Die Gartenlaube (1862)/Heft 50
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No. 50. | 1862. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.
Eine Speculation.
Eine Zeitlang noch stand vor Behrend’s Gedanken das zufällig belauschte Gespräch, das irgend ein lichtscheues Unternehmen verrieth, ohne daß doch der junge Mann über die Natur desselben mit sich hätte einig werden können; als er aber in die nächste sich öffnende breite Straße einbog, um nach seinem Hotel zu gelangen, traten seine eigenen Angelegenheiten wieder vor seine Seele. Daß er jetzt an der Landung gestanden, in der Dunkelheit versuchend, die unten liegende „Lilly Dale“ aus dem Gewirre der übrigen Dampfboote herauszufinden, war das Ergebniß eines Tages voll erregter Hoffnungen und immer aufs Neu folgender bitterer Enttäuschungen. Er war nirgends, wohin ihn seine Empfehlungsbriefe geführt, mit Unfreundlichkeit oder auch nur mit Kühle empfangen worden; es waren jedenfalls warme Worte, durch welche sein New-Yorker Principal ihn eingeführt, denn man hatte sich sichtlich für sein Unterkommen interessirt; und waren auch die Geschäfte, an welche er adressirt worden, bereits überall besetzt, so wurden ihm doch eine Reihe neuer Adressen mit der nöthigen Empfehlung aufgegeben; ja Einer der Principale war sogar persönlich zu verschiedenen seiner Geschäftsfreunde mit ihm gegangen; aber immer war das Endresultat aller Nachfragen und Bemühungen gewesen, daß, wenn Behrend einige Wochen warten könne, sich jedenfalls etwas für ihn finden werde, daß aber bei der Menge junger Kaufleute, welche seit der Krisis im Osten St. Louis heimgesucht, sich für den Augenblick kaum ein Engagement werde erzwingen lassen. Warten aber konnte Behrend nicht mehr, er hatte es zu lange für seine Geldmittel in New-York und Cincinnati gethan. Als er nun bei dämmerndem Abend, ohne sich eines stillen Drucks ganz erwehren zu können, den Weg nach seinem Hotel eingeschlagen, hatte er neben einem der gebräuchlichen Lastkarren, die Peitsche in der Hand, eine Figur erblickt, deren er sich, wenn auch in besserem äußerlichen Zustande, aus seinen New-Yorker Kreisen zu erinnern gemeint, und sein zweifelnder, starrer Blick hatte auch sofort bei dem Beobachteten eine lachende Begrüßung hervorgerufen. Wenige Worte der folgenden Erklärung waren hinreichend gewesen, um in Behrend jede etwa noch wache Illusion über seine Aussichten zu zerstören. Der jetzige Karrenführer und vormalige Handlungsbeflissene, der ebenfalls mit den besten Empfehlungen St. Louis betreten, hatte sich so lange mit der Hoffnung auf eine passende Stelle getröstet, bis ihm Geld und Credit zu Ende gegangen und er, um nicht zu verlumpen, die nächste sich ihm bietende Beschäftigung angenommen hatte. Man kannte in der kaufmännischen Welt den Fall und rechnete es dem jungen Manne zur Ehre an, daß er zu anderer Arbeit gegriffen und nicht, wie ein großer Theil der übrigen Beschäftigungslosen, sich auf schlechtes Schuldenmachen gelegt. Er hatte jetzt selbst den Plan, nach New-Orleans zu gehen und dadurch auf jede Gefahr hin sich seiner Lage zu entreißen, aber noch waren seine neuerworbenen Mittel zur Reise nicht hinreichend. – Nach einem gemeinschaftlichen Schlucke im nächsten Trinklocale hatten sich endlich Beide getrennt, und Behrend war nach einer kurzen Wanderung durch die bereits dunkeln Straßen zu dem Entschlusse gelangt, keinen Tag länger hier sein Geld unnütz zu verzehren und sich auf kürzestem Wege, am Flusse selbst, nach dem nächsten abgehenden Dampfschiffe zu erkundigen. So war er nach der Landung gekommen, wo ihm die Frachtgüter auf dem von ihm eingeschlagenen Wege einen Halt zu besserer Orientirung geboten hatten. –
Als Behrend eine Stunde später sein Bett gesucht hatte und noch einmal die Erlebnisse des Tages an sich vorüberziehen ließ, wollte ihm die Begegnungsweise des alten Peters unter den obwaltenden Verhältnissen fast in einem milderen Lichte erscheinen; und wenn er auch nach den fehlgeschlagenen Versuchen zu seinem Unterkommen dessen Geschästslocal am wenigsten noch aufsuchen mochte, um nicht in den Verdacht zu gerathen, als hoffe er zuletzt noch auf eine Art Barmherzigkeitshülfe durch ihn, so wollte er doch der Schicklichkeit genügen und einen Besuch in dessen Privatwohnung machen. Ließ sich die Tochter sehen, so hoffte er wenigstens den Eindruck bei ihr zu verwischen, den er bei seinem ersten Auftreten als unglücklicher Beschäftigung Suchender auf sie gemacht haben mochte; nahm sie indessen seinen Besuch nicht an, was sich bei der Weise, in der sie ihn am Morgen verabschiedet, auch erwarten ließ, so konnte er damit sein Urtheil über diese Leute vervollständigen. Trotz der Ruhe indessen, mit welcher er sich den letzten Gedanken vor die Augen zu stellen suchte, überschlich ihn doch auf’s Neue das Gefühl von innerer Wundheit, welches er am Morgen nach dem ersten Empfange gehabt – das war dasselbe kleine Mädchen, das so oft nach „dem Joseph“ gerufen, wenn irgend eine Schwierigkeit bei einem unternommenen Spiele zu beseitigen war, oder eine vermeintliche Gefahr durch einen fremden Hund oder einen frechen Bettelbuben sich zeigte; es war sonderbar, wie treu mit einem Male alle diese längst untergegangenen Erinnerungen wieder in seiner Seele aufstiegen – und als er nach geraumer Weile aus einem Halbschlummer, der ihn überkommen, auffuhr, betraf er sich auf so wunderlichen, schon halb zum Traum gewordenen Phantasiebildern von seltsamen Genugthuungen, die sich sein Stolz ihr gegenüber schuf, von denen aber dennoch jede ihm das eigene [786] Herz zerschneiden wollte, daß er, unwillig auf sich selbst, sich auf die Seite warf und mit Vorstellungen seiner künftigen Wirksamkeit unter Cholera und gelbem Fieber seinen Gedanken einen neuen Weg wies. –
Es war am nächsten Morgen nach elf, als Behrend, nachdem er sorgfältig Toilette gemacht, sich zu dem einzigen Abschiedsbesuche, den er für nöthig fand, anschickte. Sein Koffer stand bereits neu gepackt und geschlossen. In den Frühstunden war er am Bord der „Lilly Dale“ gewesen, um sich über die genaue Abfahrtszeit zu unterrichten, hatte hier die neue Ladung beinahe schon völlig eingebracht gefunden, und der „Office-Clerk“ hatte es für möglich gehalten, daß das Boot bereits am Spät-Nachmittag seine Reise antrete, da es nur noch auf die geringe Vervollständigung seiner Fracht warte und sich nicht durch Einhalten einer bestimmten Abfahrtszeit nach den wenigen Passagieren, welche um diese Jahreszeit stromabwärts gingen, richten könne. Der junge Deutsche hatte also beschlossen, sobald er seine letzte Pflicht in der Stadt erfüllt, das Hotel zu verlassen und sich ohne Weiteres an Bord zu begeben.
Der Wohnungs-Anzeiger hatte ihn für seinen Besuch nach einer der fashionablen Straßen der Nordseite gewiesen, und nach kaum viertelstündigem Gange befand er sich einem bronzenen Gitter gegenüber, welches an seinem Eingange die angegebene Hausnummer zeigte und eine kleine geschmackvolle Gartenanlage, sowie das im Hintergründe befindliche villaähnliche Gebäude von der Straße abschloß. Ein Kiesweg führte ihn zwischen zwei riesigen Schattenbäumen nach dem von Säulen getragenen Portico, und nicht ohne ein leicht bedrückendes Gefühl der eigenen Unbedeutendheit diesen sichtlichen Zeichen des Reichthums gegenüber zog er die Klingel. Eine sauber gekleidete Negerin öffnete und wies ihn auf die Frage nach Miß Peters, seine Karte in Empfang nehmend, in den hohen Parlor, in welchem die zugezogenen schweren Damastgardinen ein wohlthuendes halbes Dämmerlicht geschaffen hatten. Eine eigenthümliche Spannung ließ den jungen Mann kaum einen Blick auf die reichen Umgebungen werfen; noch wußte er nicht, welchen Empfang er finden werde, und fast unwillkürlich waffnete er sich mit dem eigenen Stolze gegen Alles, was ihm die nächsten Minuten bringen konnten; er ward indessen ohne langes Harren seiner Ungewißheit entledigt. In der Vorhalle rauschten Frauengewänder, und die hohe, leichte Gestalt von Ellen Peters trat ein, wandte sich nach dem Fenster, um einen der Vorhänge zurückzuschlagen, und hob dann erst die Augen nach dem jetzt im vollen Lichte Stehenden. Es war ein wunderbar ernster, prüfender Blick, welcher den jungen Mann traf, und einen Augenblick fühlte sich dieser von der Erscheinung des Mädchens, welche, jetzt vom Hute und der frühern Umhüllung befreit, in der Fülle des dunkeln, glänzenden Haares und dem modernen, eng an die weichen Formen des seinen Oberkörpers sich anschließenden Jäckchen, eine völlig veränderte für ihn war, fast der errungenen Sicherheit beraubt; als sie aber mit einem leichten englischen: „Setzen Sie sich, Sir!“ nach dem nächsten Stuhle wies, ließ die kalte Ruhe ihres Tons ihn schnell seine Haltung wiedergewinnen.
„Ich komme nur, Miß Peters, um Ihnen ein Wort des Abschieds zu sagen, und Sie gestatten mir wohl, dies in unserer Muttersprache zu thun,“ begann er, ohne ihrer Einladung Folge zu leisten, „ich verlasse St. Louis noch heute, und so bleibt mir eben nur übrig, Ihnen meine Freude, Sie nach langer Zeit so glücklich wieder gesehen zu haben, auszudrücken.“
Sie hob wie in leichter Ueberraschung den Kopf. „Sie reisen wieder ab? Haben Sie meinen Vater schon gesprochen?“ fragte sie nach einer augenblicklichen Pause langsam.
„Ich habe nicht geglaubt, ihn noch einmal belästigen zu dürfen,“ erwiderte er ruhig, „ich kann mir lebhaft vorstellen, wie unbehaglich Besuche sind, in denen man nur den Ausdruck von unbequemen Wünschen oder Hoffnungen sieht, und schon als Colonel Webster sich so ungeschminkt über die hiesigen Aussichten für junge Kaufleute äußerte, that es mir leid, daß ich überhaupt gegen Mr. Peters von meinen Absichten gesprochen. – Aber,“ unterbrach er sich, während sie ernst und unverwandt das große Auge auf seinem Gesichte ruhen ließ, „bei Mr. Webster fällt mir ein, daß, wie ich höre, Sie zu diesem bald in das engste Verhältniß treten werden, und so darf ich wohl bei dieser Gelegenheit gleich meinen Glückwunsch zurücklassen, zu dem ich später doch kaum eine Gelegenheit finden würde!“
Sie antwortete nicht sogleich, und Behrend fühlte ihren Blick, trotz der Ruhe darin, auf sich haften, als wolle sie ihn bis in sein Innerstes senken; zugleich aber ward er sich bewußt, daß ihm bei aller angenommenen äußern Gleichgültigkeit die Worte doch nur durch eine stille Erregung und halbe Bitterkeit dictirt worden waren, die er fast außer seiner Controle fühlte.
„Setzen Sie sich einmal, Mr. Behrend,“ sagte sie plötzlich, während ein leiser Anflug von Farbe in ihr Gesicht trat, „mir ist es, als könnten Sie kaum von der geraden Wahrheit abgehen, und so sagen Sie mir ehrlich, was Sie von hier wegtreibt, ehe Sie mit meinem Vater gesprochen haben – ich weiß, daß er Sie erwartet hat!“ Sie nahm zugleich einen nahestehenden Fauteuil ein und deutete erwartend auf den nächsten Stuhl.
„Durchaus nichts Anderes, Miß, als die einfachen Thatsachen, die ich schon berührte,“ versetzte er, wie nothgedrungen ihrem Gebote folgend, „Mr. Peters hat mir, noch ehe ich irgend einen bestimmten Wunsch aussprach, auf das Unzweideutigste versichert, daß, wie sein eigenes Geschäft schon übervoll besetzt sei, es überhaupt in der Stadt keine Aussicht zu einem Engagement für mich gebe; von dem Letzteren habe ich mich bereits selbst überführt, und da ich es bitter hasse, irgend eine Rücksicht zu beanspruchen, die sich nicht von selbst gebietet, so habe ich es unterlassen, Mr. Peters noch einmal zu belästigen.“
Sie blickte ihn zwei Secunden auf’s Neue wortlos an, während sich jetzt indessen ihre Züge wie unter einem lächelnden Gedanken aufhellten. „Sie haben gestern eine Kindererinnerung in mir wach gerufen, an welche sich später von selbst andere geknüpft haben,“ sagte sie dann; „waren Sie nicht damals von einer so regen Empfindlichkeit, daß Sie einmal um irgend einer Ursache willen das schönste Kinderfest verließen?“
Es war ein seltsam gemischtes Gefühl, das sich in diesem Augenblicke des jungen Mannes bemächtigte; eine Empfindung von Glück, daß sie selbst die angeregten Erinnerungen weiter gesponnen, zitterte in ihm, während er dennoch auch den indirecten Vorwurf in ihren Worten erkannte und sich zugleich von der leichten Weise, mit welcher sie das Verfahren ihres Vaters gegen ihn zu behandeln schien, verletzt fühlte. „Ich habe immer nur gestrebt, mich vor unverdienten Demüthigungen zu bewahren, Miß, und was bei dem Kinde als Fehler erscheinen mag, bildet sich später oft zu einer für die Selbstachtung unerläßlichen Eigenschaft heraus,“ erwiderte er, ohne die verschiedenen Regungen in sich ganz verbergen zu können; „lassen Sie mich Ihnen aber herzlich für die Erwähnung jener Zeit danken, die mir seit gestern kaum wieder aus den Gedanken gewichen ist.“ Er erhob sich, als fürchte er, sich zu weit gehen zu lassen; das Mädchen aber, in deren Wangen bei seinen letzten Worten ein leises Roth gestiegen war, hob bei seiner Bewegung rasch den Kopf.
„Und Sie wollen meinen Vater vor Ihrer Abreise nicht noch einmal sprechen?“ fragte sie, langsam ihren Sitz verlassend.
„Gott, Miß, wenn ich nicht fürchten darf, ihm unbequem zu sein, so werde ich es ja gern als Pflicht betrachten, von ihm persönlich Abschied zu nehmen!“ erwiderte er, wie im leichten Kampfe mit sich selbst, und mit einem hellen Lächeln der Befriedigung reichte sie ihm jetzt die weiße, schmale Hand.
„So rechne ich darauf, Mr. Behrend,“ sagte sie, „und ich will wünschen, daß Sie es nicht für nöthig finden, so schnell schon St. Louis zu verlassen!“ –
Als er eine Minute darauf wieder die Straße betrat und den Weg nach dem Geschäftstheile der Stadt einschlug, schüttelte er leise den Kopf. „Für mich aber wird es recht gut sein, bald wegzukommen, um nicht zuletzt noch einer Hochzeit beiwohnen zu müssen, die mir das halbe Leben verbittern könnte!“ brummte er; nach einer Weile stillen Sinnens indessen reckte er kräftig die Schultern. „Weg damit!“ sagte er mit Energie in dem halbunterdrückten Tone, „Herzensnoth wäre es gerade, was mir zu meinem übrigen Elende noch gefehlt hätte!“
Eine Viertelstunde später stand er vor der ihm von Peters bezeichneten „Bank der Versicherungs-Compagnie“, deren glänzendes Schild er schon während seiner Gänge am Tage vorher bemerkt gehabt, hielt aber den Griff der hohen Thür einen Augenblick mit zusammengezogenen Brauen in seiner Hand, als überdenke er die zu sagenden Worte, ehe er öffnete. Ein weites helles Zimmer, dessen Länge ein breiter, eleganter Zahltisch durchschnitt und die Reihe der dahinter emsig an ihren Pulten arbeitenden Clerks von dem übrigen Raume abtrennte, nahm ihn auf und gab ihm schon beim ersten Ueberblick eine Idee von der Ausdehnung des Geschäfts. [787] Niemand schien seinen Eintritt zu beachten, und als er sich an den nächsten der jungen Leute mit der Frage nach Mr. Peters, den er persönlich zu sprechen habe, wandte, wurde er mit einem kurzen: „In seinem Zimmer, Sir!“ nach einer Thür am Ende des Raums gewiesen. Unwillkürlich überkam den Eingetretenen gegenüber dieser achtunggebietenden Stille und unverrückbaren Emsigkeit um ihn her das Gefühl einer leichten, respectvollen Scheu vor dem Manne, dem er soeben entgegentreten wollte; indessen hatte er ihn ja in nichts zu beanspruchen, kam im Gegentheil, um ihn der Verpflichtung gegen einen hülfreich gewesenen Freund zu entheben und als Behrend die bezeichnete Thür öffnete, hatte er völlig seine frühere Stimmung gegen den Bankier wiedergefunden. Noch geschärft ward diese aber, als ihm beim Eintritt in das einfach, aber behaglich eingerichtete Arbeitszimmer die Stimme Webster’s entgegenklang und Peters, bequem in den Lehnsessel vor seinem Schreibtische zurückgelehnt, nach dem ersten aufschauenden Blicke den Ankömmling kaum weiter zu beachten schien.
