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Die Gartenlaube (1864)/Heft 49

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1864
Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[769]
Er kommt nicht.
Erzählung von Karl August Heigel.
(Fortsetzung.
2.

Als Gustav, mit heißem Gesicht und schwellender Brust, aus dem Kaufladen trat, streifte sein Blick den Fenstern im rothen Roß entlang und entdeckte das blasse, wohlbekannte Mädchenantlitz. Auch ihm ging ein Stich durch das Herz, seine Wangen verfärbten sich, und mit einer unwillkürlichen Bewegung hob er die Hand wie zum Gruß empor. Aber das plötzliche Aufflackern jenes Lichts, welches sein Traumbild der vergangenen Nacht verklärt hatte, verging, so schnell es kam. Er zog die Augenbrauen zusammen, schlug mit dem Reitstock in der erhobenen Rechten einen Kreuzhieb durch die Luft und steckte die geballte Linke in die Hosentasche. Doch bevor er den Blick abwandte und weiter schritt, war ihm Elisens jähe Ueberraschung keineswegs entgangen, und diese Beobachtung erfüllte ihn mit einer gewissen Genugthuung. Er, dessen Gewissen in seinen eigenen Sachen flügellahm und taubstumm war, erschien sich jetzt wie das mahnende Gewissen der Verirrten. „Glaub’ es wohl, daß sie erschrickt,“ sagte er zu sich, während er mit hocherhobenem Haupt die Straße nach seiner Mutter Haus hinabschritt. „Hat alle Ursache, vor mir zu erschrecken …“ Er stieß ein kurzes Gelächter aus. Seine Einbildung ward indessen nicht müde, das erschrockene, zarte Mädchenantlitz festzuhalten, ein Gesicht, das bei aller Verwirrung schön – Gustav mußte es trotz seiner Empörung zugestehen – sehr schön war. Aber erscheint in einer solchen Lichtgestalt ein schwarzes Herz nicht um so schwärzer? Muß ihn der Verrath nicht um so tiefer kränken, da sie sich in ihrem äußeren Wesen so gar nicht oder, wenn möglich, nur zu ihren Gunsten verändert hat? „Man spreche mir noch von Taubenaugen und Rosenlippen!“ fuhr er in seinem Selbstgespräche fort. „Sie besitzt Beides und ist doch eine Schlange … Man spreche mir noch von Tugend und Treue der Frauen! Herzlose Ungeheuer sind sie; ich verachte sie alle.“ Er kam sich in diesem Entschluß unendlich erhaben vor und war überzeugt, daß zur Stunde ein tiefer Schatten auf das gesammte weibliche Geschlecht fallen müsse: denn er verachtet es hinfüro!

Seine Mutter erwartete ihn im Garten hinter ihrem Hause, in einer kühlen, schattigen Laube. Sie hatte eine große silberne Brille auf und strickte an einem Strumpf für ihr Herzenssöhnchen. Seit drei Jahren hatte kein menschliches Auge Frau Flemming anders als mit dem Strickstrumpf gesehen. Wie das Rad einer Maschine, während es sich gedankenschnell dreht, scheinbar still steht, mochte es einem oberflächlichen Beobachter scheinen, als ob die ehrwürdige Matrone seit Jahr und Tag an einem und demselben Strumpf und in die geheimnißvollen Maschen gleichzeitig den Fluch stricke, nie fertig zu werden. In der That aber hätte Gustav mit seinem Vorrath an weicher, warmer, bequemer Fußbekleidung ein ganzes Bataillon für drei Winterfeldzüge ausstatten können.

Nachdem die gute alte Frau Gustav Stirn und Wangen geküßt hatte, machte sie ihm zärtliche Vorwürfe, daß er in der Nachmittagshitze so weite, ermüdende Spaziergänge unternehme. „Ermüdend – ja, aber nicht so weit,“ dachte Gustav, hütete sich jedoch, es zu sagen. Sodann händigte ihm Frau Flemming einen Brief ein, einen Brief aus der Residenz an Monsieur – Monsieur Gustave Flemming.

„Das muß ein guter Mensch, ein wahrer Freund sein,“ setzte sie mit strahlendem Lächeln hinzu, „der schon am ersten Tag nach Deiner Abreise an Dich denkt.“

Gustav steckte den Brief, der Buttler’s Schriftzüge trug, gleichgültig in die Tasche und bemerkte, daß er nur wahre und zuverlässige Freunde besitze. „Gott segne sie!“ sagte Frau Flemming. „Aber vergiß über den vornehmen Freunden in der Residenz Deine alten nicht. Auch hier sind Viele, die es mit Dir gut meinen und sich Deiner Ankunft herzlich freuen. Du mußt mir versprechen, sie Alle zu besuchen. Erst die Freunde Deines seligen Vaters, dann Deine Schulcameraden.“

Gustav schien am Wiedersehen weder Jener, noch der Andern viel gelegen zu sein. Er brummte eine unverständliche Antwort und zeichnete mit dem Stock Figuren in den Sand.

„Da wäre morgen der Kreisrichter, unser Bürgermeister, der Doctor –“ begann Frau Flemming an den Fingern herzuzählen.

„Und der Apotheker Reiser?“ fragte Gustav, während er den Blick auf seine Zeichnung geheftet hielt, „ihn werd’ ich doch auch unter den Ersten besuchen müssen?!“

Ein Schatten legte sich auf Frau Flemming’s Stirne „Wenn Du willst, auch ihn,“ antwortete sie zögernd.

„Wie seltsam Du das sagst?! Was fiel denn zwischen Dir und dem Alten vor?“

„O, nichts zwischen uns Beiden; ich achte und schätze Herrn Reiser nach wie vor,“ versetzte eifrig Gustav’s Mutter. „Er ist ein wenig menschenscheu, ein wenig wunderlich, aber ein kreuzbraver Mensch und hat dieses Schicksal wahrhaftig nicht verdient.“

Gustav hatte auch nicht die leiseste Ahnung, was für ein Schicksal den wackeren Mann heimgesucht haben könnte. Ist er abgebrannt? verarmt!? erkrankt? Oder – halt da! Gustav [770] erinnert sich jetzt, daß Herr Reiser Vater eines unerwachsenen Mädchens ist, von dem Frau Flemming vor zwei Jahren noch[WS 1] ungebührlich viel in ihren Briefen geschrieben … Ist dieses unerwachsene Mädchen – wie heißt sie doch? – an den Pocken oder einer andern acuten Krankheit gestorben?

Die Mutter sah ihn über die Brille weg mit großen Blicken an. Dann legte sie kopfschüttelnd ihr Strickzeug vor sich hin, fuhr mit der Hand ein, zwei Mal über den Strumpf und sagte: „So ist die Jugend!“

„Hab’ ich doch heute den ganzen Tag,“ redete sie hierauf ihren Sohn an, „hab’ ich doch die liebe lange Zeit seither davon weder zu reden, noch zu schreiben gewagt, weil ich Dir schweren Herzenskummer zu bereiten fürchtete. Und nun erinnerst Du Dich des Mädels, Deiner Jugendgespielin und besten Freundin, Deiner Elise kaum! Aber so ist die Jugend, so ist sie. Heute heiß, morgen Eis. Wenn die Kinder groß sind, werfen sie anstatt der Puppen ihre Freundschaften in den Winkel … O! o! kennt Apothekers Lieschen nicht mehr!“

Gustav bedauerte sein schwaches Gedächtniß und versprach das größte Interesse für die Nachrichten, die er über das Fräulein hören würde.

Nach einiger Ueberlegung, wie sie ihrem unschuldigen Sohne von einer so leichtsinnigen, sündlichen Person sprechen sollte, erzählte Frau Flemming die Geschichte von Elisens Verirrung, welche Gustav in kräftigeren Zügen bereits vom Kaufmann gehört hatte. Sie schloß ihren Bericht mit der Versicherung, daß ihr Gustav’s leichter Sinn, obschon sehr tadelnswerth an sich, in diesem Falle eine Centnerlast vom Herzen wälze. Denn sie habe früheren Beobachtungen zufolge bis zur Stunde geglaubt, Gustav wäre Lieschen ganz besonders zugethan; eine Neigung, die sie vor einem Jahre noch von ganzem Herzen gesegnet hätte, unter den gegenwärtigen Verhältnissen aber als ein heilloses Unglück betrachten müßte. „Gott sei Dank,“ schloß sie, „Du hast sie vergessen. Nun bitte ich Dich selbst, zum alten Reiser zu gehen, der mir in tiefster Seele leid thut. Sei freundlich gegen den armen, geschlagenen Mann, und wenn – wenn seine Tochter zufällig anwesend ist, sei nicht verletzend, sei höflich auch gegen die Unglückliche, Verführte.“

Gustav erhob sich in seiner ganzen Größe, zuckte bedauernd die Schultern und sagte: „Es betrübt mich außerordentlich, Deinem Wunsch nicht willfahren zu können, allein nach dem, was Du mir soeben von Fräulein Reiser mittheiltest, kann ich in ihrem Hause die alten Verbindungen nicht wieder anknüpfen, unmöglich!“

„Aber warum willst Du den guten Mann, ihren Vater, nicht besuchen?“

„Warum?“ fragte er voll flammender Entrüstung. „Ich setze den Fall, Fräulein Reiser sei anwesend; ich setze den Fall, Fräulein Reiser grüße mich, spreche mich an – Wie? Du könntest im Ernst wünschen, daß ich ihr Red’ und Antwort stehe, ihr, einer Person, welche sich ihrer Familie, ihrer Stadt, Deiner und meiner Freundschaft so unwürdig zeigte?! Nimmermehr.“

Nach diesen großartigen Worten verließ er die alte Frau, welche dem wohlgezogenen, sittenstrengen Jüngling mit mütterlichem Stolze nachblickte, bis er im Gebüsch, das tiefer in den Garten führte, verschwand. „Gott segne und erhalte Dir Dein reines Herz!“ sagte sie.

Gustav aber, der mit den hochmüthigen Worten und Mienen den inneren Aerger nur verbarg, nicht beschwichtigte, rannte, sobald er sich unbemerkt wußte, wüthend die Gartenpfade auf und nieder, hieb mit seinem Stock links und rechts in die Sträucher und stieß Drohungen, Hohnworte und Verwünschungen aus. Möglich, daß sein Herz blutete, über allen Zweifel gewiß aber war es, daß seine Eitelkeit sich wand und bäumte, züngelte und zischte, wie eine getretene Schlange.

Erschöpft ließ er sich zuletzt auf einer Bank nieder, die am Saum einer Birkenpflanzung stand, wo der Fluß als Grenze des Gartens vorüberglitt. Die Beine von sich gestreckt, die Hände in den Taschen und das Haupt finster zur Brust geneigt, suchte der Gekränkte sich zu beruhigen. „Sie verdient nicht,“ dachte er, „daß ich mich ihretwegen gräme. Ja, wenn sie mich einem würdigen Nebenbuhler geopfert hätte, irgend einem Crösus oder Prinzen! Dann wollte ich nichts dagegen sagen und ihr großmüthig verzeihen. Aber wer stellte mich in den Schatten? wer? Ein alter Ehe-Invalid; ein verkommener, bettelarmer Blattschreiber. Wie schändlich, nein, wie lächerlich! Einen Oldenburg zieht man mir vor, mir, Gustav Flemming, dem reichen Erben, dessen Herz und Hand ganz andere Schönen als Apothekerstöchter höchst begehrenswerth erachten und eifersüchtig bewachen würden! Bah, verließ ich die Vergnügungen der Residenz, um hier einer losen Dirne nachzuweinen? Bewahren wir den Fall als eine Erfahrung im Gedächtniß und vergessen wir die Thörin!“

Er erinnerte sich an den Brief, den ihm seine Mutter ausgehändigt hatte. Er zog ihn hervor und erbrach das Siegel. Das Couvert enthielt folgendes Schreiben, das mit wenig Schonung für die Augen des Lesers und noch weniger Rücksicht auf Styl und Orthographie von einer Damenhand gekritzelt war:

     „Abscheulicher Mensch! lieber Gusti!

Ich sitze hier, in der maison dorée, mit dem garstigsten aller Männer, blos weil er Dein Freund ist, mit Buttler nämlich. Wir haben soupirt, und obwohl ich Deine plötzliche abschiedslose Abreise sehr ungalant und unbeschreiblich finde, auch Mitternacht beinahe vorüber ist, kann ich doch nicht umhin, Dir heute noch zu schreiben. Aufrichtig gestanden, wundere ich mich sehr, wie ein gentiler Mann, wie Du, dorthin reisen kann. Ich will Dir also in aller Eile nur sagen, daß der Diener von Gerson gestern und heute wieder mit der Rechnung bei mir war. Bester, herzlichster Gusti, Du wirst von meiner Liebe zu Dir überzeugt sein und mir das Versprochene gewiß recht bald schicken. Adieu, mein Engel, mein Goldkäfer! Die Adresse wird der garstige Buttler schreiben, denn ich kenne die Neugier einer Mama, wenn man an ihr Herzblättchen schreibt, das wahrhaftig die Liebe nicht verdient, mit der ich bin
Deine getreue Georgette Fachini,
Solo-Tänzerin am königl. Hoftheater.

P. S. Du bist doch auf Buttler nicht eifersüchtig? Er ist heute wieder so borstig und trinkt wie ein Igel. Aber er meint es recht gut mit Dir, sonst würde ich mit ihm wahrhaftig nicht soupiren. Das Essen war übrigens herzlich schlecht. Die Müller tanzt morgen bei Kroll! Wie findest Du das?!“

Gustav zerriß den Brief in vier Stücke und schleuderte das zerknüllte Papier verächtlich in den Fluß. Eine Weile zauderte sein Blick auf der braunen, ruhig ruhlosen Fluth und schweifte dann über Aehrenfelder, Weidengänge und Gehöfte zur waldigen Hügelkette, welche das Thal umschließt.

Die Sonne schied, und ein sanftes, hinsterbendes Licht ergoß sich durch Himmel und Erde. Gustav’s Ohr, vom Getös der Hauptstadt so lange betäubt, hörte nach langer Zeit nun wieder die Musik der Vögel, den Nachtgesang der Grille und das leise Rauschen der Blätter; sein Auge, nicht mehr gebannt durch ein Gewirr von Häusern, Mauern, rauchenden Schornsteinen und riesigen Thürmen, tauchte nach langer Zeit wieder in die blauen Tiefen des Himmels. Eine weiche Stimmung bemächtigte sich seiner mehr und mehr. Nicht als lauter, stürmischer Schmerz, sondern als wehmüthige Sehnsucht beschlich ihn die Reue über drei wüste, verlorene Jahre. Er wünschte – er wollte – – Seltsam! Inmitten seines heimathlichen Thals fühlte Gustav zum[WS 2] ersten Male Heimweh.




Um sechs Uhr Nachmittags machte der Lehrjunge der Adler’schen Druckerei Toilette, um Herrn Oldenburg den Correcturbogen der Waldkirchener Morgenzeitung zu bringen, das heißt, er zog den linken Zipfel seiner blauen Schürze durch das Gürtelband und nahm sein Portefeuille von grauer Pappe mit dem feuchten Druckbogen unter den Arm. Die schwarzen Spuren auf Nase und Wangen gehörten zum Geschäft; die Hemdärmel waren der Jahreszeit und dem unternehmenden Charakter angemessen; die ungeheuern, in vergeblicher Sehnsucht nach Wichse ergrauten Stiefel waren seine Eigenthümlichkeit. So konnte er ohne Weiteres seinen wichtigen Geschäftsgang antreten.

Die Druckerei lag vom rothen Roß nicht zweihundert Schritt entfernt; man hatte nur über den Marktplatz zu gehen Aber in Anbetracht gewisser Umstände hielt es der Junge heute für gut, so langsam als möglich vorwärts zu kommen …

Seit einer Stunde herrschte in den Straßen Waldkircheus ein ungewöhnliches Getriebe. Der Jahrmarkt und das Schützenfest sollten andern Tages beginnen. Festzüge und Zechgelage, Musik und Tanz, buntbewegte, fröhliche Tage in Aussicht! Ist es das allein, was die Bewohner des Städtchens so fieberhaft erregt? [771] Lungern sie darum in den offenen Fenstern, stehen sie darum in dichten Gruppen an den Straßenecken und vor den Hausthüren, schließen sie darum ihre Läden und Gewölbe? Warum denn blicken die Frauen so ängstlich? – – Der Junge mit der Zeitungsmappe, er weiß es. Nur einen verächtlichen Blick hat er heute für seine sorgenfreien Altersgenossen, die sich zwischen den Budenreihen tummeln und jagen; wenn er aber auf eine Gruppe bejahrter, ehrenfester Männer stößt, welche in heißer Rede die Arme werfen oder aufhorchend die Köpfe schütteln, bleibt er stehen und legt sein Gesicht in Falten, als wäre er hundert Jahre alt.

Was bedeuten die singenden, brüllenden Truppen trunkener Gesellen in Arbeitskitteln, die Arm in Arm die Straßen durchziehen? Warum hat der Gensdarm, der aus dem Hause des Bürgermeisters tritt, denn gar so große Eile und läßt seinen Säbel lauter denn je auf dem Pflaster rasseln? Der Druckerjunge des Herrn Adler weiß Alles, versteht Alle. Er ist nicht umsonst „Einer von der Morgenzeitung“, er ist ein Wissender und könnte Jedermann die Ereignisse voraussagen, an deren Vorabend die Waldkirchener stehen. Aber er begnügt sich damit, seine unpolitischen Altersgenossen zu verachten, den Kopf hoch zu tragen und den Radetzkymarsch zu pfeifen, wobei er sich seiner Zeitungsmappe anstatt der türkischen Trommel bedient.

