust es nicht ganz richtig war; „das geht so rasend schnell, daß man nicht wird Athem holen können!“
Ein neuer Uebelstand, an den bis jetzt noch Niemand gedacht hatte!
„Bei solcher ungeheurer Schnelligkeit,“ bemerkte ein Dritter, „müssen die Achsen glühend werden und in Rauch und Flammen aufgehen!“
„Bei einer Schnelligkeit von fünf Meilen die Stunde gewiß nicht,“ tröstete List.
„Und wie steht’s mit dem Fahrgelde?“ erkundigte sich ein Vierter, der stets mit der Eilpost nach Dresden fuhr und für seinen Platz fünf Thaler bezahlte.
„Je billiger, desto besser für die Rentabilität,“ erwiderte List. „Wenn die Leipzig-Dresdner Eisenbahn,“ fuhr er fort, „das wird, was sie sein soll, muß die Person für einen Thaler hin und zurück befördert werden. Für jeden Handwerksburschen muß es billiger sein, mit der Eisenbahn zu fahren, als zu Fuße zu gehen.“[4]
In drei bis vier Stunden für einen Thaler von Leipzig nach Dresden und zurück, das war ein Gedanke ebenso verlockend wie unglaublich.
„Die vierzigtausend Leipziger,“ ließ sich ein anderweiter Sicherheits-Commissarius vernehmen, „werden sich aber trotz der Billigkeit und Schnelligkeit bald satt gefahren haben.“
„Vierzigtausend Leipziger?“ rief List mit erhobener Stimme. „Sobald sich die Nachbarstaaten anschließen, muß Leipzig von Beendigung der Bahn an in anderthalb Jahrzehnt Achtzigtausend haben.“[5]
Wieder ziemlich allgemeines Kopfschütteln.
Indeß die durch List einmal angeregte und mit allem Aufgebote seiner Kräfte, Ausdauer, Beharrlichkeit und Selbstverleugnung, die alle Bewunderung verdiente, geförderte Idee gewann immer mehr Boden, so daß in nicht zu langer Zeit eine Actiengesellschaft – die Actie mit zwei Thaler Anzahlung – zusammentrat und drei Jahre später, am Morgen des 24. Aprils 1837, der erste Personenzng aus dem Bahnhofe zu Leipzig brauste. Leipzig hat jetzt, wie List vorausgesagt, achtzigtausend Einwohner.
Wann wird auf deutschen Eisenbahnen List’s andere Prophezeiung in Erfüllung gehen? Sollen die Directionen an die Resultate der englischen Briefportoermäßigung fort und fort erinnert werden?
- ↑ Vulgäre Bezeichnung für: deutsch
- ↑ „Was sagt der Mann?“
- ↑ Unter diesem Titel wird der nächste Jahrgang unserer Zeitschrift aus der Feder des bekannten Schweizerführers eine Reihe landschaftlicher
Skizzen mit Abbildungen bringen, die wir unsern Lesern im Voraus auf das Angelegentlichste empfehlen. Berlepsch, dessen frische, wahre und geistreiche
Schilderungen in den letzten Jahren so großen Anklang fanden, lenkt in diesen Skizzen die Aufmerksamkeit aller Reisenden auf einzelne noch
wenig bekannte Punkte des Schweizerlandes hin und erwirbt sich dadurch ein neues Verdienst. Ein von dem geehrten Verfasser als Einleitung zu
diesem Artikel beigegebenes interessantes Vorwort müssen wir des fehlenden Raumes wegen für den nächsten Artikel versparen.
D. Red.
- ↑ List’s eigene Worte.
- ↑ Ebenfalls List’s Worte.
Mit dieser Nummer schließt das vierte Quartal und der zehnte Jahrgang unserer Zeitschrift. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das erste Quartal des neuen (elften) Jahrgangs schleunigst aufgeben zu wollen.
Nachdem wir den jetzigen Jahrgang mit einer Auflage von 120,000 Exemplaren begonnen – das erste Beispiel einer solchen Verbreitung – sind wir heute, nachdem sich der Absatz im Laufe des Jahres auf 138,000 erhoben, in den Stand gesetzt, den neuen Jahrgang mit einer Auflage von
zu eröffnen. Es bedarf wohl nicht unserer wiederholten Versicherung, daß wir in dieser einzig dastehenden Sympathie der deutschen Lesewelt nur die bestimmte Aufforderung finden können, unsere bisherigen Bestrebungen und Tendenzen treu weiter zu verfolgen und so die gute Sache und den guten Geschmack auf jede Weise zu fördern.
Außer den trefflichen Beiträgen eines Bock, Carl Vogt, Schulze-Delitzsch, B. Auerbach, Beta, Ad. Stahr, Max Ring, L. Storch, Fr. Oetker, G. Hammer, Otto Müller, Ed. Hoefer etc. etc. kommen im nächsten Quartal zum Abdruck:
Die Tochter des Fälschers. Nach dem Leben, von Carl Heigel (Verfasser der „Marfa“) – Almenrausch und Edelweiß. Erzählung aus dem Hochgebirge, von Hermann Schmid – Die Herzogin von Berry. Historische Erzählung, von Claire v. Glümer – Novellen von Lev. Schücking, Otto Ruppius und Temme – Erinnerungen an Ludwig Uhland, von Prof. Vischer in Zürich – Aus Graubündens Hochalpen, von H. A. Berlepsch. Mit Abbildungen – Am Nordcap. Reise-Erinnerung von Carl Vogt in Genf. Mit Abbildung – Die letzten Tage des deutschen Parlaments, von Mor. Hartmann – Zwei Dichter und ein Dichter-Asyl, von Ludwig Storch. Mit Abbildung – Ein unaufgelöstes Räthsel, von Wallner – Ritt durch Island, von Carl Vogt in Genf – Der Stiefel. Eine beinliche Abhandlung. Mit Abbildung – Die Gründung der preußischen Landwehr, von Ferd. Pflug. Mit Adbilduug – Persische Turner, von Haentzsche. Mit Abbildung – Bilder von der rothen Erde – Wandernde Künstler. Mit Abbildung, von Leutemann – Des Freiherrn von der Trenck letzte Stunden. Mit Abbildung – Körner’s Leyer und Schwert. Ungedruckte Mittheilungen dreier Zeitgenossen Körner’s. Mit Abbildung – Fürst Suwarow, der Freund des Kaisers und des Volkes. Mit Abbildung – Friedrich Rückert in Neuseß, von Fr. Hofmann. Mit Abbildung – Leibnitz und die Stiftung der Berliner Akademie, von Max Ring – Eine Erinnerung an Nicol. Lenau. Mit Abbildung, von Herb. König – Das Frühlingsleben des Meeres, von Ernst Hallier – Die granulöse Augen-Entzündung – Aesthetische Briefe für’s Haus, von Lauckhard – Unterofficier Jahn. Eine Militärskizze – Die Strafrechtspflege Sonst und Jetzt – Die geschichtlichen Helden der deutschen Dichter. Nr. 2. Mit Abbildung – Das Haus zum guten Hirten, von G. Rasch – Der Düsseldorfer Malkasten – Aus dem Norden: Lämminge, von Alfred Brehm.
Auch die
werden fortgesetzt.
Leipzig, im December 1862.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Senecio obrotanifolius