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Die Gartenlaube (1865)/Heft 13

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1865
Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[193]

No. 13. 1865.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Der bairische Hiesel.
Volkserzählung aus Baiern.
Von Herman Schmid.
(Fortsetzung.)

Der Fremde schritt vorüber und eilte durch den Hausgang in den obern Stock wo der Tanzplatz war; es hatte den Anschein, als wolle er den unangenehmen Eindruck der letzten Begegnung durch freundlichere Bilder verwischen. Es hatte schon zu dämmern angefangen und der Tanz, welcher auf Befehl der Obrigkeit nicht in den Abend hinein dauern durfte, war bei seinem Schlusse angelangt; der „Polsterl-Tanz“, das Ende und einer der Hauptreize des Festes, hatte begonnen. Die Bursche und Mädchen standen in weitem Kreise und hielten sich an den Händen gefaßt; in der Mitte stand die Braut, das Ehrenkrönlein aus Silberflitter auf dem Kopf, in der Hand ein Bettkissen, nach Landessitte ein Polster genannt. Sie machte einige tanzende Schritte hin und her, indem sie einen alten Reim halb sang, halb hersagte; dann mußte sie das Kissen vor dem Tänzer, den sie wählte, zu Boden werfen; der Bursche kniete darauf nieder, worauf die Wählende ihn einigemale zierlich umkreiste, dann aber mit einem Kusse aufhob und nach dem lustig einfallenden Ländler mit ihm einigemale im Kreise herumtanzte. Dann schlüpfte das Mädchen aus dem Ring, und nun war es an dem Tänzer sich auf gleiche Weise eine Partnerin zu wählen, und so währte das Spiel, bis zuletzt ein ungewähltes Paar übrig blieb. Das mußte dann wohl oder übel mit einander tanzen, und irgend ein Spaßvogel sprang mit dem Kehrbesen hinter ihnen drein und fegte sie unter allgemeinem Gelächter zur Thür hinaus. Alle bäuerliche Lustbarkeit, aller ländlich-derbe Scherz wurde dabei losgelassen; Gunst, Abneigung und Neckerei hatten ihr freiestes Spiel, zumal wenn eine schelmische Dirne dem sich schon begünstigt glaubenden Burschen das Kissen rasch unter den Knieen wieder wegzog, daß er hart auf den harten Boden plumpen und sich den Mund wischen mußte.

Die Braut hatte sich ihren Neuvermählten geholt, dieser die erste Kranzeljungfer, und jetzt stand diese in der Mitte und ließ die blauen Augen im Kreise herumgehen, um den Würdigen zu erspähen, den sie mit Kuß, Kissen und Tanz beglücken sollte. Es war ein hübsches Mädchen, zu dessen blondem Haar der grüne Kranz mit weißen Blumen gar lieblich stand und dessen rothe Wangen den Rosenstrauß im schwarzen Mieder beschämten. Auf einmal blieb ihr Blick überrascht an dem fremden Jäger hangen, der zuschauend mit voller Kopfeslänge alle Bursche überragte. Ihre Wange färbte sich tiefer, einen Augenblick schien sie unschlüssig zu zaudern, dann aber, wie von etwas Unwiderstehlichem angezogen, eilte sie auf den Jäger zu und legte ihm das Kissen vor die Füße. Mit einem Anstande, der weit über die Verhältnisse der ganzen Umgebung ging, ließ der Fremde sich auf ein Knie nieder, und da das Mädchen, nun erst der übernommenen zweiten Verpflichtung sich erinnernd, unschlüssig zögerte, umschlang er sie rasch und drückte ihr keck und doch nicht ausgelassen einen herzhaften Kuß auf die frischen Lippen.

Während des Tanzes schien mit Beiden eine eigenthümliche Veränderung vorzugehen; das Mädchen hatte seine ganze frische Munterkeit eingebüßt und kam mit den niedergeschlagenen Augen nicht von der Erde los – auch der Jäger war wie befangen, und wenn auch seine Blicke unverwandt an dem Antlitz seiner schönen Tänzerin hingen, fand er doch kein Wort, in dem angeschlagenen freien Tone fortzufahren. Die Zuschauer folgten staunend den Tanzenden und meinten, daß sie selten noch ein schöneres Paar, ganz gewiß aber niemals einen Tänzer gesehen, der solche Zierlichkeit mit gleicher Kraft und Ausdauer verband. Er berührte kaum den Boden und doch war jeder Schritt fest und kräftig; jede Bewegung der Arme, jede Drehung war so angenehm, daß sie einem Edeljunker keine Unehre gemacht hätte. Jäger waren bei den Tänzen der Bauern keine gern gesehenen Persönlichkeiten; die Bursche fingen daher schon an, finstere Mienen zu machen und sich zu berathen, ob der Eindringling geduldet werden sollte; dieser aber hatte inzwischen, als der Tanz beendigt und seine Tänzerin aus dem Kreise geschlüpft war, das Kissen wieder vor der Braut niedergelegt und wußte das so fein zu machen, daß die Geschmeichelte dem hübschen Jäger ohne Widerwillen folgte. Endlich frei geworden spähte er mit dem Auge eines Falken im Tanzsaale umher und hatte bald die Kranzjungfer entdeckt.

Sie war auf die Altane vor dem Saale getreten und fächelte sich, an die Brüstung gelehnt, mit einem Tüchlein kühle Luft zu; es war ihr so wunderbar warm geworden bei dem letzten Tanze.

Sie schrak leicht zusammen, als der Jäger unvermuthet zu ihr trat und sie mit höflicher Verbeugung ansprach. „Will mir die Jungfer wohl erlauben, daß ich ihr Gesellschaft leiste?“ sagte er. „Es ist lieblicher und stiller da außen als auf dem dumpfigen Tanzboden.“

„Wenn’s dem Herrn beliebt,“ erwiderte sie schüchtern, „ich kann’s dem Herrn nicht verbieten!“

„Ich möchte aber,“ fuhr er schmeichelnd fort, „daß die Jungfer mir das Dableiben nicht nur nicht verbietet, sondern erlaubt … daß sie es gern sieht, wenn ich bei ihr bin.“

[194] Sie warf ihm einen raschen Blick zu, aus welchem etwas von ihrer frühern Munterkeit aufleuchtete. „So geschwind,“ setzte sie hinzu, „schießen bei mir daheim die Jäger nicht!“

„Ich bin aber gar ein besonderer Jäger und hab’ meine besondere Weis.“ sagte er. „Drum möcht’ ich gar zu gern wissen, wo die Jungfer daheim ist und wie sie heißt?“

„Der Herr wird’s doch nit kennen, wenn ich’s auch sag’ … es ist ein gar kleines Dörfel … drüben an der Paar, nit weit von Friedberg – heißt Kissing …“

„Kissing?“ rief der Jäger in plötzlicher Bewegung, die er nicht zu bemeistern vermochte; er hatte Mühe, als sie ihn verwundert ansah, gelassen fortzufahren: „Ei, das ist wohl ein kleines, aber ein gar liebes und freundliches Oertel! Das kenn’ ich gut!“

„Ist das wahr?“ rief sie mit unverhehlter kindlicher Freude. „Der Herr kennt unser Dörfel und es gefallt Ihm da?“

„… Ich bin dort gewesen … einigemal, als Bub!“ sagte er zögernd, „bin lang fort, aber es ist mir doch fest in der Erinnerung geblieben!“

„Da ist’s dem Herrn gegangen, wie mir,“ erwiderte das Mädchen zutraulicher. „Ich bin in Kissing daheim, aber ich hab’ auch schon früh, wie ich noch ein kleines Mädel war, fortgemußt – zu einer Bas, die ein großes Gut hat, gegen Friedberg hin – ich bin wenig mehr heimgekommen und hab’s doch nit vergessen!“

„Und das Haus, wo die Jungfer daheim ist?“ fragte der Jäger. „Will sie mir das nicht sagen und ihren Namen dazu?“

„Der Herr wird’s kaum wissen … ich bin auf dem Baumüllergut daheim … mein Nam’ ist Monika!“

„Ich bin … wie ich der Jungfer schon gesagt … wenig bekannt, aber den Baumüller-Hof weiß ich recht gut. Das Haus liegt gar schön in einem kleinen Grasanger und nicht weit davon fließt die Paar nach der Mühl’ hinunter und wo sie einbiegt, da ist eine Tiefe, mit Erlenstöcken besetzt und mit Hainbuchen …“

„Ja, ja!“ rief sie freudig, „als wenn ich’s leibhaftig vor mir sähe! Und der Eierberg schaut drüber herein mit seinen Haselstauden und durch’s Dorf hinauf geht’s an der Paar hin, auf die große Wiese … weiß der Herr, nit weit von dem kleinen Häus’l, wo der Brentan wohnt, der Herrgottmacher?“

„Weiß die Jungfer dies Haus auch?“ fragte der Jäger mit eigenthümlichem Tone.

„Gewiß … bin manchesmal hinein gekommen und hab’ dem alten Klostermair zugeschaut, wenn er seine Kreuzeln und Herrgott geschnitzelt hat … und dann, welche Kissingerin sollt’ das Haus nit kennen, ist es doch die Heimath vom bairischen Hiesel …“

„So kennt Sie wohl den bairischen Hiesel auch?“

„Als Buben hab’ ich ihn wohl gekennt und bin oft mit ihm in’s Nußbrocken gegangen am Eierberg und zum Krebsfangen unter den Erlstöcken an der Paar … dann bin ich fort ’kommen und hab’ ihn nit wieder gesehen – aber ich hab’ oft an ihn denken müssen, wenn Alles von ihm erzählt hat, und …“

Sie hielt inne; ein Anflug von Rührung hinderte sie, weiter zu sprechen.

„Und …?“ fragte der Jäger leise und faßte ihre Hand.

„Und hab’ daran denken müssen, was er für ein lieber, herzensguter Bub’ gewesen ist … und daß er so ein armer, verfolgter Mensch worden ist … Aber was geht das den Herrn an!“ brach sie ab und trocknete die Augen mit der Schürze. „Es freut mich recht, daß ich den Herrn kennen gelernt hab’, weil er mein’ Dörfel so gut kennt und es auch gern hat… Bei wem ist denn Er gewesen in Kissing?“

„Ich? … Ich bin auch viel aus- und eingegangen bei dem Brentan, dem alten Bildschnitzer, aber die meiste Zeit war ich bei dem Jäger, dem Wörschinger … Ob er wohl noch lebt, der alte Lienhard?“

„Gewiß weiß ich’s nicht, Herr … mir ist fast, als wenn ich gehört hätt’, es sollt’ ein neuer Jäger hinkommen – also wird der alte Lienhard wohl todt sein!“

„Gott tröst’ ihn … er war ein braver Mann! Aber das Jägerhaus … das liegt gar schön und sieht gar stattlich aus, Jungfer … möcht’ Sie nicht da drinnen wohnen und wirthschaften als Jägerin?“

Das Mädchen sah erglühend zu Boden. „Es wird wohl Zeit sein, daß ich wieder hineingeh’,“ stammelte sie verwirrt.

„Geb’ Sie mir doch erst Antwort, Jungfer Monika …“ drängte der Fremde. „Wenn ich nun ein solches Plätzchen und ein solches Häus’l wüßte und wäre der Jäger und käme zu Ihr und fragte, ob Sie meine Jägerin werden möchte?“

So fest er ihre Hand gefaßt hielt, entschlüpfte sie ihm doch ohne Antwort und huschte in die Tanzstube zurück; der Mann aber saß noch lang und starrte in den sonnenrothen Abendhimmel hinaus.

Inzwischen waren auch die Jäger mit leeren Händen von ihrer Streife zurückgekommen und dachten, Aerger und Unwillen im Wirthshause über dem Hochzeitsjubel sich aus dem Sinn zu schlagen. In dem obern Stock angekommen, war ihnen der fremde Jäger im Gespräch mit der Kranzjungfer um so weniger entgangen, als Keiner von ihnen sich wohl je einer ähnlichen Gunst zu erfreuen gehabt. Die Frage nach dem Fremden flog hin und wider; niemand kannte ihn, niemand wußte, woher er gekommen und in welches Herrn Diensten er stehen mochte. Sie nahmen sich vor, das auszuforschen, und ein langer schwarzbärtiger Mann, ein Wildhüter, strich sich den Schnurrbart und rief: „Laßt nur mich machen, Cameraden! Den wollen wir bald heraus haben, wie den Dachs aus dem Bau; denkt, der schwarze Wurzer hat’s Euch gesagt!“ Die Gelegenheit dazu ergab sich bald, denn einer der angesehensten Hochzeitsgäste, der den weitesten Heimweg hatte, brach auf und sollte nach unverbrüchlicher Sitte hinausgeblasen oder „heimgegeigt“ werden. Die Musikanten voran ging es über die Stiege hinab, zum Hause hinaus, bis an den Wagen des Scheidenden, welchem auch Braut und Bräutigam das Geleit gaben bis an die Hausthür. Alles drängte juchzend, schreiend und singend nach, auch die Jäger und der Fremde traten wieder auf die Terrasse. Die Jäger lehnten vorsichtig ihre Gewehre in einer Tischecke übereinander.

Die Sonne ging eben unter; der letzte Lichtblitz flog über die dämmernde Landschaft.

„Ei sieh einmal,“ rief jetzt der Wildhüter dem Fremden zu, „der Herr scheint auch ein Jäger zu sein … da wären wir ja Cameraden!“

„Ein Jäger bin ich,“ antwortete der Fremde kurz, „aber mit der Cameradschaft wird’s nicht weit her sein!“

„Ei warum das! Der Herr muß sich eben durch ein paar Waidsprüche ausweisen, daß er ein Jäger ist. Sag’ Er mir einmal, was ist das für ein Thier, das mit zwei Löffeln frißt?“

„Fopp’ Er sich selber oder wen Er sonst will,“ antwortete der Fremde und wendete sich unmuthig ab. „Ich hab’ Ihn auch noch nicht gefragt, wer Er ist!“

„Ei, das sieht man Unser Einem wohl über’s Gewand an!“ lachte der Waldhüter. „Aber eben darum hat man ein Recht, Jeden zu fragen, der einen solchen Rock am Leib’ hat, ob er ihm auch gebührt … man hat also ein Recht, nach der Kundschaft zu fragen.“

„Fragen kann Er immerhin, aber zu sehen kriegt Er nichts!“

„Mit dem Burschen ist’s nicht richtig!“ flüsterte der Wildhüter seinen Gefährten zu. „Denkt, der schwarze Wurzer hat’s gesagt! …“ Und wieder zu dem Fremden gewendet fuhr er spöttisch fort: „Und nicht einmal ein Gewehr hat der Camerad?“

„Das kommt nach,“ erwiderte dieser ebenso, „ich laß’ mir’s aus München nachschicken, wo ich in Diensten war …“

„So? Bei wem denn?“

„Bei … dem Baron Peterl!“

„Die Herrschaft hab’ ich noch nie nennen hören. Hat der Baron Peterl denn eine große Jagd, daß Er das Schießen nicht verlernt hat bei ihm?“

„Das will ich meinen,“ sagte der Fremde ungeduldig, stand auf und hielt im Augenblick den Stutzen des Waldhüters in der Hand, den dieser zwischen die Kniee gestellt hatte. „Mit Verlaub,“ sagte er dann kaltblütig. „Die Kundschaft kriegt Er von mir nicht zu sehen, aber daß ich ein Schütz’ bin, will ich dem Herrn zeigen … Sieht Er den Raben, der dort über den Acker hinstreicht? … Den will ich herunterholen und ihm den Kopf wegputzen …“ Im Augenblick krachte auch schon der Schuß, der Vogel drehte sich, Federn stäubten um ihn; ein Bursche rannte hinaus, ihn zu holen … „Das weiß der Teufel, wie das zugeht,“ sagte er, ihn herumzeigend, „der Kopf ist wurzweg abgeschossen!“ Der Wildhüter saß wie verdutzt und drehte das rauchende Gewehr in der Hand, als ob er sich überzeugen wolle, daß [195] es dasselbe sei; die Bauern stießen einander an und lachten; die Jäger standen unschlüssig – der Fremde allein saß ruhig an seinem Platz und that einen Zug aus seinem Kruge.

Ehe das allgemeine Staunen Wort und Ausdruck finden konnte, erscholl aus dem Hause und den Vorplatz entlang der Lärm einer zankenden Männerstimme, in welche die hellere eines Weibes keifend einfiel und das Weinen eines Kindes sich mischte. Einer der Jäger kam aus der Küche herbei und schleppte einen Bauernknaben mit sich, den er am Halse gefaßt hielt. Die Wirthin folgte mit feuergeröthetem Gesicht und hochaufgestülpten Aermeln, wie sie am Heerde gestanden war. „Da ist der Nußberger-Hallunk!“ rief der Jäger. „Ich war in die Küch’ gegangen, um meine Tabakspfeife anzubrennen, da sitzt der Bursch ganz frech am Heerd und läßt sich’s schmecken!“

Bauern und Gäste drängten sich um die Jäger und ihren Gefangenen, einen trotzigen Knaben von etwa zwölf Jahren, der zwar todtenblaß aussah, aber, nachdem der erste Jammer überstanden war, seine Feinde mit thränenlosen, grimmigen Augen anstarrte, er verzog keine Miene, als ihm der Eine die Arme zurückschränkte und auf dem Rücken zusammenschnürte, daß sie sogleich zu schwellen anfingen.

„Und warum,“ rief die Wirthin, „soll das Bübel nit essen, was ich ihm gegeben hab? Er ist in meine Kuchel gekommen, völlig erlegt und ausgehungert, und ich möcht’ wissen, wer sich unterstehn darf, ihn aus meiner Kuchel fortzuführen!“

„Schweig’ die Frau Wirthin,“ rief der Jäger, „der Bub’ ist ein Wilddieb, und weil wir nur einmal den Jungen haben, wird uns der Alte auch nicht auskommen! Wo ist der Vater, Lump?“ fügte er hinzu, und versetzte dem Knaben einen Stoß in den Rücken.

„Sucht ihn, wenn Ihr’s wissen wollt!“ antwortete dieser keck; der Jäger holte aus, um wieder nach ihm zu schlagen, aber die Wirthin trat abwehrend dazwischen.