Als er beim rothen Roß anlangt, sieht er einen Schwarm von Knaben und Mädchen davor versammelt und einen Triumphbogen von Tannenreisern anstaunen, der das Thor des Gasthauses schmückt. Er staunt nicht; er hat für die Guirlanden nur einen verständnißvollen Seitenblick. Im kühlen Thorweg sitzen einige schwarzbefrackte Männer um ein leeres Faß und trinken Bier. Er geht mit höchster Geringschätzung dieses auffallenden Häufleins vorüber und pfeift den Sturmgalopp.

Er pfiff noch, während er die Treppe zu Oldenburg’s Wohnung hinanstieg, aber er verstummte plötzlich, als ihm der wohlbekannte Waldkirchner Arzt von oben entgegenkam. Doctor Werner war ein stattlicher Mann, von rosiger Gesichtsfarbe, wohlgenährt und wohlgekleidet. Er sah neben dem haarstruppigen, schmutzigen Jungen wie ein indischer Nabob aus; doch nicht der strenge Seitenblick, den er ihm zuwarf, nicht das Bambusrohr mit dem Goldknopf, nicht die Diamanten im schneeweißen Brustlatz schüchterten den Knaben ein. Dieser war in Bezug auf Aerzte der Meinung, daß sie nur für reiche Leute da seien, und pflegte mit so wenig Ehrerbietung am Doctor vorüberzupfeifen, als ob er vom Herrgott selbst ewige Gesundheit patentirt erhalten hätte.

Aber heute lag in den zwei Stirnfalten zwischen den Augenbrauen des Doctors ein so seltsamer Ausdruck, lag über seiner Gestalt trotz der hellfarbigen Sommerkleidung ein düstrer Schatten und in seinem Hinabschreiten eine Art schwermüthiger Feierlichkeit, daß der Knabe sich scheu zur Seite drückte und dann, über das Geländer gelehnt, Werner bis in den Thorweg nachblickte, von einer dunkeln Vorstellung beunruhigt, daß so der Arzt aussähe, wenn er zum letztenmal von einem Kranken geht.

Er fand Oldenburg in einem Zustande, der ihm seine frühere Sicherheit nicht wiedergab, blaß, verweint, niedergeschlagen. Als er ihm den Correcturbogen überreichte, starrte Oldenburg mit leerem Blick auf das Papier und gab es dann, wie geistesabwesend, wieder zurück. Auf einen fragenden Blick des Knaben stammelte der Andere, daß Herr Adler die Correctur übernehmen möchte, denn er selber wäre heute unfähig dazu.

Dem Jungen trat das Wasser in die Augen. „Haben Sie keine Angst nicht,“ sagte er mit gutgemeinter Wichtigkeit, als wenn er der Verleger und Druckereibesitzer wäre, „das wollen wir besorgen. Und die Weber,“ fuhr er fort, „die Weber sollen nur kommen und uns bedrohen. Wozu haben wir die Fünfunddreißiger in Neustadt? Wupp! sind sie da; und eine Kanone kommt vor die Druckerei, die andere vor das rothe Roß. Hurrah! die Morgenzeitung fürchtet sich nicht.“

Er sprach diese Worte wirklich aus der Seele seines Principals, des Herrn Adler, aber Oldenburg sah ihn mit verwunderten Augen an. „Wovon redest Du denn?“ fragte er. „Was ist’s mit den Webern?“

„Was!“ schrie Jener, „das wissen der Herr Doctor nicht?

Das wissen Sie nicht?! Drüben in der Baumwollenfabrik haben sie heute die Arbeit eingestellt. Ein Einziger war dagegen und wurde deshalb von seinen Cameraden krumm und lahm geschlagen. Und in der Zuckersiederei wollen sie heute Abends höheren Lohn begehren. Randal an allen Ecken und Enden!“

„Die Unglücklichen!“ sagte Oldenburg.

„Hallunken und von der Reaction bestochen sind sie, meint der Principal,“ versetzte eifrig der frühreife Junge. „Der bucklige Nöldeken ist ihr Rädelsführer. Na, den Burschen kennen wir! Als er im vorigen Jahr in der Residenz ohne Arbeit war, ließ er sich von der ,Gesellschaft der wahren Volksfreunde’ unterstützen … Merken Sie jetzt, woher der Wind weht? Wie? Daß just heute der Präsident der wahren Volksfreunde – na, für die Freunde danken wir! – daß er just heute nach Waldkirchen kommt und im rothen Roß einen Vortrag halten wird, das ist doch merkwürdig, meint der Principal.“

Oldenburg stand an der Thür des Krankenzimmers. Er schlug sich vor die Stirn und stöhnte. „Heute! Warum gerade heute?!“ sagte er verzweiflungsvoll.

„Major Falkenstein und der bucklige Nöldeken haben nach Kräften gewühlt,“ fuhr der Lehrling fort. „Nicht allein die Fabrikarbeiter, auch Honoratioren und Bürger werden den Präsidenten Brausewetter empfangen. Der dumme Teufel, Ihr Wirth, ließ sich herumkriegen, giebt sein Local her und staffirt es obendrein mit Laubwerk und Fahnen aus, als ob ein Prinz käme. Pfui! – Sie müssen kündigen, meint der Principal.“

„Ach, ich werde ohnedies dies Haus verlassen,“ sagte Oldenburg leise vor sich hin.

Der junge Politiker aber fuhr fort, indem er sich in die Brust warf: „Gegen wen wird Brausewetter sprechen? Gegen den Fortschritt, gegen uns, gegen die Morgenzeitung.“

Trotz seiner Aufregung fiel der Knabe nur selten aus dem Flüsterton, denn Oldenburg schien mehr nach der Thür, als nach dem Gespräch hinzuhorchen. „Unsern famosen Artikel gegen die falschen Volksfreunde,“ begann Jener nach einer Pause wieder, während welcher auch er den Blick ängstlich auf die Thür gerichtet hatte, „vergiebt und vergißt uns Brausewetter nicht. Er wird uns ein Feuerchen anschüren, wird gegen uns schäumen und hetzen.

Und die dummen Kerle werden ihm glauben. ’s ist keine Bildung im Kattun. Betrunken, wie sie jetzt schon sind, und mit Nöldeken an der Spitze, stürmen sie die Druckerei. Aber es giebt eine Gewerbeordnung, meint der Principal, und in Neustadt liegen die Fünfunddreißiger. Unsere Fabrikherren und er, der Principal, waren bereits beim Bürgermeister. Wir lassen uns nicht bange machen.“

Oldenburg durchwandelte in größter Unruhe das Zimmer. „So weit wird, so weit darf es nicht kommen,“ sprach er dann. „Geh, mein Junge, und sage Herrn Adler, er möge sich beruhigen. Brausewetter, der besternte, conservative Mann, kann um seiner eigenen Stellung willen den Schritt der Weber nicht billigen. Darüber bin ich ruhig, aber meine Frau – – meine arme Frau –“

Er sprach nicht mehr, doch der Knabe verstand ihn und brach trotz seines politischen Bewußtseins plötzlich in Thränen aus. „Sagen Sie das nicht!“ schluchzte er, „sagen Sie das nicht! Die gute Frau Doctorin wird gewiß wieder gesund. Man kann die Schwindsucht haben und hundert Jahr alt werden, meint der Principal …“

Vom Bahnhof her klang ein schriller Pfiff.

„Da kommt der Zug,“ sagte der Knabe, während er sich mit seinem Aermel die Augen wischte. „Ich wollt’, ich dürfte den Brausewetter empfangen … Die liebe, gute Frau Doctorin! … Ich wollte ihm zeigen, was ’ne Volksfreundschaft ist … Adieu, Herr Doctor … Und es ist nicht so schlimm, meint der Principal.“

Der Knabe ging, und Oldenburg öffnete langsam die Thür des Krankenzimmers. Elise saß zu Füßen des Bettes; sie hielt die Arme auf den Schooß gestützt und das Gesicht in die Hände begraben, stumm, regungslos, ganz versunken in Gram und vergebliche Reue. Die Kranke aber machte einen ohnmächtigen Versuch, ihr Antlitz dem Eintretenden zuzukehren. Als er dann neben ihr stand und sich über sie niederbeugte, entdeckte er mit Entsetzen, daß auf diesem Antlitz selbst das sanfte Abendlicht nicht mehr Wärme und Leben heucheln konnte. Der Schatten aus dem unbekannten Thal lag auf Stirn und Wangen … Er faßte ihre Hand und fühlte sich von Kälte bis an’s Herz durchschaudert, als hätte er Eis berührt. Nur in den Augen noch war ein schwacher [772] Kampf gegen den Anbruch der Nacht. Aus zunehmendem Dunkel suchten sie den Geliebten, den Gatten.

„Armer Heinrich!“ flüsterte sie, „Du wirst allein sein … Ich habe Dich doch mehr geliebt …“

Eine Thräne entquoll ihr, das Sinnbild ihres stillen, leidvollen Lebens. Und als flösse ihre Seele in dieser Thräne dahin, sagte sie plötzlich: „Warum schließt Ihr den Laden? – Ich sehe Dich nicht mehr –“

Dann bewegten sich nur noch leicht die Lippen – ein schweres, gewaltsames Ringen der Brust begann und endigte mit einem schmerzlichen Seufzer – – Heinrich war allein.

Elise fuhr empor, ihr Blick irrte vom knieenden, laut schluchzenden Mann über die ausgestreckte, marmorstille Gestalt auf dem Lager. Todt! todt! Keine Sühnung, keine Genugthuung, keine Versöhnung mehr … Sie sank vernichtet zurück.

Aus ihrem dumpfen, keines Gedankens fähigen Brüten weckten sie Schritte im Zimmer. Aufblickend gewahrte sie den Pastor, der zum Todtenbett trat und die Hand auf Oldenburg’s Schulter legte. Denn dieser kniete noch immer, ganz in Thränen, verloren in seinem Schmerz, vor der Entseelten.

Als sich Elise erhob, warf der Pastor einen strengen Blick auf sie und sagte: „Was wollen Sie hier? Gott ließ es in seiner unerforschlichen Geduld geschehen, daß Sie das Lebensglück dieser armen Frau zerstörten. Genügt Ihnen dies Opfer nicht? Wollen Sie der Todten auch seinen Schmerz und seine Reue nicht gönnen? Gehen Sie! Entweihen Sie nicht die Heiligkeit eines Sterbelagers!“

Elise machte eine flehende Bewegung mit den Händen, dann preßte sie ihre Rechte auf das verwundete, zuckende Herz und sprach mit schmerzlicher Gelassenheit: „Seien Sie nicht härter, als sie, die strenger als Alle mit mir rechten durfte! Sie hat mir vergeben.“

„Fiel die Vergebung eines Engels nicht brennender als ein Fluch auf Ihre Seele?“ eiferte der Andere. „Können Sie selber sich vergeben?“

Jetzt erhob Elise den Blick, den sie gesenkt hatte, und sah dem Priester nicht trotzig, aber fest in’s Auge. „Ich weiß,“ sagte sie, „daß ich, gestern verachtet, von heut’ an geächtet bin. Ich könnte jetzt mein Herzblut aus den Augen weinen, Sie blieben ungerührt. Doch nicht das ist’s, was mich schaudern macht, sondern der Gedanke, daß jene Frau und er und ich an einer Lüge zu Grunde gingen … Schuld aus Liebe erhält von der Liebe Flügel und flüchtet sich über der Welt Erbärmlichkeit zu Gottes Richterthron. Seit heute aber weiß ich, daß wir – jener Mann und ich – uns nicht liebten, und das, das stürzt mich vor Eure Füße; steinigt mich!“

Bevor der erstarrte Priester Worte der Entgegnung fand, hatte Elise mit einem letzten Blick auf Oldenburg, der nichts sah, nichts hörte, das Zimmer verlassen.

Sie ging durch den Wirthsgarten, der an das Grundstück ihres Vaters grenzte. Es war unterdessen spät geworden; der Abendwind spielte mit ihrem verwirrten Haar und kühlte ihre heißen Wangen. Aber der stechende Schmerz in den Schläfen, der Krampf ihrer Brust löste sich nicht. Niemand begegnete ihr, doch wäre auch das ihr gleichgültig gewesen, in diesem Zustand gesehen zu werden. Als sie am Garten vorüberschritt, sah sie durch die tiefgehenden Fenster eine zahlreiche Versammlung von Waldkirchener Bürgern und Arbeitern. Ein fremder, schwarzgekleideter Mann stand auf einer Tribüne, welche sonst als Orchester diente, und redete zu Jenen mit großem Pathos und heftigen Gebehrden. Allein auch dies seltsame Schauspiel verzögerte nicht Elisens Schritt, zerstreute nicht ihre düstern Gedanken. Sie hatte es vergessen, sowie sie am Saal vorbei war. Hinter einer Rebenhecke im Zaun versteckt befand sich eine Thür. Diese erschloß das Mädchen und betrat durch sie den Garten ihres Vaters.

(Fortsetzung folgt.)




Ein gekröntes Opfer.
Historische Skizze. Von H.

Die kaiserliche Burg zu Wien bot im Innern und Aeußern den Anblick eines ungeheuren steinernen Bienenstocks, als der 16. April des Jahres 1770 herangekommen war. Die große Treppe, welche zu den kaiscrlich königlichen Gemächern führte, war besetzt mit Hatschieren und den Soldaten der ungarischen und deutschen Leibgarde, die sich in zwei Gliedern bis an die Vorzimmer der Empfangssäle aufgestellt hatten. Draußen auf der Gasse und dem Platze wogte eine erregte Menschenmenge hin und her und eilte neugierig herbei, wenn wieder eine Galakutsche vorfuhr und ihres Inhaltes, reich gekleideter Herren oder Damen jedes Alters, sich vor dem Hauptportale entledigte, unter dessen Bogen sechs ungeheuer große Hatschiere gleich Automaten, nur durch ihre Honneurbewegungen ein Lebenszeichen verrathend, postirt waren. – Ebenso lebendig, wie vor der Kaiserburg, ging es innerhalb derselben her. Schon wallte eine glänzend gekleidete, von Juwelen blitzende, mit den wunderlichsten Coiffuren versehene Gesellschaft durch die kaiserlichen Gemächer, welche in einem durch Tausende von Kerzen erzeugten Meere von Lichtschein zu schwimmen schienen. Alle Stände waren vertreten; die Uniform, die Robe des Advocaten, die Soutane des Abbé’s, das kostbare Gewand des Cardinals, des Bischofs – Alles mischte sich mit der eleganten Tracht stutzerhafter Cavaliere und den prächtigen Toiletten schöner, graziöser Damen.

Als die Uhren die sechste Stunde schlugen, fuhr donnernd, mit schnaubenden Rossen, eine kostbare Equipage vor das Portal. Die Läufer öffneten den Schlag. In prachtvoll gesticktem, rothsammtnem Hofkleide, die Kniegürtel, die Agraffen seiner Spitzenmanschetten, die Schuhschnallen, Schleifenhalter, die Knöpfe des Rockes und sein Degengefäß in Brillanten funkelnd – so stieg ein Cavalier aus dem Wagen. Alsbald präsentirten sämmtliche Soldaten und Hatschiere, und die höchsten Officiere gingen dem reichgekleideten Manne entgegen und geleiteten ihn in den Empfangssaal, wo sich die Menge aller der Hohen vor ihm neigte, was er mit tiefer, sehr ceremonieller Verbeugung erwiderte.

„Seine Excellenz der Herr Marquis de Durfort, Envoyé Sr. allerheiligsten Majestät Ludwig’s des Fünfzehnten von Frankreich,“ tönte es durch den Saal; fast zu gleicher Zeit sprangen die Flügelthüren, welche in das Innere des Kaiserschlosses führten, auf, und eine zweite Stimme rief: „Die Kaiserin-Königin! der Kaiser!“

Maria Theresia trat in den Saal, geführt von ihrem Sohne Joseph dem Zweiten. Hinter ihnen folgten die Prinzen und Prinzessinnen des kaiserlichen Hauses. Darauf ward es still im weiten Saale, dann hörte man eine Rede in französischer Sprache, dann wieder eine Antwort darauf, und endlich nahm die Kaiserin die Hand eines jungen Mädchens und führte es dem Marquis Durfort zu.

Das junge, schöne Wesen zitterte und war bleich. Es empfing aus den Händen des Gesandten ein Bildniß, umgeben von Diamanten, welche funkelten und zackige Blitze schossen. Als die junge Dame das Bild ergriff, stammelte sie eine kurze Rede. Dann nahm die Gräfin Trautmannsdorf das Portrait und heftete es mit einer kostbaren Nadel an die Brust der jungen Dame. Nun konnte man sehen, daß es das Conterfei eines stattlichen, dabei gutmüthig und freundlich blickenden Jünglings von sechszehn bis siebzehn Jahren war. Zugleich übergab Durfort ein Schreiben, und damit hatte die Ceremonie ein Ende. Die schöne, junge Prinzessin war Maria Antoinette, Erzherzogin von Oesterreich, welche in diesem Augenblicke verlobt und hingegeben ward an Louis, Herzog von Berri und zukünftigen König Ludwig den Sechszehnten von Frankreich, der in jenem Schreiben seine Freude aussprach.

Als das Portrait des Dauphins an dem Busen der edlen, schönen, kaum fünfzehn Lebensjahre zählenden Prinzessin schaukelte, glänzten die Augen der Kaiserin Mutter vor Entzücken. Sie hatte es vollbracht, das große, politische Werk der Verbindung dieser zwei gewaltigen Häuser. Ihre Tochter theilte den ersten Thron Europas mit dem Nachkommen des heiligen Ludwig. Gleich einem elektrischen Strome durchlief dies Gefühl des Glückes, der Bewunderung, von Maria Theresia ausgehend, die versammelte Menge. „Welches Glück! welch eine Größe, welche Zukunft!“ so tönte das

[773]

Maria Antoinette’s Abschied von ihrer Mutter.