„Well, Sir, ich kann Ihnen nur sagen, daß Sie mehr Glück haben als andere Leute, die bei der jetzt beginnenden Jahreszeit oft nicht halbe Fracht für den Süden auftreiben,“ ließ sich der Hausherr hören, während Webster sich von der Seitenlehne des Sophas, auf welcher er nachlässig gesessen, erhob, als wolle er in Gegenwart des fremden Zeugen das Gespräch abbrechen.
„Well, Sir, die eigene Speculation muß eben nachhelfen, worauf sich nicht Jeder einlassen mag,“ sagte der Letztere sich zum Gehen anschickend, und vor Behrend stand bei dem eigenthümlichen Tonfall in der Stimme des Redenden plötzlich wieder das belauschte Gespräch vom Abend zuvor; der Deutsche hätte jetzt darauf geschworen, in dem gestrigen Hauptsprecher Webster vor sich gehabt zu haben, der ganze Inhalt der geheimen Unterredung schien auch völlig mit dem Geschäftsbetriebe des Dampfboot-Eigenthümers in Verbindung zu stehen; umsonst aber versuchte Behrend noch jetzt unwillkürlich ein Verständniß des Gehörten in sich zu erwecken und entschlug sich endlich jeden Gedankens um eine Angelegenheit, die ihn zuletzt doch in keiner Weise berühren konnte.
„Und wann geht das Boot?“ fragte der Bankier, als Webster eine Bewegung zum Abschied machte, „ich habe vielleicht selbst noch eine Art Frachtstück mitzugeben, möchte aber dafür die letzte Zeit zur Einlieferung wissen.“
„Ich denke bis vier oder fünf Uhr Alles an Bord zu haben, Sir, und sehe dann keinen Grund, die Abfahrt zu verzögern!“ war die Erwiderung; Peters nickte ruhig, und der Andere verabschiedete sich leicht, ohne von dem noch unweit des Einganges harrenden jungen Manne Notiz zu nehmen. Erst als die Thür hinter dem Abgehenden sich geschlossen, wandte sich der Bankier, seinem Stuhle eine Schwenkung gebend, nach dem Dastehenden.
„Well, Sir, Sie haben auf sich warten lassen,“ begann er, und derselbe eigenthümliche, halb spöttische Zug, den Behrend schon bemerkt, als ihn Peters nach seiner ersten Vorstellung hatte zurückrufen lassen, machte sich wieder um des Sprechers Mund bemerkbar; „Sie haben mir nicht geglaubt und auf eigene Faust Ihr Heil versucht, wie ich gehört? Sind in einem Punkte genau wie Ihr Vater, der auch stets absprang wie Stahl, wo er meinte, daß seine gerechten Erwartungen nicht sogleich erfüllt würden; das thut’s aber in einer Zeit, wie wir sie jetzt hier haben, nicht. Was denn nun, da Sie mir eigentlich schon den Weg verfahren haben, wenn ich auch vielleicht etwas für Sie hätte thun können?“
Behrend hatte mit völlig ruhigem Gesichte den Bankier aussprechen lassen, aber er meinte mit doppelter Stärke die Genugthuung zu fühlen, welche ihm sein gefaßter Entschluß jetzt bot. „Ich glaube, Mr. Peters, daß Sie mir gestern schon die Nutzlosigkeit einer Bemühung in meinem Interesse andeuteten,“ sagte er kalt, „und so komme ich jetzt auch nur, um Ihnen ein schuldiges Adieu zu sagen, da ich am Nachmittag wieder abreisen werde!“
Der Alte hob langsam den Kopf, während sein Gesicht plötzlich ernst wurde. „Sie reisen wieder ab; so, so!“ sagte er nach einer kurzen Pause, „meinten jedenfalls, die offenen Stellen hier nur auf Ihre Fähigkeiten warten zu finden – gerade das, was ich gestern fürchtete. Nun möchte ich Ihnen aber sagen, daß Sie mit Ihrer kurzen Weise kaum etwas erreichen werden, als Ihr Geld zu verreisen und doch zu keinem Zwecke zu kommen!“
„Ich muß es eben riskiren, Mr. Peters; ich habe hier gestern einen New-Yorker Collegen als Karrenfuhrmann sein Brod verdienen sehen, und ein solcher Lebensunterhalt bleibt mir wohl überall, während ich für anderwärts immer noch Hoffnungen hegen darf, die ich hier nicht habe!“
„Die Sie hier nicht haben?“ unterbrach ihn Peters, die Hände auf die Armlehnen seines Sessels stützend, als wolle er sich in einer plötzlichen Erregung des Unmuths erheben. „Wenn ich Ihnen gleich bei Ihrer Ankunft die hochfliegenden Illusionen nehmen wollte, mit denen zu seinem Schaden Jeder, der einen Empfehlungsbrief in der Tasche gehabt, hierher gekommen ist: müssen Sie dann auch voraussetzen, ich werde mich überhaupt nicht um Sie kümmern? Habe ich Ihnen nicht angedeutet, wie viel ich auf Ihren Vater halte, und Sie zu einem ausführlichen Gespräche eingeladen?“
Behrend schüttelte mit einer leichten, höflichen Neigung den Kopf. „Sie haben mir selbst die gänzliche Hoffnungslosigkeit für ein baldiges Engagement angedeutet, Mr. Peters, meine gestrigen Erfahrungen haben diese nur bestätigt, und so würde jede Güte Ihrerseits, die mein Hierbleiben ermöglichte, für die ich aber in keiner Weise auszukommen vermöchte, mich doch nur vor mir selbst demüthigen müssen. Ich danke Ihnen herzlich, Mr. Peters, aber da nun einmal hier ein geschäftliches Unterkommen vor der Hand nicht möglich ist, so muß ich es eben wo anders suchen. Ich habe bei der kommenden Jahreszeit sichere Aussicht in New-Orleans beschäftigt zu werden, die Hitze genirt mich wenig, das gelbe Fieber ist noch nicht da und auch nicht jedes Jahr gleich bösartig, also denke ich dort einmal mein Heil zu versuchen.“
Peters schüttelte unmuthig den Kopf und drehte sich dann halb seinem Schreibtische wieder zu. „Ich kann Ihnen nur sagen, daß Sie eine Tollheit begehen, Sir!“ sagte er nach kurzem Sinnen; „haben Sie denn aber wenigstens Geld genug zur Rückreise, falls eine bessere Ueberlegung noch zur rechten Zeit käme – oder ist eine solche Frage auch gegen Ihre Ehre?“
„Ich bin noch genügend versehen, sonst würde ich mich freimüthig um eine Aushülfe für kurze Zeit an Sie gewandt haben,“ erwiderte der junge Mann ruhig. „Sie beurtheilen wohl meine Gefühlsweise, die mich zu dem jetzigen Schritte drängt, nicht ganz richtig, Mr. Peters; Sie haben selbst Ihren Weg nur durch die eigene Thatkraft gemacht, und wenn ich mich nicht auf außergewöhnliche Rücksichten oder gar Wohlthaten, die nicht einmal ihren Grund in mir selbst finden, stützen mag, so glaubte ich, daß Sie mich verstehen könnten!“
„Ich verstehe Sie recht gut, besser als Sie sich vielleicht selbst, Sir; aber ich weiß auch, daß das Sprechen hier zu nichts mehr führt,“ nickte der Alte und hielt eine kurze Weile den Blick vor sich auf den Boden geheftet. „Alles, was ich Ihnen noch rathen will, fuhr er dann langsam fort, „ist, daß Sie sich wenigstens nicht so ohne Weiteres in Ihr voraussichtliches Verderben stürzen, sondern sich unterwegs nach einer Chance, die sich Ihnen bieten könnte, umsehen. Ich will Ihnen zwei Briefe für Memphis zurecht machen; die „Lilly Dale“, mit welcher Sie jedenfalls gehen, hat starke Ladung dahin und wird für einige Stunden anlegen müssen. Sollte es dort aber auch mit einer Stellung nichts sein, so erkundigen Sie sich vielleicht des Genaueren über das Sommerleben in New-Orleans und die Sterblichkeit unter den neuen Ankömmlingen. Ich sage Ihnen das Letztere um Ihres Vaters willen, sonst würde ich bei Ihrem so bestimmten Entschlusse kein weiteres Wort darüber verloren haben. Die Briefe werden in zwei Stunden für Sie bereit liegen.“
„Ich nehme mit dankbarstem Herzen Ihre Freundlichkeit an, Mr. Peters!“ beeilte sich jetzt Behrend zu erwidern, aber mit einem kurzen, unmuthigen: „Schon recht, Sir!“ drehte sich der Bankier seinem Schreibtische zu und gab damit das Zeichen der Entlassung.
Als der junge Mann die Straße wieder erreicht, wußte er kaum, ob er mit sich zufrieden oder unzufrieden sein solle. Wenn er an Ellen dachte, fühlte er, daß es ihm unmöglich gewesen wäre, eine Existenz anzunehmen, wie sie der Alte vorläufig wohl für ihn beabsichtigt, eine Existenz, die sich nur auf dessen Wohlthaten irgend einer Art stützen konnte, bis eine glückliche Gelegenheit ihm ein wirkliches Unterkommen verschaffte; – fühlte überdies, daß er auf den ihm gewordenen Empfang bei seiner Ankunft kaum anders als durch eine volle, stolze Selbstständigkeit habe antworten dürfen, wenn diese Empfangsweise auch, wie Peters jetzt meinte, auf sein Bestes abgezielt habe – und dennoch war es ihm daneben, als sei er zu kurz und schroff in seinem Verfahren gewesen und habe sich selbst damit geschadet.
[788] Indessen blieb in jedem Falle die Hauptsache wie sie war, und so strebte er, seinem Hotel zuschreitend, jeden Gedanken, der seinen Muth für den einmal gefaßten Entschluß hätte herabstimmen können, zu verbannen. Ein wohlthuender Gedanke aber war es ihm trotzdem, daß Memphis, wie die eigentliche letzte Entscheidung, noch zwischen ihm und New-Orleans lag, und er dankte dem Alten im Stillen, daß er ihm diesen Haltpunkt zur nochmaligen Frage an sein Schicksal auf den Weg gelegt.
Es war drei Uhr vorüber, als Behrend mit seinem Gepäck den Bord des Dampfbootes betreten hatte, und den qualmenden Schornsteinen nach schien er kaum viel zu früh angelangt zu sein. Die Briefe nach Memphis befanden sich in seinem Taschenbuche; sie waren ihm indessen durch einen der Clerks in der Bank übergeben worden, da Mr. Peters, wie es hieß, das Geschäft bereits verlassen habe, und diese Abwesenheit hatte dem jungen Manne fast wie ein letztes Zeichen des Unmuthes, welches ihm der Alte mit auf den Weg gebe, erscheinen wollen, das ihn jetzt drücke, er konnte sich selbst nicht erklären weshalb.
Das Innere des Fahrzeugs zeigte noch das gewöhnliche Durcheinander von ab- und zugehenden Reisenden, Gepäckträgern und ordnender Bootsdienerschaft vor der Abfahrt, und Behrend hatte es sich abseits auf einer der offenen Gallerien bequem gemacht, das Menschentreiben an der Landung beobachtend und unwillkürlich eine Parallele zwischen seinen Empfindungen, mit denen er gestern bei seiner Ankunft das Schauspiel betrachtet, und seinen jetzigen ziehend. Da blieb sein Auge plötzlich an einem von der Stadt heranrollenden offenen Wagen, der bald in kurzer Entfernung dem Boote gegenüber hielt, hängen, und sein Gesicht nahm die Blässe tiefer Erregung an; dort hatte eben der alte Peters den Boden betreten, während Ellen einer zweiten jungen Dame voran ihm mit leichtem Sprunge und ohne auf Beistand zu warten, folgte. Aber noch ein Anderer schien reges Interesse an der Angelangten zu nehmen; Webster war ihnen vom Eingange des Bootes rasch entgegen getreten, und vor seiner augenscheinlichen Ueberraschung schien das Gesicht des Bankiers fast seine ganze Steife aufgeben zu wollen. „Ich sagte Ihnen ja, daß ich Ihnen noch eine Art Frachtstück zu bringen hätte,“ hörte Behrend die Stimme des Alten, „nun sind es aber zwei geworden. Meiner Ellen ist es plötzlich in den Kopf geschossen, ihre heimreisende Freundin zu begleiten, und sie ist leider gewohnt, durchzusetzen, was ihr in den Sinn kommt!“
„Aber ich will doch nicht hoffen, daß die Reise weit geht, und Miß Peters uns für lange hier allein läßt?“ fragte der Angeredete hastig.
„Nur hinunter bis an die Ohio-Mündung, Sir – aber entschuldigen Sie mich einen Augenblick!“ gab Peters zurück und drehte sich nach dem Wagen, wo seine Tochter dem vom Bocke gesprungenen Schwarzen noch einzelne Anordnungen zurückzulassen schien.
Webster wandte das Gesicht nach dem Flusse, und Behrend sah ein kurzes, seltsames Zucken durch seine Züge gehen; ein unterdrückter Fluch schien sich plötzlich aus seinem Munde zu drängen, und dann, wie einem bestimmten Gedanken nachgebend, eilte er in das Boot zurück. Ehe indessen der Beobachtende noch Zeit gehabt, sich einen Gedanken über das eigenthümliche Wesen des Mannes zu machen, drang ein lauter Ruf desselben aus einem nahegelegenen Theile des Fahrzeugs zu ihm. „Wilson! Wilson!“ hörte er.
„Sir!“ tönte es als Antwort.
„Einen Augenblick hierher, aber ohne Verzug!“
Kein weiterer Laut ward hörbar, aber der eine Name „Wilson“ hatte den jungen Mann wie elektrisch berührt, es war derselbe, welcher gestern Abend bei der belauschten geheimnißvollen Unterredung gefallen war, und einige Secunden lang wurde es dem Horcher, als sei mit seiner Anwesenheit auf Webster’s Boote das besprochene lichtscheue Unternehmen an ihn selbst herangetreten und könne ihn in seine Verschlingungen hinein ziehen; als er indessen jetzt Peters und die beiden Damen das Boot betreten sah, wandten sich seine Gedanken dem unerwarteten Ereigniß zu, das ihn auf’s Neue in die Gesellschaft des Mädchens brachte, das er um seiner eigenen Ruhe willen am liebsten ganz gemieden hätte. Er hörte die kleine Gesellschaft die Treppe zum Salon heraufsteigen und war froh, ihr jetzt nicht in den Weg treten zu müssen, er hätte kaum selbst gewußt, welchen Ton gegen sie anzuschlagen. Da vernahm er nach einer kurzen Weile die Stimme des Alten durch die offene Thür zur Gallerie: „Der junge Behrend geht hinunter bis Memphis, oder auch weiter, wenn seinem Kopfe dort die Dinge nicht anstehen, und so ist wenigstens Jemand hier, an den Ihr Euch für irgend einen Nothfall werdet halten können!“
„Hoffentlich bedürfen wir der Adresse nicht, denn seiner bisherigen Weise nach wird er sich kaum sehen lassen!“ klang Ellen’s Stimme, und dem Lauscher schien eine Gereiztheit in ihrem Tone zu liegen, die ihm fast weh that. „Ich verstehe, daß sein Stolz sich beleidigt gefühlt haben kann, begreife aber diesen Trotz einer freundlichen Begegnung gegenüber nicht. Er wird eine Stellung in Memphis finden können, Vater?“
„Möglich, wenn es nicht wieder eine Beleidigung für seinen Stolz ist!“ erwiderte Peters trocken; „bei solchen Charakteren läßt sich nichts voraussagen, und sie legen auch den besten Willen lahm.“
„Aber wenn er nun wirklich in dieser Jahreszeit nach New-Orleans ginge, Vater?“ Und der plötzlich aufspringende Ton von Besorgniß in der Frage durchzitterte alle Nerven des Hörers.
„Und was könnte ich nach Allem, was ich ihm gesagt, nachdem er jede Hülfe, die ich unter den obwaltenden Umständen für ihn gehabt hätte, als ungehörige Wohlthat zurückgewiesen, dagegen thun, Tochter? In gewissen Verhältnissen ist ein Charakter wie der seinige Gold, während er in anderen Lagen zur Narrheit wird, gegen die, und wenn sie zum Selbstruin führte, sich äußerlich nicht ankämpfen läßt. Hat er noch die nöthige Vernunft, so wird ihm die rechte Besinnung kommen, ehe er New-Orleans erreicht.“
Wild-, Wald- und Waidmannsbilder.
Als das Jahr 1849 neben mancher anderen Errungenschaft auch die der freien Jagd gebracht hatte, da wurden alle alten Gewehre, von der Pistole an bis zur Muskete, welche sich etwa als Erbschaftsstücke oder vom Trödel erworben in Bauernhänden befanden, hervorgesucht, um damit nicht mehr blos Spatz und Stahrmatz zu verscheuchen oder in der Neujahrsnacht und zu anderen Festlichkeiten als „Kracher“ zu dienen, sondern von nun an mit ihnen das edle Waidwerk auszuüben. Die Feldbauern rotteten sich zu solchem Zwecke zusammen, um durch Treibjagden auf ihren Fluren vorzüglich Lampen den Garaus zu machen, während die Gebirgs- und Walddörfler mehr den Anstand benutzten, ihre Felder von dem ihnen lästigen Hoch- und Rehwild zu befreien und dabei gleichzeitig durch den Verkauf des erlegten Wildes einen nicht zu verachtenden Gewinn zu erzielen. Und man durfte es diesen Leuten nicht verargen, wenn sie, nun sie das Recht dazu hatten, alles Mögliche aufboten, ihre mit sauerem Schweiß bestellten Felder von den ungebetenen Gästen zu säubern; denn namentlich war es im Gebirge schlimm, wo bis dahin die Jägerei mit Vorliebe das Wild gehegt hatte und dasselbe dem armen Landmann wirklich zur Plage geworden war, da die etwaige Vergütung für Wildschaden – wenn überhaupt solche gewährt wurde – viel zu gering war, um wirklichen Ersatz zu bieten. Die Mittel zur Abwehr des Wildes aber, als die Felder mit Stangen zu vermachen oder mit Federlappen zu umhegen und durch Wagenschmiere zu verwittern u. s. w, halfen nicht viel, wenigstens nicht lange, da das Wild viel zu dreist wurde, um sich durch solche harmlose Hindernisse verscheuchen zu lassen.