„Laß Er das Bübel in Ruh!“ rief sie. „Ich, die Wirthin am Erdweg, ich leid’s einmal nicht, daß Er ihn so tractirt! Wenn Er ihn mitnehmen muß, in Gottes Namen – aber zu schlagen braucht Er ihn darum nicht! Was kann es denn so Schreckliches verbrochen haben, das halbgewachsene Bübel da?“

„Sein Vater hat einen Hasen gefangen und im Stadel unterm Klee versteckt – der Bub’ hat’s gewußt und hat ihn doch verleugnet.“

„Und deßwegen soll das Bübel in’s Gefängniß?“ rief die Wirthin wieder. „Schamt’s Enk in’s Herz hinein, Ihr Jaga, wenn Ihr nichts Bessers zu thun wißt! Gebt’s zu und laßt den armen Teufel laufen!“

„Daß ich ein Narr wär’ und den Vogel wieder ausließe, den ich in der Hand habe!“ rief der Jäger. „Der Spitzbub’ muß in’s Loch und auf die Bank … so gehört sich’s.“

Die Bauern sahen unmuthig zu, wie er sich anschickte, seinen Gefangenen fortzubringen; sie murrten und schalten, aber sie wagten keinen Widerstand. Wäre es auch ein Leichtes gewesen, den Knaben zu befreien, so wußten sie doch, daß die Folgen davon nur desto schwerer auf sie selber zurückgefallen wären.

Da drängte ein gewaltiger Arm mit einem Ruck die Umstehenden nach beiden Seiten auseinander, und in der Mitte, dem Knaben und den Jägern gegenüber, stand der fremde Jäger. Er hatte mit einer raschen Wendung seine Stellung so genommen, daß er den Tisch mit den Gewehren im Rücken hatte.

„Komm her, Kleiner,“ sagte er zu dem Knaben, zog ein blinkendes Waidmesser und schnitt ihm mit einem Zuge die Stricke von den Händen. „Lauf’ zu … es darf Dir Niemand was anthun!“

„Hat ein Christenmensch jemals eine solche Frechheit gesehen?“ rief der Waldhüter, als er vor Staunen kaum zu Wort zu kommen vermochte.

„Was untersteht sich der Herr?“ riefen die Andern. „Was soll das heißen?“

„Das soll heißen …“ entgegnete der Fremde gelassen, nachdem er rasch hinter sich einen Stutzen ergriffen hatte und den Hahn knacken ließ … „daß Ihr noch drei Minuten Zeit habt, Euch aus dem Staub zu machen! Wer nach drei Minuten noch da ist, dem blas’t meine Kugel das Lebenslicht aus!“

Gemurmel des Beifalls wurde laut; die Bauern drängten vor, der Jäger aber schrie: „Wer ist denn der freche Kerl, der sich so was mit landesfürstlichen Bediensteten erlaubt?“

„Nicht gefragt und nicht gemuckst!“ rief der Fremde gebieterisch entgegen. „Ich zähle – wenn ich auf Drei noch einen von Euch vor mir seh’, so kracht’s!“

„… So laßt uns doch wenigstens unsere Büchsen mitnehmen!“

„Nichts da! Die bleiben hier als Pfand, morgen könnt Ihr sie beim Wirth abholen – den Stutzen von dem Waldhüter aber, weil er gar so gut hintragt, den behalt’ ich als Andenken! Also frisch, Jäger … Eins …“

„Vermaledeiter Kerl!“ erwiderte der Jäger, sich zurückziehend. „Aber wir treffen Dich wieder und dann Gnad Dir Gott …“

Ehe die verhängnißvolle Drei ertönt hatte, waren die Jäger nicht mehr zu sehen; schallendes Gelächter geleitete sie, der Knabe war entflohn.

Der Fremde ging die Stiege hinab; nach den ersten Stufen jedoch wandte er sich nochmals um. „Halt,“ sagte er, „bald hätt’ ich darauf vergessen! … Tiras, komm, da herein … Tiras, komm zu mir!“

Dieser Ruf brachte den Krämer, der wie geistesabwesend dagesessen hatte, mit einmal zu sich. „Was?“ rief er aufspringend. „Meinen Hund will Er mitnehmen? Die Kränk’, das ging mir auch noch ab! … Tiras! Hieher!“ lockte er entgegen. „Herein! Couche! Herein!“ Der Hund aber that, als kenne er ihn und seinen Ruf gar nicht, und schritt dem Fremden auf dem Fuße nach.

„Gieb Dich nur drein!“ rief dieser zurück. „Deinen Hund siehst Du heut zum letztenmal – dafür hast Du den bairischen Hiesel zum erstenmal gesehn … Jetzt kennst Du mich doch, wenn Du mich fangen willst!“

Ein Blick nach den Fenstern des obern Stockwerks, dann war er verschwunden – die er gesucht, hatte er nicht erblickt. Sie hatte das Vorgefallene mit angesehen und gehört und verbarg ihre Augen hinter den Händen … sie strömten über von Thränen, von Thränen des bittersten Grams und doch so voll unendlicher Seligkeit.

Die letzten Worte des Wildschützen hatten die Ahnung, die schon in den Bauern aufzudämmern begonnen, zur Gewißheit gemacht, ein Ausbruch allgemeinen Jubels war die Folge. „Juhe, der bairische Hiesel ist wieder da!“ rief der Junge. „Freut Euch, Ihr Schergen und Jaga, jetzt geht Eure gute Zeit wieder an!“

„Nein,“ rief der Alte lustig darein, „für uns Bauern fangt die gute Zeit wieder an! Macht’s mir mein Leibstück auf, Musikanten … jetzt wird’s bald ein End’ haben mit dem Wildschaden und dem Strafen und der Jagdschinderei! Spielt’s mir das Gesang’ vom bairischen Hiesel auf und wir Alle singen mit … Juhe, der bairische Hiesel soll leben!“

Die Pfeifen und Hörner fielen ein und begleiteten das Lied, das, in jenen Zeiten entstanden, noch lange nicht verklungen ist im Munde des Volks:

Bin i der bairisch Hiesel,
Koa Angel geht mir ei’,
Drum fürcht i a koan Jaga
Und sollt’s der Teufel sei’!
Im Wald drauß’ is mei’ Heamat
Im Wald drauß’ is a Leb’n:
Da schieß’ ich d’ Reh’ und Hirschen
Und Wildschwei’ a daneb’n!

Es giebt koa schöner’s Leben,
Als i führ’ auf der Welt,
Die Bauern geb’n mir z’ essen,
Und wenn ich’s brauch’, noch Geld.
Drum thu’ i d’ Felder schützen
Mit meine tapfern Leut’,
Und wo i nur grad hi’komm
Ui Gott, is das a Freud!




2.

Dem schönen Herbsttage war eine klare, aber kühle Nacht gefolgt; der Vollmond stand hoch am dunklen Himmel und warf sein hellstes Licht über die feuchten Wiesen und Anger an der Paar und auf die schwarzen Gebüsche an deren Ufer. Darunter hin, wo der Schein durch Laub und Zweige den Wasserspiegel erreichte, blitzte ein greller Widerschein und in weiter Ferne zeigte ein weißlicher Nebelstreifen die Niederungen an, welche zum Lech hinabstiegen. Tiefe Ruhe, athemlose Stille lag auf der Flur, wie auf dem Dorfe; nur der im Mondenglanz schimmernde Mühlschuß rauschte gleichtönend fort und manchmal schlug hie und da [196] ein wachsamer Hofhund an, als wolle er dadurch beruhigen und zeigen, daß er auf seinem Posten sei. Wie ein anderer Wächter hob sich über das Kirchendach, über Häuser und Baumwipfel der Kirchthurm mit seinem runzelvollen, verwitterten Mauergesicht empor, aber so weit er in die Dorfgassen niedersah, regte sich’s nirgends mehr und nur aus drei Fenstern drang noch dämmernder Lichtschein – im Wirthshause, wo noch ein paar ungenügsame Zecher hinter Krug und Karte sitzen mochten; im Pfarrhofe, wo der Pfarrer noch einsam über Gebet und Brevier wachte, und am äußersten Ende des Dörfchens, über die Mühle hinaus unter zerstreuten kleinern Häusern in dem ärmlichsten und kleinsten unter denselben.

Leichtsinn, Andacht und Sorge waren allein noch nicht zur Ruhe gegangen.

Der schwache Lichtschein kam noch aus der Wohnstube der niedrigen Hütte und vermochte kaum, sich unter dem weit herabreichenden Strohdach und durch die kleinen, trüben Fenster auf den schmalen Wiesfleck zu stehlen, welcher an der Seite hinzog; der spitz zulaufende hohe Vordergiebel stand gegen die Straße zu, vom grellen Mondlicht übergossen. Das Licht, von einer kleinen Oellampe kommend, reichte nicht aus, auch nur den engen und niedrigen Raum der Wohnstube zu erhellen; im Halbdunkel auf der Ofenbank kauerte ein Mädchen hinter dem Spinnrade, am Tische saß ein alter Mann, ein geschnitztes Kreuzbild von weißem Lindenholz in der Hand, an welchem er mit einem kurzen Messer sorgsam und mit sichtbarer Anstrengung schnitzelte. Die Augen waren an den Rändern geröthet und wund, und über den starken weißen Brauen lag eine Kummerwolke, welche ahnen ließ, daß es nicht blos die Mühe der Arbeit gewesen, was sie wund gemacht. Der Kopf des Alten war fast gänzlich kahl, nur ein schwacher Kranz weißen Haares umgab noch die Seiten; das Gesicht war gerunzelt und wetterhart, aber voll klugen, fast schwermüthigen Ausdrucks. Auch in der Stube war es still, wie draußen, nur die Schwarzwälder Uhr an der Wand ging und das Rad schnurrte.

Das Mädchen hatte schon mehrmals nach dem Alten hinübergeblickt, als wollte sie das Rad bei Seite schieben und ihm näher treten; immer aber schien etwas sie davon abzuhalten. Endlich legte der Mann die unvollendete Schnitzerei vor sich auf den Tisch und drückte die Handballen vor die Augen. „Es geht nicht mehr, ich muß aufhören!“ sagte er. „Die Augen brennen mich wie Feuer und verschwimmen … es ist, als wenn ich Alles durch einen Flor sähe, der immer dichter wird …“

„Solltest Dich halt nit so anstrengen, Vater,“ antwortete von ihrem Platz aus die Spinnerin. „Hab’ Dich schon oft genug darum gebeten! Du solltest Dir mehr Ruhe vergönnen und solltest bei Tage schnitzen!“

„Als wenn ich das nicht ohnehin schon thäte!“ erwiderte der Alte. „Wenn ich auf dem Felde draußen bin, benutz’ ich jeden Augenblick, den mir das Hüten läßt, und setze mich unter einen Baum oder auf einen Zaun und hole den Schnitzzeug aus dem Anhängsack, aber das Vieh ist so unruhig … weiß der Himmel, wenn wir Wölfe in der Gegend hätten, oder Bären, so glaubte ich, sie spürten solch’ ein Beest … So muß ich eben doch die Nacht zu Hülfe nehmen; Du weißt ja, auf was es ankommt, der Friedberger Jahrmarkt ist vor der Thür’ … da muß ich trachten, daß noch ein Dutzend fertig wird …“

„Freilich, Vater!“ erwiderte das Mädchen, „Maria Geburt ist nicht mehr weit, da muß die Gilt gezahlt werden und die halbe Anleit … aber Du brauchst Dich deswegen doch nicht so anzustrengen, Vater! Ich werd’ heut noch fertig mit meiner Spinnerei; ich hab’ den letzten Strähn auf der Spule – dann ist’s wieder so viel Garn, daß es ein ordentliches Stückl Leinwand abgeben thät … hab’ freilich gedacht, ich wollt’ Dir eine neue Pfoad (Hemd) machen, Vater, und ein frisches Bettgewand, aber wenn’s nicht geht, müssen wir mit dem alten forthausen. Ein Jahrl halt’s wohl noch aus; ich will das Garn an die Wirthin verkaufen, die hat mich schon drum angered’t, – damit kannst zahlen, Vater, und werden wohl auch noch ein paar Kreuzer übrig bleiben für den Winter!“

(Fortsetzung folgt.)




Der neue Cäsar und seine Mutter.[1]
Von J. Marmor.

Auch das stille Constanz sollte, wie wir wissen, nicht das dauernde Asyl bleiben für die vertriebenen Napoleoniden, die Königin Hortense und ihren Sohn Louis Napoleon. Die Diplomatie ließ sie auch hier nicht in Ruhe; das zurückgezogene Leben der Königin, die fast ganz von der Außenwelt abgeschnitten war, verhinderte nicht, daß man immer und immer wieder falsche Berichte über sie machte. Man mißgönnte ihr den Aufenthalt in einer Stadt, die beinahe einem Verbannungsorte glich, und da man keinen vernünftigen Grund im Benehmen der Königin fand, um sie davon zu entfernen, so schritt man ganz einfach zur Anwendung von Gewalt. Es wurde dem Großherzog Carl von Baden bedeutet, daß er seine Verwandte aus seinem Staate verjage. Bald erschien eine Person seines Hauses, Herr von Frank, welcher den Auftrag erhalten hatte, der Königin dessen Bedauern auszudrücken, daß er sich in der traurigen Nothwendigkeit befinde, sie um ihre Abreise zu bitten. Die Großherzogin Stephanie von Baden könne es nicht genug beklagen, daß ihr Gemahl durch die großen Mächte in die peinliche Lage versetzt sei, Hortense aus dem Lande vertreiben zu müssen. Ja, nicht einmal ein Besuch sei möglich, weil Herr von Talleyrand im Zusammenkommen der beiden fürstlichen Frauen eine Verschwörung gegen die bourbonische Monarchie erblicken wolle. Hortense ertrug diese Verfolgung, wie sie Alles ertrug, mit Ruhe, Ergebung und Würde und sagte dem Herrn von Frank zu, sich sobald wegzubegeben, als die rauhe Jahreszeit und ihre zarte Gesundheit dies gestatten würden.

Von allen Seiten gedrängt, hatte sie unterdessen vom Baron von Streng am 10. Februar 1817 den im angrenzenden Canton Thurgau am untern Bodensee gelegenen Arenenberg um dreißigtausend Gulden gekauft und ließ diese Besitzung dann nach ihrem Geschmacke herstellen.

Nur sehr ungern verließ die Königin ihren Aufenthalt, der ihr die Ruhe nach dem Sturm gewährt hatte. Die Erziehung des Prinzen war hier ihre erste und vorzüglichste Sorge und Hauptbeschäftigung gewesen, wie ihre Zärtlichkeit für ihn ihr lebhaftestes Gefühl. Sie gab ihm, wie dem Leser auch schon bekannt, selbst Unterricht im Zeichnen und Tanzen, weil es an Lehrern dazu mangelte. Am Samstag jeder Woche gehörte er ganz seiner Mutter an: es wurde dann alles von ihm durch die ganze Woche Erlernte wiederholt, ob es Lateinisch oder etwas Anderes war, das der Königin fremd stand. Sie wollte ihrem Sohn durch die Aufmerksamkeit, welche sie auf die geringsten Einzelnheiten verwendete, beweisen, daß sie ihr Interesse allen seinen Fortschritten zuwende. Weil Louis von einer solchen Lebhaftigkeit war, daß es der ganzen Leichtigkeit seines frühzeitigen Verstandes bedurfte, um Etwas zu lernen, so war es schwieriger, ihn zu überwachen, als zu unterrichten. Der gute Abbé Bertrand wandte allen seinen Eifer an; allein der Prinz entschlüpfte ihm oft. Die Königin fühlte daher, daß es festerer Hände bedürfe zur Leitung dieses unabhängigen Charakters. Was den Versuch des armen Abbé noch schwieriger machte, war jene Schnelligkeit des Geistes, welche auf der Stelle eine Antwort fand und welche immer verlangte, daß man ihm den Grund angebe von dem, was man von ihm forderte.

Einst hatte der Abbé wiederholt die Befolgung einer Vorschrift verlangt, wogegen sich sein Zögling hartnäckig sträubte. Als Ersterer aber fest auf seinem Befehl besteht, läuft der Prinz davon und ergreift seinen Säbel. Bertrand klagt bei der Mutter, die den Sohn auf eine feierliche Weise züchtigen und demüthigen will. Er wird am folgenden Morgen in’s Zimmer der Königin beschieden, wo er niederknieen und in Gegenwart seines Lehrers eine ernste Strafpredigt hören muß. Nachdem ein Diener seinen Säbel zerbrochen und die Stücke vor ihn hingelegt hatte, mußte er dem Abbé Abbitte leisten.

Die Morgenstunde brachte die Königin meist allein in ihrem Zimmer zu, mit Abfassung ihrer Denkwürdigkeiten beschäftigt. Die

[197]

Prinz Louis auf dem Heimwege nach dem Arenenberge.
Nach einem im dortigen Schlosse befindlichen Oelgemälde von Cottreau.

[198] Nöthigung, auf die gegen sie seit zwei Jahren veröffentlichten Unwahrheiten und Verleumdungen zu antworten, gab ihr die Idee ein, ihre Memoiren zu schreiben. Sie that dies unter dem Eindruck des Augenblicks und es war ihr gewissermaßen ein moralisches Bedürfniß, so mancherlei verleumderische Anschuldigungen, denen der verbannte Kaiser ausgesetzt war, siegreich zu widerlegen. Diese Denkwürdigkeiten, welche im Jahre 1816 angefangen wurden, erschienen erst nach ihrem Tode und sind für den Geschichtsschreiber von großem Werthe.

Der Bruder der Königin, Eugen Beauharnais, jetzt Herzog von Leuchtenberg, der sie mehrere Male in Constanz besucht und sich bald überzeugt hatte, daß hier des Bleibens für seine Schwester nicht sei, bot Alles auf, sie nach Baiern zu ziehen. Dieser Vorschlag war für Beide angenehm; allein Hortense wollte ihrem Bruder nirgends ein Hinderniß werden für sein Glück und entschloß sich erst, seinem Antrage Folge zu geben, als der König Maximilian den Plan Eugen’s theilte und sie nach Baiern einlud.