Gemurmel durch den Saal. „Welch’ eine Zukunft?“ fragte sich Maria Antoinette. Sie preßte das Portrait an ihr klopfendes Herz. Von ihrem Bruder Joseph geführt, verließ sie den Saal. Gleich dem Rauschen des Baches hallte es jetzt durch den großen Raum dahin; es waren die seidenen Roben der Damen, die zur Beugung sich herablassenden Füße der Herren, bei dem ersten, ehrfurchtsvollen devoten Gruße für Maria Antoinette, Dauphine von Frankreich. Abends war französisches Theater: ein Stück von Marivaux und ein Ballet von Noverre.

Am folgenden Tage die Vorlesung der Entsagungsacte durch den Fürsten Kaunitz. Maria Antoinette hatte keine Heimath mehr als Frankreich. Väterlicher und mütterlicher Hinterlassenschaft zu entsagen, gelobte sie an dem Altare; ihre schöne Hand ruhte auf dem Evangelium, das ihr der Graf Herberstein vorhielt. Frankreich – das Land ihrer Zukunft! Das Land der Pompadour, der Dubarry – vor dem die deutschen, gutmüthigen Scribenten warnten, ihre Hauptstadt Paris – jene glänzende Höhle des Lasters, verlockend, verwirrend, verderbend! –

[774] Mit den Blicken des Triumphes schaute die Kaiserin auf die menschengefüllte Hofkirche nieder, als am 19. April die feierliche Einsegnung stattfand. Erzherzog Ferdinand vertrat die Stelle des Dauphins. Maria Antoinette trug ein Kleid von Silberstoff – sie sagte mit lauter Stimme „Ja“, die Orgel ertönte, die Weihrauchwolken stiegen empor, die Sänger setzten mit voller Stimme ein, und die Kaiserin lag andächtig betend für das Heil der geliebten Tochter auf den Knieen. Welch eine Reihe von Gedankenbildern zieht an dem innern Gesicht Maria Theresia’s vorüber? Eine Angst, ein Zittern ergreift sie. Woher kommen plötzlich diese schwarzen, unheimlichen Gesichte? Ein unentwirrbarer Knäuel von Geschicken und Gefahren aller Art rollt sich vor den Augen der Kaiserin zusammen. O, wer ihr einen Aufschluß gäbe! „Versuchen wir es,“ flüstert sie sich selber zu. Ein Körnlein Gewißheit, ein Tropfen lindernden Balsams für den Schmerz dieser Angst einer mütterlich liebenden Kaiserin! Maria Theresia zittert vor der Stunde der Trennung von ihrem Kinde.

Tiefe Nacht ruht über Wien. Nach dem anstrengenden Feste der kirchlichen Einsegnung ist eine Ruhe eingetreten. Nur die Kaiserin wacht noch. Sie erhebt sich von ihrem Lager, sie schreitet durch das Gemach und öffnet die Thür des Vorzimmers. Leise ruft sie der Kammerfrau, welche sogleich erscheint.

„Ist er da?“ fragt die Kaiserin.

„Schon seit einer Stunde, Majestät,“ lautet die Antwort.

„Laß ihn eintreten.“

Die Kammerfrau verläßt das Gemach und kehrt nach einigen Minuten in Begleitung eines ältlichen, schwarzgekleideten Mannes zurück. Die Kaiserin ist mit dem Fremden allein in dem stillen Gemache. Das Aeußere dieses Mannes war wenig empfehlend. Eine fast skeletartige Magerkeit, eine Hakennase, hoch hinaufgezogene Augenbrauen und große, stechende Augen machten die Erscheinung des Doctor Gaßner zu einer unheimlichen. Wer war der Doctor Gaßner? Einer jener Männer, wie sie um 1770 durch ganz Europa verstreut lebten, ein Cagliostro oder St. Germain en miniature. Gaßner heilte durch Handauflegen, hatte Visionen, Inspirationen und war nebenbei kein ungeschickter Arzt. Seine Beziehungen zur Geisterwelt hatten ihn in Conflicte mit verschiedenen geistlichen Kurfürsten gebracht, bis er am Hofe Maria Theresia’n Schutz fand, denn die Kaiserin liebte das Geheimnißvolle. Sie unterhielt sich oft mit dem wunderlichen Manne – heute wollte sie eine ernsthafte Probe seines höhern Wissens.

„Doctor,“ begann die Kaiserin, „wir haben heut die Einsegnung meiner geliebten Erzherzogin mit dem künftigen Gemahl vollzogen.“

„Ich weiß es, Majestät. Ich war in der Hofkirche.“

„Sie haben dem Gottesdienste beigewohnt?“

„Ja. Meine Augen hafteten an der glänzenden Erscheinung der Dauphine. Ich las und studirte in den Lineamenten ihres Gesichtes, das nie so reizend war, wie am heutigen Tage.“

„Das ist es gerade, Doctor, worauf ich kommen will!“ rief die Kaiserin lebhaft, „ich will von Ihnen Etwas über meine Tochter hören.“

„Sie wissen, Majestät, ich gebe meine Ansichten nicht gern von mir,“ sagte der Doctor mit leichtem Stirnrunzeln.

„Weiß es Gott, Doctor! Ihr seid karg genug mit Euren Schätzen. Aber jetzt – jetzt sagt Eure Ansicht. Was habt Ihr aus dem Gesichte Maria Antonia’s gelesen? Denkt, wie bald ich sie verliere, denkt, daß Ihr einer Mutter nichts vorenthalten dürft. Was haltet Ihr von meiner Tochter Zukunft?“

„Glauben Eure Majestät denn so fest an mein Wissen?“

„Ich glaube daran.“

„Hüten Sie sich dann nur vor Dero aufgeklärtem Sohne, dem gnädigsten Kaiser Joseph. Seine Majestät lieben die Schicksalspropheten nicht und lachen über die Geheimnisse der Geisterwelt.“

„Ja – er ist ein Freigeist,“ seufzte die Kaiserin, „aber eben deswegen, damit mein Sohn, Niemand meines Hofes Etwas erfahre, ließ ich Euch, Doctor, zu mir entbieten in der Stille der Nacht. Heut ergriff es mich in der Kirche wie mit Krallen; ich will von Euch erfahren – wissen, was die Aussichten meiner Tochter sind. O, seid nur ein klein wenig offenherzig, was Ihr sprecht – ich will es hinnehmen.“

Der Doctor versank in tiefes Sinnen. Er blickte auf die Erde, dann nach einer Pause hob er den Kopf und sagte zur Kaiserin: „Fragen Sie mich nicht weiter, gnädigste Frau.“

„Um aller Heiligen willen,“ rief Maria Theresia, „Doctor, so schlimm ist es? Ich bitte – ich befehle Euch, mir zu sagen, was Eures Geistes Augen in der Zukunft Buche lesen.“ Sie hatte den hagern Arm des Sehers ergriffen. Die stechenden Augen Gaßner’s umschleierten sich, seine Gestalt schien in dem Halbdunkel des Zimmers zu wachsen. Sanft machte er die Hand der Kaiserin von seinem Arme los, holte tief Athem und sagte dann langsam, mit dumpfer Stimme: „Majestät, die herrlichen Schultern Maria Antoinette’s sind bestimmt, ein schweres Kreuz zu tragen.“ –

In dem Taumel der Feste wird die Angst erstickt. Wer wird auch an Alles glauben, was die erhitzte Phantasie sich vorgaukelt? Großes Fest im Belvedere zu Wien. Hundert Arbeiter haben den vierhundert Schuh langen Saal hergestellt, den siebentausend Wachsfackeln erleuchten, dessen Façade zehntausend Lampions umsäumen, innerhalb dessen sich sechstausend Masken belustigen. Springbrunnen von Wein, Schüsseln voll Leckerbissen – Alles zu Ehren der französischen Heirath. Am folgenden Tage giebt der Marquis von Durfort ein Fest im Lichtensteinischen Garten, und so geht es weiter und weiter mit ängstlicher Hast, wie um nicht nachsinnen zu müssen über den Tag, der endlich doch herannaht, der schmerzlich erregende Tag, der 26. April, der Tag der Trennung.

Ein feuchter Morgen, eine matte Sonne. Wiederum ist die große Treppe besetzt mit Menschen, mit stillen, traurigen Zeugen eines Abschieds der Tochter von der Mutter, nicht der Kronprinzessin von der Kaiserin. Auf der letzten Windung der Treppe steht die Fürstin, ihre Arme halten das zitternde Kind umschlungen. „Leb wohl, Toni! leb wohl, tausend – tausend Mal leb wohl! führ’ Dich Gott! denk an uns!“ so flüstert die Kaiserin der Tochter in’s Ohr. Nicht lassen wollen die Beiden von einander, immer wieder schließen sich die Arme um den Hals der geliebten Tochter, immer wieder preßt Maria Antoinette ihr Haupt an die Brust der Mutter. „Schreib recht oft, Toni. Ich werd’ Deine Briefe mit Thränen lesen. Ich schreib’ nicht wie die Sevigné, aber ich lieb’ Dich so unendlich; ich weiß, meine Briefe freuen Dich.“

„Mutter! Mutter!“ schluchzte Maria Antoinette. Dann raffte das junge, schöne Mädchen sich empor, „es muß sein!“ rief sie. Noch einen Druck, noch eine Umarmung. Dann jedem der Geschwister, die dem erschütternden Schauspiele von Weitem zusahen, die Hand zum Abschiede reichend, sagte sie zu Kaiser Joseph: „Dich seh’ ich bald.“

„Gewiß,“ antwortete der junge Kaiser, „ich bin der Erste, der Dich heimsucht.“

Schnell stieg sie die Stufen hinab, unten angelangt wendete sie sich noch ein Mal um, zwei Stufen stieg sie wieder hinauf. „Mutter, wir sehen uns nicht wieder!“ schrie sie laut und wankte zurück. Die Pferde stampften, die Dauphine fühlte sich in den Wagen gehoben, Alles weht mit den Tüchern, zahllose Lebewohls hallen der Scheidenden nach, sie streckt die Arme nach ihrer Mutter aus, ein schneidender, furchtbarer Schmerz zieht durch die Seele – hinweg! hinweg! Der Wagen rollt davon. Maria Theresia blieb auf der Treppe lange in sich gekehrt stehen. Ihre Blicke konnten sich nicht von der Stelle trennen, an welcher sie die entschwundene Tochter zuletzt gesehen hatte. Ihre Kinder umringten sie. Wie aus tiefem Traume erwachend fuhr die Kaiserin auf. Sie stützte sich auf Joseph’s Arm. „Gehen wir,“ flüsterte sie leise. Die kaiserliche Familie ging langsam in das Schloß zurück. Unter dem Thorbogen wendete sich Maria Theresia noch ein Mal um, sie suchte die Stelle, wo ihr geliebtes Kind das letzte Lebewohl gerufen. „Auf ewig,“ murmelte sie. Ihre Lippen bewegten sich leise. Die Kaiserin sprach ein Gebet und trat, das heilige Kreuz schlagend, in die Vorhalle der Burg.

Die Menge verlief sich lautlos. Selbst die zurückmarschirenden Garden, welche beim Abschiede der Erzherzogin Spalier gebildet hatten, schulterten ihre Gewehre, ohne daß ein Commando ertönt war; kein Officier unterbrach die Stille durch lauten Zuruf eines militärischen Befehles. Der Wagen der Dauphine rollte mit seinem lieblichen Inhalte weiter. Ein großer Zug treuer, deutscher Landsleute begleitete die scheidende Prinzessin. Antoinette konnte ihren Schmerz nicht bemeistern. Die Oberhofmeisterin, Frau von Paar, suchte vergebens zu trösten.

Noch war Maria Antoinette in Wien! ist keine Umkehr möglich? Nein, das Band, die Kette der Politik hält sie stark und ewig gefesselt. Immer näher rückt die Grenze, das Weichbild der Stadt, schon eilt der Wagen durch die letzten Vorstädte. „Leb [775] wohl, geliebtes Wien!“ Nur noch der alte, ehrwürdige Dom von St. Stephan ist sichtbar und erglänzt in den Strahlen der Sonne, endlich versinkt auch er, die Häuser sind verschwunden. Die Kutschen rollen auf der Landstraße hin. „Ich werde Wien nie wieder sehen,“ spricht Maria Antoinette ruhig und mit Resignation. Dann schreit sie laut: „Maria Theresia! Maria Theresia!“ und sinkt ermattet in die Kissen des Wagens.




Glänzend begann die neue Laufbahn der Kaiserstochter. Ihr Empfang von der Grenze Frankreichs an bis zur Hauptstadt war eine Kette von Huldigungen, von Triumphen. „Unsere Dauphine“, „der Engel“, „die schöne Maria“, so tönte es von allen Seiten.

Aber inmitten der Freude, aus dem rosigen Nebel, den das Glück um die Sinne Aller ziehen läßt, ragen die Gestalten schon hervor, die einst das irdische Heil Maria Antoinette’s vernichten helfen sollen. Dicht neben ihrem Gatten empfängt sie der alte Ludwig der Fünfzehnte. Die reine, keusche Dauphine liegt in den Armen des Mannes, dessen Laster den Sturz seines Geschlechtes veranlaßten. Dieser Mann fühlt sich beschämt beim Anblick der schuldlosen Jugend Maria Antoinette’s. Dessenungeachtet läßt er seine Maitresse, die Gräfin Dubarry, an einem Tische mit der Tochter Maria Theresia’s speisen! Der Pavillon, in welchem die Neuvermählte zuerst absteigt, ist mit Tapeten behängt. Ein Schauer läuft über den Nacken der Dauphine, als sie die Darstellungen betrachtet: Jason, Kreusa und Medea, das Prototyp unglücklicher Ehen, die Darstellungen des Kindesmordes und hoch über diesen Schauergemälden die Furien in einem Wagen von Drachen gezogen. Das sind die Zierden der Wände des Gemaches, darin Maria Antoinette nach langer Fahrt, nach aufregenden Scenen ausruhen soll.

Straßburg! Gottesdienst in der Kathedrale! vor den Pforten des mächtigen Tempels empfängt die Geistlichkeit, in Pontificalibus, die neue, zukünftige Gebieterin. Beim Aussteigen aus dem Wagen bietet ein schöner, hochgewachsener Mann seine mit kostbaren Ringen bedeckte Hand der Dauphine, um ihr beim Aussteigen behülflich zu sein. Dieser Mann in reicher, prachtvoller Priesterkleidung, in dessen Hand Maria Antoinette die ihrige legte, war Louis de Rohan, Coadjutor, später Cardinal, der unglückliche oder unbesonnene Anstifter des entsetzlichen Handels, der bekannt ist in den Annalen jener Zeit unter den Namen der Halsbandgeschichte.

Keine Wolke zieht über den heiteren Himmel des jungen Ehelebens. Die Scheu, die Zurückhaltung des Gatten weichen bald der zärtlichsten Liebe. Harmlose Freuden in geselligem Kreise, endlich der Einzug in Paris. Zahllose Freudenfeste. Da – steigt die Wolke empor. Ein Feuerwerk zu Ehren des jungen Herrscherpaares. Schlechte Anordnungen bringen einen gewaltigen Tumult hervor, die Menge der Zuschauer drängt sich durcheinander, zerquetscht, zertreten von den Hufen scheuer Pferde, zieht man Hunderte von Leichen aus den wirren Menschenknäueln hervor. Schon bemächtigt sich die Bosheit dieses Ereignisses. Spottlieder tönen überall. Die Feinde der Dauphine regen sich, denn Tugend, Unschuld und Schönheit haben überall ihre Feinde. Die bösartigsten derselben sind im Schooße ihrer eigenen Familie zu finden. Im Finstern schleichen die Intriguen. Jeder Schritt der Dauphine wird mißdeutet, ihr herzliches Lachen ist Frivolität, ihr emsiges Wohlthun Prahlerei, ihr heiterer Scherz Unanständigkeit. Spricht sie freundlich mit einem Cavaliere, so ahnt man verbrecherischen Umgang; ist sie zurückhaltend, so verschreit man sie als stolz. Sie heißt nicht mehr die „schöne Dauphine“, sie heißt die „Rothe“; Frau von Dubarry hat sie so getauft. Der alte König stirbt. Die jungen Herrscher besteigen den Thron. Immer zahlreicher werden die Feinde. Die Krone, welche der König sich zu Rheims auf das Haupt setzt, schneidet einen blutigen Streif in seine Stirne. „Sie drückt mich,“ ruft der König voll Angst. Die Königin Maria Antoinette erbleicht. „Wir sind zu jung, zu regieren. Beten Sie für Ihre unglücklichen Kinder,“ schreibt sie an Maria Theresia.

Wohl drückte diese Krone. Mit ihrer Last stürzte das Unglück des Lebens über die königliche Familie gleich rasenden Wogen her. Das Deficit im Staatshaushalte, die Hungersnoth, zerrüttetes Ansehen, Frivolität im Innern unter den oberen Schichten der Gesellschaft, die Hochzeit des Figaro, die Halsbandgeschichte, der Zusammentritt der Notabeln, Mirabeau, der Sturm der Bastille.