Ja selbst das Schreckschießen und das Verjagen mit Hunden verlor sehr bald seine Wirkung, indem die zudringlichen Felddiebe recht wohl merkten, daß auch hierbei kein Ernst dahinter sei. Deshalb mochte es auch, als das bloße Scherzen aufhörte, den Bauern eine wahre Wonne sein, „die Beester auszuschmieren“, wie sich der gute
[789][790] Dorfbewohner ausdrückte, indem er nun weder Pulver noch Blei sparte, sein Müthchen zu kühlen. Jetzt kam nun die Reihe an die Jäger, sich halbtodt zu ärgern, wenn sie ansehen mußten, wie auf ihre Herzblätter gehetzt und geschossen wurde, ohne daß sie nur eine scheele Miene dazu ziehen durften, denn die Bauerngemüther waren damals nicht eben in der Stimmung, sich von den „Grünröcken“ sauere Gesichter schneiden zu lassen. Außerdem kam nun noch dazu, daß aus der Nothwehr gegen die Wildcalamität bald Leidenschaft für die Jagd bei den bis daher von der Jägerei in Schach gehalten gewesenen Landleuten wurde, weshalb diese nun Tag und Nacht in ihren Feldern und Hölzern lagen, den Vernichtungskrieg gegen alle jagdbaren Creaturen auszuüben. Daß dabei die Menschen oft gefährdeter waren, als die zu jagenden Thiere, lag in der Natur der Sache; und mancher Bauer mußte sich nach mitgemachter Jagd die Schrote aus seinen Gliedern „klauben“, die ihm sein unvorsichtiger Nachbar, anstatt auf einen Hasen, in die Beine geschossen hatte. Oft aber war das Unglück größer, und mancher Unberufene mußte zu jener Zeit seine Liebhaberei für das Waidwerk mit dem Leben büßen.
Hierbei fällt mir eine erst kürzlich gehörte Geschichte aus jenem verhängnißvollen Jahre ein, die sich in Wien zugetragen haben soll. Als nämlich die Kaiserstadt in den Händen der Insurgenten war, soll die dortige akademische Legion eines Tages ein Kesseltreiben auf das Wild im Prater veranstaltet haben und, um dabei möglichst viel auf einmal erlegen zu wollen, beschlossen gehabt haben, nicht eher zu schießen, als bis sie das Wild so in die Enge getrieben hätten, daß sie dasselbe – ihrer Phantasie nach – auf einen Schlag vernichten könnten. Gedacht, gethan! Als der unkundige Jagdtroß das scheue Wild umschlossen hatte und der Kessel bereits so verengt gewesen war, daß die jungen Hitzköpfe den Moment für geeignet gehalten hatten, das todbringende Blei auf die vor Furcht bebenden und sich zusammendrängenden Opfer zu entsenden, war, nach Verabredung, vom Legionsführer „Feuer!“ commandirt worden, und zischend halte die krachende Salve dem edeln Wild die verderblichen Kugeln entgegengeworfen. In toller Flucht hatte dieses nun alle Schranken durchbrochen und war über die in Pulverdampf gehüllte Freischaar gleichsam im Fluge hinweggegangen, wobei mancher Schütze, von den gestählten Läuften des flüchtenden Wildes getroffen, zur Erde geworfen worden war. Doch wer gekonnt hatte, war schnell wieder auf den Beinen gewesen, um den glänzend gedachten Erfolg dieses Hauptjagens in Augenschein nehmen zu wollen. Doch grausam sollen sie enttäuscht worden sein, als die unberufenen Jäger auf dem Platze nur ein Schmalthier, aber daneben sieben in ihrem Blute röchelnde Akademiker fanden, die die hitzigen Cameraden bei dieser wilden Jagd tödtlich getroffen hatten. Doch wenden wir uns zurück auf heimisches Gebiet und geben hiervon ein Jagdbild aus jener Zeit.
Es war zu Anfang August des Jahres 1849, als mich so recht eigentlich die Sehnsucht nach frischer, freier Waldesluft nicht mehr in der schwülen, gedrückten Stadt leiden wollte, als mir wie gerufen die liebe Zuschrift eines mir befreundeten Waidmannes kam, in der er mich einlud, ihn in seiner Waldeinsamkeit zu besuchen. Ich ließ mir das nicht zwei Mal sagen, besonders da mir die fast gewisse Aussicht gestellt wurde, aus meines Freundes Revier einen Hirsch schießen zu können. „Denn,“ schrieb er mir, „es wird bei mir so Alles von den verteufelten Bauern todtgeschossen.“ Um so mehr beeilte ich mich, zu ihm zu kommen, so daß ich bereits des andern Tages im traulichen Forsthause anlangte, wo man mich herzlich willkommen hieß. Natürlich wurde von mir denselben Abend noch ein kurzer Pürschgang vorgenommen, und obgleich davon leer heimkehrend, war ich doch diesen Abend überglücklich, da ich wieder einmal nach langer Zeit – indem der Belagerungszustand von Dresden die Waffenablieferung bedingt hatte – eine Büchse in Händen halte, mit der ich auf schmalem Pürschpfade hinschreiten konnte. Wie schon gesagt: der Erfolg war nicht befriedigend, denn eben als ich auf einem Gehau, das sich an einer Berglehne hinzog, einen Capitalbock erblickt hatte und mich an denselben hinanzupürschen trachtete, mochte mich ein anderer, der jedenfalls hinter mir herauszuziehen im Begriff gestanden hatte, in Wind bekommen haben, und das Schrecklichste der Schrecken für einen pürschenden Jäger geschah – der Bock „schreckte“, daß sein Warnruf weit hin durch den stillen Wald ertönte. Im Nu warf der Bock, den ich in Sicht hatte, den zierlichen, hochgeschmückten Kopf in die Höhe, worauf er mit graciösen Sätzen, den Fichtenanflug und die hohe Haide überspringend, in dem dunkeln Hochwald verschwand, wo sich der Flüchtling noch kurze Zeit durch den hellleuchtenden Spiegel kennzeichnete, während der Schreckensbock mit seinem Gelärme noch eine ganze Weile das Revier rege machte. Lange stand ich da, dem fatalen Tone lauschend, während das Auge über die fahlen Schmälen auf dem Gehau dem Flecke zustarrte, wo der schon als sichere Beute betrachtete Bock sich den Blicken entzogen hatte.
Tiefe Dämmerung war unterdessen eingetreten, so daß an Schießen, mithin auch an Weiterpürschen, nicht mehr zu denken war. Deshalb kehrte ich auf meinem stillen Wege heim, und geschah's auch leer, so gab mir doch die mich umgebende herrliche Natur vollen Ersatz. Schon flimmerten die goldenen Sterne am nächtig tiefblau gewordenen Himmel herab, während der dunkele Wald von weißen Nebeln durchwallt wurde, die hier in langen Schichten über die Blößen ziehend, dort aus den Thälern emporsteigend, die zackigen Tannenwipfel umwoben. Dabei rauschte es hoch über mir durch die schwarzen Häupter der alten Bäume und tönte fort in jenen, die unter mir im Thale ihre phantastisch geformten Kronen emporstreben, bis dieser Himmelsgruß, weiter niedersteigend, tief unten im geschlossenen Thalkessel als leises melodisches Geflüster verklang. Dann wurde es so. still, so grabesstill, daß das gespannte Ohr vernehmen konnte, wenn hier und da ein Zweiglein des Unterwuchses oder Haidekrautes emporschnellte, das vielleicht von eines Wildes Tritt niedergebeugt worden war. Lange stand ich auf einer Stelle, nicht wagend einen solchen Augenblick des tiefsten Waldfriedens mit meinem Schritte zu stören, bis das an mein Ohr schlagende Hundegebell aus dem Forsthause mich daran erinnerte, daß man dort meiner warte.
Bald hatte ich die trauliche Wohnung erreicht, wo ich während eines frugalen Abendbrodes meinem freundlichen Wirth Bescheid über meinen verunglückten Pürschgang gab. Unter Plaudern, natürlich zumeist von der Jagd, kam die Schlafenszeit heran, die ich, weil ich frühzeitig hinaus auf den Anstand wollte, nicht hinausschieben mochte. Da ich auf dem Reviere genauen Bescheid wußte, wo ich mich anzustellen hatte, so gestaltete mir der Förster unbegleitet hinaus zu wandern. Rechtzeitig stand ich auf, hing mir im Vorflur das Schießzeug um und schritt, die Hausthüre wieder in’s Schloß drückend, in den schweigsamen Wald hinein, dem am Feldrande liegenden Anstand zu. Die Sichel des abnehmenden Mondes schien gespenstig hinter dem sie halbverdeckenden Waldsaume hervor und erleuchtete nur schwach die vor mir liegenden fahlen und nebelgedeckten Gehaue, während unter dem dichten Gezweig des Waldes die tiefste Nacht herrschte. Mit Wonne die nächtliche thaufrische Luft einathmend, schritt ich den oft betretenen Weg der Forstgrenze zu, wo sich die Felder anschließen, um dort meine Stellung einzunehmen. Bald hatte ich mein Ziel erreicht, noch lange zuvor, ehe der Morgen graute. Dies war auch nöthig, denn da hier die Hirsche gewöhnlich mit dem ersten Dämmerschein in den schützenden Wald hereinzuziehen pflegen, mußte ich so zeitig Posto fassen. Noch glänzten die Sterne in hellster Pracht vom dunkeln Firmamente herab, während die Mondsichel bereits an Glanz verloren hatte, indem sie durch die der Erde nahen Dünste geröthet erschien und nicht mehr die Macht hatte, die vor mir sich ausbreitenden Fluren zu beleuchten; in einförmiger Düsterheit verschmolzen sie sich mit dem nächtigen Himmel, so daß das Auge vergeblich nach einem Halt suchte; noch viel weniger aber vermochte man etwa auf Wiese oder Feld stehendes Wild zu erkennen. Doch endlich verkündete ein fahles Dämmern am östlichen Horizont den kommenden Morgen.
Wie der Abend rauschend sein „Gute Nacht!“ durch den Wald ertönen ließ, so schickte auch der anbrechende Morgen seinen lauten Gruß dem überall erwachenden Leben zu. Und weiter und weiter, durch Wald und Feld, über Berg und Thal, eilten die Tonwellen dieses Gotteshauches und verklangen im Forst erst leise, nur flüsternd und singend, dann rauschend und brausend, wie ein mit Orgelstimmen begleiteter feierlicher Choral, bis die mächtigen Accorde sich nach und nach verloren und wieder tiefe Ruhe eintrat. Aber noch lange glaubte man die hehren Klänge zu vernehmen, da der Geist unwillkürlich die eben gehörte gewaltige Harmonie noch einmal an seinem inneren Ohre vorüberführte. Rasch wurde es nun lichter, wobei nun auch das Auge sein Recht forderte, die sich mehr und mehr entfaltenden Gegenstände zu prüfen. Zwar täuschten noch oft die Umrisse, so daß ich, als ich schon deutlich den edeln hochgeweihten Hirsch, nach welchem ich so sehnlichst auslugte, [791] zu sehen glaubte, doch durch ein Trugbild ernüchtert wurde. Ein das vor mir wogende Kornfeld überragender Baumstumpf mit phantastisch geformten Geäste, das dem hohen Schmuck des erwarteten Waldfreiherrn glich, hatte meine aufgeregte Phantasie befangen. Als es aber so hell wurde, daß man den ganzen Sehkreis mit Sicherheit prüfen konnte, ließ sich ebenfalls weit und breit kein Wild erblicken. Endlich gewahrte ich doch, wie auf dem nachbarlichen Gemeindereviere des nahen Dorfes ein Stück Rothwild mit dem Kälbchen aus dem Getreide herauszuziehen im Begriffe stand. Natürlich interessirte mich dieser Anblick des traulichen Paares ungemein, doch nicht etwa in der Hoffnung einen Schuß auf die schmucken Geschöpfe anbringen zu können, sondern nur um ihr Gebahren beobachten zu wollen.
Jetzt eilte das Kälbchen mit keckem Sprunge über die Stangenvermachung des Feldes, während das alte Thier vertraut nachzog. Eben wollte es seinem Lieblinge über das Hinderniß folgen, als es plötzlich zeichnete, und unmittelbar darauf schlug ein dröhnender Schuß an mein Ohr. In toller Flucht überfiel das alte Thier nun ebenfalls den Zaun, wobei es aber mit den Hinterläufen in den morschen Stangen, die davon theilweise zerbrachen, hängen blieb und in Folge dessen zusammenstürzte. Ein hinter dem Kornfelde gegen eine dunkele Holzwand aufsteigendes Wölkchen bezeichnete die Stelle des Schützen, der auch bald darauf sichtbar wurde, indem er dem Anschuß zueilte. Ein Bauer war es, der, gleich mir, den Frühanstand benutzt und das alte Thier, ohne Rücksicht darauf, daß es ein Kälbchen führte, angeschossen hatte. Wie in den Erdboden gewurzelt, stand das erschrockene Kälbchen neben seiner verwundeten und zusammengebrochenen Mutter und starrte sie an. Diese schnellte jedoch im Augenblicke wieder empor und ging flüchtig, das Kälbchen hinter sich her, dem nahen Walde zu. Die Kugel saß, wie ich deutlich bemerken konnte, da die Flüchtlinge ziemlich nahe, freilich noch auf Nachbarrevier, an mir vorüber kamen, dem Stück Wild in der rechten Keule und war jedenfalls, dem Gange des Thieres nach zu schließen, nur in das Wildpret eingedrungen.
Natürlich berichtete ich, im Forsthause angekommen, getreulich das Erlebte, worauf wir, der Förster und ich, Nachsuche hielten. Wir waren auch so glücklich mitunter Schweiß auf der Fährte zu finden, die in ein nahes Dickicht führte, wo das Stück Wild, wie zu vermuthen, steckte. Kaum hatte der Förster mich auf den Wechsel gestellt und war, nachdem er Pürschmann, den Schweißhund, auf die Fährte gesetzt halte, selbst vorgetreten, als der Hund[WS 1] laut wurde und das flüchtige Thier dem Förster auf zwanzig Schritte herüberbrachte. Dabei hatte dieser deutlich zu sehen vermocht, daß das Wild in der That nur einen leichten Wildpretschuß habe, weshalb er ihm, in der Ueberzeugung, daß seine Genesung nicht zu bezweifeln sei, das Leben geschenkt hatte. Diese ist auch eingetreten, denn nach Jahren, nachdem das Thier gelte geworden und deshalb abgeschossen werden mußte, ist es noch meines braven Grünrockes Beute geworden, über die er sich deshalb vorzugsweise gefreut hat, weil er sie als eine dem Bauer, der früher auf das Stück Wild geschossen hatte, entrissene betrachtete. Denn so vernünftig sonst mein freundlicher Jägersmann ist, so ist er doch jedem jagenden Bauer, besonders wenn er der hohen Jagd obliegt, der unversöhnlichste Feind. In dieser Beziehung hört er auf keine vermittelnde Stimme; im Gegentheil, er wird, nimmt man die Rechte der Landleute nur einigermaßen in Schutz, im höchsten Grade erzürnt. Und er, der sonst so gemüthliche, gute Mensch, der den Käfer, wenn er auf dem Rücken liegt und mit den kleinen strampelnden Beinchen den Boden zu gewinnen sucht, umwendet, weil es ihm wehe thut, das kurze Dasein des kleinen Geschöpfes einen Augenblick verkümmert zu sehen, behauptet unbegreiflicher Weise von sich, daß er, dürfte er nur wie er wollte, jeden jagdbeflissenen Bauer mit Vergnügen zum Krüppel schießen würde.
Von Carl Vogt in Genf.[1]
Nr. 8. Die Schmetterlinge.
Meine Herren!
Es giebt wohl kein poetischeres Bild in der Natur, als diese schöngefärbten Gaukler der Luft, welche leichten Fluges von Blume zu Blume, von Kelch zu Kelch flattern, hier und da Honig naschen oder mit einander tändelnd über der Erde dahin schweben, als seien sie jeder Sorge bar und ledig. In unserer Jugend hegten wir eine wahre Begeisterung für die niedlichen Sommervögel, denen wir mit Hamen und Netzen nachstellten, indem wir zur Beförderung unserer Gesundheit manche langweilige Schulstunde versäumten und, statt über dem barbarischen Typto, Typteis etc. zu sitzen, durch Busch und Wald, über Hecken und Wiesen den Schillervögeln oder Trauermänteln nachrannten. Welche Mühen wandten wir nebenbei auf, um Puppen und Raupen zu erziehen, in beständigem Kriege um die geliebten Zöglinge mit Müttern und Mägden, in deren Begriffe von häuslicher Ordnung Raupenzwinger und Blumentöpfe nicht im mindesten passen wollten! So tief hatte sich diese Liebhaberei festgepflanzt, daß ich sogar Männer der gewöhnlichen Bedächtigkeit sich entschlagen sah, als sie zum ersten Male den herrlichen Bergschmetterling, den Apollo, an steilen Halden umherflatternd erblickten, so sehr, daß sie die Trauer um das Vaterland und die Noth des Exiles für einen Augenblick vergaßen, um dem schönen Gebilde mit dem Hute in der Hand nachzujagen!
