Die Gartenlaube (1866)/Heft 19

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1866
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[289] No. 19.
1866.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Aus meinem Merkbuche.


Wenn Du kommst, um zu erfreuen,
Wirst Du stets willkommen sein,
Bist Du traurig, bleib’ allein!
Wen’ge zählen zu den Treuen.

5
Trag’ Dein Leiden stumm für Jeden,

Der in’s Innre senkt den Blick.
Laß im Kampf mit Mißgeschick
Deine Thaten für Dich reden.

Sei dem Baum gleich, der, gerüttelt

10
Von des Herbststurms wilder Wucht,

Labend seine reifste Frucht
Aus gebeugtem Haupte schüttelt.

F. Bodenstedt.




Goldelse.
Von E. Marlitt.
(Schluß.)
17.

Während im Zwischenbau auf dem alten Gnadeck Glück und Freude einzogen, ereignete sich ein Fall trauriger Art unten im Thale.

Zwei Lindhofer Bauern, die, mit Fackeln versehen, nach Elisabeth suchten, hörten, als sie von ihrem Dorfe her nach dem Walde zu schritten, vor sich plötzlich ein heftiges Knurren, es klang wie das Knurren eines gereizten Hundes. Nicht weit von ihnen lag eine Gestalt quer über den Weg hingestreckt; ein großer Hund stand daneben und hatte, wie zur Vertheidigung, beide Vorderpfoten auf das am Boden liegende Wesen gestellt. Das Thier wurde wüthend bei Annäherung der Männer, fletschte die Zähne und machte Miene auf sie loszuspringen. Sie wagten sich nicht weiter und liefen in das Dorf zurück, wo sich in demselben Augenblick mehrere Fackelträger zusammenfanden, unter ihnen der Oberförster, der so eben durch Herrn von Walde’s Bedienten erfahren hatte, daß Elisabeth gefunden sei.

Sofort eilten Alle nach der bezeichneten Stelle. Diesmal knurrte der Hund nicht. Er winselte und kroch schwanzwedelnd bis zu den Füßen des Oberförsters; es war Wolf, sein Hofhund, und dort lag, anscheinend leblos, Bertha. Sie blutete aus einer Kopfwunde, und das Gesicht hatte die Blässe des Todes.

Der Oberförster sagte kein Wort. Er vermied es, den mitleidigen Blicken der Umstehenden zu begegnen; in seinen Zügen kämpften Groll und Schmerz. Er hob Bertha vom Boden auf und trug sie in das letzte Haus des Dorfes; es war das Weberhäuschen. Von dort aus schickte er einen Boten nach Sabine. Zum Glück verweilte der Wahlheimer Arzt noch bei einem Patienten im Dorfe. Er wurde herbeigeholt und brachte die Ohnmächtige sehr bald wieder zu sich. Sie erkannte ihn und verlangte nach einem Trunk Wasser. Ihre Wunde war ungefährlich; aber der Arzt schüttelte den Kopf und warf einen seltsamen Blick auf den Oberförster, der mit besorgter Miene seine Manipulationen verfolgte.

Der Doctor war ein gerader Mann von etwas rauhen, derben Manieren. Er trat plötzlich auf den Oberförster zu und sagte ihm mit nicht sehr unterdrückter Stimme einige Worte. Wie von einem tödtlichen Schuß getroffen, taumelte der alte Mann zurück, starrte den Doctor an wie geistesabwesend, und ohne auch nur eine Silbe zu erwidern, ohne einen Blick auf die Kranke zu werfen, schritt er zur Thür hinaus.

„Onkel, Onkel, verzeihe mir!“ schrie das Mädchen mit herzzerreißender Stimme auf, aber er war schon verschwunden in der dunklen Nacht draußen.

Dafür erschien Sabine athemlos auf der Schwelle. Eine Magd folgte ihr und trug ein ungeheures Bündel Bettstücken auf dem Kopfe und einen Handkorb voll Verbandzeug, Erfrischungen und aller möglichen praktischen und nöthigen Dinge am Arme.

„Gott im Himmel, was machen Sie für Streiche, Berthchen?“ rief die Alte mit Thränen in den Augen, als sie das entfärbte Gesicht mit dem Verband über der Stirn auf dem Kissen liegen sah. „Und gerade heute Mittag, wie Sie fortgingen, kamen Sie mir munterer vor; Sie hatten so schöne, rothe Backen.“

Das Mädchen vergrub das Gesicht in das Bett und verfiel in ein convulsivisches Schluchzen.