Immer dunkler wird der Himmel. Persönliche Angriffe gegen die Königin werden häufiger. Wo ist die Benennung „himmlische Dauphine“ – „Engel“ – geblieben? Sie heißt nur noch Madame Veto, oder die Bäckerin, oder l’Autrichienne! Allein steht sie in der Fremde. Die theure Mutter, der edle Bruder Joseph, sie sind hinübergegangen in das Land des Friedens. Der wenigen Getreuen, der wahrhaft anhänglichen Seelen werden täglich weniger. Immer mehr hebt die Revolution ihr Haupt. Flucht aus dem entfesselten Paris! Sie wird vereitelt. Von nun an ist jede Schranke gebrochen. Man stürmt die königliche Wohnung; man schleppt die Unglücklichen vor den Richterstuhl der Volksversammlung, Gefangenschaft, Kerker, endlich der Tod!




Maria Antoinette hat alle Leiden, die größten, welche ein Mensch zu ertragen vermag, durchgekostet, den Wermuthbecher bis auf die Neige geleert. Wohl schweifte der trübe Blick der Königin oftmals zurück zu den Hallen der Kaiserburg. „Welch ein Glück! welch eine Größe! welch eine Zukunft!“ so hatte man entzückt gerufen, als das Bild des Dauphins an der Brust Maria Antoinette’s funkelte. Und nun? Sie war gekommen, die schreckliche Gegenwart; dachte sie zurück an Wien, die unglücklichste aller Königinnen, als sie am Morgen des 16. Oct. 1793 den fürchterlichen Karren bestieg? zurück an den rührenden Abschied von der großen, kaiserlichen Mutter? an jene Worte, die sie ausrief in prophetischer Stimmung?

Maria Antoinette hatte Abschied nehmen gelernt. Abschied von der Mutter, von dem Glücke, von der Hoheit, von ihrem Gatten, von ihren Kindern, vom Leben. Unter allen Trennungen war ihr die letzte gewiß die leichteste.

„Lebt wohl, meine Kinder. Ich gehe zu Euerem Vater!“ das waren die letzten Worte der Dulderin, die im Schimmer der kaiserlichen Hofburg, bei dem prunkenden Einzuge in Paris, auf dem Throne Frankreichs selbst nicht größer gewesen, als in dem Augenblicke, wo sie das Schaffot bestieg, als das herniederfallende Eisen ihr Leben durchschnitt und zerriß. Sie war groß in ihrem Elende, heroisch, gewaltig; denn treu hielt zu ihrem bedrohten, dem Tode geweihten Gatten die deutsche Kaisertochter.

Am 17. April 1770 überreichte Abends um sechs Uhr im großen Saale der Burg zu Wien der Gesandte, Marquis von Durfort, der Erzherzogin Marie Antoinette ein Schreiben. Es war der in Ausdrücken des Entzückens abgefaßte Liebesbrief des Dauphins – am 16. Oct. 1793, dreiundzwanzig Jahre später, überreichte Abends sechs Uhr im Cassengebäude des Wohlfahrts-Ausschusses zu Paris ein Mann von schmutzigem Aussehen, eine rothe Jakobinermütze auf dem struppigen Haare, ein Schreiben an den Cassirer. Es war eine Rechnung. Sie lautete:

Kosten

für die Bestattung der Personen, welche, durch das Revolutions-Tribunal zum Tode verurtheilt, gerichtet worden sind.

Den 1. des Monats etc. etc.

(Folgen die Namen der Guillotinirten nebst Kosten der Bestattung.)

Den 16.:

 Die Wittwe Capet (Maria Antoinette).
 Für den Sarg 06 Livres.
 Für die Grube und die Arbeiter 25      „
Joly,
 Todtengräber von la Madelaine,
 de la ville l’Evêque.

Darunter stand:

Zweihundert vier und sechszig Livres sind an den Todtengräber de la Madelaine, Bürger Joly, für gehabte Auslagen und als Entschädigung aus der Nationalcasse zu zahlen.

Jahr II der Republik.

 Herman, Präsident.

[776]
Der Ueberfall bei Zwickau.
Nach den Mittheilungen eines alten Freiwilligen.
Von G. Ladendorff.
(Schluß.)

Ein tiefes Roth bedeckte die Stirn des Rittmeisters und seine Augen funkelten, als er sagte: „Mit diesem bramarbasirenden Falstaff der großen Nation werde ich morgen Abrechnung halten. So Gott will, soll er die preußischen Schulbuben fürchten und achten lernen und sich als Gefangener vor ihnen beugen.“

Dem jungen Mann die Hand reichend, setzte er hinzu: „Ich danke Ihnen für Ihre Mittheilungen und werde dafür Sorge tragen, daß Ihnen aus dieser patriotischen Handlung keine Unannehmlichkeiten erwachsen.“

„Unannehmlichkeiten, die mir von den sächsischen und französischen Behörden bereitet werden könnten,“ entgegnete Bömann, „glaube ich nicht mehr fürchten zu dürfen, weil ich mich der Hoffnung hingebe, daß Sie mir erlauben werden, fortan unter Ihrer Führung für Deutschlands Befreiung fechten zu dürfen.“

„Ich werde Sie gern in die von mir befehligte Schwadron aufnehmen,“ erwiderte der Rittmeister mit freudiger Ueberraschung. „Möchte Ihr Beispiel dazu dienen, die deutsche Jugend zu einer gleichen thatkräftigen Handlungsweise anzuregen, damit wir die Schmach auslöschen können, womit Niedertracht, Feigheit und gemeine Selbstsucht den vaterländischen Boden befleckt haben.“

Sich an einen Officier wendend, der mit ihm aus der Hütte getreten war, sagte er: „Herr Lieutenant Eckart, ich ersuche Sie, den Freiwilligen Bömann für den preußischen Waffendienst in Eid und Pflicht zu nehmen. Lassen Sie ihm sein Pferd zurückgeben und ergänzen Sie nach Möglichkeit seine Ausrüstung. Zugleich bitte ich Sie, dafür Sorge tragen zu wollen, daß das Detachement in einer Stunde marschfertig ist.“

Nach der bestimmten Zeit trat der Rittmeister vor die Front seiner kleinen Schaar.

„Cameraden,“ rief er mit seiner klaren durchdringenden Stimme, „ich führe Sie heute einem eben so ernsten wie wichtigen Unternehmen entgegen. Wir werden einen feindlichen Artillerie-Train angreifen, der von einer uns weit überlegenen Bedeckung escortirt wird. Ich weiß, daß Sie den Feind nicht zählen, und daß ich Ihrer persönlichen Tapferkeit das Unmögliche anmuthen darf. Dies reicht aber nicht aus, um unserem heutigen Unternehmen den Erfolg zu sichern, der uns allein gegen den Vorwurf unüberlegter Tollkühnheit schützen kann. Ruhe und unbedingte Befolgung jedes Befehls, Umsicht und Geistesgegenwart sind unerläßlich, wenn wir den Sieg erringen wollen. Lassen Sie uns heute zeigen, daß wir nicht blos tapfere, sondern auch gut geschulte Soldaten sind, die sich in allen militärischen Tugenden den alten Schnurrbärten, welche so oft die Nase über uns gerümpft haben, ebenbürtig an die Seite stellen können. Verunglückt unser heutiges Unternehmen, so verwelkt aller Ruhm, den wir uns bereits erfochten haben, unter dem Tadel der öffentlichen Stimme, die ihre Weisheit und ihre Vorsicht durch den Ausgang zu rechtfertigen sucht. Ich habe genug gesagt! Aufgesessen! Marsch!“

Es war eine finstere Nacht, als die kühnen Parteigänger in tiefem Schweigen und fast lautlos aus dem Reichenbacher Walde rückten. Schwarze Wolken bedeckten den Himmel, ein dunstiger Nebel lag wie ein weißer Schleier auf Berg und Thal.

Colomb, bei seinem Muthe jederzeit auf die Winke der Vorsicht hörend, ließ seine kleine Schaar sich nur langsam vorwärts bewegen. Er selbst befand sich bei der Spitze der Avantgarde, die ihre Marschrichtung nach den Angaben des Freiwilligen Bömann einrichtete, welcher das Corps auf Nebenwegen, durch dichtes Gebüsch, über zahlreiche Bäche, Hügel und Gräben und die Ortschaften Oberheinsdorf und Planitz seinem Ziele entgegenführte.

Bei Anbruch des Tages umging das Detachement die Stadt Zwickau und gelangte bald darauf auf die Straße, welche von diesem Ort nach Chemnitz führt.

Der Rittmeister recognoscirte die Gegend und gab hierauf die Dispositionen zum Angriff. Den Lieutenant von Katte legte er mit seinem Zuge auf der dicht bewaldeten Mülsener Anhöhe, welche die Straße beherrscht, mit dem Befehl in den Hinterhalt, die feindliche Avantgarde ungestört auf den Berg vorrücken zu lassen und sie hier stürmisch anzufallen. Mit dem übrigen Theil des Detachements ging er etwa sechshundert Schritt gegen Zwickau zurück und stellte seine Reiter hier, bei einer Biegung, welche die Straße macht, wohl verdeckt in einem Gehölz auf. Er selbst nahm mit dem Oberjäger von Heuthausen und den Freiwilligen Föring und Bömann hinter einem Erlengebüsch Stellung, von wo aus sich die ganze Straße übersehen ließ.

In der Erwartung auf den bevorstehenden Kampf gingen die Morgenstunden dieses Tages an den heißblütigen Weglagerern mit fast unerträglicher Langsamkeit vorüber. Während der Schlachtenmuth ihr Blut stürmisch durch die Adern trieb und sie heftig aufregte, mußten sie eine lange Zeit, wie angenagelt, in den ihnen angewiesenen Stellungen stehen und mit brennender Thatenlust auf den Feind lauern, der sich gerade nicht beeilte, die schönen Nachtquartiere zu früh zu verlassen.

Endlich, die Sonne stand schon hoch am Himmel, zeigte sich die Avantgarde der Franzosen, und bald darauf entwickelte sich auch aus dem nach der Muldenbrücke führenden Thor der Stadt die schwerfällige Traincolonne. An der Spitze derselben marschirte eine Compagnie Infanterie, kleine Trupps derselben Waffengattung umgaben den langen Wagenzug von beiden Seiten, während eine starke Cavallerie-Abtheilung den Nachtrab bildete. Die Avantgarde bestand aus etwa sechszig Cavalleristen, welchen man es an ihrer Haltung ansah, daß es ungeübte Leute waren, die ihre rohen, undressirten Pferde kaum zu zügeln vermochten. Ungeordnet zogen sie an der Aufstellung des Rittmeisters vorüber, gefolgt von zweiundsiebzig Fahrzeugen, deren Bedeckung sich der größten Sorglosigkeit überließ. Der Rittmeister ließ sie ruhig ziehen. Als die Avantgarde aber die Höhe der Straße erreicht hatte und die Colonne eben aus dem Hohlwege treten wollte, in dem sich an dieser Stelle die Straße hinzieht, warf sich der Lieutenant v. Katte stürmenden Laufes auf die überraschten feindlichen Reiter, die nach einem kurzen Handgemenge kopfüber kopfunter den Berg herabgestürzt wurden, sich in einem ungeordneten Knäuel auf die an der Spitze marschirende Infanterie warfen und sie niederritten.

Einer Windsbraut ähnlich, stürmte fast in demselben Augenblick der Rittmeister mit seiner Abtheilung auf den Nachtrab ein, der sich eben formiren wollte, um seiner Avantgarde zu Hülfe zu kommen. Die todesmuthigen Jäger hieben nach den Pferden, verwundeten die überraschten Reiter, sprengten sie auseinander und bahnten sich mit unwiderstehlicher Tapferkeit eine Straße bis tief in den Wagenzug hinein. Sobald die Trainsoldaten merkten, daß sie im Rücken und in der Front von einem erbarmungslosen Feinde angefallen waren, schnitten sie die Gespanne ab und stürzten sich mit dem verhängnißvollen Geschrei: „sauve qui peut!“ in wilder Flucht über Alles hinweg, was ihnen in den Weg kam. In gestrecktem Galopp ritten die Freiwilligen die Straße entlang; die Bedeckung wurde überall niedergehauen, die Pferde an den Fahrzeugen erstochen und nach kurzer Zeit waren sie an der Spitze der Colonne, wo der ganze aus Cavalleristen und Trainsoldaten bestehende Haufen den Berg hinaufgetrieben wurde, während der Lieutenant v. Katte die Avantgarde gleich einer wilden Fluth herunterjagte. Hierdurch entstand ein entsetzliches Durcheinander, in dem die Jäger mit ihren scharfen Klingen mächtig aufräumten. Nach und nach entwirrte sich der zusammengerollte Menschenknäuel, die französischen Reiter setzten über den Graben, der die Straße einfaßte, gewannen freies Feld und suchten in eiliger Flucht ihr Leben und ihre Freiheit zu retten.

Den Capitain Bizot, den Führer des Parks, traf hier die wohlverdiente Strafe für die dummstolze Großsprecherei, womit er sich über die preußischen Freiwilligen ausgelassen hatte. Derselbe wurde nämlich auf der Flucht von dem Lieutenant v. Katte und einigen Jägern eingeholt. Er bat um Pardon, als er aber den Degen abgeben sollte, warf er sein Pferd schnell herum und jagte davon. Der Lieutenant von Katte war ihm jedoch bald wieder zur Seite und sein Säbel schwebte bereits drohend über dem Haupte des Franzosen, als dieser sich abermals Pardon erflehte. Nachdem [777] ihm Verzeihung zugesagt war, warf er sich plötzlich vom Pferde, sprang seitwärts über den Graben der Landstraße und suchte nach dem nahen Gebüsch zu entkommen. Das sumpfige Terrain verhinderte jedoch die Flucht des wortbrüchigen Schurken, er konnte nur langsam vorwärts kommen und blieb endlich ganz stecken. Katte drohte ihm mit Erschießen, wenn er nicht sogleich umkehren würde, und ließ, um seiner Drohung den gehörigen Nachdruck zu geben, die Büchsenmündungen der ihn begleitenden Jäger auf das Haupt des Capitains richten. Dies Manöver erschien demselben doch nicht ganz geheuer, denn er zog es vor, herauszukommen und mit Ueberreichung seines Säbels sich zu ergeben. Den von einem Ehrlosen und Feigen geführten Degen warf Katte in den Sumpf, ein paar kostbare kleine Pistolen, die dem Capitain gehörten, wollte er zum Andenken an diesen Tag behalten, der schamlose Franzose, die Waffen für ein altes Familienstück ausgebend, das schon seit langer Zeit vom Vater auf den Sohn vererbt worden war, bettelte jedoch so lange um deren Rückgabe, bis sich der Lieutenant erweichen ließ und dieselben ihm wieder einhändigte.

Während dieser Kampfesscenen hatte sich die feindliche Infanterie von ihrer Bestürzung erholt und in kleinen Trupps in den die Straße begrenzenden Kornfeldern Deckung gesucht. Von dort eröffnete sie plötzlich ein lebhaftes Feuer auf die zerstreuten Jäger.

„Auf die Infanterie!“ rief der Rittmeister mit einer Stimme, die scharf und deutlich, wie der Schlag einer Kanone, das Kampfgewühl übertönte.

Ohne sich Zeit zum Sammeln zu lassen, fanden sich die unerschrockenen Jäger in Abtheilungen von fünfzehn bis zwanzig Mann zusammen, sausten mit verhängten Zügeln den Kugeln und Bajonneten entgegen, ritten die Infanteristen nieder und nahmen, was nicht unter ihren Klingen fiel, gefangen.

An der Spitze eines solchen Trupps attakirte Föring eine feindliche Infanterieabtheilung. An der Kopfbedeckung erkannte er, daß es Rheinbündler waren. „Werft die Gewehre weg, deutsche Brüder. Ihr sollt Pardon haben!“ rief er ihnen zu, und wie auf Befehl ihres Officiers streckten fünfzig Mann vor zehn preußischen Freiwilligen die Waffen.

Eine andere Abtheilung von über sechszig Mann italienischer Truppen hatte in einem Gehöft Aufstellung genommen, wo ihnen schwer beizukommen war. Die das Gehöft umschwärmenden Jäger wurden durch Flintenschüsse zurückgewiesen und konnten nichts ausrichten. Der Rittmeister nahm dieselben zurück und ritt mit einer Parlamentärflagge, in Begleitung des Oberjägers v. Heuthausen, der italienisch sprach, auf das Gehöft los. Die Italiener stellten das Feuer ein und schickten ihm einen unbewaffneten Mann zur Unterhandlung entgegen. Colomb ließ ihnen sagen, daß sie mit Kosaken umstellt seien, denen sie nicht entgehen könnten. Sie möchten sich lieber den Preußen übergeben, von welchen sie eine gute Behandlung und Schutz für ihre Person und ihr Eigenthum zu erwarten hätten. Auf diese Aufforderung gaben die Italiener ihre für Kavalleristen uneinnehmbare Stellung auf; sie traten heraus, zerschlugen die Gewehre und ließen sich entwaffnen und fortführen.

Kaum waren sie in Sicherheit gebracht, als dem Rittmeister gemeldet wurde, daß sich die feindliche Cavallerie wieder gesammelt habe und von Zwickau aufs Neue heranziehe. Er ließ sogleich zum Sammeln blasen, konnte aber in der Eile kaum dreißig Pferde zusammenbringen, mit welchen er dem weit überlegenen Feinde muthig entgegeneilte. Bis auf hundert Schritt war die kleine Schaar bereits gegen den Feind herangekommen, als die Trompete Halt gebot. Der Rittmeister wollte zum letzten entscheidenden Choc die Pferde verschnaufen lassen. Nicht lange, so ertönte die Fanfare, und im vollen Rosseslauf, mit hochgeschwungenen Säbeln und lautem Hurrah warfen sich die Jäger auf die Franzosen, durchbrachen deren Front, nahmen im Handgemenge ihren Führer, einen sich tapfer vertheidigenden Artillerie-Officier, gefangen und jagten sie endlich in wilder Flucht über die Muldenbrücke nach der Stadt zurück. Die Verfolgung überließ Colomb dem Lieutenant v. Katte, der den letzten Rest der Franzosen in Zwickau gefangen nahm und, was sich nicht ergeben wollte, niederhieb.