Da sie nicht in München bleiben wollte, so schlug ihr Eugen die alte Stadt Augsburg vor, die nicht allzuweit von der Residenzstadt entfernt sei und leicht ein Zusammenkommen gestatte. Außerdem war dort eine gute Lehranstalt, was derselben in den Augen der Königin einen großen Vorzug verschaffte. Am 6. Mai 1817 verließ denn Hortense Constanz, unter großem Bedauern der Einwohner, deren allgemeine Liebe sie sich durch ihre Leutseligkeit und großartige Wohlthätigkeit erworben hatte. Bevor sie sich entfernte, fuhr sie noch nach ihrer neuen Besitzung Arenenberg, um ihrem Hausverwalter Rousseau anzuzeigen, daß er daselbst zu bleiben und inzwischen einige nothwendige Bauten und Einrichtungen machen zu lassen habe. In Augsburg lebte die Königin vier Jahre. Der Prinz besuchte die dortigen Schulen und erwarb sich für seinen Fleiß Prämien, von welchen Herr Keller, der ehemalige Besitzer des Arenenbergs, noch eine besitzt. In den Ferien besuchte der Sohn mit seiner Mutter entweder die neue Besitzung im Thurgau, oder reiste nach Italien.

Auf dem Arenenberg war nach dem Ankauf von Seite der Königin ein reges Treiben entstanden, welches denselben völlig umgestaltete. Nach noch vorhandenen Zeichnungen hatte das Schloß, wie es ehemals war, viel von einer mittelalterlichen Burg. Das Hauptgebäude war gezinnt, mit einem kleinen Thürmchen und einer Glocke versehen; eine Mauer mit vier Rundthürmen zog sich um das ganze Gut herum, das mehrere Oekonomiegebäude und Wohnungen enthielt. Als es nach dem Plane des Werkmeisters Wehrle von Constanz an’s Bauen ging, wurden die Einfassungsmauern abgerissen, ebenso die Oekonomiegebäude mit Ausnahme eines einzigen, und das Hauptgebäude verlor seine Zinnen und sein Thürmchen. Auf dem geebneten Platze erhob sich ein weitläufiges einstöckiges Gebäude mit einem Erdgeschosse, mit Stallungen, Räumen für ökonomische Zwecke, einem kleinen Theater und Glashaus. Ueberdies wurde noch eine Capelle zum Privat-Gottesdienst errichtet.

Nachdem die Königin um das Jahr 1822 ihren neuen Besitz bezogen hatte, bestimmte sie das Hauptgebäude allein für sich und die Damen ihres kleinen Hofes, sowie für weibliche Gäste. In dem Nebengebäude war unten Raum für die männliche Dienerschaft und eine Treppe höher bewohnte der Prinz zwei kleine Zimmer. Die übrigen sechs waren für die höhern Bediensteten und die Gäste vorbehalten. Im Hauptgebäude, das durch einen Anbau gegen Mittag vergrößert wurde, befindet sich zu ebener Erde ein Vorraum, aus welchem eine hölzerne Wendelstiege in den ersten Stock führt. Von jenem aus gelangt man in Salon, Empfangssalon, Sommersalon, Billard- und zugleich Bibliothek-Zimmer und in einen Speisesaal. Im ersten Stock treten wir in das Schlafzimmer der Königin, das nur ein Fenster gegen Norden und eines gegen Osten hat, an welches sich ein sehr kleines Cabinet mit einem einzigen Fenster in gleicher Richtung anschließt. Das Bett der Königin stand in einer Nische oder in einem Alkoven. Ueberdies sind noch ein kleiner Salon mit Bibliothek, zwei Schlafzimmer und ein Zimmer für eine Kammerfrau auf dem gleichen Boden vorhanden. Der zweite Stock enthält fünf Schlafzimmer.

In diesen beschränkten Räumlichkeiten lebte die Königin bis zu ihrem Tode. Wie in Constanz lag sie in ihrem neuen Asyle ihren Lieblingsneigungen, Zeichnen, Musiciren und Lesen, ob. Der Prinz setzte seine Studien unter Leitung seiner Hofmeister fort. Neben den Studien versäumte er auch nicht seinen Körper zu üben, der früher zart und schwach gewesen war. Durch anhaltende Abhärtung und Anstrengung gewann er große Stärke und Gewandtheit. Beim Herzog von Leuchtenberg in München hatte er die beste Gelegenheit, die Reitkunst zu lernen, in der er große Fortschritte machte. Nach Tische bestand seine Erholung häufig in Reiterkünsten, durch welche er auch seiner Mutter ein großes Vergnügen bereitete. Mit Leichtigkeit und Zierlichkeit sprang er links und rechts über das Pferd hinweg, wenn es in vollem Lauf dahinsauste. Ohne Anstrengung sprang er über das Kreuz des Pferdes in den Sattel. Ueberdies war er auch ein geschickter Lanzenreiter. Ohne seinen Hals auf’s Spiel zu setzen, war er als Reiter kühn und sicher. Die Strecke von sieben Viertelstunden von Arenenberg nach Constanz legte er mit dem andalusischen Rappen, welchen er von seinem verstorbenen Bruder erhalten hatte, regelmäßig in einer Viertelstunde zurück. Als der Wächter am Thore zu Constanz einmal fand, daß er allzu scharf reite, und ihm die festgesetzte Buße abverlangte, warf ihm der Prinz das Doppelte hin, indem er lachend sagte: „Da habt’s Ihr gleich für den Rückritt.“ Beim Exerciren der thurgauischen Milizen im Feuer bestieg er ein wildes Pferd, das Niemand als ihn aufsitzen ließ. So sehr sich dasselbe auch immer bäumte und schäumte, er wurde desselben doch Meister und machte es ganz ruhig und fromm.

Die Leibesübungen waren ihm so lieb geworden, daß er die Dorfjungen von dem nahen Salenstein zu sich kommen ließ und sie im Laufen und Springen übte. Preise belohnten die Tüchtigsten. Im Winter zeigte er sich als tüchtiger Schlittschuhläufer auf dem fast jährlich gefrorenen Untersee. Oft sah man ihn seine Mutter oder ihre Freundinnen auf einem Schlitten über die glatte Eisfläche dahin schieben. Im Sommer war Schwimmen ein großer Genuß für ihn. Von dem Schiffmann Fehr aus Mannenbach in einem Kahne begleitet, schwamm er öfters, ohne auszuruhen, nach der bekannten Insel Reichenau hinüber und versagte sich dieses Vergnügen selbst manchmal in der rauhern Jahreszeit nicht, wenn er z. B. von der Jagd zurückkam.

Einmal versetzte er seine Basen, die Töchter der Großherzogin Stephanie von Baden, als sie zusammen über die Neckarbrücke in Mannheim gingen, in einen nicht geringen Schrecken. Unglücklicherweise war es einer derselben eingefallen, ihn zu fragen, ob er wohl den Muth hätte, hier in den Fluß zu springen. Der Vetter antwortete schnell durch die That, indem er sich über das Geländer hinweg schwang und sich mitten in den Fluß stürzte. Lachend kam er, obgleich es noch im kalten März war, mit triefenden Kleidern in’s Schloß zurück.

Eben so gut, wie er schwamm, lenkte er den Kahn. Wenn kein Lüftchen die spiegelglatte Fläche des Sees kräuselte, an den schönen, lauen Sommerabenden, ergriff er das Steuer des Schiffes und ruderte seine Mutter mit den fast nie fehlenden Gästen auf der glatten Bahn. Oft nahm die Königin ihre Guitarre und sang so fröhlich, als hätte nie ein Hauch den Spiegel ihrer Seele getrübt. Aber auch dann, wenn der See brausend seine Wellen trieb, bewährte der Prinz seine Kraft und Geschicklichkeit. So war er einst mit einem Freunde von Zürich nach Seefelden gefahren und auf der Rückkehr der Kahn von einem heftigen Winde in den tobenden See hinausgetrieben worden. Mit aller Macht kämpfte er in der inzwischen angebrochenen Nacht zwei lange Stunden mit den Wellen und ruhte nicht eher, bis er wieder an die Stelle gelangte, von wo er abgefahren war.

Im Fechten auf Stoß und Hieb hatte er große Fertigkeit erworben. Wahrscheinlich erhielt er den ersten Unterricht darin von einem gewissen Maler Burkart in Rom, der gegenwärtig bei Agassiz in Boston verweilt. Weil der Prinz die Kriegskunst zu seinem vorzüglichsten Studium machte, so mußte er auch die Waffen führen lernen. Durch fleißige Uebung erhielt er eine gewisse Meisterschaft im Pistolen- und Stutzenschießen. Dieses übte er auf der Schießstätte zu Ermatingen im Thurgau als Mitglied der thurgauischen Cantonal-Schützengesellschaft, welcher er eine hübsche Schützenfahne schenkte, die er einmal an einem eidgenössischen Schützenfeste selbst an der Spitze der thurgauischen Schützen als Redner beim Aufzug überreichte.

Man würde sich irren, wenn man des Glaubens wäre, es sei auf Arenenberg ein üppiges und schwelgerisches Leben geführt worden. Die Königin verwendete auf Putz und Tafel nur sehr kurze Zeit. Deshalb waren die Mahlzeiten so bescheiden, daß nur sie allein fremden Wein trank, während sich der Prinz und die Uebrigen mit gewöhnlichem Landwein begnügten. Dafür hatte sie [199] mehr Genuß an einer heitern und geistreichen Unterhaltung, an der hingegen ihr Lohn wieder selten Antheil nahm, weil ihn das Salonleben überhaupt wenig anzog. Ganze Abende konnte er still und in sich gekehrt an sich vorübergehen lassen; nur hie und da warf er ein Wort hinein in die Unterhaltung. Erhielt diese eine größere Lebhaftigkeit, so ließ er sich nie in eine längere Besprechung ein, sondern gab in kurzen und bestimmten Ausdrücken seine Meinung ab.

Man bemerkte in seinen Worten und in seinem Wesen nie etwas Schwankendes; immer sprach er in seinen Antworten einen klaren und scharf ausgedrückten Gedanken aus. Gerieth das Gespräch auf seinen Onkel, den Kaiser Napoleon, welchen er wie einen Gott verehrte, und gewann es den Anschein, als ob jemand eine Gesinnung oder Handlung desselben unrichtig auslege, so stieß er seine Berichtigung oder Widerlegung scharf und schnell heraus. Er war ebenso entschieden und beharrlich in Vorliebe und Abneigung, hatte nie unstäte Einfälle, und Ungereimtheiten waren ihm fremd. Was er aber einmal wollte, verfolgte er ruhig, still und fest, weshalb ihn die Mutter „le doux entété“ (den sanften Eigensinnigen) nannte.

Für Kunst hatte er wenig Sinn. Begannen die musikalischen Unterhaltungen im Salon, so faßte er seine Gäste am Kleide und sagte: „Kommen Sie, wir wollen hinübergeben“ (d. h. in seine vom Schloß getrennte Wohnung). Ebenso sprach ihn die schöne Literatur nur in geringem Grade an. Meinten Buchon und Andere durch einen ausdrucksvollen poetischen Vortrag die Gesellschaft zu fesseln, so fing der Prinz an zu gähnen. Hingegen interessirte ihn die Industrie, besonders die Mechanik. Ueber Versuchen und Verbesserungen darin zu grübeln, war seine Lust, namentlich wenn er dieselben auf das Artilleriewesen anwenden zu können glaubte.

Die Natur machte keinen sonderlichen Eindruck auf ihn, und doch ist es so schön auf dem einsamen Arenenberg! Von der Terrasse hinter dem Schloß hat man eine entzückende Aussicht in eine stille, idyllische Gegend. Zu den Füßen liegt der ruhige Untersee, in dem wie auf einer schwimmenden Insel die alte einst so berühmte Abtei Reichenau mit ihren höchst interessanten Kirchen herüberschaut. Ihr gegenüber auf dem Festlande steht einsam und verlassen das ehemalige fürstbischöflich constanzische Schloß Hegne, welches einst fröhliche Tage gesehen. In nicht weiter Entfernung folgt das alte Allensbach und die Stadt des heiligen Radolf, mit ihrer gegen die Reichenau sich erstreckenden Halbinsel Metnau, welche früher durch eine Straße mit ihr verbunden gewesen sein soll.

Von Radolfszell west- und nordwärts ragen die ehemaligen Vulcane des Hegaus, theils Basalt, theils Klingsteingebilde, aus der Ebene empor, ebenso reich an Naturerzeugnissen, wie an Trümmern, die ihre Kuppeln im Mittelalter als stattliche Burgen schmückten. Vor allen zeichnet sich Hohentwiel, einst der Sitz der alemannischen Herzoge, später ein Kloster und zuletzt eine erst im Jahre 1800 zerstörte würtembergische Festung, mit seiner herrlichen Aussicht aus. Neben ihm steigt schlank und kühn das ehemalige Raubnest Hohenkrähen mit seinem neckischen Burggeist Poppele empor, während der dreigipflige Hohenstosseln mit ebensoviel Burgtrümmern die Gegend beherrscht und der massenhafte Höhenhöven und das Stettener Schlößchen in nebelhafter Ferne dem unbewaffneten Auge nur als kleine Hügel erscheinen.

Gegen Untergang der Sonne schiebt sich der waldige Schienenberg wie ein gewaltiger Keil zwischen den sogenannten Radolfszeller und Bernanger See hinein, mit seinen weitbekannten Oeninger Versteinerungen auf dem Rücken, der stillen Bischöfshöri und Burgen untergegangener Geschlechter an seinem Fuße. Die Landzunge, auf welcher Berlingen, das alte Bernang liegt, schließt nach Westen ab. Mehrere Erdzungen strecken sich in den ruhigen See hinaus und versteckt und malerisch liegt in einem Winkel das Dorf Mannenbach. Gegen Mittag steigt ein Berg, zerklüftet durch mächtige Erdrisse, hier Tobel genannt, zu einer ziemlichen Höhe an. Frei die Gegend überschauend steht hoch der Eugensberg, erbaut vom ritterlichen Herzog Eugen von Leuchtenberg, und nur wenige Minuten von Arenenberg entfernt auf einem Felsenklotze die Burg Salenstein, einst Besitzthum der Abtei Reichenau.

Vom Schloß aus verstecken Wald und Bäume die Aussicht nach Osten. Ein Pavillon, nur wenige Minuten davon entfernt, gewährt aber die weiteste Aussicht nach Constanz und den glänzenden Bodensee, und über diesen hinaus in die Tiroler und baierischen Alpen, die im bläulichen Dufte zerfließen. Hier nahm die Königin oft in den schönen Nachmittagsstunden den Thee, unterhielt sich mit Musik und Gesang, oder ließ eine ausgewählte Gesellschaft Tonkünstler im nahen Wäldchen spielen.

Mit der Nachbarschaft wurde vom Arenenberg sehr freundlicher Umgang gehalten, und die angesehenern Familien eben so wohlwollend besucht wie empfangen. Besonders war es die Familie Ammann in Ermatingen, mit der man auf vertrautem Fuß stand, da die Söhne in ungefähr gleichem Alter mit dem Prinzen waren. Jetzt noch besorgt Herr Friedrich Ammann die Verwaltung des Arenenbergs und steht mit dem Kaiser in stetem Verkehre.

An Besuchen und Gästen fehlte es nie auf dem gastlichen Schloß. Die verwittwete Großherzogin Stephanie von Baden, die Fürstin von Sigmaringen, der alte und liebenswürdige Oheim, Marquis von Beauharnais, der verwandte Graf Tascher de la Pagerie, gewesener Adjutant des Kaisers, sowie die Jugendfreundinnen der Königin, die Herzogin von Ragusa, die Wittwen der Marschälle Duroc und Ney, waren öfters auf Arenenberg und fanden immer die liebevollste Aufnahme. Auch Frau Campan, in deren Erziehungs-Institut die Königin gewesen war, besuchte noch kurz vor ihrem Tode ihre liebe Pflegetochter, welche sich als die treue Beschützerin ihres verlassenen Alters erwiesen hatte. Bei festlichen Anlässen wurden kleine theatralische Vorstellungen gegeben, zu welchen öfters die thurgauischen Nachbarn eingeladen wurden und in denen sich die Königin in Darstellung von Rollen aus dem Volksleben in harmlosen Leichtigkeit und Heiterkeit gehen ließ. Besonders nah stand Hortense als bewährter treuer Freund der edle Freiherr Heinrich von Wessenberg, welcher der häufige, immer hoch willkommene Gast im Schlößchen war.

Da Hortense auch in der Verbannung nie des schönen Frankreichs vergaß, so blieb sie mit allen Erscheinungen der Literatur desselben vertraut. Besonders sprach sie die Poesie an. Es war daher kein Wunder, wenn Dichter und Maler immer bereitwillige Aufnahme fanden. Unter ihnen zeichnete sich Chateaubriand und Casimir de la Vigne aus. Letzterer, ein ganz unabhängiger Charakter, welcher einen Jahrgehalt und das Kreuz der Ehrenlegion aus der Hand der Bourbonen verschmäht hatte, verlebte einen Sommer auf Arenenberg und führte Fräulein Elisa von Courtin, das Hoffräulein, als Braut nach Hause.

Weil der Winter gar zu einsam auf dem Arenenberg war, so machte alsdann Hortense durch mehrere Jahre eine Reise nach Rom, auf welcher ihr Sohn sie begleitete. In Florenz, wo der ehemalige König von Holland seinen Aufenthalt genommen hatte, wurde acht oder vierzehn Tage verweilt, und Louis konnte dann mit seinem Bruder verkehren. Einstmals ging der König nach Marienbad in Böhmen und Louis durfte ihn begleiten, während sein älterer Bruder unterdessen auf dem Arenenberg blieb.