Der Arzt gab Sabinen einige Verhaltungsmaßregeln, verbot der Kranken streng alles Reden und verließ das Zimmer.

„Nicht sprechen soll ich!“ rief Bertha, indem sie sich im Bett [290] aufsetzte. „Solch’ einem alten Mann mit dem kühlen Blut in den Adern und den abgemessenen Gedanken unter den weißen Haaren, dem mag das Schweigen freilich leicht werden. Aber ich, ich muß sprechen, Sabine, und wenn es mir den Tod bringt, desto besser!“

Sie zog die Haushälterin auf den Bettrand und beichtete bitterlich weinend ihre Schuld.

Sie hatte ein Liebesverhältniß mit Hollfeld gehabt. Er hatte ihr versprochen, sie zu heirathen; sie dagegen hatte ihm feierlich schwören müssen, daß sie das Verhältniß geheim halten und ihre Rechte auch nicht eher öffentlich geltend machen wolle, als bis er sie dazu autorisire, denn er mußte, wie er vorgab, seine Mutter und die Verwandten in Lindhof berücksichtigen, die er erst ganz allmählich seinen Wünschen geneigt machen könne. Die Unbesonnene schwur, und, exaltirt wie sie war, fügte sie das Gelübde hinzu, daß Anderen gegenüber nicht eher wieder ein Wort über ihre Lippen kommen solle, als bis sie der Welt ihr stolzes Geheimniß mittheilen dürfe. Die Zusammenkünfte Beider fanden gewöhnlich im Nonnenthurm oder im Pavillon des Lindhofer Parkes statt. Niemand kam ihnen auf die Spur. Nur die Baronin Lessen hatte eines Tages Verdacht geschöpft, in Folge dessen sie in den heftigsten Zorn gerieth und dem Mädchen den ferneren Zutritt im Lindhofer Schlosse verbot.

Das erschütterte Bertha’s kühne, hochstrebende Hoffnungen nicht, denn Hollfeld tröstete sie und verwies sie auf die Zukunft. … Aber da kam Elisabeth Ferber, und von jenem Augenblick an war er ein Anderer. Er vermied sie, und wenn sie ihn endlich durch Drohungen zu einer Zusammenkunft zwang, zeigte er ihr eine höhnische Kälte, eine Nichtachtung, die ihr das Herz umwendeten und ihr leidenschaftliches Gemüth bis zur Wuth empörten.

Als sie endlich erkannte, daß sie es mit einem Ehrlosen zu thun habe, da wurden ihr die ganzen Schrecken ihrer Lage klar. Sie gerieth in Verzweiflung, und von da an begannen ihre nächtlichen Wanderungen. Kein Schlaf berührte ihre Augen, und nur draußen im nachtstillen, einsamen Wald, wo sie ihren heißen Schmerz, ihre Seelenangst ausschreien durfte, ward sie momentan ruhiger.

Endlich fand das Drama seinen Schluß, wie dergleichen Liebesdramen schon unzählige Mal geschlossen haben und wohl noch eben so oft schließen werden, denn das warnende Exempel hat wohl Kraft für den Verstand, nie aber für ein arglos liebendes weibliches Herz; Hollfeld bot der Bethörten eine Summe Geldes, wenn sie ihre Ansprüche aufgeben und sich in eine entfernte Stadt zurückziehen wolle. Er gab vor, daß seine Mutter und die Lindhofer Verwandten ihn zwängen, das „neugebackene Fräulein von Gnadewitz“ zu heirathen. Sie schalt ihn einen ehrvergessenen Lügner und stürzte wie rasend fort… Zornflammend und rachedürstend drang sie in das Zimmer seiner Mutter und sagte ihr Alles.

Bis dahin hatte Bertha unter heftigen Gesticulationen, mitunter von Schluchzen und Weinen unterbrochen, in geordneter Reihenfolge erzählt. Jetzt aber schwieg sie einen Augenblick und ein Ausdruck von unauslöschlichem Haß entstellte ihr fiebergeröthetes Gesicht.