Der Rittmeister wischte die blutige Säbelklinge an der Mähne seines Pferdes ab und begab sich nach der Colonne zurück, um die noch umherschwärmenden Jäger zu sammeln und sich die gewonnene Beute anzusehen.

Der Siegespreis, aus vierundzwanzig neuen Geschützen, über dreißig gefüllten Munitionswagen, Feldschmieden und andern Fahrzeugen, zusammen aus zweiundsiebzig Wagen und beinahe vierhundert Pferden bestehend, war mit einem geringen Verlust erstritten worden.

Was sollte man aber mit dieser reichen Beute beginnen? Mitschleppen konnte man sie nicht, es mußten deshalb Veranstaltungen getroffen werden, den Train zu zerstören. In dieser Absicht ließ der Rittmeister die gefüllten Munitionswagen auf einem an der Straße belegenen großen Ackerfelde zusammenfahren, um sie in die Luft zu sprengen. Von den erbeuteten Pferden überließ er gegen zweihundert Stück den Landleuten, die sich sehr zahlreich auf dem Kampfplatze eingefunden hatten, um die siegreichen Preußen zu beglückwünschen. Eine kleine Anzahl verkaufte er an einen böhmischen Juden; die Officierpferde und einige der bessern wurden mitgenommen, die übrigen an die Munitionswagen gebunden, um sie durch die Explosion zu tödten. Ein furchtbarer Knall ersckütterte die Luft, der kostbare Artillerietrain war nur noch ein dampfender Trümmerhaufen, aus dem noch dann und wann helle Flammen emporschlugen, welche die letzten Holztheile der zertrümmerten Fahrzeuge zerstörten. Die Eisentheile wurden den jubelnden Landleuten überlassen, die Geschützröhre zersägt oder auf eine andere Weise unbrauchbar gemacht.

Am Nachmittage dieses ereignißreichen Tages marschirten die Freiwilligen mit dreihundert und sechszig Gefangenen, worunter sich sechs Officiere und die Maitresse des Capitain Bizot befanden, nach Zwickau, wo sie von den Einwohnern mit endlosem Jubel begrüßt und sehr splendid bewirthet wurden. Dort wurden die gefangenen Officiere, nachdem sie sich ehrenwörtlich verpflichtet hatten, während dieses Krieges nicht wieder gegen die Preußen zu dienen, entlassen; die Unterofficiere und Gemeinen mußten ein gleiches Gelübde an Eidesstatt abgeben.

Der Capitain Bizot erbat sich von dem Rittmeister eine Bescheinigung, daß er nach einem hartnäckigen Kampfe einzig und allein der Uebermacht gewichen sei. Er behauptete, daß die Streifpartei mindestens fünfhundert Pferde zähle, empfand aber eine tiefe Beschämung, als er an der Front der achtzig preußischen „Schulbuben“, die ihm eine so empfindliche Niederlage beigebracht hatten, heruntergeführt wurde. Nachdem er die Erklärung abgegeben hatte, daß die preußischen freiwilligen Jäger den besten französischen Elitetruppen gleichzustellen seien, wurde ihm die verlangte Bescheinigung ausgefertigt, darin aber ausdrücklich hervorgehoben, daß der Capitain sich erst dann ergeben habe, als er der Tapferkeit der Freiwilligen nicht länger habe widerstehen können.

Das Detachement lagerte auf dem Marktplatze der festlich geschmückten Stadt, umrauscht von enthusiasmirten Bürgern, die sich mit patriotischem Eifer für die Befreiung Deutschlands aussprachen und die preußischen Freiwilligen mit ihren Gunstbezeigungen fast erdrückten. Der Platz war mit langen Tafeln umstellt, an welchen die Jäger bewirthet und von schönen Händen bedient wurden. Der hisher niedergehaltene Patriotismus der braven Zwickauer loderte bei der Flasche in hellen Flammen empor, die feierlichsten Gelübde wurden gethan und eine ewige Brüderschaft zwischen den Bürgern und den Preußen geschlossen.

Der regierende Bürgermeister, Herr Hofrath Ferber, ließ dem Rittmeister seinen Respect vermelden und bedauerte es, dies nicht persönlich thun zu können. Er wollte krank sein. Die Bürgerschaft schien dies übel vermerkt zu haben, denn als das Detachement gegen Abend unter lautem Vivatrufen der Einwohner an seinem Hause vorüberzog, um die Stadt zu verlassen, wurde ihm eine todte Katze an die Hausthür genagelt und eine Menge wuchtiger Steine nach den dichtverhangenen Fenstern seiner Wohnung geschleudert.

In solchen Demonstrationen machten sich der Freiheitsdrang und die deutsche Gesinnung der Bevölkerung selbst unter den Augen der Schergen der französischen Zwingherrschaft schon damals Luft. Umstellt von französischen Bajonneten, niedergehalten von einer nicht wohl berathenen Regierung, umlauert von einem charakterlosen Beamtentroß, der seine Dienste dem Meistbietenden zuschlug und dem glücklichen Verbrecher die Füße leckte, bäumte sich das Volk dennoch mit unbezähmbarem Trotz gegen die fremden Gewalthaber und ihre deutschen Helfershelfer bei jeder geeigneten Gelegenheit auf, und die heiligen Gedankenblitze Freiheit und Vaterland, die an Preußens Horizont emporzuckten, schlugen auch hier zündend in die Herzen, daß sie aufloderten in hellen Flammen.

Unter dem Antrieb des heiligen Sturmes, dessen Odem damals alle Seelen weitete und weit über die preußische Grenze hinauswehte, [778] durften die freiwilligen Jäger es wagen, tief in die von den Franzosen besetzten deutschen Gebiete einzudringen. In dem deutsch-patriotischen Sinn der Bevölkerung fanden sie einen starken Bundesgenossen; im Volke gab es keinen Verräther, der ihre Stellungen, ihre Märsche dem Feinde verrathen hätte, überall wurden sie mit Jubel empfangen und mit tausend Segenswünschen auf ihren gefährlichen Pfaden begleitet. Sie waren ja die Träger der nationalen Begeisterung, die hellleuchtenden Meteore der Erhebung, die Apostel der Freiheit und bürgerlichen Selbstthätigkeit, welche diese ganze Bewegung so charakteristisch kennzeichnete. Ueberall, wo sie erschienen, hinterließen sie eine Gedankensaat, aus der die schönsten Früchte erblühten.

In der Armee waren die freiwilligen Jäger die Männer der That, des rücksichtslosen Wagens, die dem engherzigen dynastischen Egoismus offen entgegentraten und den Krieg auf Leben und Tod predigten. Deshalb waren sie dem „diplomatischen Federvieh“, wie der alte Recke Blücher die federkundigen Beamten des großen Hauptquartiers nannte, und auch den „altfritzigen“ Officieren ein Dorn im Auge. Diese in Hochmuth und Junkerthum verknöcherten alten Soldaten suchten der jungen Adlerbrut bei jeder Gelegenheit die Schwingen zu beschneiden und waren eifrig bemüht, ihren Thaten die Anerkennung zu entziehen.

Auch der Rittmeister von Colomb mußte dies erfahren, als er nach abgeschlossenem Waffenstillstand sich unter tausend Fährlichkeiten aus den feindlichen Haufen herauswickelte, die ihn umstellt hielten, und endlich bei Breitenhagen unweit Aken das rechte Ufer der Elbe erreichte. Von seinen jüngeren Cameraden wurden er und seine tapfere Schaar zwar mit der herzlichsten Freude empfangen, die höheren Officiere behandelten ihn dagegen mit kalter Nichtachtung und grätiger dienstlicher Kleinigkeitskrämerei. Als er sich in Ohlau bei dem General York meldete, ließ dieser seiner Abneigung gegen die Parteigänger frei die Zügel schießen.

„Solche Züge,“ meinte er, „lockern die Subordination; es tritt dabei eine Cameradschaft zwischen den Officieren und ihren Leuten ein, die den Respect untergräbt und endlich zur Auflösung aller Disciplin führt. Die Vortheile, welche Sie errungen haben, wägen die Nachtheile nicht auf, die aus solchen Actionen, wo ein jeder Mann sich in fesselloser Ungebundenheit bewegt, der militärischen Dressur erwachsen. Ich werde dafür Sorge tragen, daß Ihren Kraftgenies die langgelassenen Zügel wieder verkürzt werden, und sie an Zaum und Zügel gewöhnen.“

Der alte Griesgram, der in der Poscheruner Mühle, als er durch den mit den Russen abgeschlossenen Vertrag von Tauroggen der Politik Preußens eine feste Basis gab, selbst „Kraftgenie“ gespielt hatte, hielt Wort. Um die innige Cameradschaft zu zerstören, welche Colomb mit seinen Freiwilligen geschlossen hatte, sorgte er dafür, daß diesem das Commando derselben noch während des Waffenstillstandes abgenommen und derselbe zu einem anderen Armeecorps, obschon mit Avancement, versetzt wurde. Das schöne Band, welches die freiwilligen Jäger an den hochherzigen Mann fesselte, wurde dadurch aber nicht gelöst. Seine Schwadron verehrte ihm zum Andenken einen reichverzierten Säbel, blieb ihm mit inniger Liebe zugethan, und noch heute, nach einem halben Jahrhundert, sprechen die hochbetagten Greise, die einst seinem Commando untergeben waren, mit hoher Begeisterung und inniger Anerkennung von ihrem heldenmüthigen Führer.




Dorfanlage und Hausbau in Deutschland.
Von Wilhelm Jungermann.
(Schluß.)
Das thüringische Bauernhaus. – Der Einzelhof. – Dörfer und Städte ohne Grund und Boden. – Die Kämpe.

Wir kommen zum thüringischen Bauernhaus. Daß wir hier auf anderem Grund und Boden stehen, haben wir schon oben an der Verschiedenheit der Dorfanlage gesehen. Die hauptsächlichsten Eigenthümlichkeiten des Hausbaues aber sind: die stets viereckige Form und die Geschlossenheit des Hofes durch ein Thor und eine neben diesem stehende Pforte; die Einfassung der muldenförmig vertieften Miststätte durch einen vor den Gebäuden sich herziehenden gepflasterten oder geplatteten Gang (die s. g. Häuste); an der dem Hof zugekehrten Außenseite des Stallgebäudes eine offene Galerie (der s. g. Gang oder auch die Laube); das Taubenhaus in der Mitte des Hofes; die Holzwände des untern Stockwerks des Wohnhauses; die hohe Esse der Küche; die offene Durchfahrt in einem der Wirtschaftsgebäude, und der mangelnde Holzbau an den Wänden der letztern, die vielmehr meist aus reinem Lehm aufgeführt sind. Nicht sowohl im Hausbau als in wirthschaftlichen Verhältnissen beruhende Eigenthümlichkeiten sind sodann noch: der fast nie fehlende große Käsekorb an einem der Nebengebäude und die Umfriedigung der Miststätte mit einem Strohgeflecht oder in anderer Weise, eine Einrichtung, die wahrscheinlich damit zusammenhängt, daß sich vielfach das Vieh während des Tages auf der Miststätte aufhält.

Nicht alle thüringischen Bauernhöfe sind übrigens gleich geräumig, und es haben demnach auch nicht die Wirthschaftsgebäude aller dieselbe Ausdehnung. Die größere oder geringere Wohlhabenheit des Besitzers äußert hier wie überall ihre modificirenden Wirkungen, namentlich in der Richtung, daß mehrfach Wohnhaus und Stallung nicht zwei selbstständige, sondern ein zusammenhängendes Gebäude sind. Bei kleineren Höfen fehlt wohl auch das Taubenhaus im Hof, wogegen dann ein Taubenschlag im Giebel des Wohnhauses angebracht ist. Auch das Thor und die Pforte haben nicht überall die gleiche Ausdehnung. Nach Westen zu werden die geschlossenen Thoreinfahrten immer seltener. Um Heiligenstadt und Mühlhausen sieht man sie nur noch vereinzelt, an der Ocker gar nicht, im Werrathal nur hier und da. Thor und Pforte bleiben zwar auch in diesen Gegenden, aber, entsprechend dem geringern Umfang der Güter, sind sie meist oben offen, und nur hin und wieder liegt ein Querriegel oben auf den beiden Säulen. Südlich und östlich am Harze, in Meißen und im Altenburgischen sind die Pfeiler fast durchweg von Stein und oben entweder durch ein Dach oder durch einen Bogen geschlossen, in der Lausitz dagegen wird statt des Steines schon häufig Holz angewendet, während in Böhmen das hohe meist steinerne Thor sich ganz besonders bemerklich macht. Hin und wieder findet man auch wohl das Thor gänzlich überbaut, in welchem Falle dann gewöhnlich die offene Durchfahrt wegfällt. Auch der Gang oder die Laube wird nach Westen zu im Werrathale schon seltener und verschwindet mehr und mehr. Ebenso verdrängt die reine Lehmwand oder auch die gewöhnliche Gefachwand die Holzwand in dem untern Stockwerk des Wohnhauses. Ein Bild des äußeren und inneren Aussehens eines thüringisch-slavischen Hofes werden die beiden folgenden Zeichnungen gewähren, die von einem Hof in Altbernsdorf an der Pliesnitz, dicht beim Städtchen Bernstadt in der Oberlausitz, aufgenommen sind.

Es bleibt uns nur noch die Schilderung des Einzelhofs in dem Land nördlich von der Lippe übrig. Es ist bereits oben bemerkt worden, daß der Hausbau auf diesen Einzelhöfen der altsächsische zu sein scheint. Der Hausbau des Einzelhofs wird uns daher hier nicht weiter beschäftigen, es gilt davon ganz dasselbe, was oben über das sächsische Haus mitgetheilt wurde. Die Eigenthümlichkeit des Einzelhofs liegt vielmehr in dem gänzlichen Mangel jedes landwirthschaftlichen Gemeindeverbandes. Es giebt in dem Gebiet des Einzelhofs eine politische Gemeinde – die „Bauerschaft“, die von einer Anzahl von Einzelhöfen gebildet wird und unter einem „Schulzen“ stand, dessen Amt mit dem Besitz eines bestimmten Hofes verbunden war – und es giebt dort auch eine kirchliche Gemeinde, eine landwirthschaftliche Gemeinde dagegen, d. h. eine solche mit gemeinsamer, in Hufen abgetheilter Feldflur, gab und giebt es nicht. Die einzelnen Einzelhöfe sind und waren von jeher vollständig für sich abgeschlossene und stets zusammenhängende Ganze. Mit der Zeit haben sich allerdings auch Dörfer und Städte hier und da gebildet, aber weder die einen, noch die andern haben in Hufen eingetheilte Fluren; die Einzelhöfe hatten ja viel früher schon den gesammten bestellbaren Grund und Boden vorweg genommen. Etwas Land haben natürlich auch diese Städte und Dörfer, [779] die fast sämmtlich sich um ein ehemaliges Kloster, eine Burg oder Pfarrkirche entwickelt haben, allein dieses Land ist sehr unbedeutend und besteht nur aus einzelnen Stücken, die von benachbarten Höfen gekauft oder gepachtet worden sind. Die Hauptbeschäftigung dieser Stadt- und Dorfbewohner ist daher auch nicht der Ackerbau, sondern sie sind meist Krämer, Wirthe und andere Gewerbtreibende – gehört doch selbst die Stätte, worauf ihr Haus (Wort) steht, nicht ihnen, sondern einem andern Grundherrn, der für die Überlastung derselben einen Grundzins (Wortzins) bezieht. Diese erst spät entstandenen Städte und Dörfer sind also Ausnahmen, ursprünglich war das Land mit lauter Einzelhöfen besiedelt.

Bauernhaus in Altbernsdorf bei Bernstadt in der Oberlaustiz.

Der Schilderung des Einzelhofs sei hier der Grundriß einer bestimmten Hofflur zu Grund gelegt, der des Schulzenhofs Gaffel in der Gemeinde Ueberwasser, nordwestlich von Münsters.

Von den Buchstaben bezeichnen a die Ackerkämpe, wi die Wiesenkämpe, w die Weidekämpe, h die Holzkämpe. Von den Zahlen bezeichnet 1 die Hofstätte mit ihrem ringsherum laufenden Wassergraben; 2 die Wohnung des „Plaskötter“, nämlich eines Tagelöhners, der zum Hof gehört; 20 eine Quelle, von der ein Wassergraben ausgeht; 21 die beim Hof vorbeiziehenden Wege. Wir sehen also, mitten im Hofgut liegt die Hofstätte mit den Wirthschaftsgebäuden, und rings um diese schließen sich die Hofgründe an, Acker und Wiese, Weide und Holz in buntem Gemisch. Alle diese Gründe sind in einzelne Stücke von verschiedenster Größe (ein bis zehn Morgen) zertheilt und zwar, nach den unregelmäßigen Formen zu schließen, in größter Willkür. Diese einzelnen Stücke

Der Hof eines Bauerngutes in Altbernsdorf bei Bernstadt in der Oberlausttz.

nun werden Kämpe genannt und jeder Kamp wird vom andern durch Graben und Wall getrennt, der Wall aber ist mit einer Hecke bepflanzt und der Zugang mit einem Schlagbaum verschlossen. Dies ist aber nicht blos bei den Aeckern und Wiesen der Fall, sondern auch die Holz- und Weidekämpe haben dergleichen Verschluß. Selbst in der Benutzung dieser Kämpe findet zuweilen ein Wechsel statt; ein Ackerkamp bleibt wohl einmal zur Wiese liegen und ein Wiesenkamp wird zu Land umgebrochen. Liegt der Acker „triesch“, so dient er als Viehhut – der Schlagbaum vertritt die Stelle des Hirten. Die Wallhecken aber werden nach einem gewissen Kreislauf von etwa fünf Jahren nach und nach ausgehauen und liefern dem Besitzer den größern Theil seines Brennmaterials. Insoweit ist die Abgeschlossenheit des Einzelhofs vollständig durchgeführt. Es giebt jedoch einzelne Theile des Grundbesitzes, welche früher Gemeingut mehrerer Höfe waren und zum Theil noch sind. Diese Bestandtheile des Grundbesitzes liegen aber außerhalb des Hofgrundes: es sind Haide und Moor oder Holz oder kleine Waldstücke (Busch). Wo die Haide sich nun zum Fruchtbau eignete, hat man sie in neuerer Zeit umgebrochen und in einzelne Ackerstücke getheilt. Dies sind die sogenannten Eschen (esk), und für diese offen liegenden Feldstücke hat sich denn auch die Feldgemeinschaft gebildet, wie in den eigentlichen Dorffluren. Sie sind daher, auch vermessen, so daß man bei ihnen von Morgen und Ruthen Landes spricht – Bezeichnungen, von denen bei den Ländereien in den Kämpen ebensowenig die Rede ist, wie von Hufen.