Bis jetzt hatten die Napoleoniden scheinbar ein Stillleben geführt und um die Welt draußen sich wenig bekümmert. Die Bourbonen schienen auf dem alten Throne, welchen ihnen die fremden Bajonnete wieder verschafft hatten, fest zu sitzen, als plötzlich die Julirevolution im Jahre 1830 sie, welche nie die neue Zeit begreifen lernten, von demselben stürzte. Die Pariser Revolution hatte den Funken der Freiheit in allen Ländern entzündet. In Italien entstand eine republikanische Verschwörung, die zum Ausbruche kam. An ihrer Spitze standen die beiden Söhne der Königin Hortense. Das Unternehmen endete unglücklich. Der ältere der Prinzen starb in Forli, und der jüngere konnte nur durch das entschlossene[WS 1] und kluge Benehmen seiner Mutter, die Alles für ihn wagte, gerettet werden. Sie beschrieb den ganzen Hergang in einem äußerst interessanten Schriftchen unter dem Titel: „Meine Reisen in Italien, Frankreich und England im Jahre 1831“. Von jetzt an brüteten Mutter und Sohn über dem Gedanken, wie letzterer zu der Würde emporsteigen könne, welche ihm schon an der Wiege in Aussicht gestellt war. Niemand von allen Napoleoniden glaubte so fest und zuversichtlich an den Stern des Kaisers Napoleon und an den Beruf seiner Angehörigen zur Fortsetzung seines Werkes, als Hortense. Es war ihre tiefe Ueberzeugung und der mächligste Beweggrund ihrer Bestrebungen, daß ihr Sohn ein Recht auf den Thron von Frankreich habe, so lange nicht das französische Volk die Napoleonische Familie desselben für verlustig erklärt hätte. Aus diesem Grunde eiferte sie ihren Sohn [200] mit der Ermunteruug an: er sei es seinem Namen schuldig, sich seiner Aufgabe würdig zu machen und sich für dieselbe auszubilden. Die Seele Beider wurde durch den Glauben an eine große Zukunft und die Plane zur Verwirklichung derselben ausgefüllt. Deshalb vergaß der Prinz bei aller Bescheidenheit und Schlichtheit seines Benehmens und bei der Einfachheit seiner Erscheinung nie das Gefühl seines Ranges und seiner Hoheit, wie sich das stets durch eine gewisse Abgemessenheit und Zurückhaltung fühlbar machte.

Louis war in die schweizerische Artillerie eingetreten, hatte vom General Dufour Unterricht genossen und war zum Rang eines Hauptmanns emporgestiegen. Als solcher gab er im Jahre 1833 seine politischen und militärischen Betrachtungen heraus, deren militärischer Theil daß Lob der Kenner erregte. Später erschien ein Schriftchen: „Napoleonische Ideen“, welches stark im Republikanismus fußte. Er wollte von sich sprechen und die Welt auf seine Person aufmerksam machen, deshalb suchte er alle Hebel in Bewegung zu setzen und verschiedene Kräfte zu seinen Zwecken zu benutzen.

Im italienischen Feldzuge war Louis mit mehreren später geächteten Personen bekannt geworden, so mit dem feinen und gewandten Arzt Enrico Conneau aus Florenz, durch dessen Hülfe er vorzugsweise aus dem Schloß Ham entkam; ferner mit dem geistvollen und feurigen Grafen Arese und mit Visconti. In Rom hatten Mutter und Sohn den Maler Cottreau kennen gelernt, der dann mehrere Jahre auf Arenenberg lebte und hier seine Kunst ausübte. Zu ihnen gesellten sich noch mehrere Franzosen, von denen der ernstere Persigny, sowie de Querelles und Laity die ausgezeichnetsten waren. Sie verweilten häufig und länger auf Arenenberg. Mit ihnen und dem Obersten Carl Parquin, welcher die Vorleserin der Königin, Fräulein Cochelet, geehlicht und das nahe Schloß Wolfsberg gekauft hatte, wurde der Plan zu dem kühnen Streiche aus Straßburg berathen. Das Schloß konnte vor diesem Ereigniß oftmals die Zahl seinr Gäste nicht fassen, welche deshalb in Ermatingen untergebracht werden mußten.

Schon an und für sich zurückhaltend verrieth der Prinz durch kein Wort und keine Miene dasjenige, was ihn wachend und träumend beschäftigte. Er hatte die Jagd in den Waldungen der badenschen Gemeinden von Wollmatingen bis Marktelfingen im Anfange der dreißiger Jahre auf zehn Jahre gepachtet, mehr um seiner Freunde, als seiner selbst willen. Obgleich ein sehr guter Schütze, liebte er die Jagd doch nicht leidenschaftlich. Wurden mehr Rehe geschossen, als zur Deckung des Bedürfnisses erforderlich, waren, so verkaufte er dieselben um keinen Preis, sondern verschenkte die überflüssigen an die Armen von Allensbach, damit sie auch Wildpret genießen könnten.

Einstmals saß er, als die Jagdgefährten sich schon auf den Anstand gestellt hatten, träumerisch und in sich verloren unter einem Baume und starrte in die Gegend hinaus. Ihm nahte sich der Gemeindeammann Hutterle von Salenstein, ein bei ihm sehr wohlgelittener Mann, und fragte ihn: „Prinz, woran denken Sie und warum jagen Sie nicht?“

Dieser entgegnete: „Wenn ich mir denken könnte, daß meine Kappe wüßte, was unter ihr vorginge, so würde ich sie augenblicklich verbrennen.“

Schon einige Zeit trug sich der Prinz mit dem Gedanken, gezogene Kanonen zu erfinden. Er ließ zu diesem Behufe im Jahre 1836 Kanonen in der Constanzer Glockengießerei gießen und Züge aus Stahl durch den Mechaniker Klein daselbst fertigen. Eine dieser Kanonen gerieth schlecht und sollte also wieder zerstört werden. Man versuchte dies zweimal vergeblich durch Ladung von trockenem Sand, den man auf den Wunsch des Professors Lachmann sogar von Paris zu diesem Zwecke kommen ließ. Klein versuchte es auf eine andere Weise, mittels einer fest passenden Schraube. Der Versuch zur Sprengung wurde an einem bestimmten Tag in Gegenwart des Prinzen zwischen dem Kreuzlinger- und Emmishoferthor bei Constanz gemacht, wo damals noch die Wallgräben standen. Er gerieth so gut, daß die Stücke überall und selbst bis auf die Marktstätte flogen und einen gewaltigen Spectakel erregten. In der ersten Verwirrung setzte sich der Prinz auf sein Roß und ritt in gestrecktem Galopp davon auf das thurgauische Gebiet. Er kehrte nicht wieder nach Constanz zurück, bis die Sache geschlichtet war, die übrigens nicht viel auf sich hatte, weil die Polizei vom Unternehmer vorher benachrichtigt worden war. Mit den zwei übrigen Kanonen machte er Schießübungen von Arenenberg nach einer Scheibe, die in der gegenüberliegenden Reichenau aufgestellt war. Er verfehlte in mehreren Schüssen sein Ziel nie.

Inwieweit Hortense in die Pläne des Prinzen auf Vertreibung Louis Philipp’s eingeweiht war, ist unbekannt. Wahrscheinlich wußte sie mehr davon, als man glaubt; denn als er sie unter dem Vorwand verließ, einer Jagd in der Nähe von Hechingen beizuwohnen, schlang sie ihre Arme um seinen Hals, drückte ihn an’s Herz und steckte ihm fast unbemerkt den Verlobungsring Napoleon’s und Josephinen’s an den Finger, welchen Sie als eine Art von Talisman in der Stunde der Gefahr betrachtete. Der unglückliche Ausgang des 30. Octobers 1836 in Straßburg ist bekannt. Es erschien darüber eine eigens Broschüre in französischer und deutscher Sprache. Das Schiff, welches den König von Frankreich dem Prinzen zur Verfügung gestellt hatte, brachte ihn nach Rio Janeiro in Brasilien. Von hier aus schrieb er an seine Mutter: „Vor zwei Monaten wünschte ich nie mehr nach der Schweiz’ zurückzukehren. Wenn ich mich jetzt meinen Gefühlen überlassen wollte, so hätte ich kein anderes Verlangen, als mich wieder in meinem kleinen Zimmer zu finden und in dem schönen Land, wo ich so glücklich hätte sein können.“

Doch blieb er nicht lange in Brasilien, da ein Brief seiner innigstgeliebten Mutter vom 3. April 1837 ihn zur baldigsten Rückkehr nach dem Arenenberg aufforderte. Sie litt an einer schon lang verheimlichten fruchtbaren Krankheit (Gebärmutterkrebs), auf deren Heilung sie nicht mehr zu hoffen wagte, und sprach es als den höchsten ihrer Wünsche aus, ihren Sohn noch einmal zu sehen. Der Prinz trotzte der Regierung Louis Philipp’s, fuhr wieder über den Ocean und langte am 4. August 1837 bei seiner Mutter an. Diese ging mit ruhiger Heiterkeit und entschlossenem Muthe dem Tode entgegen, da sie die feste Ueberzeugung in sich trug, daß ihr Sohn für eine hohe Stellung bestimmt sei. Je näher der Tod an sie heranrückte, desto liebevoller ward sie; ein jedes Blümchen war im Stande, sie zu erfreuen. Unendlich glücklich war sie, wenn der Sohn mit einem Gefährten sie im Freien herumtrug. Mit Herzlichkeit nahm sie von allen ihren Dienern Abschied, welche sie ihrem Sohne bestens empfahl. Als dieser nach der letzten Unterredung ohne Zeugen von ihrem Sterbebette wegging, rief sie ihm immer und immer wieder zu: „Lebe wohl, Louis, lebe wohl für immer.“ Sie hielt die Hand eines alten Priesters von Ermatingen, bis sie verschied. Dies geschah am 5. October 1837 Morgens um fünf Uhr.

Sechs Tage darauf, am 11. October Morgens neun Uhr, fand das Leichenbegängniß der Königin in feierlichster Weise statt. Nachdem der Sarg, von zahlreichen Leidtragenden begleitet, nach der Kirche zu Ermatingen gebracht mit hier vom Prälaten des nahen Kreuzlingen ein Trauerhochamt abgehalten worden war, trug man ihn in derselben feierlichen Weise nach dem Arenenberge zurück, wo die Leiche ruhte, bis die Erlaubniß eintraf, sie nach Ruelle bei Paris zu verbringen, wo auch die Mutter der Königin, die Kaiserin Josephine, den ewigen Schlaf schläft.

Die Verschiedene hatte schon am 3. April 1837 ihr Testament gemacht und die Frau Salvage zur Vollstreckerin desselben ernannt. Ich unterlasse des beschränkten Raumes wegen, welcher mir vergönnt ist, die Angabe der einzelnen Vermächtnisse, so interessant sie auch in mancher Beziehung sein möchten, und theile nur einige Hauptstellen des Testamentes mit: „Der Regierung des Cantons Thurgau hinterlasse ich eine goldene Pendeluhr, die, meinem Wunsche nach, in den Saal des Landraths gestellt werden soll. Dieses Andenken möge sie an den edeln Muth erinnern, womit man mir eine ruhige Gastfreundschaft in diesem Canton bewahrt hat. Ich hoffe, daß mein Lohn den Herrn Vincent Rousseau immer bei sich behalten wird. Seine Ergebenbeit und seine Uneigennützigkeit können nicht bezahlt werden; ich will, daß er wisse, wie hoch ich ihn schätze und wie sehr ich wünsche, daß er meinem Sohne diene, wie er mir gedient hat. Mein Gemahl möge meinem Andenken eine Erinnerung schenken und er wisse, daß mein größtes Leid dasjenige war, daß ich ihn nicht glücklich machen konnte. Ich habe meinem Sohn keine politischen Rathschläge zu ertheilen; ich weiß, daß er seine Lage kennt und daß er weiß, was für Pflichten sein Name ihm auferlegt. Allen Fürsten, mit denen ich in Freundschaftsbeziehungen gestanden, verzeihe ich die Leichtfertigkeit ihres Urtheils über mich. Allen Ministern und [201] Geschäftsträgern der Mächte verzeihe ich die Falschheit der Berichte, die sie beständig über mich erstattet. Einigen Franzosen, denen ich Gelegenheit gehabt hatte nützlich zu sein, verzeihe ich die Verleumdung, womit sie mich überhäuft haben, um mir ihren Dank zu bezahlen; ich verzeihe denen, die dieser Verleumdung ohne Untersuchung Glauben beigemessen haben, und ich hoffe ein wenig im Andenken meiner theuern Landsleute zu leben. Ich danke allen denen, die mich umgeben, gleichwie meinen Dienern für ihre guten Dienste, und ich hoffe, daß sie mein Andenken nicht vergessen werden.“

Der Prinz hatte seine Mutter zärtlich geliebt; sein Schmerz aber blieb still und in sich gekehrt. Ueberall war ihr Bewunderung, Achtung und Liebe gefolgt; sie bildete in der Schweiz den Mittelpunkt einer großen Wohlthätigkeits-Gesellschaft und gewann möglicherweise durch ihre Verbindung mit den Napoleoniden weniger, als sie dadurch verlor. Louis Napoleon betheiligte sich jetzt mehr als früher am öffentlichen Leben der Schweiz, lehnte aber Stellen im großen Rath etc. ab. Auf sein Thurgauisches Bürgerrecht schien er einen Werth zu legen, was die Behörden der Schweiz veranlaßte, sich seiner thätig anzunehmen. Der sonst so schlaue und berechnende König der Franzosen hatte die Unklugheit begangen, die Ausweisung des Prinzen aus der Schweiz zu fordern. Dadurch legte er diesem eine ungeheure Wichtigkeit bei in den Augen der Napoleonisten und Frankreichs, lenkte die Aufmerksamkeit auf ihn und machte ihn zu einem politischen Märtyrer. Wie ein Mann stand die Schweiz in Waffen auf zur Vertheidigung ihres Bürgers, und es hatte ganz den Anschein, als ob die Angelegenheit auf blutigem Wege entschieden werden sollte, als plötzlich der Prinz der ganzen Sache eine andere Wendung gab. Am Nachmittage des 21. Septembers 1837 zeigte er dem Präsidenten des kleinen Raths zu Frauenfeld, Landammann Anderwert, persönlich seinen Entschluß an, die Schweiz nicht in die Nothwendigkeit zu versetzen, seinetwegen Krieg zu führen, indem er ihr für ihren Schutz seinen Dank aussprach.

Am 14. October Nachmittags um halb drei Uhr traf der Prinz, von achtzehn Equipagen bis an die Barriere begleitet, in Constanz ein, wo er im Gasthof zum Adler einstieg. Von da aus fuhr er um fünf Uhr Abends mit Postpferden wieder ab. Sein Freund Gerelle saß allein bei ihm in seinem Reisewagen; in einem andern folgte sein Arzt Conneau und sein Kammerdiener Carl Thelin. Eine dumpfe Stille herrschte beim Einsteigen unter den ihn umstehenden Zuschauern aus Mitgefühl über sein Schicksal, und der Schmerz, einen so werthen Nachbar zu verlieren, sprach sich unverkennbar aus. Die Reise ging über Stuttgart, Mainz, Coblenz, Cöln, Wesel und Rotterdam nach England.

Der nun verwaiste Arenenberg blieb bis zum Mai 1843 im Besitz des Prinzen, wurde aber in diesem Jahr mit dem Inventar sammt Gütern und Wäldern an einen Herrn Keller aus Sachsen verkauft. Im Jahr 1855 erwarb ihn der Kaiser wieder, mit Ausnahme des Waldes, den Herr Keller behielt. Das Oekonomiegebäude, welches dem Zerfallen nahe war, wurde in der nämlichen Weise wieder fester und dauernder ausgebaut und die innere Einrichtung des Schlosses durch neue Tapeten von ganz gleicher Zeichnung und Farbe wie die ursprünglichen ersetzt. – Wenn wir jetzt den Arenenberg besuchen, so finden wir trotz des vielen Schönen dennoch die interessantesten und kostbarsten Stücke nicht mehr. So fehlt z. B. der prachtvolle Gobelin mit dem Bilde Kaiser Napoleon’s I. zu Pferde, dem einige Grenadiere eine Fahne überreichen, einem der gelungensten Portraits desselben. Er befindet sich jetzt im Invalidenhaus zu Paris. Ebenso mangeln das herrliche Bild Napoleon’s auf der Brücke von Lodi von Gros, die Marmor-Bildsäule der Kaiserin Josephine von Canova, die Büsten der Königin Hortense und ihres in Italien verstorbenen Sohnes Napoleon, des Prinzen Eugen, ein Mercur, eine Mediceische Venus etc. aus cararischem Marmor, was Alles nach Paris kam.

Nichts desto weniger ist der Besuch dieser historischen Stätte sehr lohnend. Im Vorraume grüßen uns sechs Portraits von ägyptischen Scheiks, welche dem Kaiser Napoleon I. Besuche abstatteten. Im Empfangszimmer sehen wir das große Portrait der Königin Hortense vom Maler Cottreau, der manche Jahre auf dem Arenenberge verweilte, in sehr sonderbarer Beleuchtung – Mond- und Lampenlicht. Ihm gegenüber hängt vom gleichen Maler der Prinz, seinen andalusischen Hengst im Schnee an der Hand zum Arenenberg führend – es ist das Bild, welches die eine der beigegebenen Illustrationen wiedergiebt – und außerdem an den Wänden die Portraits von Joseph Bonaparte, Eugen Beauharnais und drei Kindern desselben, sammt einem Bilde der zwei jüngsten Kinder der Hortense. Im Bibliothekzimmer befinden sich Portraits der Kaiserin Josephine in ganzer Figur, des Generals Beauharnais, des Grafen Tascher de la Pagerie und Murat’s etc.

Eine Wendelstiege führt zu dem im ersten Stock gelegenen Sterbezimmer der Königin, welches früher beschrieben wurde. Der Eintritt in dasselbe kann nur gegen einen Erlaubnißschein seiten des Administrators Ammann in Tägerweilen erlangt werden. Die Wände sind mit Damasttapeten bekleidet, weiße Verzierung auf gelbem Grunde. Die Möbel, zwei Commoden mit goldenen Verzierungen und einem großen Blumenstrauß auf Porcellan gemalt, erregen ein wehmüthiges Gefühl im Beschauer, denn sie gehörten einst der Gemahlin Ludwig’s XVI., der unglücklichen Königin Antoinette, die auch im Tode sein Schicksal theilte. Eine betende Frau von Fräulein Marie Ellenrieder in Constanz und ein Bild, welches den jetzigen Kaiser Napoleon und seinen ältern Bruder als Cherubim darstellt, vollendet die Ausschmückung des kleinen Zimmers. Das in einer Nische stehende Bett ist das nämliche, in welchem die Königin starb. In dem anstoßenden Cabinetchen beschauen wir das Portrait der Kaiserin Josephine, die in eine schöne Gegend hinaussieht und das von Hortense selbst gemalte Bildniß der liebenswürdigen Madame de Broc. Dieselbe verunglückte am 10. Juni 1813 vor den Augen der Königin, als sie den Wasserfall von Gresy in Savoyen besuchte, in welchen sie hinunterstürzte und ertrank.