In der That sind die Schmetterlinge ohne Zweifel die schönsten, aber auch in ihrer Schönheit am leichtesten vergänglichen Insecten. Die meist sehr großen Flügel sind mit mikroskopischen Schüppchen besetzt, welche mannigfache seltsame Formen besitzen und wie ein gefärbter Mehlstaub sich abwischen lassen. Durch die eigenthümliche Bildung feiner Rippen auf diesen Schüppchen brechen diese das Licht oft so eigenthümlich, daß, wie bei dem Schillervogel, die Farbe eine durchaus verschiedene erscheint, je nachdem man den Flügel von der einen oder andern Seile betrachtet.
Außer diesen bestaubten Flügeln, die nur selten bei einigen Schmetterlingsweibchen verkümmert sind oder gänzlich fehlen, zeichnen sich die Schmetterlinge noch durch den Besitz eines elastischen, meist spiralig aufgerollten Rüssels aus, der aus zwei Halbrinnen besteht, welche sich mit den hohlen Flächen gegeneinander legen und so eine Röhre bilden, durch welche die Thiere den Honigsaft der Blumen aufsaugen können. Es ist dieser Rüssel aus der Umwandlung der Kinnbacken hervorgegangen, welche bei allen Raupen in der gewöhnlichen Form vorhanden sind. Die Fühler sind äußerst mannigfallig gestaltet, bei den Tagschmetterlingen meistens keulenförmig, indem an ihrer Spitze ein kleiner Knopf sich befindet, bei den Nachtschmetterlingen häufig in Form eines Federbusches oder einer Feder. Die Beine der Schmetterlinge sind gemeiniglich lang, häufig mit langen Spornen und Dornen besetzt; der Leib des Weibchens bei weitem dicker als derjenige der Männchen, die gewöhnlich kleiner sind und oft bedeutende Verschiedenheiten an Größe, Gestalt und Farbe der Flügel zeigen.
Jedermann weiß, daß die Schmetterlinge Insecten mit vollständiger Verwandlung sind, daß sie aus Eiern, Raupen und Puppen [792] entstehen und daß der gefräßige Raupenzustand allein es ist, in welchem das Thier uns Schaden zufügt. Denn mit Ausnahme der Seidenraupe, deren Gespinnst wir zu unserer Kleidung verwerthen, sind alle Schmetterlingslarven ohne Ausnahme höchst schädliche Thiere, die wir um unserer Selbsterhaltung willen zu verfolgen gezwungen sind. Wir haben zwar im Verlaufe dieser Vorlesungen schon manche Verwüster kennen gelernt, die mit dem Menschengeschlechte in beständigem Kriege leben; allein so ausgiebige Verheerungen, wie manche Raupen in Wäldern und Feldern, in Gärten und Wiesen anrichten, kann keine andere Insectenordnung aufweisen. Wenn deshalb der Schmetterling das Symbol der reinen Seele darstellt, die sich als Psyche zu höheren Sphären erhebt, so muß man gestehen, daß die Schlacken, welche Psyche von sich werfen muß, ehe sie zu der Verklärung gelangt, nicht geringer Art sind und namemlich solchen Leidenschaften angehören, welche man sonst nicht gerade zu denjenigen zählt, die zu Großem führen können. Denn die Leidenschaft, welcher die Raupe fast ausschließlich fröhnt, ist ohne Zweifel die Freßgierde, und hierin leistet die Raupe auch in der That Unglaubliches. Der Schmetterling selbst hingegen lebt eigentlich nur der Liebe, wenn er diese auch nicht von dem höheren seelischen Standpunkte aus auffaßt.
Die Eier, welche häufig sehr sonderbare Formen zeigen und meist von dichten Kapselwänden eingeschlossen sind, werden von dem weiblichen Schmetterlinge bald einzeln, bald auch in ganz charakteristischen Bündeln und Haufen an diejenigen Pflanzen gelegt, welche den ausschlüpfenden Räupchen zum Futter dienen sollen. Bei vielen Arten überwintern die Eier, so daß die Raupen bei der ersten Frühlingswärme auskriechen und sogleich über die jungen, zarten Knospen herfallen können, welche ihre erste Nahrung bilden. In andern Fällen sind es die Raupen, welche im Grase, in der Erde, in eigens geschützten Nestern, welche sie sich spinnen, die Winterkälte überdauern; doch ist auch dieses nur eine Ausnahme und die Puppe gewöhnlich derjenige Zustand, durch welchen die Generationen über die Zeit der Ruhe sich hinüberleiten.
Die Räupchen, welche aus den Eiern kriechen, zehren häufig zuerst die Eierschalen, in welchen sie sich entwickelten, auf und beginnen dann ihre Verheerungen an den Gewächsen. Diejenigen, die aus Eierklumpen hervorgehen, bleiben wenigstens während ihrer ersten Lebenszeit, häufig aber auch während der ganzen Dauer ihrer Existenz als Raupen gesellig beisammen, und oft erstreckt sich ihre Geselligkeit so weit, daß sogar sämmtliche Bewegungen, Märsche und Wanderungen wie auf Commando gemeinschaftlich ausgeführt werden. Die Processionsraupe, die in manchen Wäldern so arge Verwüstungen anrichtet, bietet hiervon ein frappantes Beispiel. Keine Soldatencolonne kann regelrechter, Schulter an Schulter, marschiren und ihre Schwenkungen ausführen, als dieses Raupengezücht, das seine Wanderungen nur dann unternimmt, wenn der Hintermann mit seinem Kopfe das Ende des Vordermannes berührt. Bei der ungemeinen Gefräßigkeit, welche alle Raupen zeigen, kann es nicht Wunder nehmen, wenn die Raupen außerordentlich schnell wachsen und deshalb mehrmals während ihres Lebens sich häuten – ein Vorgang, der stets nicht ohne Gefahr für ihr Leben ist. Gewöhnlich ist die Raupe hinsichtlich ihrer Nahrung auf eine Pflanzenart beschränkt und geht eher zu Grunde, als daß sie von anderen fressen sollte. Gerade die zerstörendsten aber sind häufig Allesfreser oder besitzen wenigstens insofern eine gewisse Auswahl, als sie verwandte Pflanzen derselben Familie mit gleicher Begierde angreifen. Der Unrath, den sie in großen Massen von sich geben, zeigt gewöhnlich ganz eigenthümliche Formen und Eindrücke, welche von vorspringenden Leisten der letzten Darm-Abtheilung herrühren, und dient häufig dem Kenner zur Erkenntniß und als Leitung nach dem Orte hin, wo die Raupe sich versteckt hält.
Von ganz besonderer Wichtigkeit ist die Structur der Raupen und namentlich diejenige ihrer Füße. Alle haben drei Paar hornige, aus verschiedenen Gelenken zusammengesetzte echte Füße an dem vorderen Theile ihres Körpers, alle besitzen aber außerdem noch sogenannte falsche Füße oder Bauchfüße, deren Zahl je nach den Gruppen wechselt. Im höchsten Falle finden sich, wie bei den meisten Tagfaltern, Schwärmern und Spinnern, fünf Paar solcher Füße, deren letztes gewöhnlich an dem hintersten Ende des Körpers, die übrigen mehr in der Mitte des Bauches stehen. Bei den sogenannten Spannraupen aber vermindert sich die Zahl bis auf drei Paare, die dann an dem hintern Ende des Körpers stehen, so daß die Raupe bei jedem Schritte einen Katzenbuckel macht und den hinteren Theil des Körpers so nachzieht, daß er in der Nähe des Kopfes wieder sich festklammert. Während man an diesen allgemeinen Kennzeichen die Gruppen unterscheidet, dienen die Größe, Färbung, namentlich aber die Ausdehnung der Behaarung, welche viele Raupen besitzen, zur Unterscheidung der Arten. Manche Raupen sind ganz nackt, andere über und über mit langen Haaren besetzt, die unter dem Mikroskope wie dornige, mit Widerhaken besetzte Lanzen aussehen und hierdurch sowohl, wie durch leichtes Abbrechen sehr unangenehme Folgen beim Menschen verursachen können. Nicht ungestraft greift man eine Processionsraupe an: die Haut röthet und entzündet sich, und in Wäldern, welche von Processionsraupen erfüllt sind, hat man sogar durch Einathmen der giftigen Haarbruchstücke, welche der Luftzug mit sich führt, gefährliche und schmerzhafte Reizung der Luftwege zu gewärtigen.
Nach der letzten Häutung (und es können deren bis zu sieben stattfinden) bereitet sich die Raupe zum Puppenschlafe vor. Die einen, namentlich Tagfalter, machen gar kein Gespinnst, sondern hängen sich frei an dem Ende auf oder schlingen noch einen Seitenfaden um ihre Brust, so daß sie in wagerechter Stellung sich befinden. Andere, besonders Eulen und Schwärmer, kriechen bis zu einer gewissen Tiefe in die Erde und verwandeln sich dort in eine Puppe, die meistens nur durch eine geglättete Höhle geschützt ist. Die meisten hingegen fertigen mittelst eines zähen, klebrigen Saftes, der aus den Spinndrüsen quillt, welche häufig die ganze Länge des Leibes einnehmen und neben dem Munde sich öffnen, ein mehr oder minder kunstvolles Gespinnst, einen Cocon, in dessen Innerem erst die Puppe liegt, an welcher sich meistens die einzelnen Körperabtheilungen, sowie der Rüssel schon unterscheiden lassen. Bekanntlich ist gerade das Gespinnst des Seidenwurms deshalb vor anderen brauchbar, weil der feste Faden, aus dem es gesponnen ist, mit äußerster Regelmäßigkeit in Spiraltouren angelegt ist und deshalb mit großer Leichtigkeit abgesponnen werden kann.
Innerhalb der Puppe entwickeln sich auf Kosten des in großer Masse angehäuften Bildungsstoffes während der Ruhezeit alle diejenigen Organe, durch welche sich der Falter von der Raupe unterscheidet. Namentlich bilden sich nun die Geschlechtsorgane aus, so daß der Schmetterling in dem Augenblicke, wo er die Puppeuhülse durchbricht, vollkommen zur Fortpflanzung befähigt erscheint. Gewöhnlich ist hierzu die Begattung unerläßlich, und in der That sehen wir die Männchen mit vielem Eifer dieselbe suchen und sogar in Auffindung der Weibchen von goßer Schärfe der Sinne Zeugniß ablegen. Alle Schmetterlingssammler wissen, daß man namentlich bei gewissen Nachtschmetterlingen, wenn sie auch sehr selten in der Gegend vorkommen, nur ein eben ausgeschlüpftes Weibchen angespießt in das Freie stellen darf, um nach Verlauf weniger Abendstunden einige Männchen in seiner Nähe versammelt zu sehen.
Gewöhnlich haben die Schmetterlinge nur eine einfache Generation während des Jahres. Der Falter erscheint im Frühlinge oder Sommer; die aus den Eiern schlüpfenden Raupen fressen während des Sommers, verpuppen sich im Herbste und lassen im Frühling den Falter wieder erscheinen. Oft auch, wenn die Falter erst später im Sommer erscheinen, überwintert die Raupe, frißt sich im Frühjahre noch fertig und verbleibt dann kürzere Zeit während des Vorsommers im Pnppenzustande. Doch findet man auch, namentlich bei den kleineren Faltern, manchmal zwei Generationen, indem Falter im Frühjahr und Herbst zum Vorschein kommen.
Unter den Tagfaltern (Papillo), welche sich durch große und breite, meist sehr lebhaft gefärbte Flügel, die in der Ruhe senkrecht über dem Körper getragen werden, durch an der Spitze geknopfte Fühler, langen Rüssel und ein häufig verkümmertes erstes Fußpaar auszeichnen, besitzen wir einzelne Feinde, die namentlich unseren Gärten wehe thun. Vor allen sind es die Weißlinge, deren wie mit Mehlstaub gepuderte Flügel häufig nur einzelne schwarze Adern oder Flecken zeigen, welche unseren Nutzgewächsen erbitterte Feinde sind. Der Baumweißling (Papillo crataegi), der unsere Birnen, Aepfelbäume, Pflaumen, Zwetschen verheert; der Kohlweißling (P. brassicae), der Kohl, Kraut, Wirsing, Raps, Rüben und Kohlraben angreift; der Rübenweißling (P. rapae), welcher außer denselben Pflanzen noch namentlich der wohlriechenden Reseda einen höchst verderblichen Krieg macht, sowie der Rübsaatweißling (P. napi), der namentlich dem Sommerrübsen nachstellt, gehören dieser Gruppe an, welche der Bauer in unserer Gegend mit dem freilich nicht allzu [793] eleganten Namen der „Wiesenschisser“ belegt. Die Eier aller dieser Schmetterlinge haben die Gestalt einer kurzhalsigen, kleinen Flasche und gewöhnlich eine gelbe Farbe und werden in Haufen von einigen Hundert an die Unterseite der Blätter der Nahrungspflanzen abgesetzt, wo man sie mit Leichtigkeit entdecken kann. Der Bauweißling fliegt hauptsächlich im Juli, und die vierzehn Tage nach der Ablagerung ausschlüpfenden Räupchen halten sich stets nesterweise zusammen, bilden sich auch durch Ueberspinnen von Blättern ein Nest, welches sie stets vergrößern und in welches sie bei schlechter Witterung oder bei allzu grellem Sonnenscheine sich zurückziehen. Im Anfange, wo die Räupchen noch sehr klein sind, fressen sie nur das Blattgrün, während sie das Geäder der Blätter stehen lassen, und dann sehen wirklich die kleinen gelblichen Thierchen mit schwarzem Köpfchen und Halsring, die dichtgedrängt in einer Reihe auf einem Blatte sitzen und im Ebenmaße vorwärts fressen, einer mikroskopisch weidenden Schafheerde nicht unähnlich. Im Herbste, wo die Thiere zu fressen aufhören, wird das Nest bedeutend verstärkt und häufig sogar so fest mittelst einer Art von Strang an die Zweige angeheftet, daß dieselben durch allzustarke Compression der Rinde absterben. In diesem Neste bringen die Raupen, indem sich jede noch eine besondere Zelle spinnt, in halber Erstarrung zu, um mit dem ersten Frühjahre die Blüthenknospen und das junge Laub zu zerstören. Ende April oder je nach den Jahren auch erst Ende Mai sind die Raupen ausgewachsen und wandern nun ebenso wie die Kohlweißlingraupen nach allen Seiten umher, um eine passende Stelle zur Verpuppung zu suchen. Jetzt werden sie namentlich in Land- und Gartenhäusern höchst unangenehm, indem sie überall eindringen und aller Orten die Ecken und Vorsprünge aufsuchen, um sich daran aufzuhängen und ihre eckige, gelb und schwarz getüpfelte Puppe zu bilden. Jetzt kann man aber auch sehen, welche Verwüstungen unter diesen Raupen die Schlupfwespen angerichtet haben. In manchen Jahren findet sich von Hunderten kaum eine, welche wirklich zur Verpuppuug gelangt; die andern sehen aus wie Glucken, welche über Eiern brüten, indem die gänzlich Matsch gewordene Raupe über den zahlreichen kleinen gelben Puppen der Schlupfwespen vertrocknet, welche sich aus ihrem Leibe hervorgebohrt haben.
Mit den Abendschwärmern (Sphinx), jenen meist großen, dickleibigen, spitzflügeligen Faltern, die gewöhnlich, ohne sich zu setzen, im Fluge schwirrend die Blumen aussaugen, hat die Landwirthschaft wenig zu schaffen; wenn auch ihre Raupen gewaltig groß und gefräßig sind, wie z. B. die Raupe des Todtenkopfes (Sphinx atropos), welche auf dem Kartoffelkraut gewöhnlich die Länge eines halben Fußes und die Dicke eines Mannsfingers erreicht, so treten sie doch nie massenhaft auf, um wahrhaft zerstörend wirken zu können. Auch hier, wie überall in der Natur, macht sich das Gesetz geltend, daß es nicht die Wucht des einzelnen Individuums, sondern im Gegentheil die Zahl der kleineren Individuen ist, welche in dem großen Wechselspiele der Natur die bedeutendste Rolle übernimmt. Die mikroskopischen Thiere und Pflanzen sind es hauptsächlich, welche massenbildend aufgetreten sind und Schichten und Gebirge aufgebaut haben, und ganz in gleicher Weise sehen wir bei dem Gegenstande, der uns hier beschäftigt, gerade die kleinen Arten als Verwüster, die größeren dagegen nur in untergeordneter Rolle auftreten.
Wenn wir die Schwärmer bei Seite lassen können, so ist es nicht möglich, den Spinnern (Bombyx) gegenüber dieselbe Indifferenz zu behaupten. Giebt es ja doch hier Arten, hinsichtlich deren sich selbst die liebe Polizei in das Zeug geworfen hat und höchst merkwürdiger Weise sogar mit voller Berechtigung, während ihr sonst gewöhnlich das unverzeihliche Unglück begegnet, zu verkehrter Zeit und an verkehrtem Orte einzuschreiten. Auch unter den Spinnern, welche sich durch ihren dicken, meist über und über behaarten Körper, große in der Ruhe dachförmig zusammengelegte Flügel, sehr kurzen Rüssel und bei den Männchen doppelt gekämmte Fühler auszeichnen, hat man sich am meisten vor dem Weiß der Unschuld zu hüten, in welches sich die gefährlichsten Arten gleißnerischer Weise hüllen. Die Spinner fliegen nur bei Nacht, huschend und flatternd von Zweig zu Zweig, und sehr charakteristisch nennt sie der Berner Dialekt „Nachthuddel“. Hüte dich also, Jüngling, der du den ererbten väterlichen Obstgarten weiter bebauen willst, vor den „Nachthuddeln“[2], die in weißer Hüllung Abends und Nachts umherschwärmen und ihren Eierschwamm an deinen Fruchtbäumen anzulegen beabsichtigen! Da ist der Goldafter (Bombyx chrysorrhoea), der Goldsteiß (Bombyx auriflua) und der Großkopf (Bombyx dispar), die alle drei unter den Schmetterlingen gewissermaßen die Rolle des Pelikans spielen, indem sie die Haare ihres Hinterleibes ausrupfen, um ihre Eier damit zu bedecken, die aber trotz dieses schönen Zuges von Elternliebe durchaus kein Mitleid verdienen. Die von den braungelben Haaren dicht bedeckten Eier, welche nicht auf der Unterseite der Blätter abgelegt werden, gleichen in der That kleinen Stückchen Schwamm, und auch die Löcher fehlen nicht, sobald die Räupchen ausgeschlüpft sind. Alle diese Raupen weiden zuerst das Blattgrün von den Blättern ab, während sie später, wenn sie stärker geworden sind, die ganzen Blätter verzehren. Die Nachkommen der beiden ersten Arten überwintern als Raupen; die des Goldafters in großen dickgesponnenen Nestern, die an den Zweigen befestigt sind; die des Goldsteißes in Einzelgespinnsten, welche an verborgenen Orten angebracht werden; im Frühjahre nach dem Hervorbrechen der Blätter wird dann noch ein Hauptfraß gehalten, nach welchem die Raupe sich verpuppt. Die Räupchen des Großkopfes, der erst spät im Herbste seine Eier legt, kriechen sogar erst im Frühjahre aus.