Die Baumgruppen um den Einzelhof und die zerstreut durch die Hofflur liegenden Hölzer und Wallhecken sind es besonders, die

Grundriß des Schulzenhofs Gaffel im Münsterlande.

dem starr und streng abgeschlossenen Ganzen doch wieder einen eigenthümlichen, wechselvollen, ja poetischen Charakter verleihen und gegen das ermüdende Einerlei der Feldfluren im sonstigen Flachland sehr vortheilhaft abstechen. Starr und streng aber schließt sich dieser nordwestphälische Einzelhof ab, das ist nicht zu leugnen. Wie der Wassergraben um die Hofstätte darauf hinweist, daß vordem hier ein Geschlecht saß, das Grund hatte sich gegen feindliche Angriffe zu vertheidigen, so trägt auch die ganze Anlage des Gutes etwas Kraftvolles, Herrisches, Eigenmächtiges, Sichselbstgenügendes. Wer auch zuerst dies Land besiedelt haben mag, ob die Sachsen, die es jetzt innehaben oder – was viel wahrscheinlicher ist – ein anderes nichtdeutsches Volk, das von den Sachsen später vertrieben wurde – es waren freie, streitbare Männer, welche die Einzelhöfe gründeten. Aber so frei sie auch waren, sie hatten doch ihren Herrn, und das war ihr eigen Besitzthum, der Einzelhof selbst. Das Gut selbst ist nämlich im nördlichen Westphalen ein so übermächtiges, wichtiges Ding, daß davor die Persönlichkeit des Besitzers ganz zurücktritt, und das geht soweit, daß bis auf diesen Tag der Name des nordwestphälischen Bauern in seinem Gute ausgeht. Der [780] Besitzer des Oberhofs heißt und schreibt sich „Oberhöfer“, der Besitzer des Nordhofs heißt und schreibt sich „Nordhöfer“, und alle Die, welche vor ihnen den Oberhof oder den Nordhof besaßen, haben so geheißen und sich so geschrieben. Und wenn der Oberhöfer vom Oberhof wegziehen und den Westhof kaufen sollte, so heißt und schreibt er sich von Stund’ an „Westhöfer“ und sein Nachfolger auf dem Oberhof führt von da ab dessen früheren Namen. Der Einzelhof ist das wirkliche Bild im Kleinen von einem ackerbautreibenden Staat und wird es wohl auch noch lange Zeit bleiben.

Wir sind zu Ende. Die Ausführungen, die ich, vorzugsweise nach den vortrefflichen Abhandlungen Landau’s, gegeben, tragen, wie diese selbst, das Gepräge einer nothwendigen Unfertigkeit und können, weit entfernt einen wissenschaftlichen Abschluß zu bieten, eigentlich nur als die Anfänge einer gründlichen, streng methodischen Untersuchung gelten. Aber klar und bestimmt erkennen wir bereits, daß die vollständige und auffallende Verschiedenheit des fränkischen, sächsischen und thüringischen Hausbaues und der deutschen und thüringischen Dorfanlage im Gegensatz sowohl unter sich, als zu dem räthselhaften nordwestphälischen Einzelhof, nicht auf zufälliger und willkürlicher Laune der ersten Ansiedler, sondern auf tief im Volksleben, in Stammes- und nationaler Verschiedenheit begründeten Ursachen beruhen müssen. Dafür bürgt sowohl das Zusammenfallen dieser grundverschiedenen Bauarten mit den aus anderen Quellen uns bekannten Grenzen der einzelnen Volksstämme[WS 3] im Allgemeinen, als die ungeheuere Zähigkeit dieser Bauweisen auch unter später veränderten politischen Verhältnissen. Fast ein Jahrtausend ist es her, daß die fränkischen Hessen den angrenzenden sächsischen Stamm der Cherusker unterwarfen und das sächsische Hessen demselben Staat wie das fränkische Hessen angehört, und doch fällt noch heute die Grenze des sächsischen Hausbaues mit der alten Stammesgrenze genau zusammen. Gegenüber solchen Beweisen einer allen Einflüssen der Zeit trotzenden Stetigkeit ist es daher nicht zu viel gewagt, wenn man an der Hand derselben den Versuch macht, die vergangenen Jahrtausende jetzt noch zu zwingen, ihren stummen Mund zu öffnen und dem heute lebenden Geschlecht Zeugniß abzulegen von dem Kampf und Streit, dem Weben und Leben der Menschen, die nur sie gesehen. Das aber ist keine müßige Neugier. Je tiefer unser Blick hinabdringt in das Dunkel der Vergangenheit, um so schärfer und besser verstehen wir unsere eigene Gegenwart; ja das Volk spricht sich selbst das Recht auf eine Zukunft ab, das die Quellen seiner Geschichte verschüttet liegen läßt und es versäumt, an dem Leben und Treiben seiner Vorfahren, auch der ältesten Zeit, sich zu bespiegeln und zu erfrischen. Vergessen wir es nicht, daß mit dem Beginn des Studiums unserer alten Sprache und unserer nationalen Alterthümer auch unser selbstbewußtes nationales Leben wieder begonnen hat und daß dies kein Zufall war, sondern die lebendigste Wechselwirkung. Aber Eile thut hier Noth. Die heutige Zeit mit ihren Dampfpflügen und Dreschmaschinen, mit ihren Verkoppelungen und ihrer Auflösung der alten unwirthschaftlichen Flurordnung räumt in raschem Flug einen dieser alten werthvollen Zeugen nach dem andern hinweg. Unser Hausbau wird ein anderer, die alte Bauweise und Dorfanlage weicht mehr und mehr den heutigen veränderten Bedürfnissen. Zu säumen ist da nicht länger, und deshalb sei hier das echt nationale Werk von Georg Landau der allseitigsten Unterstützung dringend empfohlen.




Cypressenzweig

auf das Grab des englischen Humoristen John Leech,
vom deutschen Humor.[1]

Armer John – an Deinem Grabe stehen auch Deine deutschen Collegen, in der Gestalt einer Trauerweide – denn unsere Haare sind zu Trauerzweigen geworden und senken sich über Dein schlichtes Kreuz. Neidlos blicken wir auf Deinen Ruhm, neidlos auf Deinen Witz, auf Deine Hechtnatur, die in den faulen Karpfenteich des Lebens Bewegung brachte. Wir gedenken Deiner Fuchsjäger und Angler, die Dein scharfgespitzter Griffel schuf, Deiner Ladies, der schönen und der abgelagerten, Deiner Blaustrümpfe, Deiner Gentlemen, Deiner „Freiwilligen“, Deiner Sportsmen, Deiner „Flunkeiana“ und des unsterblichen „Mr. Briggs“, dieser Krone alles englischen Spleens. – Auch Master Punch, dessen Hauptzierde Du warst, sitzt trauernd auf Deinem Grabe. Er hat sein lustiges Polichinel-Costüm abgelegt und ist nur noch ein alter bekümmerter Mann. – Lebewohl, lustiger John, Du „Bursch von unendlichem Gemüth“! Wir setzten Dir dies kleine Denkmal in Deinem Sinne, mit einem nassen und einem heitern Auge, denn nachdem Du die ersten bangen Todesahnungen überstanden, hast Du gewiß in Deinem letzten Stündlein gelächelt – diese miserable Welt verlassen zu müssen.
H. Kg. 


  1. Das deutsche Nationalgefühl, welches besonders in letzter Zeit vom stolzen England herausgefordert wurde und nicht ermangelte, in Wort und Bild Wiedervergeltung zu üben, ist vorurtheilsfrei genug, um den Guten und Besten jenes Landes die gebührende Anerkennung nicht vorzuenthalten. Thackeray, den großen humoristischen Schriftsteller, der vor Kurzem ebenfalls aus der Reihe der Lebenden schied, setzten wir bereits in diesen Blättern ein Denkmal der Liebe und Bewunderung, wie es dem Genius gebührt, möge aus diesem oder jenem Winkel der Erde sein Licht strahlen. – Jetzt gilt es John Leech, dem berühmten Humoristen und Satiriker, der mit seinem nie rastenden Griffel in dem weltbekannten englischen Witzblatte, dem Punch, dessen Hauptzeichner er war, seit einer Reihe von Jahren die Sitten und Gewohnheiten seines Volks mit einer Schärfe, mit einer Unparteilichkeit und Unerbittlichkeit geißelte, wie kaum ein Anderer vor ihm. Hogarth schilderte uns das alte – Leech das moderne London in hundert und aber hundert Persönlichkeiten und Situationen, so daß selbst der Ausländer von dem Treiben, von den Originalen der ungeheuern Weltstadt das treueste Abbild erhielt. Er war ein Maler seiner Zeit, seines Zeitgeistes – seine Skizzen, ausgestattet mit einer Fülle des köstlichsten Humors, sind Epoche machend und werden die Freude Aller bleiben, welche Sinn und Empfänglichkeit haben für die Spenden wahren Humors.



[781]
Bilder von der deutschen Landstraße.
2. Der Handwerksbursch.
III.

Kundschaft, Paß und Wanderbuch. – Die Hochschulen der Handwerksburschen. – Das Lohn-Machen und die Kündigung. – Dan Abdanken. – Das Hauptquartal. Die Umfragen. – Der Ehrenwillkommen oder der Schauer. – Das Ehrengeschenk. – Das Duell der Bauhandwerker. – Die Walze. – Der blaue Montag. – Das Geleite. – Schwärzen und Waschen. – Das Fechten. – Die Marschroute und der Schuh. – Das Visiren. – Die Polizei. – Ueber die Grenze. – Die Wahrzeichen. – Nach der Heimath. – Das Wanderbuch und die Erinnerung.

Wenn ein Handwerksbursch nicht „verschrieben“ war, so mußte er eine „Kundschaft“, bei sich führen. Es war dies eine nach einem vorgeschriebenen Formulare von den „geschworenen Meistern und Beisitzern“ der betreffenden Zunft ausgestellte Bescheinigung darüber, daß der Inhaber die und die Zeit bei dem und dem Meister in Arbeit gestanden und sich gut betragen habe. Da die Kundschaft ein kurzes Signalement des Wanderburschen enthielt und von der Polizei beglaubigt wurde, so vertrat dieselbe zugleich die Stelle des Wanderpasses. In späterer Zeit vereinigte sich Beides, Kundschaft und Paß, im Wanderbuche. Nahm ein Geselle Arbeit, die sich übrigens in manchen Städten der Zugereiste nicht beliebig auswählen durfte, indem er vom Obermeister oder dem Altgesellen demjenigen Meister oder derjenigen Meisterswittwe zugewiesen wurde, welche gerade mit dem Einstellen eines Gesellen an der Reihe waren, so wurde die Kundschaft beim Obermeister abgegeben, der dieselbe in der Lade zu verwahren hatte. Blieb der Geselle länger als vier Wochen in Arbeit, so wurde ihm, wenn er die betreffende Stadt wieder verlassen wollte und einen Nachweis darüber beigebracht hatte, daß er seine Auflagen sämmtlich entrichtet und der Bruderschaft oder auch der Herberge nichts schuldig sei, eine neue Kundschaft mitgegeben, die er ebenfalls als Beleg seiner Wanderzeit später beim Meisterwerden vorzulegen hatte. Dem seine Wanderschaft beginnenden Gesellen sollte nach den meisten Handwerksordnungen auch ein Reiseplan mitgegeben werden, „in dem man ihm von Handwerkswegen ein umständliches Verzeichniß aller derer Orte in die Hände giebt, in welchen sein Handwerk mit vorzüglicher Industrie getrieben wird“. Für die Klempner war die Hochschule Wien, für die Bäcker Dresden, für die Sattler und Curschmiede München, für die Schlosser und Gürtler Fürth, für die Weber Hof und Chemnitz, für die Färber Berlin, Dresden und Erfurt, für die Nadler Schwabach, für die Tuchmacher Crimmitzschau und Großenhain, für die Brauer München, für die Münchener Brauer aber Wien, für die Schuhmacher Erfurt, für die Metzger Hamburg, für die Schieferdecker Lehesten, für die Hutmacher Offenbach, für die Böttiger Frankfurt a. M.

Wenn ein Geselle Arbeit bekam, so war er zwar in den ersten vierzehn Tagen von allen Auflagen und Abgaben frei, erhielt dafür aber auch weder das Meister- noch das Gesellengeschenk. Erst nach dieser Zeit wurde, und zwar stets Sonntags nach dem Mittagsessen, „Lohn gemacht“, d. h. der Wochenlohn zwischen Meister und Gesellen festgesetzt, wobei jedes Mal alle Anwesenden das Zimmer zu verlassen hatten, so daß sich der Meister mit dem Gesellen allein befand. Bei manchen Zünften, wie z. B. bei den Schuhmachern, Bäckern, Fleischern etc., war es üblich, die Gesellen auf eine bestimmte Zeit zu miethen, daher denn auch – namentlich in Süddeutschland – die Bezeichnung „Handwerksknecht“ gebräuchlich war. Hier und da arbeitete man auch „auf Stück“; „Nachtschichten“, d. h. solche Arbeit, welche nach dem Feierabend verrichtet wurde, mußten natürlich besonders gelohnt werden. Wollte ein Geselle eine Werkstelle wieder verlassen, so pflegte er – und wiederum stets Sonntags nach dem Mittagsessen – zu dem Meister zu sagen: „Ich danke vor die Arbeit!“ oder auch: „Schreiben Sie mir meinen Fremdenzettel!“ worauf er alsdann noch vierzehn Tage in Arbeit blieb. Mit den Worten aber: „Du hast Feierabend!“ kündigte der Meister dem Gesellen, jedoch ebenfalls immer vierzehn Tage vor dem wirklichen Aufhören der Arbeit. Standen Jahrmärkte, Handelsmessen oder Feiertage in der Kürze zu erwarten, so durfte von beiden Theilen nicht gekündigt werden. Der Abschied vom Meister oder das sogenannte „Abdanken“ geschah, wenn Meister und Geselle in gutem Einvernehmen gestanden hatten, meist unter Anwendung der Worte: „Ich danke dem Herrn Meister vor alles Gute und Liebe, was ich bei Ihnen genossen habe; kann ich es heute oder morgen an Ihnen oder Ihren Kindern vergelten, so bin ich es zu thun schuldig!“ In den Worten: „Finde bald eine gute Werkstelle wieder, reise glücklich, Fremder!“ bestand der Scheidegruß des Meisters.

Nur ungern verließ der Wanderbursch eine ihm liebgewordene Werkstelle, besonders aber dann, wenn das Hauptquartal nahe bevorstand; denn dieses bildete den Glanzpunkt des Handwerkerlebens im ganzen Jahre. Da wurde der beste Sonntagsstaat angelegt, wenn bei „offener Lade“ verhandelt wurde. Nach Beendigung der ernsten Geschäfte, des Ein- und Ausschreibens, der Rechnungsablegung, der Beilegung von Zwistigkeiten etc. wurde alsdann auch in der Bruderschaft unter Assistenz zweier Meister nach altem Brauche noch ein besonderes Haupt-Quartal abgehalten. Die Lade stand geöffnet auf der Tafel, daneben lagen aufgeschlagen die Bücher der Bruderschaft, Krone und Scepter waren aufgerichtet, der Ehrenwillkommen oder der Schauer, im ganzen Jahre nicht wieder sichtbar, prangte auf dem Tische. Nun wurden die Umfragen, die erste, die zweite und die dritte, gehalten, d. h. gefragt, „ob einer oder der andere vorhanden sei, der auf den Altgesellen oder auf einen anderen ehrlichen Gesellen etwas Böses wüßte oder haben möchte, was sich der Ehre nicht gezieme, einem ganzen ehrsamen Handwerk zuwider oder einer ganzen löblichen Bruderschaft zu einem Schimpf oder übeln Nachtheil gereichen möchte: derselbe wolle dasjenige nicht verschweigen, sondern ordentlicher Weise vor den öffentlichen Ehrentisch treten und seine Worte mit Bescheidenheit vorbringend vermelden, dieweil der öffentliche Ehrenwillkommen auf dem öffentlichen Ehrentische stehe und die erste öffentliche Umfrage herumgehe!“ Wer keine Klage anzubringen hatte, der erhob sich mit den Worten: „Also mit Gunst und Erlaubniß! Was meine Person anbelangt, weiß ich für dies Mal auf keinen ehrlichen Gesellen nichts denn Liebes und Gutes. Also mit Gunst und Erlaubniß bin ich aufgestanden; also mit Gunst und Erlaubniß setze ich mich wieder.“ Wurde Jemand eines Vergehens beschuldigt, dann wurde eine förmliche Anklage und ein förmliches Verhör über ihn verhängt, wobei der Junggeselle die Funktionen des Gerichtsdieners zu übernehmen hatte. Wer schuldig befunden wurde, wurde gebüßt und die Buße vertrunken.