Der Kaiser ließ seiner Mutter in der Capelle auf Arenenberg von Bartolini in Florenz im Jahr 1845 ein Grabmal aus Alabaster setzen. Hortense ist knieend dargestellt, mit zum Gebet gefalteten Händen. Die ganze Capelle stimmt, klein wie sie ist, zur Andacht und Erhebung, im Einklang übrigens mit einer gewissen süßen Melancholie, die den ganzen Ort umweht.



Das Geheimniß des Indianers.
Nach Mittheilungen eines deutsch-amerikanischen Arztes.
(Schluß.)

Auf den steilen Höhen angelangt, auf denen sich die Silbermine befand, suchte Tawanka die Mündung des Schachtes auf und überzeugte sich bei dem ersten Blick, daß hier seit seiner letzten Anwesenheit etwas vorgegangen sei. Er sah eine Menge zerschlagenen Erzes umherliegen und fand auch zwischen dem Gestrüpp die Werkzeuge, welche Jones dagelassen hatte, weil er sich nicht damit hatte belasten wollen. Anfänglich wollte er seine Nachforschungen auch im Innern der Mine fortsetzen, doch stand er nach einigem Nachsinnen davon ab, da es ihm nur darauf ankam, jede Spur des Einganges wie überhaupt die ganze Localität vollkommen unkenntlich zu machen. Er war fest entschlossen, den verräterischen Yankee, der außer ihm selbst der einzige Mann nach Werner’s Tode war, welcher um das Geheimniß wußte, aufzusuchen und unter allen Umständen zu tödten, noch ehe dieser wieder Gelegenheit hätte, die Insel zu besuchen; denn wenn Jones seinen Landsleuten auch Mittheilungen über das Dasein der Silbermine gemacht hatte, so war doch nicht anzunehmen, daß diese ohne einen mit der Oertlichkeit vollkommen vertrauten Führer sich in einem solchen Labyrinthe von Klippen und nackten Felsschluchten zurechtfinden würden.

So ging denn Tawanka rasch an das Werk und fing damit an, die alte abgestorbene Schierlingstanne, welche auf dem sonst baumlosen Plateau als Merkzeichen hätte dienen können, in Brand zu setzen. Während die gierige Flamme den harzreichen Stamm, welcher wie eine Pechfackel aufloderte, bis auf die Wurzeln verzehrte, warf der Indianer zuerst die aufgefundenen Werkzeuge der weißen Männer in die Tiefe des Schachtes, dann sammelte er die [202] Reste des funkelnden Erzes, welche um die Mündung zerstreut umherlagen, und versenkte sie ebenfalls. Hierauf schüttete er Geröll und Steine in das Loch, bis es fast bis an den Rand ausgefüllt war, und endlich schleppte oder rollte er vielmehr einen mächtigen Felsblock herbei und schloß mit diesem den Eingang zur Mine so vollkommen und so täuschend, daß selbst das schärfste Auge nichts darunter gesucht hätte. Auch die drei Steine, mit welchen damals Werner die Stelle markirt hatte, entgingen seinen aufmerksamen Blicken nicht; er nahm sie und rollte sie einen steilen Abhang hinunter, wo dieselben in verschiedenen Richtungen auseinander flogen. Nachdem Tawanka diese anstrengende Arbeit vollbracht und sich noch einmal überzeugt hatte, daß auch nichts zurückgeblieben sei, was die Aufmerksamkeit nach Schätzen lüsterner Yankees erregen könne, schritt er nach der Stelle, wo jetzt statt des hohen und in die Augen springenden Baumgerippes nur ein großer Haufen Asche zu sehen war.

Als er darüber nachdachte, wie er diese wegschaffen könne, kam ihm der Zufall in Gestalt eines jener heftigen Stürme, wie sie selbst im Sommer am obern See so häufig sind, zu Hülfe. Es fing auf einmal heftig an zu wehen und der Wind, welcher mit ungemeiner Stärke über die kahlen Felsrücken hinfuhr, fegte die Asche wirbelnd durch die Lüfte, so daß nur einige Kohlenreste zurückblieben, welche der Indianer mit leichter Mühe nach verschiedenen Richtungen hin in dem Gestrüpp verbarg. Die Stelle selbst, wo der Baum gestanden hatte, war freilich durch das Feuer geschwärzt, aber er grub sie mit seinem Tomahawk um und rollte dann Steine darüber, so daß auch hier jeder Anhaltspunkt für etwaige Schatzgräber wegfiel.

Vom Sturme gepeitscht, stand Tawanka auf der steilen Klippe, an deren Fuße die Silbermine lag, und ließ seine dunkeln Auqen noch einmal über die wilde Gegend schweifen, während sein langes Haar aufgelöst im Winde flatterte. „Nie, nie,“ sagte er zu sich selbst, „sollen diese weißen Teufel des Indianers Schatz heben. Einmal, glaubte ich, hätte ich einen braven Weißen gefunden; er war ja kein Yankee und kam über das große Wasser von daher, wo die Weißen von ihren eigenen Häuptlingen mißhandelt werden. Aber auch er wurde angesteckt und brach, vom Gelddurst verzehrt, das Wort, welches er dem rothen Manne gegeben. Sein Herz war gut, aber seine Zunge war die eines alten Weibes. Doch wehe dem, der seine Zunge löste und ihn dann erschlug!“ Hier ertönte ein gewaltiger Donnerschlag und die ganze Gegend erschien bei dem Schein des züngelnden Blitzes wie von einem Feuermeer übergossen. „Ich höre dich, Manitou,“ fuhr der Indianer mit lauter Stimme fort, „du sprichst zu deinen rothen Kindern! Soll ich des weißen Schurken Scalp mir holen? Noch habe ich meine Hände in das Blut der Weißen nicht getaucht!“

Es folgte ein zweiter Donnerschlag, noch stärker als der erste, und erschütterte die Klippe, auf welcher der Häuptling stand, in ihren Grundvesten, während das elektrische Feuer die Insel bis zu den entfernten Ufern erhellte, deren Umrisse die weiße Brandung des aufgeregten Sees kennzeichnete.

„Ich verstehe dich, Manitou!“ rief Tawanka aus und stimmte sofort den monotonen, rauhen Kriegsgesang seiner Vorfahren in tiefem Gutturaltone an:

„Manitou hat mir die Kraft des Bären gegeben,
Fehlt mir auch Klaue und Gebiß, so habe ich Bogen und Pfeil.
Manitou hat mir die Kraft des Büffels gegeben,
Doch fehlt mir das Horn, so schwinge ich die Streitaxt.
Ich werde dich treffen mit der Gewalt des Blitzes!
Meine Stimme wird dir erschallen wie der rollende Donner!
Wie ein Wasserfall werde ich auf deinen Wigwam stürzen!
Deinen Scalp werde ich umtanzen und dann wird mein Himmel heiter!“

Die wilde Melodie dieser kriegerischen Verse absingend, stieg der Häuptling von der Klippe herab und schritt dann eiligst über die zackigen Bergrücken in die Ebene hinunter, von wo er sich leicht nach dem Lager zurechtfand. Auch hier wurden auf seinen Befehl alle Gegenstände und Spuren vertilgt, welche einem spätern Besucher der Insel die Vermuthung hätten einflößen können, daß hier jemals Menschen gehaust hätten, und nachdem Tawanka den Odschibbewas absolutes Stillschweigen über das, was sie gesehen, aufgelegt hatte, gab er das Zeichen zur Abfahrt. –

Nach wenigen Tagen finden wir den Indianer in Ontonagon wieder, wo er mit dem Halbblut Ambrose lange und geheime Unterredungen hatte. Letzterer hatte durch einen Missionär, mit welchem er in Verbindung stand, in Erfahrung gebracht, daß die Presse von Detroit eine Mittheilung gemacht hätte, welche in allen Städten der unteren Seen großes Aufsehen errege, nämlich „daß ein bedeutender Mineraloge, Namens Jones, irgendwo am oberen See ein mächtiges Silberlager entdeckt habe und damit umginge, eine Compagnie zur Ausbeutung desselben zu bilden. Sobald Herr Jones sein Vorkaufsrecht in dem Vereinigten-Staaten-Landbureau gewahrt haben würde, sollten die Arbeiten anfangen. Zu diesem Zwecke würde der glückliche Entdecker demnächst in Begleitung einer Gesellschaft von Ingenieuren nach dem neuen Eldorado aufbrechen.“

Wenn noch irgend Etwas fehlte, um die Thatsache festzustellen, daß der Yankee wirklich Werner’s Mörder war, so war es dieser Zeitungsbericht, den Ambrose, welcher die Verbindung Tawankas mit der civilisirten Welt unterhielt, sich des bessern Verständnisses wegen zweimal von dem Missionär hatte vorlesen lassen, ohne daß der fromme Herr eine Ahnung davon bekam, daß er dadurch dem Rachedurste des Indianers Vorschub leistete. Letzterer sah ein, daß er Jones zuvorkommen müsse, ehe derselbe mit seinen Landmessern an der Insel lande, und deshalb entschloß er sich, ihn an einem Punkte aufzusuchen, den er nothwendiger Weise auf seinem Wege von den unteren Seen her berühren mußte. Mit dieser Absicht begab er sich, nur von zweien seiner besten Leute begleitet, die er mit seinem Vorhaben bekannt gemacht hatte, nach Mackinaw, um dort die erwünschte Gelegenheit abzupassen.

Im ganzen Nordwesten giebt es keinen romantischeren und schöneren Ort, als die kleine Stadt Mackinaw, auf der Insel gleichen Namens gelegen. So kalt wie das Klima der Insel im Winter ist, wo deren Gestade Meilen weit von einem klafterdicken Eisgürtel eingeschlossen sind, so mild und gesund ist dieses im Sommer, so daß Tausende aus südlichern Breiten hierher eilen, um durch das Einathmen der fortwährend durch frische Seebrisen in Bewegung gesetzten Luft ihre Nerven zu stärken und die schleichenden Fieber abzuschütteln, welche ihnen im Mississippithale das Mark verzehrten. Dann sind alle Hotels mit Fremden gefüllt, deren Luxus und modische Trachten gar sehr von dem primitiven Costüm und den buntfarbigen Decken der Indianer abstechen, welche hier am Fuße des Felsens, auf welchem das Fort liegt und die Vereinigte-Staaten-Flagge weht, ein malerisches Dorf bewohnen, dessen braunrothe Birkenrinden-Wigwams von mächtigen Eichen und Tannen beschattet sind.

Auch die Seele des ganzen socialen Lebens in Amerika, der Handel, fehlt nicht in Mackinaw, denn hier pflegen alle großen Dampfer, welche von den untern Seen, d. h. von Buffalo, Cleveland und Detroit nach dem Michigan- oder Obern See segeln, eine kurze Zeit anzulegen und umgekehrt alle Schiffe, welche von dem reichen Chicago, dem aufblühenden Milwaukie und durch den St. Mariencanal in entgegengesetzter Richtung steuern. Der Segelschiffe, welche hier vom Ende Aprils an bis zu Anfang Novembers die Meer- oder besser Seeenge passiren, sind unzählige, von dem stolzen Dreimaster herunter bis zur einmastigen Schaluppe, und schwerlich wird sich in der alten Welt, selbst den Sund nicht ausgenommen, eine Wasserstraße finden, welche sich um diese Jahreszeit an Frequenz und Großartigkeit des Verkehrs mit der Straße von Mackinaw messen könnte.

Daß es an einem solchen Orte, wie Mackinaw, wo täglich eine Menge Dampfer landen, um Passagiere auszusetzen und einzunehmen, außerordentlich schwer sein mußte, eine einzelne Person herauszufinden, schreckte Tawanka nicht ab. Da außer den Amerikanern, welche ihrer Gesundheit wegen sich den Sommer über auf der Insel aufzuhalten pflegen, und den eingeborenen Indianern noch eine Menge Rothhäute aus den benachbarten Missionen, welche dem Fischfange oblagen, am Hafendamme des Städtchens herumlungerte, so war es dem Häuptling der Odschibbewas ein Leichtes, sich unerkannt in den großen Haufen von Menschen zu mischen, der jedesmal, wenn ein Packetboot anlegte, nach dem Ufer eilte, um die angekommenen Fremden zu mustern. In seine gestreifte Decke gehüllt und das Gesicht mit dem um die Stirn geschlungenen Shawl halb verdeckt, stand er stumm unter den Neugierigen und strengte, anscheinend theilnahmlos, seine Falkenaugen an, um die verhaßten Züge seines Feindes unter den Weißen, welche täglich in Mackinaw, wenn auch nur für kurze Zeit, ausstiegen, zu erkennen. So konnte man ihn Tag für Tag am Hafendamme stehen sehen, ohne daß er mit Jemand anders verkehrte, als mit den beiden Odschibbewas, welche ihm nach Mackinaw gefolgt [203] waren. Diese aber bemerkte man öfters, wie sie in einem kleinen, flinken Canoe die Insel umkreuzten und dann zuweilen an irgend einer einsamen Stelle des Ufers landeten, um dort unbeobachtet ein leises Gespräch mit ihrem Häuptling zu führen.

Es war an einem Sonntag Morgen, als der dem Leser schon bekannte Dampfer Saratoga, ein regelmäßiges Paketboot für den Oberen See, in den Hafen von Mackinaw einlief. Das Schiff hatte unterwegs einen kleinen Unfall gehabt, da an der Maschine Etwas zerbrochen war, und mußte deshalb einige Stunden länger als gewöhnlich anhalten, um den Schaden auszubessern. Diesen Aufenthalt wollten die Passagiere nicht unbenutzt lassen und so strömten sie denn über die Landungsbrücke an das Ufer, um die Stadt und deren malerische Umgebungen in Augenschein zu nehmen. Während der größte Theil der Ankömmlinge die steile Höhe erklomm, wo das alte Fort liegt und von wo man eine entzückende Aussicht über den Huron- und Michigan-See und die waldgekrönten Inseln der Enge genießt, blieb eine andere Gruppe am Hafendamm stehen, gleichsam unschlüssig, wohin sie sich wenden sollte. Ein Herr in elegantem Reiseanzuge schien das Factotum der Gentlemen zu sein, welche, rings um ihn stehend, die Meinung äußerten, daß sie gern Willens seien, sich seiner Führung anzuvertrauen.

„Ich mache den Vorschlag,“ sagte einer der Passagiere, „daß Mr. Jones, der schon öfters in Mackinaw gewesen ist und die Localität kennt, damit beauftragt wird, uns die Merkwürdigkeiten des Platzes zu zeigen.“

„Angenommen!“ riefen die Andern.

„Ich werde mein Bestes thun, Ihren Wünschen zu entsprechen,“ erwiderte Jones – denn der eben erwähnte Führer war Niemand anders, als der Mörder des deutschen Bergmanns. – „Sie müssen wissen, Gentlemen, daß das Schönste und Interessanteste hier bei Mackinaw die berühmte Felsenbrücke ist. Sie ist die höchste und längste in der Welt und übertrifft die bekannte virginische bei Weitem. Wenn Sie es wünschen, so engagiren wir einen Bootsmann und lassen uns auf der Stelle hinfahren, damit wir rechtzeitig wieder an Bord der Saratoga sein können.“

Dieser Vorschlag wurde sofort von der Gesellschaft acceptirt, und wenige Minuten später fuhr dieselbe auf einer kleinen Segelschaluppe am felsigen Strande der Insel hin, um das gerühmte Naturwunder vom Wasser aus zu betrachten. Kaum war das Boot eine halbe Meile unterwegs, als ein winziges Birkencanoe, von drei Indianern gerudert, aus einer kleinen, versteckten Bucht hervorschoß, sich dicht am Ufer haltend, derselben Richtung folgte und in unglaublich kurzer Zeit den Vorsprung gewann. Da, wo das kolossale Felsenthor seinen gigantischen Schatten über die unter ihm wogenden Gewässer wirft, verschwand es im Dunkel der Bäume, welche dicht am Saume des Strandes ihre Aeste weit über die sich kräuselnden Wellen hinausstrecken.

Nichts kann das Erstaunen und die Bewunderung übertreffen, mit welcher jetzt die Begleiter Jones’ diesen großartigen Bau der Natur betrachteten, als sie sich auf ihrem langsamern Fahrzeuge von der Seeseite her näherten. Die aus Kalkstein-Conglomerat bestehende Brücke zeigt sich von dem Wasser aus wie eine ungeheuere, knorrige Baumwurzel, welche in einer Höhe von zweihundert Fuß sich über einen Seearm spannt, der wohl einen Büchsenschuß breit ist. In der Mitte wird sie so schmal, daß sie von unten wie ein mäßig dicker Zimmerbalken erscheint und daß es einem schwindelt, wenn man die leichtfüßigen Jäger der Insel darüber wegschreiten sieht.

Nachdem die Gesellschaft von der Saratoga, in stummem Anschauen versunken, die Felsenbrücke eine Zeit lang von unten aus betrachtet hatte, machte Jones, der sich gern als Ortskundigen ausweisen wollte, den Vorschlag, das Boot an’s Ufer zu legen; er wolle dann die Gentlemen auf einem ihm bekannten Pfade auf das Plateau führen und von da auf das Thor selbst, denn von diesem Standpunkte aus habe man die ganze wundervolle Straße von Mackinaw zu Füßen.

Eine Viertelstunde später war die Gesellschaft auf der mühsam erstiegenen Höhe angelangt und schickte sich eben an, den nächsten Theil der Felsenbrücke zu betreten, der hier, dicht am Plateau, breit genug ist, so daß man ohne Gefahr eine Strecke weit darauf fortschreiten kann. Da fiel es einem der Gentlemen, der, wie alle Amerikaner, von dem Geiste des Wettens beseelt war, wenn es sich darum handelt, irgend einen waghalsigen Sport auszuführen, auf einmal ein, die Frage aufzuwerfen, ob sich wohl einer der Anwesenden getraue, die ganze Spannweite des Thores zu überschreiten.

„Ich wette fünfzig Dollars, daß es Niemand wagt!“ rief er aus.