Nicht weniger gefährlich, als die genannten, ist der Ringelspinner oder die Gabelraupe (Bombyx neustria), ein rothgelber Spinner mit brauner Binde auf den Flügeln, der sich besonders durch die sonderbare Art auszeichnet, wie er seine Eier ablegt. Der Eierhaufen bildet ein förmliches Halsband um einen dünnen Zweig, indem die einzelnen Eier aufrecht stehend in eine klebende Masse eingegossen sind, welche allmählich erhärtet und so fest wird, daß sie förmlich federt, wenn man an einer Seite den Ring spaltet. Die Eierchen sind ganz kunstvoll, eines neben dem andern, in diese harte Masse eingegossen, doch immerhin nicht hinlänglich verwahrt, um allen Angriffen der Schlupfwespen Widerstand leisten zu können. In diesem Zustande trotzen die Eier aller Unbill des Winters, um im Frühjahre auszukriechen und über die ersten Knospen herzufallen.
Von einem Rheinländer.
Es war wenige Tage nach seinem vom ganzen deutschen Volke gefeierten neunzigsten Geburtstage, daß der jugendlichste aller Greise, Ernst Moritz Arndt, in einer kleinen, traulichen Versammlung und bei einem Glase rheinischen goldenen Weines, die um ihn vereinten Freunde durch sein Feuer, seine Geistesfrische und die liebevolle Wärme, die sein ganzes Wesen wohlthuend durchglühte, erfreute und rührte. Man sah es dem heitern Jubilar an, wie wohl es ihm that, nach der Aufregung der letzten Tage, in denen er Deputationen und Festgeschenke aus allen Theilen Deutschlands hatte empfangen und wenigstens einige hundert telegraphische Depeschen beantworten müssen, endlich wieder einmal in engerem Kreise zu weilen. Unter den Anwesenden befanden sich Dahlmann, der unerschütterliche und glänzende Streiter für Recht und Freiheit, den das Vaterland seitdem leider auch verloren, Welcker, der ehrwürdige Nestor der Archäologen und Bruder des berühmten deutschen Volksmannes, und der rheinische Dichter Wolfgang Müller. Das Gespräch bewegte sich froh und heiter hin und her, zumeist aber lauschten wir dem herrlichen Alten, dem ein unerschöpflicher Redestrom von den Lippen zu fließen schien. Mit einer seltenen Elasticität des Geistes eilten seine Gedanken von einem Gegenstande zum andern, während er daneben für Jeden, auf dem gerade sein treues Auge ruhte, ein liebevolles Wort oder eine kleine Neckerei übrig hatte. So klopfte er z. B. mitten heraus aus einer Erörterung über die Deutschland im Westen eigentlich [794] zukommenden Grenzen, einem jungen Manne, den er sehr lieb hatte, mit der Hand wider die linke Seite der Brust und behauptete, trotz aller gegenteiligen Versicherungen desselben, er allein wisse, daß in dem unruhig pochenden Dinge da drinnen seit kurzem eine allerliebste Königin eingezogen sei. Einem aus Berlin anwesenden Gaste lieferte er aus dem Stegreife eine höchst humoristische und diesem durchaus nicht schmeichelhafte Erklärung der im Altdeutschen feststehenden Bedeutung seines Familiennamens, und Müller, den er nicht gleich wiedererkannt hatte, rief er plötzlich die sehr komisch wirkenden Worte zu: „Seid Ihr nicht Königswinter?“ So heißt nämlich das romantisch gelegene rheinische Städtchen am Fuße des Drachenfels, dessen Namen der Dichter zur Unterscheidung von einer Legion anderer Müller seinem Namen zugefügt halte. Am liebsten aber schweiften seine Gedanken in der reichen und großen Vergangenheit, die er nicht nur erlebte, sondern in die, er selber auch als einer der Tüchtigsten und Thatkräftigsten mit eingriff. Bald schilderte er uns die Tage der tiefsten Erniedrigung unseres Vaterlandes unmittelbar nach der Schlacht von Jena, bald den großartigen Aufschwung und die stammende Begeisterung des deutschen Volkes in den Freiheitskriegen, dann wieder seinen unvergeßlichen Freund, den er selber so treffend den politischen Luther Deutschlands nannte, den Freiherrn von Stein, und endlich seine ferne Heimath, die schöne Küste der blauen Ostsee und das von nordischer Sage verklärte Rügen.
Von hier kam er, ohne einen zu großen Sprung zu wagen, aus Schleswig-Holstein und mit großer Strenge auf „den putzigen kleinen Dänen“ zu reden, eine Gesammtbezeichnung eines ganzen Volkes, die, als er sie früher einmal öffentlich gebrauchte, die reizbaren Kopenhagener zu einer Beschwerde durch den dänischen Bundestagsgesandten in Frankfurt aufstachelte. Einmal in Seeland, war auch die Küste Skandinaviens nicht mehr fern und mit ihr seine Schweden und Norweger, für die er von jeher eine zärtliche Vorliebe hatte. Es war überhaupt rührend zu bemerken, wie die Völker Europas, je nachdem sie entweder selber Germanen oder doch germanischer Abkunft waren, seinem Herzen näher oder ferner standen. So sprach er z. B. von den Dänen keineswegs als von uns angeborenen Feinden, was er von den Franzosen that, sondern nur wie von einem eitlen und naseweisen kleinen Burschen, den seine allzu langmüthigen Vettern endlich einmal auf die Finger klopfen müßten, damit er sich gegen so ehrwürdige und mächtige Verwandte mit dem geziemenden Respecte betragen lerne. Die Schweden aber zog er selbst den Engländern vor, auf die er doch sonst große Stücke hielt; sie kamen ihm gleich nach den Deutschen. Diesmal steigerte er sich in ihrer Bewunderung sogar zu der Behauptung, daß, ich weiß nicht mehr in welchem Kriege, ein einziges finnländisches Dragonerregiment sechs polnische Uhlanenregimenter in die Flucht geschlagen und gänzlich aufgerieben habe! –
Wer von uns Allen, die wir den feurigen Greis, mit dem schneeweißen Haare, aber der noch kräftigen, untersetzten Gestalt, in voller Geistesfrische vor uns sahen und seine mächtig tönende Stimme vernahmen, hatte gedacht, daß ein paar Wochen später der Winter seine weiße Flockendecke über seinen Grabhügel streuen würde? Mußten wir doch im Gegentheil glauben, daß der theuere Alte, dem so eben wieder alle deutschen Stämme wie einem gemeinsamen Vater ihre Huldigungen dargebracht, uns und seinem Volke noch lange erhalten bleiben werde, da er an seinem neunzigsten Geburtstage körperlich und geistig so aufrecht vor uns dastand. Unser Wirth sprach daher nur unser Aller Gedanken aus, als er zum Schlüsse des heiteren Mahles sein Champagnerglas erhebend ausrief: „Stoßen wir darauf an, daß wir in zehn Jahren den hundertsten Geburtstag unseres Vaters Arndt feiern!“ – „Nein,“ erwiderte Arndt, „das hundertste Jahr erreiche ich nicht. Mir träumte einst, als ich noch jung war, ich sähe meinen Leichenstein und darauf zur Linken die Zahl Neun, während die zur Rechten befindliche Ziffer meinem Auge unleserlich blieb. Seit dieser Zeit – ja, lächelt nur über des Alten Aberglauben – stand es mir fest, daß ich wohl einmal das 60 Jahr erreichen, aber auch nicht weit darüber hinaus kommen würde, und Ihr werdet bald sehen, daß ich mich nicht täuschte. Was thut’s auch? habe ich doch lange genug gelebt, um noch eine große Hoffnung mitzunehmen und die heißt: Deutschland! Wir sind zwar noch weit entfernt von der Erfüllung des großen Gedankens, der mein ganzes Dasein durchdrang und bestimmte; noch weit entfernt von dem Tage, da ein einziges großes Volk vom adriatischen Meere und den Alpen bis zu den Belten, von der Schelde und der Maas bis zum Niemen wohnen wird. Aber wir haben doch schon große Schritte auf dieses Ziel hin gethan, und daß wir’s erreichen, dafür wird nächst Gott das deutsche Volk selber sorgen. Nur einen Wunsch habe ich noch für mich persönlich und möchte ich erfüllt sehen, bevor ich scheide. Ich erhielt gestern von unsern vlämischen Brüdern in Belgien eine ebenso herzliche wie feierliche Einladung zu dem nächsten großen Vlamen-Congresse. Seht, da möchte ich noch hin, um jenem herrlichen, uns so nahe verwandten Stamme ein Abschiedswort aus vollem Herzen zuzurufen, ehe diese Lippen für immer verstummen. Glaubt mir, von den Vlamändern, die seit zwei Jahrzehnten angefangen haben, so tapfer für die große Idee ihrer nationalen Zusammengehörigkeit mit uns zu streiten, wird uns vielleicht noch einmal ein Anstoß kommen, der uns aus unserer immer noch erschreckenden Gleichgültigkeit gegen unsere nationale Existenz und aus unserer unglückseligen Stammes-Eifersüchtelei aufrütteln und in unseren hochherzigen Brüdern jenseits der Maas ein leuchtendes Vorbild erkennen lassen wird. Denn die Vlamänder haben, obgleich nicht mehr zum Reiche gehörig und dessen Schutze längst entrückt, niemals aufgehört, seitdem sie sich wieder als Germanen empfanden, das große Ganze im Augen zu behalten, während wir Anderen das nur locker noch zusammenhängende und schon so sehr zerrissene Vaterland durch unsere widerwärtigen konfessionellen Vorurtheile, unseren lächerlichen Provincialismus und die damit zusammenhängenden traurigen Stammesgehässigkeiten womöglich noch tiefer in seinem Innern spalteten!“ –
So sprach Vater Arndt wenige Tage zuvor, ehe er uns für immer entrückt ward. Uns, den Hinterbliebenen, aber sollen diese Worte ein theueres Vermächtniß und ein Grund mehr sein, unsern Brüdern in Belgien unser ganzes Herz zuzuwenden, ja ihnen mit dem Schwerte in der Hand beizuspringen, wenn der Gallier es wagen sollte, die Bedingungen ihres nationalen Daseins zu bedrohen.
Aber stehen uns denn die Vlamänder wirklich so nahe? wird vielleicht mancher unserer Leser fragen. Es sei mir, um hierauf zu antworten, vergönnt, wenigstens nur Einiges von den Untersuchungen mitzutheilen, zu denen mich gerade Vater Arndt’s Interesse an dem vlämischen Bruderstamme zuerst anregte.
Unser norddeutsches Tiefland, das eigentlich schon in Frankreich auf der Wasserscheide zwischen Schelde und Somme beginnt und sich bis in die russischen Ostseeprovinzen fortsetzt, wird von einer Reihe nahe verwandter Stämme bewohnt. Man kann sie sämmtlich unter dem allgemeinen Begriffe „niederdeutsch“ zusammenfassen, wie denn, in unmittelbarem Anschluß an diese Bezeichnung, Holländer und Belgier noch bis zum Jahre 1830 gemeinsam „Niederländer“ genannt wurden. Auch eine besondere Mundart, das „Plattdeutsche“, ist so ziemlich allen Stämmen gemein. Nicht weniger ist der äußere Habitus dieses einige zwanzig Millionen umfassenden Menschenschlages derselbe. Dies zeigt sich nicht etwa allein in dem verwandten Gepräge, das eine ähnliche Beschäftigung und Landesbeschaffenheit einer Bevölkerung aufdrückt, also hier z. B. überseeischer Handel, Schifffahrt, Zusammenleben in großen volkreichen Städten und Seeplätzen, Anbau fetter von Dämmen geschützter Marschländer u. s. w., auch nicht allein in der Wirkung, die ein beständiger Kampf mit den Elementen, mit Wellen und Sturm, und ein Horizont, der ferne Welttheile umfaßt, auf Seele und Körper üben, sondern weit mehr noch in den charakteristischen Kennzeichen ein und derselben Race, so wie in der wunderbar übereinstimmenden Gemüthsart und Charakteranlage, der wir beim Vlamänder wie beim Friesen und Ostpreußen, beim Niederländer wie beim Holsteiner oder Schleswiger begegnen. Bei allen finden wir dasselbe zähe und entschlossene Festhalten an ihren Rechten und Traditionen, dieselbe Anhänglichkeit an Vaterland und Stammeseigenthümlichkeit, an der es leider manchen Süddeutschen, z. B. den Elsässern, so gänzlich mangelt, denselben behaglichen und phlegmatischen Gleichmuth, gewürzt durch einen derben Mutterwitz, und vor allem dieselbe Entwicklung eines schönen Unabhängigkeits- und Freiheitssinnes, für den, eben so wie in älterer Zeit die Freiheitskriege der Niederländer, in unseren Tagen die Kämpfe der Schleswig-Holsteiner glänzendes Zeugniß ablegen.
Die Holländer und Belgier dürfen sich der freiesten Verfassungen in ganz Europa rühmen. Aehnlich beziehungsvoll sind die Bewohner Ostpreußens und der nördlichen Hälfte der Rheinprovinz, also gerade desjenigen Theils, der noch mit in die große niederdeutsche Ebene hineinreicht, die politisch fortgeschrittensten ganz [795] Preußens. Die an Hannovers Nordseeküste wohnenden Friesen endlich sind der Kern jener Opposition, die weder an eine Dauer des „Welfenreiches“ bis an das Ende der Tage glauben, noch sich, außer für die deutsche, für eine hannöver’sche Nationalität erwärmen will. Und selbst in Pommern und Mecklenburg regt sich in neuester Zeit wieder jener zähe und von seinem Rechtsbewußtsein getragene Widerstandsgeist gegen die Uebergriffe von Junkern und Pfaffen, der dereinst die zur Hansa gehörigen Städte dieser Lande auszeichnete.
Aber das Gefühl der nationalen Zusammengehörigkeit aller Niederdeutschen reicht noch weiter als bis zu den Zeiten der Hansa zurück. Schon Civilis, der kühne Heerführer der heidnischen Vorfahren der heutigen Niederländer, der Bataver, forderte, als er sich gegen die Römer empörte, die Seinen zum Bündniß mit Deutschland auf, indem er sie darauf hinwies, daß die Deutschen ihre „Blutsverwandten“ seien. Das Bewußtsein dieser nationalen Zusammengehörigkeit tritt auch in späteren Epochen mannigfach hervor. Im Mittelalter standen die Niederlande, von verschiedenen Herzögen und Grafen beherrscht, unter der Oberlehnsherrlichkeit der deutschen Kaiser, später bildeten sie sogar einen der zehn Kreise des deutschen Reiches. Und neben einer solchen äußeren wuchs auch die tiefste innerste Gemeinschaft zwischen Niederländern und Deutschen. Dies lehrt am überzeugendsten die deutsche Reformation. Ihr unwiderstehliches Eindringen in die Herzen und Gemüther der ihren deutschen Nachbarn gleichgearteten Niederländer gab den ersten Anlaß zum Abfall derselben von dem finster katholischen Spanien. Und hier wird es nun schon interessant für den Punkt, von dem wir ausgingen, für das germanische Element in Belgien, daß es gerade die vlämischen Provinzen der Niederlande waren, in denen die Bewegung zuerst und am gewaltsamsten aufloderte. Wenn auch Belgien wieder katholisirt wurde, so lebt doch auch heute noch in seinen Bewohnern der alte germanisch-protestantische Geist der Freiheit fort und liefert in den Brüsseler Kammern den Ultramontanen seine Schlachten. –
Auch in der Kunst gingen Niederländer und Deutsche von jeher Hand in Hand. Der Vater der gesammten Kunstentwicklung in den Niederlanden, Johann van Eyck, ist im Limburg’schen, also dem Theile Hollands geboren, der heute noch zu Deutschland gehört, und empfing seine erste Anregung durch die altdeutsche Malerschule im benachbarten „heiligen“ Köln. Nach den Freiheitskriegen spaltete sich die niederländische Schule bekanntermaßen in die nördliche holländische und die südliche flandrische. Während der bedeutendste Meister der ersteren, Rembrandt vom Rhein, am vaterländischsten unserer Ströme geboren wurde, sollte auch der hervorragendste Meister der flandrischen Schule, Peter Paul Rubens, Deutschland angehören. Er sowohl wie der herrlichste Held der Freiheitskriege der Niederländer, Wilhelm von Oranien, stammen aus dem kleinen Ländchen Nassau.