Die zweite Umfrage verlangt zu wissen, „wo einer oder der andere sein ehrlich Handwerk erlernt und wo er seinen ehrlichen Gesellenbraten gegeben habe, auch wohl, welchen ehrlichen Gesellennamen, der meist in einem kurzen Spruche bestand, er erhalten habe. An dem ehrsamen Willkommen, welcher gewöhnlich aus Zinn, hier und da auch aus Silber kunstvoll gearbeitet war, befanden sich kleine Ringe, an welchen diejenigen Gesellen, welche Meister wurden, Erinnerungsbänder und Gedächtnißschilder befestigten. Die Färber in Wien besaßen z. B. drei große silberne Ehren-Willkommen. Diese stattlichen Gefäße waren meist zwei bis drei Fuß hoch und erweiterten sich bedeutend nach oben, so daß sie ein ansehnliches Quantum Bier in sich aufnehmen konnten.

War er gefüllt, dieser Ehrenwillkommen, dann „präsentirte“ ihn der Altgeselle als „Ehrengeschenk“, denselben mit beiden Händen hoch empor haltend und ihn reichend in wohlgesetzter, sich immer gleich bleibender Rede, in welcher auch aller derjenigen Gesellen gedacht wurde, die „anderswo fremd oder wandernsfertig seien, oder auf grüner Haide liefen, oder willens zu laufen wären; denselben wolle Gott geben Glück, Heil und Segen zu Wasser und zu Land, über Berg und Thal, oder wo sie der liebe Gott hinsenden wolle etc.“. Und „mit Gunst und Erlaubniß“ machte alsdann der ehrsame Ehrenwillkommen die Runde.

Die dritte Umfrage erstreckte sich blos auf Vergehen, welche während der Abhaltung des Quartales selbst begangen wurden. Unter lautloser Stille wurde die Lade wieder geschlossen.

Für diejenigen, welche behaupten, daß da, wo viele junge Leute zusammenkommen, das Duell schlechterdings nicht zu entbehren sei, liefert das Handwersburschenleben einen in der That recht „schlagenden“ Beweis. Bei den Bauhandwerkern nämlich, auch bei den Hufschmieden und Schlossern war in Norddeutschland das Duell in der Weise eingeführt, daß die Forderung in den Worten bestand: „Jetzt hast Du es mit mir zu thun!“ Abends [782] nach zehn Uhr versammelte man sich in einem besonderen, der Polizei unbekannten Raume auf der Herberge; hier stellten sich die Duellanten einander gegenüber, wobei ein Jeder seinen Secundanten zur Seite hatte; der Angeklagte, respective der Geforderte, mußte den ersten Schlag mit der Faust auf den Kopf aushalten, und dann ging’s Schlag auf Schlag – natürlich ohne Binden und Bandagen, – bis einer von Beiden zusammenstürzte und mit dem Worte: „Frieden!“ sich für besiegt erklärte. Im Kreise herum standen die Genossen, einer Paukerei nach der andern mit Spannung folgend. In der Linienstraße in Berlin, wo die Zimmerleute ihre Herberge hatten, ist oft viel Blut geflossen. Doch gab es auch abgehärtete Naturen, welche für einige Groschen sich für einen Andern schlugen, was, ohne Anstoß zu erregen, gestattet war.

Jetzt aber sträubt sich die Feder, weiter ihren Dienst zu verrichten. Dennoch – so schwer es uns auch ankommen will, darf nichts verschwiegen bleiben; zudem würden wir ja auch den Verdacht erregen, nicht die ganze und volle Wahrheit gesagt zu haben. Es wurde nämlich bei den Bauhandwerkern auch „gewalzt“. „Gewalzt?“ fragt staunend der Leser; „Walzen, Tanzen, – versteht sich dies bei jungen Leuten nicht ganz von selbst?“ O nein, es war ein ganz anderes Walzen, bei welchem die Gemüthlichkeit in der That ihr Ende erreichte. Laß Dir sagen, lieber Leser, wie weit der Uebermuth oder vielmehr die Rohheit ging, wenn Einer wegen irgend eines Vergehens „gewalzt“ wurde. Zwei schwere Mangehölzer lagen auf der Tafel; darüber legten sie ihn mit dem Gesichte nach unten; Einer hielt ihn am Kopfe, ein Anderer bei den Beinen fest, dann zogen sie ihn hin und her, wobei zwei Mann sich auf ihn setzten, damit er die gehörige Last erhielte. Es hat mehr als Einer beim Walzen seine gesunden Glieder eingebüßt.

Trotzdem daß der sogenannte blaue Montag in allen Handwerksordnungen mit schwerer Gefängnißstrafe bedroht und den Wirthen bei hoher Strafe verboten war, den Gesellen „vor beendigter Arbeitszeit Aufenthalt zu gestalten“, wurde doch mindestens der Nachmittag blau gemacht. Die Hutmacher aber ließen sich’s nicht nehmen, stets den ganzen Tag zu feiern. Bei den Porzellanmalern und Drehern war die Unsitte in früherer Zeit sogar soweit gediehen, daß sie oft die halbe Woche blau machten, namentlich wenn ihnen die Anwandlung kam, daß sie, mit den wirklichen Künstlern auf gleicher Stufe stehend, auch die geniale Seite des Künstlerlebens hervorkehren müßten. Nicht selten wurde – und besonders auch am blauen Montage – einer kleinen Schaar weiterreisender Handwerksburschen unter Gesang und Jubel bis vor das Thor oder auch bis zum nächsten Dorfe das Geleite gegeben.

„Schwärzen“ hieß das fürchterliche Wort, mit welchem bei den Zimmerleuten drei Bruderschaften eine Stadt in Verruf erklären konnten, wenn aus irgend einem Grunde zwischen den Meistern und Gesellen ein Conflict entstand. War die Stadt „schwarz“, so verließen die fremden Zimmergesellen dieselbe und es kam so lange kein einziger Geselle dahin zugereist, bis sich die Meister des Ortes „gewaschen“, d. h. bei sieben Bruderschaften in Deutschland mit je drei Thalern den Frieden erkauft hatten. Mit Blitzesschnelle verbreitete sich die Nachricht von dem Schwarzsein einer Stadt von einer Bruderschaft zur andern durch ganz Deutschland.

Mit der Polizei gerieth der Handwerksbursch meistens nur dann in Conflict, wenn er beim Fechten betroffen wurde. Man mag die Sache ansehen, wie man will, man wird zugestehen müssen, daß der beste, redlichste und fleißigste Handwerksbursch in die Lage kommen konnte, hie und da einmal zu „klopfen“ oder zu „pochen“. Daß hierbei auch mancher muthwillige Streich gespielt wurde, läßt sich unschwer begreifen. Mit Absicht reden wir hier natürlich nicht von den eigentlichen Stromern, auf welche jenes Sprüchwort seine Anwendung findet: „Sie sind von uns ausgegangen, aber sie sind nicht von uns.“ Namentlich im Hannöverschen wurde manches Stück Speck, manche Wurst und manches Ei heimlich mitgenommen. Im Herbste lagerte wohl auch eine kleine Schaar Handwerksburschen in einem Obstgarten, ein frugales Mittagsmahl mit Ruhe verzehrend, wobei der sonst beim Meister übliche Comment natürlich aufgehoben war, nach welchem jeder Geselle und Lehrbursch sofort vom Tische aufstehen muß, wenn sich der Altgeselle erhebt. Auf der andern Seite steht die uns von Hebel mitgetheilte Erzählung vom fechtenden Handwerksburschen in Anklam nicht vereinzelt da, welcher in einem Hause eine arme kranke Frau fand, die selbst nichts besaß, und welcher dann nach einigen Stunden zurückkehrte und viele Stücken Brod und kleine Kupfermünzen auf den Tisch legte. Ich wüßte manchen rührenden Zug von Theilnahme an fremder Noth zu erzählen. So wurde ein Leipziger Student, welcher auf einer Ferienreise in die Heimath begriffen war, am letzten Tage seiner Route von einem Handwerksburschen in dem Augenblicke angegangen, als er selbst nur noch zwei Kreuzer besaß. „Hier, es ist mein Letztes,“ sagte der Studiosus, „ich kann ohnehin nichts damit anfangenl“ Allein der Handwerksbursch nahm das Geld nicht an, sondern lief schnell voraus, pochte das nächste Städtchen – es hieß Schalkau im Meiningenschen – durch und kam alsdann dem Studenten wieder nach. In Eisfeld saßen sie dann selbander in einem Gasthofe, aßen und tranken, und der Handwerksbursch bezahlte die Zeche. Jener Student aber war späterhin wohlbestallter Bürgermeister in einer Meiningenschen Stadt, und so oft ihm ein fechtender Handwerksbursch vorgeführt wurde, griff er in die Tasche und gab sein Scherflein zu dem officiellen Verweis.

Am einträglichsten war das Fechten in den reichen Klöstern an der Donau; hier wurde außer einigen Kreuzern Geld auch eine Halbe Bier und ein Viertel Brod verabreicht. Mitunter tauschte auch ein Müller mit einem Bäcker das Wanderbuch beim Umschauen, um ein doppeltes Geschenk zu erzielen. Daß dergleichen Gaunereien nicht immer glückten, davon konnte jener Barbier erzählen, der in Kreuznach bei einem Uhrmacher zusprach. „Sie sind Uhrmacher?“ fragte der Mann mißtrauisch. „Wie heißt denn dieses Instrument?“ Da erblaßte der Arme, denn er hatte in seinem ganzen Leben den Eingreifzirkel noch nicht ein einziges Mal nennen hören, vielleicht auch noch nie gesehen. Noch schlimmer ging es einem kecken Schneiderlein, welches sich in eine Hufschmiede gewagt hatte, um da „umzuschauen“. „So, Sie sind Schmied?“ fragte der Meister, „da kommen Sie gerade recht, helfen Sie ein paar Augenblicke am Ambos, ich bin gleich wieder da!“ Und nun mußte unser Schneider den schwersten Zuschlagehammer – Altgeselle genannt – ergreifen, um unter herzlichem Gelächter der Gesellen sich abzuquälen und schließlich ohne Geschenk beschämt wieder abzuziehen. Uebler noch traf es ein Schuster im Spessart, der freilich auch ein frevelhaftes Spiel unternommen hatte. Bei den Fallmeistern ist es nämlich Sitte, daß der zugereiste Knecht die Stubenthür öffnet, seinen Hut in die Stube hineinsetzt und die Thür hierauf wieder schließt. Einige Minuten später wird dann die Thür von innen geöffnet, so daß der Zugewanderte seinen Hut wieder herausnehmen kann, in welchen inzwischen das Geschenk gelegt worden ist. Wenn aber beim Oeffnen der Thür der Hut nicht mehr sichtbar ist, so ist dies ein Zeichen dafür, daß der Fremde Arbeit bekommen soll. Nun hatte sich unser Schuster in eine Fallmeisterei gewagt, von welcher er annahm, daß keine Arbeit darin gegeben würde. Er beobachtete ganz genau das Ceremoniel der Fallmeisterei und richtig, – als sich die Thür öffnete, war sein Hut verschwunden. Als er sein Wagniß für einen Spaß ausgeben wollte, verstand der Fallmeistereibesitzer den Spaß falsch, und es regnete eine Tracht Prügel von der Art, daß alle Erinnerungen an den Meisterriemen in der Lehrzeit für die Folge verschwanden.

Hatte der „Putz“ (Gensdarm oder Polizeidiener) einen Handwerksburschen bei dem Fechten betroffen, so wurde ihm „der Bettel“, in das Wanderbuch geschrieben. Wurde er abermals ertappt, dann blieb es nicht mehr bei dem bloßen Verweis. Wohlweislich waren ja auch vor jedem Orte, selbst vor dem kleinsten Dorfe, Warnungstafeln errichtet, welche das Fechten mit Arbeitshaus- und Zuchthausstrafe bedrohten. War ein Handwerksbursch mehrmals festgehalten worden oder auch seit längerer Zeit ohne Arbeit und nicht im Stande, Reisegeld aufzuzeigen, so wurde ihm die Reiseroute in die Heimath genau vorgeschrieben. Wenn er von seiner „Marschroute“ abwich und darüber betroffen ward, so wurde er alsdann „auf den Schub“ gebracht, d. h. durch Gensdarmerie von Ort zu Ort in seine Heimath geschafft. Zuweilen freilich wurde der Polizei auch Eins aufgebunden. Es ist mehr als ein Handwerksbursch, dessen Wanderzeit abgelaufen war, in einem Milchboote von Harburg nach Hamburg mit hinübergefahren, der absichtlich seinen Hut, in welchem das Wanderbuch lag, in das Wasser fallen ließ. In Hamburg bezeugten ihm gern einige Reisegefährten auf der Polizei das fatale Ereigniß, sodaß ihm ein neues Wanderbuch ausgefertigt werden konnte. In Preußen wurden nur Pässe auf die Zeit von drei Monaten ausgegeben, und in Baiern wurde nur von einem Landgericht zum andern visirt. Häufig war das Visiren in die Hände junger Polizeiofficianten gegeben, welche selbst noch nicht [783] weiter gekommen waren, als man vom Rathhausthurme der Stadt aus sehen konnte. Da war es denn kein Wunder, wenn der Handwerksbursch in den Augen eines hochmüthigen, brutalen Unterbeamten nur als Lump und Schuft angesehen und wie ein Hund angefahren wurde. Wer in Leipzig z. B. nicht so und so viel Thaler Reisegeld aufzeigen konnte, wurde sofort im Thor von einem Polizisten in Empfang genommen und zum andern Thor wieder hinausgebracht. Kam ein Handwerksbursch am Abende ohne das gesetzliche Reisegeld in Leipzig an, so mußte er auf der Polizei übernachten, um am frühen Morgen durch die Stadt fortgebracht zu werden, nachdem man ihm noch einen Groschen für das Visiren des Wanderbuchs abgenommen hatte.

Wer nach Oesterreich wandern wollte, mußte fünf Gulden, wer nach Baiern, drei bis fünf Gulden, wer nach Preußen reisen wollte, drei Thaler Reisegeld aufzeigen. Dies hielt indessen nirgends schwer; wenn es nämlich wirklich an Baarem mangelte, so wurde die Uhr oder das Bündel auf eine halbe Stunde versetzt, oder dasselbe Geld, welches der eine Wanderbursch bereits aufgezeigt hatte, wurde kurz darauf auch von einem zweiten, dritten, vierten etc. hintereinander auf die Polizei getragen.

Die Grenze mußte ja überschritten werden, denn weit herum suchte jeder rechtschaffene Handwerksbursch zu kommen, damit er einst in der Heimath recht viel erzählen könne von fremden Ländern und Menschen. Zu den Sehenswürdigkeiten in der Fremde zählten nicht gerade Museen und Kunstsammlungen, sondern vor allen Dingen die sogenannten Wahrzeichen der Städte. Wer in Wien drin gewesen war, der hatte auch den Stephansthurm und den „Stock in Eisen“ gesehen. Bei Görlitz wurde das heilige Grab besucht, in Erfurt die große Glocke auf dem Dome angestaunt und in Hamburg das Glockenspiel auf dem Nicolaikirchthurme bewundert. In München war für den Handwerksburschen das Merkwürdigste der Stein im Schloß und der Fuß in der Frauenkirche, in Regensburg auf der Donaubrücke der Hahn und der Hund, in Nürnberg die alte Linde bei der Burg und der schöne Brunnen auf dem Markte, in Brünn der Lindwurm, in Arnstadt der Lehrling und der Hund auf dem Thurme der Liebfrauenkirche und in Rudolstadt an der Stadtkirche die Stelle, wo kein Gras wächst. In Wittenberg wurden Luther und Melanchthon gesehen, in Rostock der alte Blücher, in Stettin die Uhr am Schloßthurme, in Eisenach der St. Georg besichtigt und in Lübeck die zwölf Apostel im Dom betrachtet. Wer nach Andernach kam, der mußte die Kanone sehen, welche einst bis vor Koblenz geschossen hatte, und ebenso den Laacher See; wer in Düsseldorf gewesen war, der wußte auch von dem silbernen Pferde zu erzählen, d. h. von der bronzenen colossalen Reiterstatue des Kurfürsten Johann Wilhelm; wer in Darmstadt gewesen sein wollte und das Ludwigsmonument nicht gesehen hatte, der war nicht dort gewesen. In Ollmütz sah man am Rathhause die merkwürdige Uhr mit den Aposteln als Trompeter, in Baden bei Wien den Husarentempel, in Münster den Lambertusthurm und in Lüneburg am Rathhause einen Knochen jenes Schweines, welches die Salzquellen in der Umgegend aufgewühlt hatte etc.

Kam der Wanderbursch dann in die Heimath zurück, so blieb ihm die Erinnerung an die Wanderjahre durch sein ganzes Leben hindurch eine gar freundliche Begleiterin, und gar oft nach dem Feierabende griff er wieder nach dem Wanderbuche, um, darin blätternd, sich im Geiste zurückzuversetzen in die Zeit seiner Wanderschaft. Darum war auch das Wanderbuch des Vaters den Kindern stets ein liebes, theures Familienstück, und ich weiß, daß sich meine Jungen um das Wanderbuch des Großvaters dereinst einmal streiten werden. Denn wie über das deutsche Burschenleben auf den Universitäten, so ist auch über das Wanderburschenleben der Zauber der Poesie ausgegossen und in ihm eine Fülle von Romantik enthalten.
August Topf. 