„Sagen Sie hundert, und ich acceptire,“ antwortete sofort Jones, der sich auf seine körperliche Gewandtheit nicht wenig einbildete und, weil er schon bei einem frühern Aufenthalt in Mackinaw dies Wagestück ausgeführt hatte, sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen wollte, seiner eigenen Eitelkeit zu fröhnen und dabei ein gutes Stück Geldes zu verdienen.

„Das ist mir fast zu viel,“ erwiderte der erste Herr, „doch, wenn ich auch keine Silbermine besitze, wie Mr. Jones, so will ich doch die hundert Dollars riskiren. Ich wette also noch einmal, daß Mr. Jones es nicht wagt, die ganze Brücke zu überschreiten.“

„Und ich wette, daß ich von einem Ende zum andern auf meinen zwei Füßen gehen werde, und zwar aufrecht, wie ein Seiltänzer,“ prahlte Jones. Dann übergab er einem der Herrn zehn Golddollarstücke als seinen Einsatz; das Gleiche geschah von der Gegenpartei, und die Anwesenden wären keine Amerikaner gewesen, wenn sie sich nicht sämmtlich in größere und kleinere Wetten für oder gegen den improvisirten Blondin eingelassen hätten.

Die Gesellschaft folgte nun dem kühn voranschreitenden Jones auf der Felsenbrücke bis dahin, wo diese sich plötzlich von beiden Seiten verengt und zu einem kaum zwei Fuß breiten, knorrigen Strang zusammenschmilzt, der sich in der Länge von weit über zweihundert Fuß nach dem andern Ufer hinüberzieht und dort von ihm weitentgegenkommenden kolossalen Steinschichten gestützt wird. Während jetzt der verwegene Mann behutsam und anscheinend sicher über die gefährliche Stelle schritt und Aller Augen unverwandt auf ihn gerichtet waren, schoß auf einmal unter den Bäumen, welche das Ufer einsäumten, ein kleines Canoe hervor und näherte sich fast unbemerkt dem gewaltigen Bogen, mit welchem das Felsenthor den Seearm überspannt. Noch ein paar gewaltige Ruderstreiche, und es befand sich gerade unter der Stelle, wo die Figur Jones’ fast thurmhoch über den schwarzen Gewässern schwebte. Die beiden Indianer, welche die Führung des Canoes hatten, brachten dasselbe durch eine geschickte Bewegung zum Stillstand, und die Gestalt eines dritten, welcher bis dahin, in seine Decke vermummt, am Boden des Nachens gesessen, richtete sich wie durch Zauber in die Höhe. Diese unerwartete Erscheinung kam den Begleitern Jones’ einigermaßen befremdend vor, jedoch ahnten sie nicht eher die Gefahr, in welcher sich ihr Genosse befand, als bis dieser, von seiner Höhe hinunterblickend, den Häuptling erkannte und, von plötzlichem Schrecken ergriffen, zu straucheln anfing. Mit zitternden Knieen blieb er einige Secunden lang stehen, unschlüssig, was er in dem Augenblick thun solle, als er aber in den Händen Tawanka’s den Lauf einer Büchse blinken sah, kam er auf den einzig möglichen Gedanken der Rettung und wollte sich platt auf den schmalen Felsgrat niederwerfen, um so dem Schusse zu entgehen.

Doch es war zu spät! Tawanka hatte die kurze Pause dieser Unentschiedenheit benutzt. Ein Schuß dröhnte über das Wasser und das tödtliche Blei hatte den Feind erreicht. Der schwer getroffene Jones versuchte es freilich, sich anzuklammern, aber seine krampfhaft ausgestreckten Finger fanden keinen Halt mehr an dem harten Gestein, und so rollte er, einen furchtbaren Schrei der Verzweiflung ausstoßend, über die abhängige Kante des Felsgrats. Sein Fall von dieser Höhe war schwer, wie der eines Bleigewichts, und die Wellen bäumten sich hoch auf, als sein Körper mit der Geschwindigkeit eines Pfeiles untertauchte, so daß das Canoe, welches rasch auf die Stelle zuschoß, in ein heftiges Schwanken gerieth.

Einen Augenblick später sahen die von Schrecken gelähmten Begleiter Jones’, wie die Indianer die Leiche, welche inzwischen wieder aufgetaucht war, an ihr Fahrzeug zogen und wie derjenige von ihnen, welcher den Schuß abgefeuert, dieselbe im Umsehen scalpirte und die blutige Kopfhaut, seinen Kriegsgesang anstimmend, an dem Gürtel befestigte. Ehe man zu einem Entschlusse kommen konnte, hatten die Odschibbewas schon wieder ihre Ruder ergriffen und trieben ihr Canoe mit einer rasenden Schnelligkeit aus dem Seearme hinaus, von wo sie die Richtung nach dem Festlande von Michigan einschlugen und, um einen Vorsprung der Küste biegend, in kurzer Zeit aus dem Gesichte verschwanden.



[204] Die blutige That Tawanka’s erregte in Mackinaw einen allgemeinen Schrei der Entrüstung, und die Behörden des Ortes ergriffen schleunigst energische Maßregeln, um des mysteriösen Mörders habhaft zu werden, indessen verloren sie bald dessen Spur, da die ausgeschickten Beamten, denen man einige Chippewas von der Insel mitgegeben hatte, die alle Schlupfwinkel der Umgegend genau kannten, unverrichteter Sache zurückkehren mußten, weil sie auf offenem See von einem heftigen Sturme überfallen wurden, der ihr Boot unaufhaltsam nach Mackinaw zurücktrieb. Erst nach Verlauf einiger Jahre wurde der Häuptling in Ontonagon verhaftet, wohin er sich begeben hatte, um von dort aus die Gräber seiner Väter zu besuchen, denn die Sehnsucht nach den alten Wohnsitzen ist bei den Indianern oft unwiderstehlich. Sein alter Freund, der Canadier, der nicht vermuthen konnte, daß Tawanka jemals zurückkehren würde, hatte aber in seiner angeborenen Plauderhaftigkeit den Bewohnern des Städtchens gegenüber schon öfters geäußert, daß Niemand anders der Mörder Jones’ sein könne, als der Häuptling, der aus ihm unbekannten Gründen dem Yankee Rache geschworen habe. So wurde Ambrose wider seinen Willen zum Verräther an dem Indianer. Als dieser von dem Sheriff verhaftet wurde, machte er durchaus keinen Versuch, die That zu leugnen; er legte im Gegentheil ein offenes Geständniß ab, indem er behauptete, einen Act der Gerechtigkeit geübt zu haben. Vergebens bot man ihm Leben und Freiheit an, wenn er Landmesser der Regierung nach der Silberinsel führen wolle; die glänzendsten Versprechungen waren nicht im Stande, ihm das Geheimniß zu entreißen. Ruhig und gelassen hörte er sein Todesurtheil an und ebenso resignirt schritt er nach der Richtstätte, wo ihn die verhängnißvolle Schlinge erwartete.




Noch einmal der Meister des „Freischütz“.

Als Carl Maria von Weber durch seinen „Freischütz“ sich schon längst den glänzendsten Ruhm, die Verehrung und Liebe der ganzen deutschen Nation erworben hatte und in Berlin eben seine „Euryanthe“ einstudirte, kam sein damaliger Chef, der Intendant und Kammerherr von Lüttichau, daselbst an und wohnte mehreren Proben bei. Der Cavalier war im höchsten Grade befremdet von der allgemein offen und laut Weber entgegengebrachten Verehrung, der wahrhaften Huldigung, mit der sich ihm nicht allein geistige, sondern auch höchste Vornehmheiten der Geburt näherten. Als er mit Weber und Lichtenstein das Theater nach der zweiten Generalprobe verließ und sah, daß nicht allein das Personal allenthalben vor dem Meister ehrerbietig den Hut zog, sondern sogar das Publicum, das sich, um Weber zu sehen, vor dem Ausgange versammelt hatte, das Haupt entblößte, rief er aus: „Weber, sind Sie denn wirklich ein berühmter Mann?!! – –“

Und doch verwendeten sich Männer, die den Genius zu schätzen wußten, für die Verleihung des Civil-Verdienst-Ordens an Weber bei dem damaligen Minister von Einsiedel zwei Mal vergeblich. Dieser Minister, Graf Detlev von Einsiedel, hatte überhaupt ganz eigene Begriffe von dem, was des Menschen Würde bestimmt. Als es sich am sächsischen Hofe darum handelte, dem nach Kopenhagen zurückgekehrten Thorwaldsen einen Orden zu verleihen, wurde auf Einsiedel’s Betrieb die Classe desselben lediglich nach des unsterblichen Meisters Rang als dänischer Staatsrath bestimmt, und als Grund für die Verleihung des Ordens bezeichnete man nicht den Wunsch, dem der Welt leuchtenden großen Kunstverdienste zu huldigen, sondern des Meisters Verdienst und Bemühung – beim Unterricht zweier junger Sachsen!!!

Wenn aber seltsamer Weise ein Theil des Hofs und Adels in Dresden – denn schöne Ausnahmen gab es auch da – die Ehre, welche ihnen der Besitz eines solchen Genius verschaffte, nicht zu würdigen verstand, so wurde der Meister reichlich für die Nichtbeachtung entschädigt durch die Liebe und Verehrung, welche ihm von Hoch und Gering gezollt wurde, sobald er außerhalb des Weichbildes von Elb-Athen sich blicken ließ.

Als der Maestro auf seiner Reise nach Bad Ems in Wiesbaden bei Tafel saß, begegnete ihm folgendes anmuthige Abenteuer, das er seiner Gattin berichtet:

„Es saß ein Dr. Horn neben mir, ein höchst gebildeter Mann und großer Musikfreund. Nachdem wir über Literatur und viele Dinge recht interessante Gespräche geführt hatten und er bemerkte, daß ich aus Sachsen sei und daß er früher in Leipzig studirt hatte, so frug er mich nach tausend Dingen. Die Tafelmusik brachte dann endlich das Gespräch auch auf den Freischütz etc. Ich wich auf’s Künstlichste allen Fragen aus, die mich hätten verrathen können, bis denn endlich der Mann ganz erstaunt, mich in Allem so zu Hause zu wissen, nach meinem Namen frug; nun, das ist ein ehrlicher Name, und ich konnte also nicht verschweigen, daß ich Weber heiße. ,Weber?’ rief er ganz gespannt, ‚Gottfried Weber?’ ‚Nein,’ sagte ich. – ‚Also aus Berlin?’ – ‚Der ist lange todt.’ – ,Also –’, mit einer Pause, wie Jemand, dem ein freudiger Schreck den Athem verhält, ,doch nicht –’ – ‚Carl Maria von Weber,’ sagte ich ganz ruhig, indem ich mir einschenkte. – Da hättest Du sehen sollen, wie der Mann, wie vom Donner gerührt, fünf Minuten unbeweglich still und starr saß und endlich, indem ihm die Augen feucht wurden, ganz andächtig still sprach: ,Was hat mich Gott für ein Glück erleben lassen!’ – Du weißt, liebe Lina, daß die größten, dicksten Weihrauchwolken weder meine Nase kitzeln, noch meinen Sinn afficiren. Aber hier, ich gestehe es, mußte ich dem Schöpfer innig ergeben danken, daß er mir Macht gegeben, so tief eines guten Menschen Herz zu ergreifen, und daß wohl kein besserer Lohn mir je wieder geboten werden wird.“

„Weber, sind Sie denn wirklich ein berühmter Mann?!“ Nun, so fragte schon zu jener Zeit außer Dresden wenigstens kein gebildeter Mensch deutscher Nation mehr. Hat doch nach Mozart kein Operncomponist die allgemeine Gunst der musikalischen Welt in vollerem Maße gewonnen, als unser Meister. Seine Werke sind bekannt und leben fort auf den Bühnen, im Concertsaale, im Haus und in den Herzen aller echten Musikfreunde.

Von seinem äußeren Leben hingegen und von dem inneren Getriebe seines Geistes, von den Leiden und Freuden seines Herzens, von dem Menschen Carl Maria von Weber, wußte man bisher so gut wie nichts. Die mitgetheilten wenigen Züge werden das dem Leser schon gezeigt haben.

Die Erscheinung der von seinem Sohne geschriebenen Biographie des Meisters[2] mußte daher seinen zahlreichen Verehrern höchst willkommen sein. Nun kommt mir aber bei allen Memoiren und Lebensbeschreibungen jedesmal gleich die fatale Frage: wird darin die unbedingte Wahrheit zu vernehmen sein? Von einem Autobiographen wenigstens, das steht fest, ist sie nicht ohne mannigfache Modifikationen zu erwarten. Es giebt keinen Menschen ohne Schwächen und Fehler, und keinen, der sich durch das ungeschminkte Geständniß derselben in den Augen seiner Zeitgenossen oder der Nachwelt wirklich herabsetzen möchte. Dergleichen wird daher entweder verschwiegen, oder wenn es bekannt und nicht zu leugnen ist, in einer Weise dargestellt, daß es nicht als freie That des Charakters, sondern als Nöthigung unbesiegbarer Umstände und damit entschuldbar erscheint. Glaubwürdiger kann eine Lebensbeschreibung durch einen Andern gerathen, vorausgesetzt, daß dieser im Besitz aller Materialien dazu ist, Geist genug hat, um in alle Tiefen seines Objects einzudringen. und Muth genug, alles Gesehene rücksichtslos darzustellen. Dürfen wir aber eine solche Biographie von Max Maria von Weber, dem Sohne des Meisters, erwarten? Leichter gesteht ein edler Mensch seine eigenen Schwächen ein, als daß er die Schwächen seiner Angehörigen der Welt preisgäbe. Es war aber schon a priori anzunehmen, daß auch das Leben unseres Meisters nicht lauter Licht sein werde. Denn wie es überhaupt keinen vollkommenen Menschen giebt, so ist ein solches Exemplar auch unter den Künstlern nicht und um so weniger zu finden, als die unerläßlichen Eigenschaften des Genius zur Hervorbringung echter Kunstwerke, glühende Einbildungskraft, reizbares Gefühl, starke Sinnlichkeit, zugleich gefährliche Eigenschaften für das sittliche Leben sind und die Künstler überdies gern die Meinung hegen, ihnen sei etwas mehr nachzusehen, als andern Menschenkindern.

[205]

Die Königin Hortense.
Nach dem früher auf Arenenberg befindlichen Oelgemälde von Gerard.
(S. „Der neue Cäsar und seine Mutter“.)


Unser Biograph hat sich indeß entschlossen, die reine, blanke, ungeschminkte Wahrheit überall zu geben, und dies ist der problematischste Punkt seines Buches, über den sich auch die Kritik, soviel uns bekannt geworden, einstimmig tadelnd ausgesprochen hat. Und doch gerade hierin ist sie, unserer Meinung nach, vollständig irre gegangen, was nicht unschwer zu beweisen sein wird. Carl Maria von Weber hat nämlich in Stuttgart eine etwas leichtfertige Jugendperiode gehabt und dem Vater desselben sind zu dieser Zeit einige Handlungen passirt, welche vor einer strengen Moral wohl die Augen niederschlagen mußten. Diese Punkte hat der berühmte Meister niemals, weder mündlich noch schriftlich, selbst seiner Familie gegenüber nicht berührt, er hat sie absichtlich der Vergessenheit überliefern wollen, und da sie auch bis zur Erscheinung der Biographie völlig unbekannt waren, so haben nun Manche aus der Enthüllung derselben dem Sohne den Vorwurf der Impietät gemacht und gemeint, auch er hätte sie in ihrem Dunkel ruhen lassen sollen.

Mir scheint im Gegentheil gerade in dieser Offenherzigkeit ein großer Vortheil für das ganze Buch zu liegen, ein großer Nutzen zugleich für viele Menschen überhaupt und Künstler insbesondere, und endlich eine wahrhafte Verherrlichung Carl Maria von Weber’s selbst. Die Fatalitäten, in welche der Meister in Stuttgart gerieth, konnten künftigen Forschern kein Geheimniß bleiben, denn es liegen Acten, Rescripte und dergleichen darüber in den Archiven vor, die ja, wie der Sohn sie gefunden hat, auch von Andern hätten gefunden werden können. In solchem Falle wäre aber dann dem Sohne die unterlassene Bekanntmachung solcher Umstände sicherlich als eine größere Sünde angerechnet worden, als jetzt deren Mittheilung, und sein Buch hätte den unschätzbaren Hauptvortheil seines Werthes unfehlbar eingebüßt: den der Treue und Glaubwürdigkeit. Denn wer einmal die Wahrheit verschweigt oder bemäntelt, dem kann man überall mißtrauen. Bei der Lectüre dieses Buches gewinnt man aber bald die Ueberzeugung, daß es keine Seite enthält, wo man zwischen die Zeilen lugen müßte, um die Wahrheit erst herauszuconjecturiren. Außerdem spricht sich der Autor mit einer solchen kühnen Freimüthigkeit über alle in dieser Biographie auftretenden Personen bis zu den höchsten hinauf aus, über Adel und Fürsten und über alle die faulen Zustände jener Zeit, – wo wäre ihm das Recht dazu hergekommen, wenn er seine eigenen Angehörigen hätte schonen und ihre Schwächen verschweigen oder in’s Schöne hätte malen wollen? Wie hätte er seines Vaters Schwächen in Stuttgart übergehen dürfen, wenn er über den regierenden Fürsten und den Adel daselbst Stellen hinschreibt, wie, um nur ein Beispiel anzuführen, die folgende?