Wie in der Malerei die Niederländer von Deutschland her die erste Anregung empfingen, so sollten in der Tonkunst die Deutschen umgekehrt bei den Niederländern in die Schule gehen. Schon im neunten Jahrhundert begegnen wir in dem vlämischen Kloster St. Amand einem Mönche Hukbald, der den Versuch wagt, Gesang mit mehreren Stimmen zu begleiten. Doch erst mit Orlandus Lassus erreicht die niederländische Tonkunst ihre höchste Blüthe. Mit ihm beginnt auch die Einwirkung derselben auf Deutschland und zwar durch den herrlichen thüringischen Meister Ekkard, der des Lassus persönlicher Schüler war. Wir machen noch ganz besonders darauf aufmerksam, daß es hauptsächlich die vlämischen Provinzen waren, in denen jenes selbstständige Leben der Tonkunst begann, das später einen so mächtigen Einfluß auf Deutschland üben sollte. Eine solche Thatsache gewinnt noch an Bedeutung, wenn wir hinzufügen, daß auch in neuester Zeit die Tonkunst die Vlamänder wieder mit ihren deutschen Brüdern verknüpfen sollte.
Als es nämlich französischen Ränken in Verbindung mit der Julirevolution gelungen war, die vlämischen Provinzen von Holland zu trennen, hoffte die ländergierige und herrschsüchtige französische Nation, sowie sie auf ähnlichen Umwegen uns Deutschen Elsaß und Lothringen entrissen, bereits auch den ersten Schritt zur Einverleibung Belgiens in Frankreich gethan zu haben. Die wallonischen und französischen Elemente der belgischen Bevölkerung machten jedoch ihr durch Frankreich erlangtes Uebergewicht bald in einer Weise geltend, welche die Vlamänder, die die Majorität der Einwohner bilden, erst stutzen ließ und endlich zum Widerstande trieb. Sie war vielleicht die erste Ursache, daß die Vlamänder sich wieder ihrer deutschen Abstammung erinnerten, und in dem Bewußtsein ihrer geistigen Zusammengehörigkeit mit einer Nation von fast fünfzig Millionen die moralische Kraft zu jenem herzerhebenden Aufschwunge fanden, der bereits vor mehr als fünfzehn Jahren anhub und jetzt beinahe schon das große Ziel, den vlämischen Stamm für immer vor Französirung sicher zu stellen, erreicht hat. Und hierzu hat nun eben auch die Tonkunst abermals mit beigetragen.
Wir haben die nationale Bedeutung der Zusammenkünfte Tausender von Männern ein und derselben Abstammung an dem Frankfurter Schützenfeste und den deutschen Turnerfesten zu erkennen Gelegenheit gehabt. Aehnlich wirken seit einer Reihe von Jahren Musikfeste, bei welchen sich vlämische und deutsche Männer die Hände schütteln und die ihre politische Bedeutung schon durch ihren Namen „Deutsch-vlämische Männergesangfeste“ bekunden. Das erste in größerem Maßstabe gefeierte fand in Köln noch unter Felix Mendelsohn’s Direction statt; nach diesem glänzte vor allen Festen das zu Gent. Der ganze Ort, mit seinen ehrwürdigen, alterthümlichen Gebäuden und blühenden modernen Vorstädten, halte sich mit Fahnen und Blumen bedeckt, an seinen Fenstern standen schöne Frauen und Jungfrauen, und eine festlich durch die Straßen wogende Volksmenge harrte der Ankunft der deutschen Brüder. Der geschmückte Dampfzug, der die Ersehnten endlich brachte, wurde von den vlämischen Sängerbünden mit endlosem Jubel empfangen und unter dem Vorantritt rauschender Musikchöre wie im Triumph durch die Stadt nach der Sängerhalle geleitet, wo aus dem Herzen dringende Ansprachen, die die Blutsverwandschaft der Vlamänder und Deutschen betonten, mit dem Vortrage deutscher und vlämischer Lieder wechselten.
Den Sängerfesten folgten bald jene auch aus Deutschland zahlreich beschickten vlämischen Congresse, zu deren einem, wie wir Eingangs dieser Zeilen erzählten, der alte Arndt kurz vor seinem Tode eine so glänzende Einladung erhielt. Bei der großartigsten dieser Versammlungen, die in Antwerpen tagte, ward ein seitdem bei den Vlamen Nationallied gewordenes Gedicht vertheilt, dessen Namen, aus dem Vlämischen in’s Deutsche übersetzt, wörtlich lautet: „Das große deutsche Vaterland!“ – In Brüssel ward sogar unter dem Namen „der Pangermane“ ein Journal begründet, dessen Ausgabe ausschließlich in der Wahrung vlämisch-deutscher Interessen besteht. Die vlämische Literatur war schon früher erwacht und hatte, wie die Malerei in de Kayser, in Hendrick Conscience einen glänzenden Führer gefunden. Und als 1859 in Belgiens Hauptstadt eine Ausstellung von Cartons deutscher Maler stattfand, erschien in feierlichem und zahlreichem Zuge eine Künstler-Deputation aus Gent und legte bei den apokalyptischen Reitern des Altmeisters Cornelius einen Lorbeerkranz nieder, dessen golddurchwirktes Band die Inschrift trug: „Het gentsche Kunstgenootschap aen hunne duitsche Kunstbroeders.“
Wichtiger aber als dies Alles ist die Stellung, die die vlämische Bevölkerung Belgiens seit dem Beginn der nationalen Bewegung auf politischem Gebiete eingenommen. Die Vlamen haben es durch ihre entschiedene Haltung dahin gebracht, daß ihrer Sprache eine weit gerechtere Berücksichtigung zu Theil ward, als dies früher unter vorwaltend französischen Einflüssen geschah. Die trauten Mutterlaute ertönen seitdem nicht nur allein im häuslichen und Familienkreise, wo sie niemals verdrängt wurden, sondern gelangen auch in den verschiedensten Gebieten des öffentlichen Lebens zu der ihnen gebührenden Geltung. Ja, es ist so weit gekommen, daß eine Regierung mit französischen Tendenzen in Belgien gegenwärtig unmöglich sein würde. Wir führen hierfür nur ein Beispiel an.
Als der französische General Espinasse bei einer vor drei Jahren in Lille gehaltenen Festrede die Worte aussprach: „Ich hoffe, daß Lille bald aufhören wird eine Grenzfestung zu sein,“ antworteten ihm die Belgier durch die Befestigung von Antwerpen, unbekümmert um den Chorus gereizter und drohender Stimmen, in den die französische Presse hierüber ausbrach. –
Man könnte mit Recht fragen, warum die Holländer, die uns in allen Beziehungen wenigstens ebenso nahe verwandt sind, wie die Vlamänder, sich bis zum heutigen Tage so viel zurückhaltender und fremder zu ihren deutschen Brüdern gestellt haben, als jene. Die Antwort ist leicht. Es droht den Holländern weder, wie den Vlamen, unmittelbare Gefahr durch einen ländergierigen, übermächtigen Nachbar, da Deutschlands Bestrebungen im Gegensatze [796] zu Frankreich immer nur auf eine Geistesgemeinschaft mit seinen Stammesbrüdern gerichtet sind, noch haben sie ihre Nationalität im eigenen Lande, wie die Vlamen gegen Wallonen und Franzosen, zu behaupten, da ganz Holland von Niederdeutschen bewohnt ist. Dazu kommt noch die Erinnerung an die vielen Verluste und Einbußen, die sie im Laufe der Zeiten erdulden mußten. Die Engländer stürzten ihre Herrschaft zur See, und Frankreich brachte sie um Belgien. Solche Erlebnisse machen ein nicht mehr die Weltgeschicke mitentscheidendes und wenig zahlreiches Volk mißtrauisch und ängstlich und mußten es, indem sie es seine herrliche, ruhmreiche Geschichte unter einem falschen Gesichtspunkte auffassen ließen, zu einem kalten, vornehmen Zurückziehen auf sich selber veranlassen. Doch haben sich auch bei den Holländern in letzter Zeit die ersten Merkmale einer tieferen Erkenntniß ihres Verhältnisses zu ihren deutschen und vlämischen Brüdern kund gethan. Bei der Eröffnung der Eisenbahn zwischen Köln und Amsterdam sprachen die in der Metropole des Rheinlandes versammelten holländischen Festgäste in warmer, begeisterter Rede das Bewußtsein ihrer inneren Zusammengehörigkeit mit Deutschland aus. Als wenige Tage später die nach Amsterdam geladenen Deutschen in großer Anzahl anlangten, empfingen die Holländer ihre Gäste auf dem Bahnhöfe mit Arndt’s „Was ist des Deutschen Vaterland?“ –
Hoffen wir denn, daß das in dem Arndt’schen Liede enthaltene schöne Wort, Deutschland solle reichen, „so weit die deutsche Zunge klingt und Gott im Himmel Lieder singt,“ in den Herzen und Gemüthern unserer vlämischen und holländischen Bruder zur Wahrheit werde. Dann dürften sie dereinst neben den tausendfachen äußeren auch die tiefen inneren Beziehungen mit Deutschland erkennen. Ist es nicht bezeichnend für die letzteren, daß gerade unsere beiden größten Dichter die Niederländer verherrlichen? Nie sind sie wahrer und rührender in ihrer Vaterlandsliebe, Treue und Tüchtigkeit dargestellt worden, als in Goethe’s Egmont. Nur das verwandte Herz kann in so bewegter Weise das Bruderherz schildern. Und wie schwärmerisch begeistert spricht Schiller durch seinen Posa oder in seiner Geschichte des Abfalls der Niederlande von unseren vlämischen und holländischen Brüdern! Möchten die Niederländer darum den Schweizern in der Anerkennung des großen Dichters nacheifern, der die Befreiung zweier uns so nahe verwandter Völker in flammender Schilderung der Nachwelt überlieferte.
Des alten Arndt letzter Wunsch ging zu Euch, Ihr theuern vlämischen Bruder. Das Geschick hat ihm denselben nicht erfüllt. So kommt denn zu uns an dem nicht mehr fernen Tage, da des greisen Helden Standbild am linken Ufer des Rheins sich enthüllen wird, und macht durch Eure Gegenwart des unvergeßlichen Mannes Wort in neuer und herrlicher Wese wahr: „Der Rhein Deutschlands Strom, nicht Deutschlands Grenze!“
Zu W. Bauer’s deutschem Taucherwerk.
Ein Hauptbestandtheil des Bauer’schen Hebeapparates sind die großen Luftpumpen, deren er bedarf, sowohl um den Tauchern fortwährend frische Luft zum Einathmen in die Tiefe hinabzuschicken, als auch um die Kameele und Hebeballons aufzublasen und ihnen Tragkraft zu geben.
Es ist unsern Lesern erinnerlich, daß die ersten Luftpumpen, deren sich Bauer bei den geringen ihm von Haus aus zu Gebote stehenden Mitteln bedienen konnte, aus nichts weiter bestanden als aus ganz gewöhnlichen Feuerspritzen, bei welchen die in dem Windkessel zusammengepreßte Luft auf das Wasser wirkt und dasselbe in einem Strahl zum Schlauch hinaus treibt. Statt des Wassers aber ließ Bauer einen Luftstrahl in die Tiefe schicken, und welche Erfolge er mit diesen mangelhaften Apparaten erreichte, das beweisen die ersten Hebungen des Ludwig. Freilich konnte die große Mangelhaftigkeit der Apparate nur durch einen großen Aufwand, eine wahrhafte Verschwendung an Arbeitskraft einigermaßen ausgeglichen werden.
Diesem Umstande schenkte Bremen bei seiner Betheiligung an dem nationalen Sammelwerk für Bauer seine volle Beachtung, und kennzeichnete dies dadurch, daß es Bauer die Mittel zur Herstellung von zwei ausgezeichnet sorgfältig gearbeiteten Luftpumpen (Compressionspumpen) darbot, mit deren Hülfe der bedeutende Druck, der in einer Wassertiefe von 73 Fuß wirkt, mit Leichtigkeit überwunden wird. Wir geben beistehend eine Abbildung dieser nach Bauer’s Angaben construirten Luftpumpen und knüpfen daran einige Erläuterungen, welche wiederum dem Bauer’schen Scharfsinn in Erfindung eigenthümlicher, zweckmäßiger Vorrichtungen das brillanteste Zeugniß ausstellen. Man sieht auf der Abbildung zwei Cylinder, in welchen je ein Kolben luftdicht sich mittelst eines Hebels auf und ab bewegen läßt. In dem Stadium, welches unsere Zeichnung versinnlicht, ist der linke Kolben im Herabgehen, der rechte im Heraufsteigen begriffen. Durch diese Bewegung wird die Luft aus dem linken Kolben heraus und durch ein metallenes im obern Theil des Cylinders einmündendes Leitungsrohr in den Kautschukschlauch gepreßt, welcher sie in die Tiefe des Wassers führt. In den rechten Cylinder dringt dagegen durch ein im Kolben befindliches und sich nach unten öffnendes Ventil Luft ein, die ihrerseits bei dem Niedergehen des rechten Kolbens ebenso in den Kautschukschlauch gepreßt wird, wie jetzt die Luft des linken Cylinders.
Soweit stimmt die Einrichtung dieser Compressionspumpen mit den bisher in Gebrauch befindlichen überein. Da aber Bauer bei seinen früheren Versuchen die Beobachtung gemacht hatte, daß bei einer fortgesetzten Arbeit mit den Pumpen durch die Reibung des Kolbens und durch die Zusammenpressung der Luft eine sehr bedeutende Erhitzung des Cylinders eintrat, durch welche alle Dichtungen und Packungen sehr schnell zerstört wurden, so sind die Cylinder dieser Pumpen so eingerichtet, daß der Kolben nicht in seiner ganzen Länge dicht in dem Cylinder geht, sondern der Kolben läuft nur im Deckel durch eine Lederkappe gedichtet, der eigentliche Cylinderraum hat einen Durchmesser, der um etwa einen Zoll größer ist, als der Durchmesser des Kolbens. Dieser Zwischenraum wird mit Wasser oder Oel angefüllt und bildet somit einen beweglichen Piston, der bei jedem Niedergang des Kolbens in die Höhe gepreßt wird und die Luft hinausjagt, bei jedem Aufgange aber wieder zurücksinkt uns durch seinen Fall die Luft mit einsaugt. Die für gewöhnlich metallenen Ventile sind durch Kautschukscheiben ersetzt.
Um nun für verschiedene Tiefen oder für verschiedene Compression der Luft zwischen 6 und 10 Atmosphären immer die Pumpen durch dieselbe Kraft, etwa dieselbe Anzahl Menschen oder eine bestimmte Dampfkraft, in Thätigkeit setzen zu können, hat Bauer noch die Vorrichtung angebracht, daß der Stützpunkt des Kolbens sich durch Umstecken eines Dornes verschieben läßt. Es läßt sich damit die wirkende Hebellänge so weit reguliren, daß allein dadurch die Verschiedenheit der Widerstände ausgeglichen wird. Selbstverständlich wird bei Verlängerung des Hebels die Hubhöhe verringert, denn was an Kraft gewonnen wird, muß an Geschwindigkeit verloren gehen.
Bei der ausgezeichneten Tüchtigkeit der Ausführung ist aber das Spiel der Maschine ein so leichtes, daß trotz eines Kolbendurchmessers von 11 Zoll und einer Hubhöhe von 1 Fuß bairisch bei gewöhnlicher Spannung ohne Comprimirung der Luft eine Kraft von 8 Pfund hinreicht, um 1600 Kubikzoll Luft zu bewegen, von denen 800 Kubikzoll von dem einen Kolben aufgesaugt, die andern 800 Kubikzoll von dem andern ausgepreßt werden.
Während 19tägiger Arbeit auf dem Bodensee haben sich diese Bauer’schen Pumpen in ihrer Vorzüglichkeit bewährt. Sie hatten den Druck einer Wassersäule von 73 Fuß oder ein Gewicht von 361/2 Pfund für jeden Quadratzoll auszuhalten und wurden sowohl für die Taucher als zur Füllung der Ballons verwendet. Ohngeachtet sie durchschnittlich 8 Stunden unausgesetzt in Thätigkeit waren, blieben Kolben, Cylinder und Lederpackung vollständig kalt, obwohl die durch die Verdichtung erhitzte Luft den Schlauch und die Druckröhre bis zurück zum Ventil erwärmte. Dadurch aber erfüllte sich die Grundbedingung einer lange Zeit und anhaltend brauchbaren Luftpumpe auf das Schönste von selbst.
[797] Zur Erprobung der Schiffhebung konnten vor der Hand nur zwei dieser Luftpumpen beschafft werden, obwohl zur rechten Förderung der Arbeit wenigstens deren vier gehörten, um, sobald es nothwendig, zwei Taucher und zwei Ballons oder Kameele an beiden Schiffsseiten zugleich mit Luft versehen zu können. So lange die Mittel dazu nicht ausreichen, so lange nicht ein zweites Bremen in Deutschland sich findet, um die Herstellung von noch zwei solchen Pumpen für das Unternehmen zu ermöglichen, so lange müssen immer noch Schlauchfeuerspritzen als nicht einmal allezeit zuverlässige Aushülfe eintreten.
Die Luftpumpen führen uns zu den Tauchern; ihre Arbeit ist bei der Schiffhebung nach Bauer’s System der wichtigste, daher für sie die größte Aufmerksamkeit, aber auch über sie die strengste Controle nothwendig ist, wenn sie nicht selbst von der Ehre ihres Berufs durchdrungen sind und im Erfolg ihrer Arbeit einen unvergänglichen Lohn zu erkennen vermögen.
Auch an den Taucherapparaten hat der menschliche Scharfsinn sich schon vielfach erprobt. Die Neugierde, die Wißbegierde und der Erwerbtrieb standen ohne Zweifel schon frühe vor manchem tiefen Wasser, und für die Befriedigung derselben haben wohl Tausende, wie Schiller’s Taucher, ihr Leben gelassen, denen der Königsbefehl dazu aus der eigenen Brust kam. Das Geheimnißvolle zieht uns ewig nach der stillen Tiefe: Jeder trägt die Sehnsucht von Goethe’s Fischer und Jeder die Neugierde von Schiller’s König in sich.