Blätter und Blüthen.

Der Stedinger Freiheitskampf. Im Lande Oldenburg breiten sich, wo die Hunte und die Weser einander sich nähern und endlich zusammenfließen, die weiten Marschen und Geeststrecken aus, auf welchen seit tausend Jahren das Völklein der Stedinger wohnt. Es sollen Holländer und Friesen gewesen sein, die dort zuerst sich ansiedelten und die Sümpfe bewältigten durch ihre gewaltigen Dämme, jene rettenden Erdmauern der tiefen Ebene. Der Kampf mit der Natur erzieht überall ein starkes, muthiges Geschlecht, das voll Gottesfurcht und Frömmigkeit zum Himmel betet und im Höchsten des Reichs willig seinen Herrn anerkennt, aber um so entschlossener jedem Gelüste entgegentritt, mit dem kleine Gewaltherren ihm die Kette der Botmäßigkeit über den Nacken werfen wollen. Kämpfe, wie sie die Eidgenossen führten, sind in Deutschland viele gewagt worden, aber nie wieder so glücklich, wie jene des Alpenvolks, und niemals mit mehr Tapferkeit und Opfermuth, als auf diesem Stedinger Boden.

Weltliche und geistliche Herrschsucht vereinigten sich gegen diese freien Bauern; die Grafen von Oldenburg und die Erzbischöfe von Bremen, wie erbitterte Feinde sie oft auch selbst einander waren, reichten sich die Hände, wo es galt, der Volksfreiheit, die zwischen ihnen eine feste Burg gegründet hatte, ein Ende zu machen. Beide begannen damit, daß sie den Stedingern ihren Schutz aufdrangen und Vögte in feste Schlösser setzten, welche die Gerichtsbarkeit über die gräflichen und bischöflichen Meier und Unterthanen im Lande ausüben sollten. Auch diese „Geßler“ übten bald alle Schandthaten des Uebermuths und der Zuchtlosigkeit am Volke aus, raubten sogar Weiber und Töchter der Bauern, um sie in der Sicherheit ihrer Burgen zu schänden, und riefen so selbst die Rache gegen sich aus. Im Walde beim Brookdeich fanden die Stedinger ihr Rütli. Hier hielten sie nächtlichen Rath und beschlossen erst friedlich ihr Recht zu suchen. Und als sie das nicht fanden, brachen sie die Burgen und erschlugen die Junker und vertrieben von ihnen Alles, was nicht erschlagen war. Das geschah im Jahre 1198, nach Andern schon 11159.

Die That war geschehen, der Kampf begonnen, die Stedinger wußten, daß sie das Schwert nicht in die Scheide stecken durften. So verwandelten sie denn ihr Land in eine große Festung; ringsum ragten die Wälle der hohen Dämme, und wo ihren beiden Feinden sich ein Weg bahnen konnte, da warfen sie die stärksten Bollwerke auf und besetzten sie mit wachsamen Mannen. Auch verbanden sie sich mit ihren Nachbarvölkern, besonders mit den allezeit schlagfertigen Friesen. So blieb ihr Land in Sicherheit vor feindlicher Verheerung, während sie selbst der Schrecken ihrer Gegner wurden. Denn durch ihre großen Reichthümer und ihre Wahrhaftigkeit war nun der Uebermuth in die Bauern gefahren, der nun wiederum die Rache der Fürsten gegen sich wach rief.

Im Jahre 1234 brach dieser Rachekampf aus. Was den Vögten und auch dem Oldenburger Grafen Burchard nicht gelungen war, der im selben Jahr noch eine schwere Niederlage durch die Stedinger erlitten hatte, die Unterjochung dieses Volkes, das sollte durch die Pfaffen und Mönche den Erzbischofs vollbracht werden. Die Kutten überschwemmten förmlich das Land; aber ihr freches Gebahren führte nicht zur Versöhnung, sondern zum Verzweiflungskampf des Volks.

Wie hundert Jahre später in der Schweiz jener Freiherr, welcher in des Bauern Mittagsmahl spuckte, und den der Bauer mit dem Kopf in die Schüssel stieß, ausrufende „Nun friß, was Du gewürzet hast!“ – die Freiheitsfeuer des Eidgenossenkriegs entzündete: – – so hier ein Pfaffe. Die Münze, die er als Beichtgeld von einer Stedinger Frau empfangen, war ihm zu gering gewesen, und er gab sie ihr zum Hohne beim Abendmahl als Oblate in den Mund. Nicht tiefe Schandthat am Altar, sondern die Rachethat des Ehemanns, der den Pfaffen in dessen Behausung aufsuchte und niederstieß, – rief das Strafgericht der Geistlichkeit bis zum Papst hinauf gegen die Uebelthäter aus, ein Kreuzzug gegen die Ketzer wurde gepredigt von allen Bischöfen rings umher, und ein Kreuzheer, aus dem verworfensten Gesindel erlesen, dem dafür Ablaß und Gnade des Himmels verheißen wurden, zog gegen die Bauern heran. Alle Fürsten umher, ein Herzog von Brabant, die Grafen von Holland, von der Mark, von Cleve, von Oldenburg verbanden sich mit ihm, und 40,000 Mann stark war das Heer, gegen das die 11,000 Stedinger ihre Freiheit behaupten sollten.

Zwischen Alten-Esch und Ochtum war das Schlachtfeld. Bolko von Barnefleth, Tanne von Huntorp und Detmar von Dieke hießen die Führer der Bauern. So viel der Stedinger Mannen waren, so viel Leichen des Kreuzheeres deckten den Boden. Aber die Uebermacht siegte. Vergeblich kämpfte der Rest der Helden. Die Frauen steckten die Wohnungen in Brand und starben mit ihren Kindern in den Flammen. Die Freiheit war erstickt. Nur der große Grabhügel bei Warfleth, der die Tausende der erschlagenen Feinde und Freunde deckt, ist das Denkmal des Stedinger Freiheitskampfes.

Dieser Kampf, dem nur jener glücklichere der Dithmarsen gegen die Dänenmacht gleich würdig zur Seite steht, lag in der schlachtenreichen Geschichte unsers Vaterlandes abseits von den strahlenden Fürstenthaten, wie ein Armer im Friedhof, begraben, bis ein Dichter ihn zu neuem Leben erweckte, und wir können es mit Stolz und Freude aussprechen: die große That fand einen würdigen Sänger.

Arnold Schloenbach, der in seinen großen epischen Dichtungen, den nur zu wenig bekannt gewordenen „Hohenstaufen“ und im „Ulrich Hutten“ die Kraft und das Geschick, große Stoffmassen zu bewältigen, glänzend bewährte und aus dessen sämmtlichen Schriften ein für Freiheit, Volk und Vaterland erglühender und muthiger Geist weht, hat auch dieses ergreifende Stück deutscher Vergangenheit dem Volke der Gegenwart als ein vaterländisches Heldengedicht vorgeführt.

„Der Stedinger Freiheitskampf“ – ist der einfache Titel dieser bei Müller in Bremen erschienenen Dichtungen. In achtzehn Gesängen und einem Vorgesang rollt sich das ganze reiche Bild vor uns ab.

Selten hat eine epische Dichtung den Referenten so gepackt, so gefesselt, so vom ersten bis zum letzten Gesang unaufhaltsam fortgerissen, so oft bis zu Thränen ergriffen, so oft ihm die Fäuste geballt, so oft ihn zum sinnigen [784] Mitbeschauen des geschilderten so süß anheimelnden Lebens einen Völkleins verlockt, dessen Nachkommen noch heute kein anderes Haus bauen, als wie einst ihre Väter es bewohnten. Und wie geschickt ist die Eintheilung des großen Stoffs, wie anschaulich, wie klar der Gang der Handlung, wie plastisch treten die Gestalten hervor! In der ganzen Dichtung hat sich kein unnöthiges Wort eingedrängt, keine einzige Phrase eingeschlichen, in der würdigen Einfachheit liegt ein Hauptzauber dieses jüngsten deutschen Heldenliedes.

Wir dürfen uns nicht auf Einzelnheiten einlassen, nicht Stellen mittheilen wollen, sonst wüßten wir wohl einen Anfang, aber kein Ende; sollten wir in der „Deichschau“ die herrliche Naturschilderung des Morgens auf der Düne wählen, oder im „Urtheilsspruch“ die Cato-Gestalt des alten Bolko, in „Wehrkraft“ die Schilderung des Bauernheerzugs zum Festspiel, oder in „Sturm“ den Kampf der Menschen mit dem verderbendrohenden Meer, im „Haus“ das treue, reizende Bild der Häuslichkeit und des stattlichen Wohlhabens, wie es dem Gaste des alten Bolko, dem jungen Grafen von Oldenburg, dem Jüngling mit dem Herzen voll Ritterlichkeit und Menschenliebe, vor das Auge tritt, oder im „ Beichtpfennig“ die Empörung der gläubigfrommen Herzen, oder den Ketzerrichter „auf der Haide“, oder das „Kreuzheer“, oder endlich das furchtbare Bild der „Todesschlacht“, wo der Vernichtungskampf wüthet, bis „die Letzten“ fallen,

Bis die Nacht den Trauermantel
00auf die todten Helden legt,
Bis am schwarzumsäumten Himmel
00angefacht Millionen Kerzen:
Trauerlichter für die großen,
00die gewalt’gen Bauernherzen!

Erschüttert stehen wir am Ende der herrlichen Dichtung, und wir bedürfen des labenden, erhebenden Wortes, mit dem der Dichter das Ganze schließt:

Jedes Kämpfen für die Freiheit
00geht der Menschheit nie verloren,
Und aus jedem ihrer Gräber
00wird sie mächt’ger stets geboren.
Alles Blut, das ihr geflossen,
00tränkt allewig ihre Saat;
Jede That der Weltgeschichte
00zeugt auch wieder eine That. –

Auch die bildende Kunst verherrlicht nun diese That. Der Verfasser des besten Werkes über die Marschen an der Unterweser, Hermann Allmers, dem Schloenbach seine Dichtung gewidmet, läßt den großen Saal seines Hauses zu Rechtenfleth in Osterstade mir Wandbildern aus der Geschichte der Marschen schmücken, zu denen auch „die Stedinger Schlacht bei Alten Esch“ und „der Kampf mit den empörten Fluthen“ gehören werden.
F. H. 




Der erste Koch der Welt. Eine eigenthümliche Erscheinung, gewissermaßen ein psychologisches Räthsel ist es, daß die Mehrzahl der Menschen, namentlich die besonders begabten und geistreichen, Das, worin sie wirklich Tüchtiges oder Ungewöhnliches leisten, was die eigentliche Sphäre ihres Wissens und Könnens ausmacht, worin sie sich vor Andern auszeichnen, weniger zu schätzen, mit geringerem Stolze zu betrachten pflegen, als irgend eine Liebhaberei, die sie oft mit sehr unerheblichem Erfolge cultiviren. Wir könnten für diese merkwürdige Erscheinung eine Anzahl der bedeutendsten Namen anführen, begnügen uns aber hier u. A. blos an Goethe zu erinnern, der sich Jahre lang unsägliche Mühe gab, ein nicht die Mittelmäßigkeit überragendes Talent zum Zeichnen auszubilden und an mehr als einer Stelle seiner Werke und seines Briefwechsels durchblicken läßt, wie er auf diese Dilettantenversuche höheren Werth legt, als auf die unsterblichen Schöpfungen seines Dichtergenius.

Einen andern Beweis für diese eigenthümliche Erfahrung liefert uns der ältere Dumas. Erst neulich hat die Gartenlaube erzählt, welche ausgezeichneten culinarischen Talente derselbe entwickelt, und wirklich ist es Dumas nicht genug an dem Ruhme, der fruchtbarste und zugleich der ergötzlichste aller Romanschriftsteller der Gegenwart zu sein, er setzt vielmehr seine Eitelkeit darein, auch unter den größten Küchenkünstlern aller Zeiten und Völker als ein Stern ersten Ranges zu glänzen. Um diesen Anspruch zu rechtfertigen und Zeugniß von seinem gastrosophischen Genie abzulegen, ist er vor Kurzem eine Art von Küchenduell eingegangen, nicht etwa mit einem gewöhnlichen Koche, einem Vatel dritter oder vierter Größe, sondern mit den Besitzern der berühmten Maison dorée in Paris, das heißt, mit dem ersten Restaurant, welches Paris augenblicklich besitzt, einem Etablissement, das gleichsam als vornehmste culinarische Hochschule der Welt gilt.

Man hat denn zwei Diners veranstaltet; das eine haben die Gebrüder Verdier, die Eigenthümer des erwähnten goldnen Hauses, das andere hat Alexander Dumas in seiner Villa zu Enghien unweit Paris gegeben. Natürlich wohnten den beiden Kunstproben die nämlichen Kunstrichter bei, sämmtlich sehr competente Kritiker, die Elite der Pariser Gastronomen, „Leute von Geist und Herz“, wie sich das französische Blatt ausdrückt, welchem wir die Anekdote entlehnen.

Schlag sechs Uhr stellten sich die Geladenen bei Dumas ein. Dieser empfing sie an seiner Küchenthür, siegesgewiß wie ein Feldherr, welcher noch niemals überwunden worden ist. Dann trat er in sein Heiligthum, den Schauplatz seines genialen Wirkens, ein. Die Zeugen belagerten die Fenster dieses geheimnißvollen Laboratoriums, und unter ihren gespannten Augen begann der Autor zahlloser Romane und Schauspiele, der unerschöpfliche Verfasser von weit über tausend Bänden, der liebenswürdige Erzähler und Gesellschafter, seine Thätigkeit. Er buk, er kochte, dämpfte, briet, röstete, regierte Topf und Tiegel, Pfannen und Casserole, und – nach Verlauf von nicht anderthalb Stunden war ein Werk vollbracht, welches die Brüder Verdier als eine überlegene Schöpfung, eine fast übermenschliche Leistung anzuerkennen gezwungen waren und die sowohl Rumohr als König und Brillat-Savarin als ein nächsten Anstreifen an das Ideal würden haben bezeichnen müssen.

„Zu Tisch jetzt, ich bin fertig!“ rief der große Künstler aus seinem Atelier heraus.

Man setzte sich zur Tafel; das Gebotene war unübertrefflich von A bis Z, Dumas unbestrittener Sieger im Wettkampfe. Aal- und Karpfenpastete, fricassirter Kalbskopf mit Tomatensauce, gedämpftes Kaninchen, Lendenbraten, gebackenes Hühnchen, eine Reihe pikanter Zwischenschüsseln und das mannigfaltigste Dessert, – das die Bestandtheile dieses classischen Diners und Alles in wenig mehr als einer Stunde fix und fertig hergestellt und aufgetragen.

Die Besitzer der Maison dorée, obwohl geschlagen, waren so bezaubert von Dumas’ Leistungen, daß sie ihm alles Ernstes den Antrag machten, als erster Vorstand ihres Küchendepartements mit einem von ihm selbst zu bestimmenden Gehalte in ihr Haus einzutreten, – allein Dumas scheint als Koch bescheidener zu sein, denn als Autor: er hat, wie wir hören, das glänzende Anerbieten abgelehnt, gewiß zur Betrübniß aller wahren Lebensphilosophen, welche jenen europäischen Mittelpunkt culinarischen Triumphes besuchen.




Ein Kindergarten für den Weihnachtstisch.

Illustrationsprobe aus Loewenstein’s Kindergarten.

Es ist kein neuer Gärtner, sondern ein Alten und Jungen schon längst bekannter Blumenmann, der auf den Christmarkt mit einem „Kindergarten“ gekommen ist. Wer hatte „die traurige Geschichte vom dummen Hänschen“, der erst ein Tischler etc. werden will, oder „Liebes Kätzchen, glatt und munter“, oder „Sitzt ein Vögelein widewidewit“, oder „Nun laß Dir erzählen, mein liebes Kind“, oder „Die Bremse strich den Contrabaß“, oder das schöne Sonntagslied „Es tönt über das weite Feld“ (zu dem unser Bildchen gehört) nicht einmal mitgesungen? Und wem wären denn die gedanken- und klangvollen Gedichte des Kladderadatsch unbekannt? – „Was, dieser Satiriker wäre derselbe gemüthliche Dichter für die Kinderwelt?“ Ja, derselbe Rudolph Loewenstein ist es, der nun endlich dem Wunsche so vieler Verehrer seiner schönen, sinnigen Kindergedichte nachkommt, indem er seinen bisher zerstreuten lyrischen Reichthum euch in einem stattlichen Quartbändchen[WS 4] darbringt, und zwar auch in der Ausstattung als nichts Gewöhnliches. Schon auf dem Titelblatt droht euch der Schornsteinfegerjunge als „schwarzer Mann“, und wenn ihr das liebe Buch aufschlagt, so lachen euch auf vielen Seiten fröhliche Bilder entgegen, welche sofort Th. Hosemann’s Griffel verrathen, auch wenn das nicht aus dem Titel gedruckt stände. Der Verleger, A. Hofmann in Berlin, hat seine Schuldigkeit gethan, damit dieser Kindergarten auf jedem Weihnachtstisch Ehre einlegen kann.



Zur Beachtung. Schon in einer der nächsten Nummern unsers Blattes hoffen wir unsern Lesern als Ergänzung des Aufsatzes: „Ein gekröntes Opfer“ nach eben aufgefundenen neuen Quellen höchst interessante und ergreifende Mittheilungen über Maria Antoinette’s letzte Tage und Stunden im Kerker der Conciergerie machen zu können.
D. Redaction. 

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: ncch
  2. Vorlage: zu
  3. Vorlage: Volsstämme
  4. Vorlage: Ouartbändchen