„Zu gleicher Zeit fraßen des Herzogs (Carl v. Würtemberg) unsinnige Feldzüge, die rasende Verschwendung, mit der er seiner Leidenschaft für Jagd und Theater fröhnte, die Einkünfte des Landes, die zum großen Theil für diese Zwecke designirt, in einem außerordentlich starken Procentsatze, auf Seitencanälen von ihren Zwecken abgelenkt, in die Hände gemeiner Günstlinge flossen, welche sich nicht schämten, die Früchte eines schamlosen Drucks zu genießen, und jüdelnd den Ertrag des Judashandels mit dem Marke des Landes einstrichen. Die Uebertreibungen in des Herzogs Gelüsten; die Seen mit gewärmtem Wasser zu seinen Wintersumpfjagden; die wochenlang dauernden, halbe Quadratmeilen Ackerland verwüstenden, Krankheit und Elend über die Tausende armer, zum Treiben gepreßter Bauern verbreitenden Sauhetzen; die selbst Kaiser Joseph’s Staunen erregenden Aufführungen auf seinen Theatern zu Ludwigsburg und Stuttgart; das luxuriöse Ballet; die ungeheuern Gagen der Tänzer und Sänger; der unsinnige Hofstaat, in dem zwanzig fremde Fürsten und Grafen, ein Heer von adligen Damen diente und in den prächtigsten Hofanzügen und Livreen glänzte; die Orangengärten zu Ludwigsburg; die Tonnen Goldes kostenden Feuerwerke des Italieners Veronese etc. wären sämmtlich den Lüsten des Herzogs schmeichelnde Ausgeburten ihrer Speichelleckergehirne. – In den Sphären eines solchen Regiments war das grausame Schicksal Moser’s, Huber’s, Lenz’s und Schubart’s eine natürliche Pilzvegetation der allgemeinen Fäulniß.“

Außer dem angegebenen Grunde für das Vertrauen in die Wahrhaftigkeit des Autors, verwandelt sich aber bei näherer Prüfung die sogenannte Impietät des Sohnes in eine wahre Verherrlichung des großen Vaters.

In Verirrungen zu gerathen ist bei einer heißblütigen Jugend und genialen Natur, sowie bei der Neigung der Menschen überhaupt, ihren Trieben und Leidenschaften die Zügel schießen zu lassen, eine alltägliche Erscheinung. In sich zu blicken dagegen, sein Thun, und wohin es führen könne, zu prüfen, die gefährliche Bahn zu erkennen, den Entschluß zu fassen dieselbe zu verlassen, diesen Entschluß gegen alle dawider streitenden reizenden Verlockungen konsequent durchzusetzen – dazu vermögen sich nur wenige Menschen zu erheben. Carl Maria von Weber kam bald zur Erkenntniß seiner jugendlichen Thorheiten und überwand sie vollständig. Diese schöne Peripetie in dem Leben des Meisters stellt nun seinen Charakter nur um so höher. Und gerade diese große sittliche That wäre durch Vertuschung seiner Jugendschwächen nicht zur Kenntniß der Welt gekommen. Es ist aber für den Menschenfreund nicht gleichgültig, ob solche seltene Erscheinungen am Künstler übergangen oder an’s Licht gezogen werden. Individuen, die Großes vollbracht, sind für Andere Autoritäten, die zur Nachahmung reizen, und was ist der Nachahmung würdiger und das Glück der Menschheit fördernder und sichernder, als die Bezwingung seiner selbst?

Und eine weitere Lehre predigt dieser Fall speciell für die Künstler noch, die nämlich: daß man ein Genie sein und ein großer Künstler werden kann, ohne sich der Widerlichkeit und Sittenlosigkeit zu überlassen. Carl Maria von Weber hat seine schönsten, größten und genialsten Werke in der Periode seines Lebens geschaffen, in welcher er auch das Muster eines rechtschaffenen, sittenreinen, normal vernünftigen Menschen war, in den Augen der Ueberschwänglichen freilich ein wahrer Philister, der [206] z. B. seine Einnahmen und Ausgaben – gleich Schiller, wie dessen jetzt veröffentlichte Kalender beweisen – bis zu Heller und Pfennig regelmäßig aufschrieb, seine früher contrahirten Schulden bezahlte, und was dergleichen gemeine Verrichtungen mehr sein mögen, die manche große Geister mit Verachtung betrachten.

Das Leben Carl Maria von Webers von seiner Geburt bis zu dem Punkte, mit welchem der erste Band schließt, war ein Leben voller Unruhe, Mühen, Sorgen, Irrfahrten, Kränkungen, leidenschaftlicher Erregungen und – was nicht zu den geringsten Leiden der echten Künstler zählt – öfterer Zweifel an seinem Talent. Sie gehen in Folge der überaus lebendigen und anschaulichen Darstellung in den Leser über: er muß Alles mit durchleben, Alles mitempfinden. Der Autor hat aber mit weiser Absicht und großem Geschick den Stoff so geführt und geordnet, daß die Erzählung im ersten Bande mit zwei höchst erfreulichen Ereignissen schließt, mit der Lösung zweier Knoten, die, wie des Meisters bisheriges Dasein, so den theilnehmenden Leser spannten und beunruhigten. Die Verbindung mit seiner Auserwählten, der sich vielfache äußere und innere Hindernisse entgegenstellten, entscheidet sich, und seine bisher ungewisse und meist sorgenvolle Existenz wird durch die ehrenvolle Berufung zum königlich sächsischen Capellmeisier in Dresden für die ganze Zukunft gesichert. Dabei wird nun dem Leser so wohlig zu Muthe, als hätte er mit einem geliebten Freunde eine lange, gefahrvolle Fahrt auf stürmischem Meere bestanden und als wäre er nun mit ihm in den ruhigen Hafen eingelaufen, wo eine sichere Heimath und eine holde Gattin den Künstler-Odysseus empfangen und beglücken.

Wie aber in einem guten Roman der Eintritt einer glücklichen Schicksalswendung des Helden sich im Verfolg der Erzählung bald als eine trügerische erweist, ihm neue, stärkere Hindernisse und Gefahren entgegentreten, schwerere Verwickelungen ihn umschlingen, so auch stellt sich das Leben unseres Meisters im zweiten Bande keineswegs als ein ruhig behagliches heraus, empfingen ihn vielmehr fast vom ersten Tage seiner Ankunft in Dresden doch Kämpfe aller Art. Seine Anstellung war vielen höheren und geringeren Personen mißliebig. Die Kabale begrüßte ihn gleich bei seinem Eintritt in die Residenz und enthüllte dem ehrlichen Manne die ganze Schlüpfrigkeit des Bodens, auf den er hier trat, das häßlich Irisirende der Charaktere höchst einflußreicher Persönlichkeiten und die Natur der Mittel, die man anzuwenden entschlossen schien, um sein Wirken möglichst „unschädlich“ zu machen, in fast erschreckender Weise. Als „Capellmeister“ war er berufen worden; das Anstellungsrescript gab ihm nur den Titel „Musikdirector“. Man wollte ihn dem intricaten Italiener Morlachi unterordnen. Sie hatten sich indessen getäuscht. In dem kleinen, schwächlichen, unansehnlichen Körper wohnte ein starker Geist, und sie sollten bald sehen, daß sie es mit einem Manne zu thun hatten, mit dem man nicht spielen und spaßen konnte. Er wollte nach dieser Perfidie sogleich wieder abreisen. Durch den damaligen Intendanten Vitzthum, einen edlen Cavalier und wahren Freund Weber’s, wurde die Sache vermittelt, ihm der gebührende Titel und lebenslängliches Engagement zugesichert.

Wenn man daran denkt, wie der große, edle, geistvolle Carl August von Weimar seine Dichter ehrte, seinen Goethe wahrhaft brüderlich liebte und seinem stolzen hochadeligen Hofgesinde den Respect für jene gottbegabten Geister beizubringen verstand, und wenn man damit die Behandlung Webers seiten vieler hohen und höchsten Personen in Dresden vergleicht: so läßt sich kaum begreifen, wie so durchaus verschiedene Ansichten über Künstlerwerth zu derselben Zeit zwischen zwei Höfen, die so nahe Nachbarn waren, herrschen konnten.

Haben die wenigen Züge, welche wir aus dem Buche mitgetheilt, den Leser sicherlich schon nicht wenig interessirt, so dürfen wir nun mit vollster Ueberzeugung aussprechen, daß in den beiden sehr umfangreichen Bänden keine Seite vorkommt, über welche man mit einer gleichgültigen Empfindung hinüberschlüpfen könnte. Diese überall aushaltende, ja sich immer steigernde Anziehungskraft liegt aber einmal in der außerordentlichen Mannigfaltigkeit der vorüberziehenden Momente, sodann in der im Allgemeinen so lebendigen, geistreichen und anschaulichen Darstellung derselben. Jedenfalls bietet das Werk eine Lectüre, die nicht allein höchst interessant und belehrend für den Kunstjünger, den Kenner, den Musikfreund, sondern dies alles auch für jeden Gebildeten überhaupt ist.




Die Speisung der menschlichen Maschine.
Warum und Was wir essen müssen.

Wenn man ein Stück Eisen hämmert, so wird es heiß, wie jedes Kind weiß, und wer’s versteht, kann es durch Hammerschläge sogar schmiedbar, ja selbst glühend machen. Es weiß ferner jedes Kind, daß Wasser kochend wird, wenn man ein glühendes Eisen in dasselbe taucht, und daß der Wasserdampf Maschinen treibt. Was nun aber die allermeisten Erwachsenen nicht wissen dürften, ist, daß diese erhämmerte Wärme, wenn man durch dieselbe Wasser in Dampf verwandelt, gerade eine solche Menge Dampfes erzeugt, als zur Bewegung eines Hammers an einer Maschine hinreicht, der durch seine Schläge das Eisen wieder so warm macht, wie es vorher war. – Natürlich muß hier die Wärme mit eingerechnet werden, welche durch Abkühlung des Eisens an der Luft verloren geht, und der Theil der Kraft, welchen die Maschine durch die Reibung etc. verliert. Denn von der Kraft, welche eine Maschine in Bewegung setzt, verrichtet immer blos ein Theil wirklich Arbeit, während ein anderer bei der Bewegung der Maschine verloren geht. Man nennt jenen erstern Theil die arbeitende oder lebendige Kraft.

Was hat nun aber diese Schmiedegeschichte mit unserer Ernährungs- und Nahrungsmittelfrage zu schaffen? Sehr viel; sie soll uns nämlich den innigen Zusammenhang aller Naturerscheinungen, wo es auch sei, in der Werkstatt des Handwerkers, wie in der Werkstatt unseres eigenen Leibes, zeigen. Sie wird uns lehren, daß von einer vorhandenen Kraft, in welcher Form sie auch auftreten mag, ob als Wärme oder als arbeitende (lebendige) Kraft, keine Spur verloren geht. Wir haben gesehen, daß die lebendige Kraft einer Maschine, welche den Hammer in Bewegung setzte, im gehämmerten Eisen ein bestimmtes Maß Wärme erzeugt und daß diese so erzeugte Wärme wieder einen ebenso hohen Grad lebendiger Kraft zu entwickeln vermag, als zur Bewegung des Hammers nöthig ist. Wenden wir dies nun auf unsern Körper an. Bewegen wir den Arm, aber ohne einen Hammer in der Hand zu halten, in der Weise auf und ab, als ob wir hämmerten, so erzeugt sich in diesem Arme eine gewisse Menge Wärme, welche mit dem Thermometer gemessen werden kann. Nehmen wir nun aber einen Hammer in die Hand, hämmern wir etwa noch auf Eisen, lassen wir also unsern Arm wirklich Arbeit verrichten (lebendige Kraft entwickeln), so erwärmt sich unser Arm zwar auch, aber bei Weitem nicht so stark, als vorher, wo er sich ohne Hammer bewegte. Während also beim alleinigen Bewegen des Armes alle Kraft nur in Wärme umgewandelt wurde, so setzte sich beim Hämmern ein Theil dieser Wärme in arbeitende Kraft um und es mußte deshalb ein geringerer Theil Wärme im Arme zurückbleiben. Man vergesse hierbei nun aber nicht, daß wir bei unserer Hämmerei nur vom arbeitenden Arme sprechen. Daß unser ganzer Körper bei anstrengender Armarbeit warm wird und schwitzt, liegt darin, daß bei einer solchen Arbeit niemals blos der Arm, sondern auch noch viele andere Muskelgruppen, welche dem Körper den zum Hämmern nöthigen Halt verleihen, angestrengt werden. – Wie nun die Wärme entsteht, welche in lebendige Kraft umgesetzt wird, ob durch Schlag, durch Reibung oder durch chemische Vorgänge, ist ganz gleichgültig. Die Hauptsache bleibt, daß das Gesetz von der Erhaltung der Kraft allenthalben seine Geltung behält.

Im menschlichen Körper wird die lebendige Kraft und zugleich auch die Wärme, denn der Körper muß beide hervorbringen, lediglich durch chemische Vorgänge erzeugt, welche in den Geweben unseres Körpers, wie in den Muskeln und Nerven, im Blute etc., vor sich gehen. Selbst der ruhende Körper befindet sich in fortwährender Thätigkeit; denn das Herz steht nicht still, die Brust [207] hebt und senkt sich, Phantasie und Verstand arbeiten unablässig. Außerdem muß unser Körper nicht blos zur Arbeit seiner Organe, sondern auch noch zu seinem eigenen Bestehen fortwährend Wärme (etwa + 30°R) entwickeln. Und alle diese durch chemische Processe erzeugte Wärme wird stets auf ziemlich gleicher Höhe erhalten. Die Veränderungen, welche unsere Gewebe dabei erleiden, zehren aber sie selbst auf; deshalb also muß, wenn wir mit unserm Körper nicht bankerott werden wollen, ein immerwährender Ersatz des Verlorengegangenen stattfinden, und das ist der Zweck der Ernährung. Durch die Nahrung ersetzen wir, was unser Körper verbraucht, und die Nahrung muß natürlich dieselben oder doch ganz ähnliche Stoffe enthalten, als die sind, welche unser Körper verliert; sie muß aber auch Wärme zu erzeugen vermögen.

Zuvörderst sind jedenfalls solche Nahrungsstoffe erforderlich, welche die durch Arbeit abgenutzte Maschine unseres Körpers (besonders also die Apparate, welche zur Aeußerung der lebendigen Kraft dienen, wie Muskeln, Nerven, Gehirn) wieder repariren können, und diese Stoffe sind, neben etwas Fett und Salzen, hauptsächlich die sogenannten Eiweißsubstanzen, so genannt weil sie dem Eiweiße der Eier sehr ähnlich sind; sie heißen auch stickstoffhaltige Nahrungsstoffe. Zur Wärmebildung und also auch zur Kraftentwickelung können sie nur sehr wenig beitragen, weshalb der Mensch beim alleinigen Genusse von Fleisch stets an Körpergewicht abnimmt und endlich zu Grunde geht; diese Gewichtsabnahme findet sogar bei der Aufnahme von vier Pfund Fleisch, wovon neun Zehntel wirklich verdaut werden, noch statt. – Um nun die vorzugsweise aus Eiweißstoffen aufgebaute Maschine unseres Körpers auch in Thätigkeit zu setzen wie eine Dampfmaschine durch den Dampf, ist die Entwickelung von einer ziemlich großen Portion von Wärme nöthig, und darum müssen wir auch eine nicht geringe Menge von Stoffen zu uns nehmen, die Wärme zu entwickeln im Stande sind. Man nennt sie Heizungsstoffe, sie sind stickstofflose Körper und zu ihnen gehören: die Fette, die Zuckerarten und das Stärkemehl (welches letztere bei der Verdauung in Zucker umgewandelt wird). – Der erwachsene Mann braucht täglich etwa ein Pfund Fleisch oder überhaupt Eiweißsubstanz zum Ersatze des verloren gegangenen Körpermaterials, und ebenso ist auch ein Pfund Fett und Zucker oder Stärkemehl täglich zur Erzeugung der gehörigen Wärme nöthig. Die Zuführung dieser stickstoffhaltigen und stickstofflosen Substanzen in der gehörigen Menge ist die Grundbedingung der Ernährung unseres Körpers und sonach zum Bestehen des Lebens durchaus erforderlich (s. Gartenlaube 1853, Nr. 39).

Was nun den Nahrungswerth der einzelnen Nahrungsmittel betrifft, so ist das Fleisch (s. Gartenlaube 1854, Nr. 21) stets mit fettigen, mehligen oder zuckerigen Stoffen zu versetzen, da bloßes fettloses Fleisch zur Kraft- und Wärmeentwickelung unzureichend ist. – Das Brod steht in seinem Nährwerthe dem Fleisch ziemlich nahe; man kann annehmen, daß drei Pfund Schwarzbrod etwa so viel Eiweißsubstanz (Kleber) enthalten, wie ein Pfund Fleisch, neben 1¾ Pfund Stärkemehl und unverdaulicher Pflanzenfaser. Je weißer das Brod ist, desto ärmer an Eiweißsubstanz ist es. Als Heizungsmaterial wirkt beim Brodgenusse das Stärkemehl, welches dem Fette am Fleische entspricht. – Dem Fleische noch ähnlicher, nämlich in Bezug auf den Gehalt an Eiweißsubstanz, sind die Hülsenfrüchte (Bohnen, Linsen, Erbsen); sie enthalten fast genau so viel von derselben als das Fleisch selbst, außerdem aber etwa 2/5 Stärkemehl und 3/10 (unverdauliche) Pflanzenfaser. – Die Kartoffeln sind sehr arm an Eiweißsubstanz, und sodann wird von derselben auch noch, wegen ihrer Umhüllung mit Pflanzenhäuten, nur sehr wenig verdaut. Auf einen Theil Eiweißsubstanz kommen etwa drei bis vier Theile Stärkemehl und unverdauliche Pflanzenfaser. Die übrigen aus dem Pflanzenreiche stammenden Nahrungsmittel besitzen nur einen äußerst geringen Nahrungswerth und sind außerdem auch noch, weil ihr Nahrungsstoff in Zellhäute eingeschlossen ist, sehr schwer verdaulich. Die grünen Gemüse werden nur zum allerkleinsten Theile verdaut und können nur als Magenfüllsel betrachtet werden. Allenfalls ist den Wurzeln (Möhren, Rüben) wegen ihres Gehaltes an Zucker noch einiger Nahrungswerth zuzuschreiben. – Das vorzüglichste aller Nahrungsmittel ist die Milch (s. Gartenlaube 1854, Nr. 12[WS 2]), weil sie alle zu unserer Ernährung und Wärmebildung nöthigen chemischen Stoffe und zwar in einem ganz richtigen Verhältnisse enthält. Kinder dürfen in ihrem ersten Lebensjahre nur mit Milch ernährt werden. Auch der Erwachsene könnte von Milch allein leben; zwei Pfund gute, nicht abgerahmte Milch enthalten so viel Eiweißsubstanz als ein Viertel Pfund Fleisch und außerdem ein Fünftel Pfund Fett (Butter) und Zucker. – Der Milch als ausgezeichnetes Nahrungsmittel an die Seite zu stellen sind die Eier (s. Gartenlaube 1854, Nr. 28), welche auch, zumal in weichem Zustande, sehr leicht verdaulich sind. Das Weiße des Eies ist Eiweißstoff, das Gelbe dagegen enthält sehr viel Fett. – Die Fleischbrühe (s. Gartenlaube 1854, Nr. 21) steht mit Unrecht in hohem Rufe als Nahrungsmittel und dürfte nur in ganz concentrirter Form (Kraftbrühe) bei schwachem Magen zur Ernährung taugen. – Vom Biere, welches man recht oft als kräftigendes Nahrungsmittel rühmen hört, berichtet Liebig, daß ein Glas davon nicht so viel Nahrungssubstanz enthalte, als eine Messerspitze Mehl. Es kann also nur den einfachen Wärmematerialien zugerechnet werden.