Die ersten Taucher kannten natürlich keinen Apparat; sie blieben eben so lange in der Tiefe, als es ihr Athem erlaubte. Darum bestand aber ihre Kunst gerade in der Beherrschung der Athmungswerkzeuge. Wie im höchsten Alterthum finden wir diese Taucher noch heute in bewundernswürdiger Ausbildung besonders bei uncultivirten Völkern. Am bekanntesten sind in dieser Beziehung die ostindischen Perlenfischer; Gmelin berichtet (in seiner Reise durch Rußland) von astrachanschen Tauchern, welche sieben Minuten unter Wasser zubringen konnten; jene Perlenfischer sollen es sogar bis zu 12–15 Minuten bringen.
So anerkennenswerth jedoch solche Leistungen sind, so verlieren sie an Werth, sobald andauernde und bedeutenden Kraftaufwand erfordernde Arbeiten in Tiefen von 70 bis 100 Fuß vollbracht werden sollen. Das Bedürfniß trieb zur Erfindung eines Mittels, dem Taucher Luft von oben in die Tiefe nachzusenden oder auch in Vorrath mitzugeben. Wie früh dieser Gedanke erwachte, dafür spricht die Thatsache, daß schon Aristoteles einen Apparat beschreibt, der dem Taucher einen längeren Aufenthalt, als ihm die eigene Lunge allein gestattete, im Wasser ermöglichen sollte; nur geht aus der Beschreibung nicht deutlich hervor, ob wir hier einen der ersten Versuche der Taucherhauben oder der Taucherglocken[3] zu begrüßen haben. – Von den neueren Taucherapparaten sind besonders zwei bekannt geworden, der Karl Coudert’s und der Klingert’sche. Jener bestand aus einer Leinwandkleidung, die mit Kautschuk überzogen und in deren Kopftheile vor den Augen ein Glas angebracht war. Das Charakteristische dieses Apparats bildete aber eine hufeisenförmig gebogene Kupferröhre von 6 Zoll Durchmesser und 4 Fuß Länge, die mit comprimirter Luft angefüllt und durch einen Schlauch mit dem obern Theile der Taucherkleidung verbunden war; aus dieser Röhre konnte der Taucher mittelst eines Hahns stets so viel Luft zu sich einlassen, als zum Athmen für ihn und zum Zurückdrängen des Wassers aus dem oberen Bekleidungstheil nöthig war. – Klingert’s Apparat entspricht dem, in welchem wir in Nr. 48 Bauer’s Helmtaucher unsern Lesern im Bilde vorgestellt haben. Der Taucher wird nicht mehr mit einem Luftbehälter belastet, sondern erhält die nöthige Luft durch den Schlauch, welcher den Taucherhelm mit der Luftpumpe verbindet. Mit Hülfe dieses Apparats brachte man z. B. aus einem an der Küste von Ambleteuse gesunkenen Schiffe von einer Partie von 860 Flaschen Quecksilber, die dem Hause Rothschild in London gehörten, bei sieben Arbeitstagen 336, im Werthe von 200,000 Fr., empor. Bis zu einer Tiefe von 70 Fuß kann der Taucher mittelst dieses Apparats gegen sieben Stunden in der Tiefe zubringen, wenn er nicht schwere, stark anstrengende Arbeit hat. Je tiefer der Taucher geht, desto weniger widersteht er dem steigenden Luftdruck auf die Länge. Eine Tiefe von 126 Fuß war lange Zeit das Aeußerste der Taucherleistung, bis im Jahre 1852 ein Taucher im Eriesee, Namens Green, der das untergegangene Dampfschiff Atlantic aufzufinden suchte, das bisherige Tiefmaß großartig überschritt; er soll bis zu einer Tiefe von 154 Fuß vorgedrungen sein.
Unser Bildchen zeigt uns den Taucherhelm mit seinen beiden Hauptverbindungen nach oben, dem Tau, welches ihn trägt, und den Schlauch, welcher ihm Luft zuführt, und dem sogen. Reiteisen und dem Taucherballast nach unten. Das unter dem Helm herunterlangende, unten abgerundete, nach hinten sich wieder aufwärts kehrende Eisen trägt seinen Namen mit Recht, denn der schwebende Taucher reitet auf ihm. Helm und Reiteisen zusammen wiegen 26 Pfund; die Taucherkleidung wiegt 34 Pfund. Da aber die im Kleide und Helm eingeschlossene Luft dem Sinken des Mannes jemehr entgegenwirkt, je tiefer er kommt, so hat er den Ballast nöthig, der aus vier Bleiringen besteht, die zusammen 86 Pfd. wiegen. Diese Gewichte zusammen mit der Schwere des Tauchers selbst befähigen ihn, auf dem Grunde des Sees von 73 Fuß Tiefe oder auf dem gesunkenen Schiffe ungefähr mit einem Druck von 30 Pfund zu gehen. – Die Signalschnur wird bei jedem Tauchen erst an dem Reiteisen angeknüpft.
Eine große Erleichterung ist für die unterseeischen Arbeiten dadurch bewirkt, daß der Taucher an einem horizontal vorn Mast auf 40 Fuß hinausreichenden Baum (Receptor genannt) mittelst eines an diesem befestigten Laufseils auf diese Strecke vom Arbeitsschiffe entfernt werden und durch Versetzung des Receptors nach links oder rechts in den Stand gesetzt werden kann, um das gesunkene Schiff herumzugehen, ohne daß das Arbeitsschiff seine eigene Lage zu verändern braucht. Die Verständigung zwischen dem Taucher in der Tiefe und dessen Führer auf dem Arbeitsschiff geschieht, wie bereits mehrfach erwähnt, durch die Signalleine. Die Signale werden vom Taucher durch Zucken (|) oder Ziehen (–) gegeben und sind folgende: – – (also zwei Mal Ziehen) bedeutet „Achtung!“, – – – „Auf!“, – – – – „Nieder!“, – – – (das mittlere ein länger andauerndes Ziehen) bedeutet „1. Cajüte!“, – – – – „2. Cajüte!“, – „vom Schiff abwärts!“, – – „zum Schiff!“, – – – – – „Auf! Gefahr!“, –– –– –– „Mehr Luft!“, ||||||| „Gegenstand herunter!“, |||||| „Gegenstand auf!“ |||||||| „Arbeit fertig!“, ||| ||| ||| „Luft in den Ballon pumpen!“ etc. – Daß das Verständniß [798] der Signale nur bei ruhiger See möglich ist, bedarf keiner Erklärung, denn wenn das Schiff in den Wogen stark rollt, so wird nicht nur der Taucher von dem ungleich mehr auf- und abfahrenden Receptor auf- und niedergeworfen, sondern auch der Führer kann nicht mehr im Gefühl mit dem Taucher bleiben, weil die Signalleine bald straff, bald schlaff wird.
Leider geht uns hier der Raum aus und sind wir mit einem Bildchen im Stiche gelassen worden, das zur Vervollständigung dieses Artikels nothwendig ist; wir sind deshalb genöthigt, unsere Leser später noch einmal zu unserm Gegenstand zu führen, um ihnen mitzutheilen, wie Bauer selbst seine Taucher abgerichtet, wie diese sich dabei angestellt, wie die anfängliche Verzagtheit endlich bis zum Uebermuthe ausartete, so daß sogar ein Taucher einmal in der Tiefe auf dem Ludwig sitzend seinen Rausch ausschlafen wollte, ferner, auf welche Weise Bauer seine Ballons und Kameele herstellte, warum er sofort Kameele zum Heben anwandte und das Versprochene über seinen Hebungsplan mit Terrainzeichnung von der Lagestelle des Ludwig bis zum Bergungsort.
Der Verrath des Barons Warkotsch gegen Friedrich den Großen.
Die Festung Schweidnitz war in die Hände der Oesterreicher gefallen – Held Friedrich der Große um einen Theil seiner müherrungenen Lorbeern ärmer. Es war wiederum einer jener bangen, erwartungsvollen Momente in der Weltgeschichte, wo sich die Freunde des großen Königs fragten: „Wie soll er nun noch ferner bestehen vor der Macht seiner Gegner?“ eine Frage, die der Gewaltige stets mit einem Siege beantwortete, der den Verlust aufwog.
Es war der 6. November 1761. Ein kalter Wind fegte über die kahlen Felder und durch die entlaubten Zweige des Parkes der gräflichen Besitzung Schloß Schönbrunn, zwei Meilen hinter dem Städtchen Strehlen in Schlesien gelegen. Das Schloß bildete gewissermaßen den Mittelpunkt der strategischen Operationen beider Heere. Vor sich sah es die sich zwischen Freiburg und Bögendorf an das Gebirg lehnenden Oesterreicher unter Laudon, im Rücken bei Neiße stand die preußische Armee unter ihrem Heldenkönige, beide Heere nach der Ruhe des Winterquartiers sich sehnend, aber beide begierig, vor der Unthätigkeit noch einen Schlag zu führen. Der Besitzer des Schlosses Schönbrunn war zu jener Zeit der Baron, Freiherr Heinrich Gottlob v. Warkotsch, Erbherr von Schönbrunn, Ober- und Niederrosen und Casserei. Früher in österreichischen Diensten als Hauptmann des Regimentes Totta, hatte der Baron im Jahre 1756 seinen Abschied genommen, nachdem er durch den zu Carlsbad erfolgten Tod seines Bruders, der als Kammerherr im Dienste des Königs von Preußen stand, alleiniger Besitzer sämmtlicher Güter geworden. Der Baron Warkotsch war, wie die spätere Untersuchung ergab, ein sehr wunderlicher, unliebenswürdiger und verhaßter Herr.
Vielfache Vergehungen gegen das sechste Gebot, welche nur seiner Gattin, einer trefflichen Dame, gebornen Freiin von Hösser zu Löwenstein, Kummer bereiteten, würden seine Unterthanen gleichgültiger betrachtet haben, hätte nicht der Baron den feudalen Ansichten als Gutstyrann Geltung zu verschaffen gesucht, denen zufolge er die Behauptung aufstellte: „Der Bauer ist eigentlich kein Mensch.“ Bei solchen Gesinnungen mußte dem Baron freilich das Regiment eines Königs, wie Friedrich II., es war, sehr unbequem erscheinen, da dieser Fürst seine Bauern als äußerst wichtige Menschen anerkannte. So erbärmlich das Motiv erscheinen mag: Warkotsch hegte gegen den großen König einen unauslöschlichen Haß, weil Friedrich, wie bekannt, dem wiedergewonnenen Schlesien preußische Einrichtungen gab, durch welche namentlich der Landmann von manchem Drucke, der aus vergangenen Jahrhunderten auf ihm lastete, befreit ward. Schon 1756 äußerte Warkotsch ganz unverhohlen seinen Widerwillen, unter preußischem Scepter stehen zu müssen, und als sich später in Böhmen eine österreichische Armee zusammenzog, meinte er: „Wenn die Oesterreicher nur erst wieder Schlesien haben, dann können wir das Bauernpack zu Paaren treiben.“ Der Baron war Protestant. Dessenungeachtet vernachlässigte er auffallend den in Schönbrunn eingesetzten protestantischen Prediger Gerlach, während der katholische Pfarrer Curatus Schmidt, zu Siebenkuben in der Nähe des Gebirges wohnend, sein beständiger Umgang war. So sehr der Baron ein Feind des großen Königs war, wußte er doch mit vieler Gewandtheit seinen Haß unter der Maske der Loyalität zu verbergen und hatte sich auf solche Weise die Neigung des Königs zu gewinnen verstanden. Bereits im August hatte der Prediger Kranicher zu Reichenbach dem Könige durch vertraute Boten treffliche Pfirsichen, Weintrauben und Gartenfrüchte in das Hungerlager zu Bunzelwitz gesendet. Der König nahm dies sehr gnädig auf. Warkotsch konnte nicht schnell genug ähnliche Spenden in das Bunzelwitzer Lager liefern.
Es war also der 6. November 1761. Heftige Kälte hatte er mitgebracht. Die Kamine der hohen Zimmer des Schlosses Schönbrunn entsendeten eine behagliche Wärme. Die Lichter verbreiteten von den hohen silbernen Armleuchtern herab eine trauliche Stimmung als Contrast zu dem Schneesturme, welcher über die Gegend sauste und an den fein bemalten Läden rüttelte, die den hohen, gewölbten Fenstern ihren Schutz liehen. In einem Zimmer des Erdgeschosses saßen drei Personen: eine Dame, die, an einer Stickerei arbeitend, sich in eine Ottomane geworfen hatte; ein mit elegantem Schlafrocke bekleideter Cavalier, diesem gegenüber endlich die dritte Person, der man den Geistlichen angesehen haben würde, obgleich sie einfache Bürgerkleidung trug und ihre Füße in Reitstiefeln steckten. Die Personen waren Baron und Baronin Warkotsch mit ihrem Hausfreunde, dem Curatus Schmidt aus Siebenkuben. Die Dame arbeitete, wie gesagt, an einer Stickerei, die Herren spielte Karten. Die Unterhaltung war eine zu jenen Zeiten gewöhnliche – die Kriegsereignisse betreffende und zeichnete sich nur durch den Widerstand aus, welchen die Baronin den beiden Herren entgegensetzte, sobald diese die Verdienste des Preußenkönigs zu verkleinern suchten. Unter Spiel nebst Gezänk war die neunte Abendstunde herangekommen. Die Pendülen in den Zimmern verkündeten sie laut.
Plötzlich ertönte auf dem Schloßhofe ein gewaltiger Lärm. Pferdegetrappel, Rufen, Hundegebell, Klirren von Eisen mischte sich untereinander. Warkotsch und sein Gast sprangen erschrocken auf. Der Baron öffnete einen Laden. Auf dem Hofe wogten eine Menge Menschen umher. Lichter bewegten sich hin und wieder, Waffen blitzten. „Heda dort unten! was giebt’s denn?“ rief der Baron hinab. „Seine Majestät der König von Preußen reiten soeben in den Hof und ersuchen den Herrn Baron um ein Nachtquartier,“ tönte es von unten herauf. „Der König!“ schrie der Baron und sprang vorn Fenster weg. Wie eine Feder schnellte die Baronin vom Sopha in die Höhe, und zur Hinterthür hinaus huschte die schwarze Gestalt des Pfarrers, mit dem festen Vorsatze, sich heute nicht mehr sehen lassen zu wollen. Eilig stürzte der Baron durch die Vorzimmer, auf den Flur des Hauses, riß die Flügelthüren, welche auf die Treppe zum Hofe gingen, auseinander und trat hinaus in das Schneegestöber; hier, an der untersten Stufe erblickte er zwischen zwei mit Windlichtern versehenen Jägern den König.
Ein hellblauer Reitrock mit kleinem Pelzkragen umgab die Gestalt des Helden, der mit freundlichen Bonsoir! die Stufen hinaufstieg. „Komme unverhofft, cher Baron! muß um Pardon bitten! Dérangement soll nicht lange dauern.“ Der Baron stammelte Etwas wie von außerordentlichem Glück, ging in devotester Weise vor dem Könige her und öffnete die Thüre zum Empfangssaale, hinter welcher die Baronin mit tiefer Verbeugung den König begrüßte. Galant bot Friedrich ihr den Arm. Bald war ein schnell hergerichtetes Nachtmahl aufgetragen, und die Gesellschaft wurde noch durch den Markgrafen Karl und den General Adjutanten von Krusemark vermehrt. Zwei Stunden später waren die Lichter erloschen; tiefe, nur von dem Tritte der Wachen auf dem Schloßhofe unterbrochene Stille umgab das Schloß. In gutem Vertrauen hatte der König am Tische des Edelmanns gespeist – in gutem Vertrauen schlief er unter seinem Dache – und der Edelmann saß während dessen zusammen mit dem Priester, das Verderben seines Herrn berathend. – Nach Mitternacht tönte eine Klingel im Zimmer, Warkotsch fuhr zitternd auf. Der Kämmerer Leining rief nach ihm. Als der Baron sich meldete, bat Leining, er möge schnell [799] zum König kommen. Friedrich war halb entkleidet. „Baron,“ begann er, „ich muß bald wieder fort; können Sie mir einen Menschen nachweisen, auf dessen Treue ich mich verlassen kann?“
Warkotsch stutzte! Welche Unternehmung hatte der König vor? „Ew. Majestät können versichert sein, daß mein Jäger ein redlicher Mann ist; ich empfehle ihn, weiß ich gleich nicht, zu welchen Diensten Ew. Majestät ihn brauchen wollen?“
„So ruft ihn.“
Wenige Augenblicke später trat der Jäger in’s Gemach. Der König hatte sich in einen Lehnstuhl geworfen und blickte ins Feuer des Kamins. Als der Jäger eintrat, wendete er sich um, und die plötzliche Gewalt der großen Augen wirkte so mächtig auf den Waidmann, daß er bestürzt zurückwich. „Wenn Er redlich ist, braucht Er nicht zu erschrecken,“ sagte der König. „Wie heißt Er?“
„Matthias Kappel.“
„Woher?“
„Aus Mitrowitz in Böhmen.“
„Katholisch?“
„Ja.“
„Er ist des Barons Jäger?“
„Ja, Majestät.“
„Weiß Er in der Gegend hier herum Bescheid?“
„Ja Majestät.“
„Kann Er mich von hier nach Strehlen bringen? es ist aber sehr finster.“
„Ja, Majestät. Wenn Sie nur befehlen, welchen Weg ich nehmen soll, denn es giebt zwei Wege von hier nach Strehlen.“
„Den will ich über Riegersdorf durch das königliche Vorwerk Melter und Treppendorf, das ist der Fußsteig nach Strehlen. Er kann um 4 Uhr mit einem guten Reitpferde vor dem Schlosse halten. Jetzt geh’ Er. Ich will ruhen.“
Kappel ging. Um 4 Uhr kam der König aus dem Schlosse. Warkotsch begleitete ihn und der Reitknecht führte einen kleinen Schimmel heraus. Der Adjutant, der Kämmerer Leining und zwei reitende Jäger, die Laternen bei sich hatten, waren zugegen. Der König trug wieder den blauen Rock mit Pelzkragen. Er stieg nicht zu Pferd, sondern befahl den Jägern, zu Fuß vor ihm herzugehen. Er selbst, Leining und Kappel folgten. Es war finster. In einiger Entfernung gewahrte Kappel eine lange, dunkle Linie, die gleich einer ungeheuren Schlange sich fortbewegte. Dumpfes Summen von verhaltenen Menschenstimmen schallte an sein Ohr; zuweilen flammten die Feuer von Pechfackeln auf und in ihrem gluthrothen Scheine blitzten die Schuppen jener Schlange – die Bajonnette.