Wie sind also die Fragen: „Warum und Was müssen wir essen“ zu beantworten? Wir müssen deshalb essen, zuvörderst weil sich die fortwährend arbeitende Maschine unseres Körpers auch immerfort durch die Arbeit abnutzt und also, wenn sie im Gange bleiben soll, fortwährend zu repariren ist; sodann aber auch deshalb, um diese Maschine, und zwar durch Wärme, zum Arbeiten anzutreiben. Hieraus folgt also, daß wir einestheils solche Stoffe genießen müssen, welche unsern Körper aufzubauen vermögen, und das sind die Eiweißsubstanzen mit ihren Salzen und etwas Fett, anderntheils solche Stoffe, welche die krafterzeugende Wärme zu entwickeln im Stande sind, demnach die sogenannten Heizungsstoffe (Fett, Zucker, Stärkemehl).

A.




Blätter und Blüthen.

Sie hat keine Kinder. Ein Polizeibeamter, der unserm Blatte noch mehrere interessante Skizzen aus seinen reichen Amterfahrungen zugedacht hat, schreibt uns: Zwei junge Bürgersfrauen von durchaus rechtschaffener Art, geehrt in ihren Kreisen und Jahre lang in treuester Freundschaft und liebevollster Nachbarschaft mit einander lebend, wurden mir zugeführt; sie hatten sich auf offener Straße heftig gezankt, geschimpft, geprügelt. Rasch vernahm ich die nächsten Zeugen, dann ließ ich die Frauen allein zu mir eintreten, und während ich ihnen Zeit gab, sich in ihrer großen Aufregung, Scham und Verlegenheit etwas zu beruhigen, auch ihre zerzausten Kleider wieder in Ordnung zu bringen, hatte ich Gelegenheit, sie zu beobachten. Die junge Frau des Tischlermeisters Mäder war eine kleine, pralle Frau mit lebhaft funkelnden braunen Augen, kleinem, vorwitzigem Näschen, rosarothem Munde mit schneeweißen Zähnen und mit rundem, gesundem Gesichte. Trotz des jetzt derangirten Anzugs sah man, daß sie sonst adrett und proper gekleidet war und darauf etwas hielt, und ich entsann mich jetzt auch, daß sie mir oft den Eindruck einer netten, sanguinisch gutmüthigen, lebhaft umherquirlenden Frau gemacht hatte.

Die Frau des Tuchmachers Saalmann war ganz anders: hoch und stark an Gestalt, das Gesicht lang, knochig und farblos. Die Augen groß und graublau, die Nase stark und fest, der Mund breit und geschlossen. Der Anzug zwar auch sauber und ordentlich, doch nicht zeigend, daß sie besonders viel darauf hielte, und schon mehr die arbeitsame Hausfrau und oft bedrängte Mutter verrathend. Auch ihrer entsann ich mich jetzt recht wohl: sie hatte für mich stets etwas ruhig Geschlossenes, schweigsam Festes und doch auch noch ein gewisses Etwas gehabt, was mir jene tiefinnere Leidenschaftlichkeit andeutete, die man häufig bei so zugeknöpften Naturen antrifft und die gerade bei ihnen oft um so gefährlicher werden kann. Die Leute sich zunächst gehörig aussprechen, auch wohl austoben zu lassen, ohne viel zu fragen und zu hemmen, das war mein Erfahrungsgrundsatz. Ich wendete ihn auch hier an. Die scheinbar am meisten gravirte Frau Saalmann ließ ich zuerst sprechen. Sie hatte ihrer Gegnerin den ersten Schlag versetzt. Sie war indessen kurz angebunden und stand schon wieder ziemlich fest und ruhig vor mir, wenn es auch innen noch sichtbar brannte und ihre Augen mit dem Ausdruck des Hasses auf die Feindin gerichtet waren.

„Haben Sie wirklich die Frau Mäder zuerst geschlagen?“ fragte ich.

Sie antwortete mit trotziger Ruhe: „Ja, und das mußte ich thun, denn sie hat mein Kind gerupft und gestoßen.“

„Ist das wahr, Frau Mäder?“

Frau Mäder hatte schon unruhig darauf gewartet, ihrer Zunge freien Lauf lassen zu können; sie hatte schon mit den kleinen Füßchen gewippt, die kleinen, runden, fetten Händchen ineinandergeschlagen und aneinandergerieben und mit dem drallen Leibe hin- und hergequirlt. Jetzt fiel sie rasch ein: „Ja, Herr Amtmann! Ich hab’s gethan. Ja, aber ich konnt’ nicht anders, ich mußt’ es thun, es ging mir zu sehr gegen das Gemüth und gegen die Ehr’ und gegen Alles.“

[208] „Gegen die Ehre?!“ fragte ich erstaunt.

„Ja, gerad’, und das ist nämlich so – wenn der Herr Amtmann verzeihn, daß ich ein bischen weit ausholen darf.“

„Sprechen Sie nur zu, Frau Mäder. Alles, was Sie zu sagen haben.“

„Ich dank’ Ihnen, Herr Amtmann, und ich will’s Ihnen kurz machen. Die Frau da und ich waren sehr gut freund miteinander und gingen zusammen in die Schul’ und in die Religion und wir hatten auch gleichzeitig die Hochzeit. Ich kriegte kein Kind und das war mir dererst auch ganz recht; ich weiß selber nicht, warum. Die Frau da aber kriegte ein Kind und ich stand ihr rechtschaffen bei und war gut mit dem Liebchen. Darnach aber hänselte sie mich, daß ich kein’s hätt’, und die anderen Frauen zogen mich auch damit auf, und da fing es schon mich zu krepschen an, daß ich keins hatt’; aber ich ließ mir’s nicht merken und that nun erst recht froh drum. Nun wurd’ der Wurm immer hübscher und die Frau da immer stolzer darauf, und hat sich gar sehr bethan damit und mich immer wieder gehänselt. Da wurd’ ich inwendig so wüthig und es ging mir schon gegen die Ehr’, daß ich kein’s hatt’, und ich hab’ bitterlich geweint. Und dann hab’ ich mich wieder gar sehr verstellt, und that heidenfroh, daß ich so los’ und ledig wär’, und that, als wenn ich überhaupt die Kinder nicht ausstehen möcht’. Aber wo ich nur eins erwischen konnte, ohne daß Jemand es estimirte, hab’ ich’s gedrückt und abgeschmatzt, und das Kind von der Frau da hatte ich absonderlich lieb. Darnach aber kriegt’ ich eine erschreckliche Wuth auf das Kind, weil die Frau da mir es immer und immer gar so stolz vor die Augen hielt und dann mir zum Trotz es so herzte und schmatzte und es ausputzte wie ein Christkindchen. Herr Amtmann, ich habe manchmal ’meint, ich soll vergehn vor Neid und Schmerz und Scham.“

Frau Mäder schwieg plötzlich, sie war ebenso erregt wie ermüdet. Ich wandte mich daher zu Frau Saalmann, die mit unveränderter Ruhe ihr zugehört und nur dann und wann wie mit einer stolzen Selbstzufriedenheit leise gelächelt hatte.

„Thaten Sie das denn wirklich so aus Absicht, Frau Saalmann?“ fragte ich.

„Accurat!“ antwortete sie ruhig, „und ich that’s grad deswegen, weil ich wußt’, wie es in ihr aussah und wie sie sich verstellen thät. Hätte sie zu mir gesagt: ‚So und so ist es in mir und es thut mir leid, daß ich kein Kind hab’!‘ wahrhaftig, es hätte mir dann auch leid gethan für sie. Ich hätte sie dann auch nicht mehr gehänselt und gestachelt und hätte mein Kind lieber ganz allein für mich daheim gehalten, als ihr damit weh zu thun. Aber wie sie’s machte und wie ich nun noch sah, daß sie auf mein Kind gar die Wuth hatte, da wollt’ ich accurat so thun, wie ich’s gethan.“ Frau Mäder hatte sich währenddem wieder erholt und fiel nun rasch ein:

„Ja, und so that sie mir’s immer mehr und ich konnt’ kaum mehr an mich halten und die Ehr’ fraß mir am Herzen wie ein giftiger Wurm. Und gerad heut’ war’s am allerschlimmsten, wie sie da mit ihrem Kind herausgestelzt kam, als ich vor der Thür stand, und wie sie mir’s vor den Augen herumtänzeln ließ und mich anstachelte, daß mir die Finger krumm wurden. Ich konnt’ und konnt’ mich nicht mehr halten. Es brach Alles in mir los: die Ehr und die Scham und der Neid und die Wuth, und ich hab’ geschimpft, das ist wahr. Und dann hab’ ich das Kind gezerrt und geschuppt, daß es schrie; das ist auch wahr.“

„Und da setzte ich mein Kind rasch in die Thürecke,“ fiel nun Frau Saalmann heftig und mit dröhnender Stimme ein, „und packte die Frau an, die mein Kind so verschimpirt hatte, und schlug sie, daß es klatschte. So hab’ ich ’than. Und so kam’s.“

Nun waren beide Frauen ganz still und blickten in scheuer Verlegenheit zu mir hin. Auch ich war verlegen. Mit einer bloßen Amtshandlung war hier wenig oder vielmehr gar nichts geschehen; wenigstens nichts, was nachhaltig Gutes wirken konnte. Eine gewöhnliche Moral zu predigen, schien mir auch nichts zu bedeuten. Plötzlich faßte ich Frau Saalmann scharf und tief ins Auge und sagte mit ernst eindringendem Tone:

„Sie haben mit Ihrem Kinde einen gottlosen Hochmuth getrieben. Sie haben das herrlichste Gut einer Mutter dazu benutzt, um eine Andere zu kränken. Frau Saalmann! Frau Saalmann! Wenn solch frevelhaftes Spiel nun an Ihnen bestraft würde? Wenn Sie Ihr Kind plötzlich verlören? Wenn –“

Da bebte die große, starke Frau zusammen und that einen dumpfen Schrei; ihr Gesicht wurde kreideweiß und um Mund und Nase zuckte es heftig. Sie schaute in Todesangst zum Fenster; dann erstaunt, fast erschrocken auf Frau Mäder, denn die kleinen braunen Augen derselben standen voll Wasser und waren mit dem Ausdruck angstvollen, rührenden Mitleids auf ihre zitternde und todesbange Gegnerin gerichtet. Diese schüttelte rasch und heftig mit dem Kopf; so, als ob’s nicht wahr sei, nicht wahr sein sollte, was sie da sehe; aber doch wurd’s ihr auch schon weich um’s Herz, bis auf einmal wieder die Todesangst um ihr Kind sie erfaßte und sie flehentlich ausrief:

„O Herr Amtmann! Herr Amtmann! lassen Sie mich gehn, mir ist’s, als wenn die Decke über mich einfiel. Mein Kind! mein Kind!“ Sie stürzte zur Thür, aber sie konnte nicht weiter und mußte sich festhalten.

„Ich seh derweil rasch nach dem lieben Engel!“ schluchzte Frau Mäder und trippelte rasch hinaus. Frau Saalmann schaute ihr wie träumend, doch auch sichtlich froh und beruhigt nach und folgte ihr dann langsam. Ich ging ihnen bald unbemerkt nach und ich sah, daß Frau Mäder in das Haus der Frau Saalmann jagte, dann mit dem Kind herauskam, es mit unendlicher Sorgfalt und inniger Zärtlichkeit hielt und herzte, mit triumphirenden Blicken es der Mutter entgegentrug und in deren Arme legte. Sie drückte es heftig an sich und küßte es inbrünstig, mit einem großen Aufblick nach oben; dann gab sie es wieder an Frau Mäder, und Beide lachten und weinten in einem Athemzug. A. Schl.     



Kleiner Briefkasten.

Tr. in Br. . . Herzlichen Dank für die reiche Spende! Wir freuen uns, daß der Anfangs d. J. veröfentlichte Aufruf, den in den Kriegshospitälern des amerikanischen Nordens liegenden verwundeten und siechen deutschen Landsleuten mit geeigneter Lectüre an die Hand gehen zu wollen, einen so guten Erfolg gehabt hat. Verschiedene deutsche Verleger sind bereitwilligst dieser Aufforderung nachgekommen, so daß wir in letzter Woche schon dreihundert und einige vierzig Bände – Belletristik, Touristisches, Naturwissenschaftliches u. a. m. – dem hiesigen Consulate der Vereinigten Staaten von Nordamerika zur Beförderung an die armen leidenden deutschen Brüder jenseit des Oceans übergeben konnten.

Wenn Sie dagegen meinen, daß die Eintausend Thaler, welche wir vor Kurzem an das Hülfscomité für Schleswig-Holstein zur Vertheilung unter die kriegsbeschädigten Alsener abgeben ließen, der einzige Beitrag gewesen sei, der von unseren Sammlungen nach Schleswig-Holstein gesandt worden ist, so irren Sie. Bereits früher haben wir Dreitausend und dreihundert Thaler nach Schleswig-Holstein abschicken können und außerdem noch beinahe Zweitausend Thaler bei einem hiesigen großen Credit-Institute für alle etwaigen Eventualitäten verzinslich angelegt. Sie sehen, daß wir nie die Hände im Schooß ruhen lassen, wenn es gilt, unser Scherflein für die nationale Sache beizusteuern.

F. in R. Sie müssen unser Blatt nicht ganz aufmerksam gelesen haben, die Gartenlaube hat schon sehr oft Veranlassung genommen, das in Deutschland leider nur zu wahre Sprüchwort „der Prophet gilt nichts in der Heimath“ zu variiren und namentlich auf die Ausländerei in Bezug auf die Erzeugnisse unserer deutschen Industrie als einen Schandfleck hingewiesen, von dem uns zu reinigen es nachgerade Zeit wird. Erst neulich haben wir von den englischen Nähnadeln aus Aachen erzählt; diesen bietet sich, wie uns mitgetheilt wird, ein würdiges Seitenstück mit dem englischen Glase aus Preußen.

Die großartigen Leistungen der Josephinenhütte bei Warmbrunn in Schlesien sind wohl vielen unserer Leser bekannt: minder bekannt dürfte es sein, daß die besten Glaswaaren dieses Etablissements nach England wandern, um als englisches Glas nach Deutschland zurückzukehren. Wie man uns meldet – wie gesagt, wir erzählen nur, was uns aus glaubhafter Quelle berichtet wird – wohnt nun in der nächsten Nachbarschaft dieser Josephinenhütte seit manchem Jahre ein Engländer, der von einer englischen Gesellschaft einen Gehalt von täglich einem Pfund Sterling erhält, blos damit er Jahr aus Jahr ein täglich das Neueste und Vorzüglichste von Gläsern und Krystallsachen an Ort und Stelle einkauft und nach England schickt.



Zur Nachricht!

Mit dieser Nummer schließt das erste Quartal unserer Zeitschrift. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das zweite Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.


Aus dem reichen Schatze von Beiträgen, die neuerdings uns geworden sind und nach und nach zum Abdruck kommen werden, erwähnen wir u. A.: Erbrecht. Novelle von Levin Schücking. – Gleich und Gleich. Erzählung aus dem Ries, von Melchior Meyr. – Die Rache der Schwalben. Novelle von Ferdinand Stolle. – Balbina. Geschichte aus den Bergen, von Franz Hedrich. – Bilder von Deutschlands Westgrenze. Von Wilhelm Angerstein. – Czar und Czarewitsch. Russische Palastgeschichte, von Johannes Scherr. – Die Arbeiterstadt zu Mühlhausen im Elsaß. Von Albert Grün. Mit Illustration. – Eine Bärenjagd im bairischen Hochlande. Mit Abbildung. – Aus Deutschlands Vorzeit: Barbarossa und die Junker. Von Wilhelm Zimmermann. Mit Illustration von Plüddemann. – Die Vogelsprache, von Wilhelm Hamm. – Das Geheimniß des Tempels, von Johannes Scherr. – Aus dem Negerleben, von Friedrich Gerstäcker. – Ein unglückliches Genie, von Max Ring. Mit Illustration von Carl Raupp. – Eine Nachtrazzia der Berliner Polizei, von Gustav Rasch. – Aus der Bilderschau in meinem Zimmer, von Franz Wallner. – Die Judengasse in Frankfurt a. M. Mit Illustration. – Vor siebentausend Jahren, von Wilhelm Hamm. Mit Illustration. – Ein Tag im Hauptquartier des General Blenker. – Der Malerprinz aus Java. Mit Illustration vom Grafen Mensdorff-Pouilly. – Der Crocodilclub in München. Mit Illustration von Theodor Pixis. – Erinnerung an Otto Ludwig. – Ein lichtvolles Capitel.

Außerdem bleiben nach wie vor die Herren Bock, Carl Vogt, Roderick Benedix, G. Hammer, Schulze-Delitzsch, Temme, Georg Hiltl, G. Rasch, Arnold Schloenbach, Ludwig Steub, L. Walesrode etc. die regelmäßigen Mitarbeiter unsers Blattes, das auch im ablaufenden Vierteljahr die Zahl seiner Abonnenten um mehr als zehntausend wachsen sehen durfte.

Alle Postämter und Buchhandlungen nehmen Bestellungen an.

Leipzig, im März 1865. Die Verlagshandlung. 


Verantw. Redact. F. Stolle u. A. Diezmann – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. S. Gartenlaube 1865, Nr. 7
  2. Carl Maria von Weber. Ein Lebensbild von Max Maria von Weber. Leipzig, Ernst Keil, 1864.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: entschossene
  2. Vorlage: 1854, Nr. 11