Es war die preußische Armee, die während der Nacht auf die umliegenden Dörfer und Güter gerückt war; – der Jäger hatte das unheimliche Schauspiel des Nachtmarsches vor sich. Der König wollte den Oesterreichern das Vordringen auf Breslau wehren und verlegte seine Winterquartiere von Neiße nach Strehlen und dessen Umgegend. Eine halbe Meile lang ging der König zu Fuße. Er sprach kein Wort. Immer zwischen den schweigenden Colonnen entlang führte der Weg. Regiment bei Regiment standen sie aufmarschirt, über ihre Häupter strich der eisige Morgenwind, und der Hauch wirbelte aus den arbeitenden Lungen. – Der König stand am Ende einer Colonne, bei den Geschützen angelangt, still. „Nun Bursche,“ rief er, „es geht zum Marsch.“ Ein Kanonier, der ihn nicht erkannte, antwortete: „Den Teufel zum Marsch, wir rücken ins Lager.“ Der König lächelte. Wenige Schritte ging man noch. Plötzlich befahl der König, die Laternen auszulöschen. Er schwang sich in den Sattel, und die Begleiter mußten ebenfalls aufsitzen. „Jäger Kappel,“ rief er. „Er bleibt fünf Schritte vor mir, daß ich ihn sehen kann, denn es ist sehr finster.“ Vorwärts ging der Zug.
Zu derselben Zeit verließ der Curatus Schmidt durch eine Hinterthür das Schloß Schönbrunn. Er ritt ein Pferd des Barons und jagte auf die österreichischen Linien zu. Den am weitesten vorgeschobenen Posten commandirte der Hauptmann Wallis. Ihm überreichte der Pfarrer einen Zettel des Barons, der nur die wenigen Worte enthielt: „Die preußische Armee bewegt sich vorwärts! Der König bleibt in Strehlen.“ Unterdessen hatte Kappel den König bis Treppendorf vor Strehlen geleitet. Der König fragte nach dem Namen und ob der Jäger wisse, wo der Kahlenberg sei. Als sie den Berg erreicht hatten, dämmerte der Tag herauf. Der König forderte sein Fernrohr. Eine Zeitlang blickte er durch dasselbe, dann schob er es zusammen, gab es dem Reitknecht zurück und sagte: „Sehr gut, die Oesterreichs sind noch nicht da.“ Er befahl nun den Rückweg über Großburg. Hier erhielt Kappel vier Achtgroschenstücke durch den Kämmerer, und der König trug ihm auf, dem Baron zu danken. Auf dem Rückwege begegnete Kappel der ganzen preußischen Armee in vollem Marsche.[4] Die erste Verrätherei war mißglückt. Am folgenden Tage stand Friedrich bei Strehlen. Seine Armee halte das Lager bezogen, die Oesterreichs blieben bei Münsterberg und Hennrigau im Gebirge stehen. Sie hatten die Posten bei Strehlen in Besitz nehmen wollen, aber der König war ihnen zuvorgekommen. Die Nachricht, welche der Baron durch Schmidt gesendet hatte, traf zu spät ein.
Die Vorsehung schien sich des schlichten Jägers Kappel eigens zum Werkzeug der Rettung des Königs bedienen zu wollen. Unausgesetzt mußte Kappel von dem sechsten November an in der Umgebung seines Herrn, des Baron Warkotsch, bleiben. Obgleich der Baron früher den Jäger ebenso rauh behandelt hatte, als seine übrigen Dienstleute, schien er plötzlich wie umgewandelt. War nun auch Kappel ein sehr einfacher Mann, so mußte dennoch die schnelle Veränderung des Benehmens seines Herrn ihm auffällig werden. Verstärkt ward sein Mißtrauen durch die fortwährenden Besuche, welche der Baron alle zwei Tage im preußischen Hauptquartiere zu Strehlen machte. Nach jedem Besuche mußte Kappel von Schönbrunn aus zu dem Curatus Schmidt nach Siebenkuben reiten und demselben einen versiegelten Brief, ohne Aufschrift, einhändigen. Die Antwort auf diesen Brief brachte der Curatus dann dem Warkotsch nach Schönbrunn. Das Einzige, was Kappel in seinen Muthmaßungen schwankend machte, war die gute Aufnahme, die der Baron im preußischen Quartier fand. Er erfreute sich sogar des intimen Umganges mit dem Cabinetsrath Eichel. Es machten preußische Officiere in Schönbrunn Gegenbesuche, und jedesmal suchte alsdann der Baron eilig den Curatus zu entfernen – ja, Kappel bemerkte sogar, daß Warkotsch den Priester vor dem Hause, hinter einer Gartenmauer sprach und ihn gar nicht in’s Zimmer ließ, während ein preußischer Major im Schlosse war; auch mußte der Jäger den Schmidt drei Mal an einen sehr entlegenen Ort, die „Pfarr-Erlen“ genannt, zur Unterredung mit dem Baron bestellen. Aengstlich besorgt trachtete Warkotsch ferner, daß Niemand im Dorfe seinen häufigen Umgang mit dem Priester erfahre. Kappel konnte sich freilich nicht denken, wem eine Unternehmung gelten solle? Unwillkürlich fiel ihm jedoch die Unsicherheit auf, in welcher sich der König befand. Beide Armeen standen sich so nahe gegenüber, daß ihre Patrouillen oft einander begegneten. In Strehlen selbst standen einige Bataillone, die übrigen Theile der Armee lagen auf den Dörfern umher. Im Rücken, hinter Strehlen, lag das Regiment Zastrow (Cavallerie), Jäger und Feldwachen schützten vor Ueberfällen. Gegen Feinde hatte der König sich gedeckt – nicht gegen Verräther und Meuchelmörder. – Er selbst wohnte nämlich nicht in Strehlen, sondern 300 Schritte von der Ringmauer dieser Stadt entfernt in dem offnen Dorfe Waiselwitz. Das Haus, welches er bewohnte, gehörte dem Bauinspector Bruchkampf. Neben demselben lang die Wohnung des Postmeisters Stiller, zwei Etagen hoch. In dieser Wohnung war das Cabinet des Königs.
Dicht hinter beiden Häusern lief der Stadtwall aus, neben und vor welchem man durch tiefe Gründe, an dem Dorfe Hussinetz vorüber, ohne einen Posten zu berühren, bis an den Stiller’schen Garten kommen konnte. Durch diesen Garten fließt die kleine Ohlau, deren seichtes Wasser eine Rotte von Abenteurern nicht abhalten konnte, einen Angriff auf die Person des Königs durch das Fenster des Schlafgemaches zu unternehmen. Der Baron Warkotsch hatte sich sogleich bei seinem ersten Besuche von der trefflichen Gelegenheit, welche sich seinem schändlichen Vorhaben darbot, unterrichtet. Lange schon lauerte er dem König auf; hier schien ihm endlich der Augenblick gekommen. Regelmäßig wurde der österreichische Hauptmann Wallis durch den Curatus Schmidt in Kenntniß von allen Veränderungen im preußischen Hauptquartier gesetzt. Warkotsch hatte Folgendes genau ermittelt: Die Bedeckung des Königs gab das erste Bataillon des Garde-Regiments, davon waren immer 13 Mann im Hause, welche leicht überwältigt werden konnten. Erst in Strehlen lagen Officiere und 4000 Mann, die wahrscheinlich zu spät gekommen wären. Es war ferner die Ordre gegeben, daß die hinter Strehlen liegende Cavallerie und Infanterie bei einem Angriff des Feindes sich nicht hinter Strehlen postiren, sondern sofort in die vorderste Linie eilen solle. Warkotsch [800] schloß also ganz richtig, daß die im Hinterhalt liegenden Verschworenen keinen Widerstand finden würden. Es ward nun ein nächtlicher Hauptangriff der Oesterreicher gegen die preußische Front verabredet, zu gleicher Zeit sollten die im Stadtwalde auf der Lauer liegenden Verschworenen durch das Fenster von hinten, durch keine Wache, die auf der andern Seite des Hauses stand, gehemmt, einbrechen. Mit ihnen sollte ein starkes, feindliches Commando das Haus umzingeln, die Wachen niedermachen und das Dorf anzünden. In der Verwirrung war es dann gewiß sehr leicht, sich der Person des Königs zu bemächtigen und die ihres Heldenhauptes beraubte Armee später zu vernichten. Mißlang der Streich, so setzte sich die österreichische Armee keiner großen Gefahr aus, denn sie konnte leicht in die Gebirge sich zurückziehen, ebenso war es den Verschworenen ein Leichtes, durch die Gründe und Hohlwege zu entkommen und das Dörfchen Pagarth zu erreichen.[5].
Der sehr gut angelegte Plan sollte am 30. November Nachts zur Ausführung kommen. Am 29. hatte der König noch den Baron von sämmtlichen Lieferungen befreit und ihn Mittags zur Tafel gezogen. Der Jäger Kappel mußte am 28. einen Ritt zu den österreichischen Vorposten thun und einen Brief direct an den Hauptmann Wallis abgeben; man hatte ihm gesagt, der Hauptmann wolle dem Baron eine neue Sendung ungarischen Weins zukommen lassen. Jetzt wurde Kappel äußerst unruhig. Wem aber sollte er sich entdecken? Alle Beweise fehlten ihm. Unter solchen Sorgen kam der 29. November, ein Sonntag, heran. Der Baron ritt schon früh mit Kappel nach Strehlen, dinirte beim Könige, spielte nach der Tafel mit den Officieren und machte einen Spazierritt in die Umgegend, in Gesellschaft des Markgrafen Karl und des Herrn von Krusemark. Später verkehrte er mit verschiedenen Officieren in sehr eifrigem Gespräche und blieb bis zwölf Uhr Nachts in Strehlen.[6] Kappel wartete mit den Pferden vor dem Hause des Königs. Er zitterte vor Kälte. Es war ihm aber anbefohlen, jedes Geräusch zu vermeiden. Der Mond schien hell und zeichnete die Schatten der vorüberziehenden Patrouillen scharf auf den Erdboden. Endlich erschien der Baron und rief nach den Pferden. Er war so lange bei dem Rath Eichel gewesen. Warkotsch und Kappel ritten dicht hinter des Königs Quartier weg; sie bemerkten Licht im Schlafzimmer des Monarchen.
Zur Beachtung. Wir lernen nie aus, und je mehr wir uns in der Welt umsehen, desto mehr Erfahrungen sammeln wir und finden – überall auf dem Erdball zerstreut – eine ganze Menge von Dingen, die wir theils selbst benutzen, oder an denen wir uns doch ein Beispiel nehmen können. In unserer Zeit besonders sollte aber Alles dankbar beachtet werden, was dazu dienen könnte, dem Staate – unabhängig von den widerhaarigen Kammern – eine neue und reiche Einnahme zu sichern, und ich möchte hier deshalb eine lange noch nicht genug bekannte Thatsache aus dem brasilianischen Staatsleben mittheilen.
Die brasilianische Regierung verfügt, wie bekannt, über eine große Anzahl von Decorationen der verschiedensten Art, von denen sich einige besonders durch Pracht und Umfang auszeichnen. Haben sie doch selbst schon glückliche und stolze Träger in Deutschland gefunden, das sonst auch nicht arm an diesem Schmuck genannt werden kann. Aber es scheint, daß in Brasilien die Verleihung eines Ordens nicht, wie in Deutschland, nur an den strengen Maßstab des wirklichen Verdienstes gebunden ist – denn wer hätte in Deutschland wohl schon einen Orden bekommen, und nicht auch verdient ihn zu tragen? – sondern die Orden und Decorationen werden dort als eine Quelle der Staatseinnahmen betrachtet, und nur die Verwendung dieser Gelder ist höchst eigenthümlicher Art. Wie mir das Nachstehende überall in Brasilien selber bestätigt wurde, so sagt Dr. Mello Moraes in seiner vierhändigen Corographia do Imperio do Brasil Band II. in Note 2) zu Seite 499, welches in der Uebersetzung ungefähr so lautet: „Es ist allgemein bekannt, daß in dem Secretariat der Santa Casa da Misericordia eine Tabelle existirt, nach der Ehrentitel und Orden des Kaiserreichs Brasilien an Alle verkauft werden, die sie kaufen wollen. Sie kosten: Barontitel 10–15 Contos,[7] mit Grandeza 30, Commandant da Rosa 4–6 Contos – de Christo 4; Officiers 3 Contos – einfacher Adel 1 Conto zum Besten des Hospiciums für Wahnsinnige, genannt Pedro II.“
Die Sache ist nun außerordentlich einfach. Die bestehende Liste sagt, daß Titel und Orden zu einem gewissen, ziemlich hohen Preis abgelassen werden, bei dem der Freiherrntitel mit „grandeza“ sogar bis dreißig Contos, also 15,000 Dollars angegeben steht. – Bei meinem Aufenthalt in Rio wurden mir übrigens billigere Preise genannt, die auch möglicher Weise in letzter Zeit können ermäßigt sein (obgleich das Buch des Dr. Moraes die Jahreszahl 1859 trägt). – Der gewöhnliche Adelstitel sollte dem Bericht nach 1 Conto, der Officiersrang 4 und der Comthurorden 10 Contos kosten. Das aber bleibt sich gleich, und wir kommen hier zu der erfreulichen Thatsache, daß die Verwendung dieser Gelder zum Besten des Irrenhauses Pedro II. an der wundervollen Bai von Rio – bestimmt ist.
Welche Betrachtungen lassen sich nicht daran knüpfen, und als ich es zuerst hörte, fiel mir unwillkürlich die Schillerstiftung ein, bei der sich junge Schriftsteller betheiligen, um im Alter eine Versorgung zu haben. Jene ganze großartige Anstalt soll von den derartig eingegangenen Geldern erbaut sein und auch noch jetzt erhalten werden. Könnten wir daraus nun für Deutschland nicht auch etwas profitiren? Die Orden bringen unsern deutschen Fürsten allerdings auch schon jetzt, wenn auch nur indirect, einen gewissen Nutzen, indem diese durch eine Kleinigkeit eine Menge von goldenen Dosen, Diamantnadeln, Ringen, Medaillons etc. ersparen. Durch Aufstellung einer festen Tabelle mit Preisangabe ließe sich das aber ja noch viel besser und sicherer reguliren, und was die Verwendung der eingehenden Gelder betrifft, so könnten ja auch wir – aber ich möchte mit meiner Ansicht nicht aufdringlich erscheinen, und es wird besser sein, das den betreffenden Oberstellen selbst zu überlassen. Jedenfalls hielt ich diesen kleinen ethnographischen Beitrag zur Charakteristik Brasiliens für interessant genug, um dafür in der Gartenlaube einen Raum zu erbitten.
C. Sch. in B. Bewahren Sie sich Ihre „Liebe zum deutschen Vaterlande und Verehrung für alle Verfechter deutscher Freiheit, Tugend und Ehre“, aber muß denn der Ausdruck Ihrer Verehrung mit aller Gewalt in Versen geschehen? Und Kinkel, der Vielbeschäftigte, dem jede Minute des Tages zugemessen ist, soll das Alles lesen? So hart straft man Niemanden, dem man Dank bezeigen will.
Die in Nr. 29 abgedruckte physiognomische Aufgabe ist von den Meisten richtig als das Bild einer süddeutschen Majestät errathen worden. – Die übrigen Auflösungen, die in dem Bilde den König Johann – Major Serre – Saphir – Lamartine – Gesanglehrer Michler – wiederfanden, sind also falsch.
- ↑ Ich erhalte so eben folgenden C. S. gezeichneten Brief aus Frankfurt vom 1. November, mit der Bitte um Antwort in der Gartenlaube.
„Bezüglich Ihres Aufsatzes in Nr. 43 der Gartenlaube erlaube ich mir, eine Frage an Sie zu richten. Sie sagen nämlich, den rothgelben Ameisen sei die Liebe versagt. Woher entstehen aber diese Ameisen, wenn, wie Sie sagen, die Liebe ihnen versagt ist? Ohne Liebe?“
Die Antwort ist sehr einfach. Altes, was von den Ameisen, den Amazonen etc. gesagt ist, bezieht sich nur auf die geschlechtslosen Arbeiter-Ameisen, die ungeflügelten Neutra, welchen die Natur allerdings die Liebe und die Fortpflanzung versagt hat. Die geflügelten, nichtarbeitenden Männchen und Weibchen, die man nur beim Schwärmen sieht, kommen, wenn man von den Arbeiten und Kämpfen der Ameisen schlechthin redet, in keinen Betracht. Genf, den 6. November 1862.Carl Vogt. - ↑ WS: unteres Hochkomma ersetzt
- ↑ Als eine der ältesten Nachrichten von Taucherglocken in Europa gilt die des P. Schott vom Jahre 1538, nach welcher vor den Augen des Kaiser Karl V. zwei Griechen unter einem umgekehrten kupfernen Kessel mit einem brennenden Licht in das Wasser hinabgelassen worden seien, und als man den Kessel nach einiger Zeit wieder herausgezogen, seien die Männer noch am Leben und das Licht noch brennend gewesen. Diesem großen Wunder wohnten über 10,000 Menschen bei und alle staunten vor dem damals noch Unerhörten!
- ↑ Verhörsacten des Jägers Kappel
- ↑ Aus den Verhörsacten des Jägers Kappel, Bl. 131. Fol. 72
- ↑ Verhörsacten des Jägers Kappel. Fol. 170.
- ↑ Ein Conto de Reis = 500 Dollars.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Hand