„Das abscheuliche Weib,“ rief sie endlich mit fliegendem Athem, „hat stets Bibelsprüche auf den Lippen. Sie strickt und näht und sammelt Tag und Nacht für die Mission, die Gottes Wort unter die Heiden tragen soll, damit sie menschlich werden; unmenschlicher und grausamer aber können sie nicht sein in ihrer Unwissenheit, als diese Christin in ihrem Hochmuth. Den Götzendienst will sie ausrotten helfen, diese Hochgeborene; sie selbst aber macht sich zum Götzen, umgiebt sich mit Kriechern, Schmeichlern und Speichelleckern, welche ihr stets wiederholen müssen, daß sie zu den Auserwählten gehöre, die aus ganz anderem Stoff gemacht sein sollen, als die übrigen Menschenkinder. Wehe, wenn ein gerader, ehrlicher Mensch diese Meinung nicht theilt; seine Schuld ist nicht geringer, als die des Gotteslästerers! … Sie stieß mich vor die Thür und wollte mich mit Hunden aus dem Schlosse hetzen lassen, wenn ich mich je wieder blicken ließe… Von dem Augenblick an weiß ich nicht mehr, was mit mir vorgegangen ist,“ sagte sie, erschöpft in die Kissen zurücksinkend, während sie die Hand gegen die schmerzende Stirn preßte. „Ich weiß nur, daß ich erwachte und das Gesicht des Doctors über mir sah. ... Er hat dem Onkel meine Schmach mitgetheilt, ich hörte es… Was soll aus mir werden!“

Sabine hatte die Beichte mit Schauder und Schrecken gehört. Sie hielt streng auf einen reinen Lebenswandel und war eine unnachsichtige Richterin für Fehltritte, wie sie Bertha bekannt hatte. Aber sie besaß auch ein Herz, reich an Liebe und tiefem Erbarmen. Deshalb sah sie jetzt mit Thränen auf die zerknirschte Verirrte und legte tröstend und beschwichtigend das müde Haupt an ihre Brust. Sie hatte die Genugthuung, daß das Mädchen wie ein müdegeweintes Kind in ihren Armen einschlief.

Bald hörte man nur noch die ruhigen Athemzüge der Kranken und das leise Ticken der Wanduhr im engen Stübchen. Sabine zog die Brille und ein abgegriffenes Exemplar des neuen Testamentes aus dem Handkorb und wachte treulich, bis das helle Morgenlicht durch’s Fenster schaute.

Bertha starb nicht, wie sie gehofft hatte, in Folge ihrer erschütternden Bekenntnisse. Sie erholte sich im Gegentheil wunderbar schnell unter Frau Ferber’s und Sabinens Pflege. Ein Anfall von Geistesstörung war nicht wiedergekehrt. Die Kopfwunde, die von einem Fall auf einen spitzen Stein herrührte, war durch den starken Blutverlust, den sie zur Folge hatte, heilbringend geworden.

Der Oberförster war außer sich über die Schande, die Bertha unter sein ehrliches Dach gebracht. Selbst dem ruhigen Zuspruch seines Bruders war er in den ersten Tagen nicht zugänglich. Nachdem ihm Sabine Bertha’s Bekenntnisse mitgetheilt hatte, ritt er sofort nach Odenberg, um den „nichtswürdigen Buben“ zur Rede zu stellen, aber die Dienerschaft berichtete ihm achselzuckend, der gnädige Herr sei auf unbestimmte Zeit verreist, und man wisse nicht, wohin. Auch Herrn von Walde’s Nachforschungen blieben ohne Erfolg.

Bertha selbst erklärte, daß sie von ihrem Verführer, den sie jetzt ebenso glühend hasse, wie sie ihn ehedem geliebt habe, nichts wieder hören wolle. Wenige Wochen nach ihrer Wiederherstellung verließ sie das Weberhäuschen – das Forsthaus hatte sie nicht wieder betreten dürfen – um nach Amerika auszuwandern. Aber sie ging nicht allein. Ein Jägerbursch ihres Onkels, ein braver, junger Mann, bat eines Tages um seine Entlassung, weil er die Bertha immer im Stillen geliebt habe und es nun nicht über’s Herz bringen könne, sie so mutterseelenallein in die weite Welt ziehen zu lassen. Sie habe ihm versprochen, die Seine zu werden. In Bremen wolle er sich mit ihr trauen lassen und es dann drüben mit dem Farmerleben versuchen. Herr von Walde unterstützte das Paar mit einer bedeutenden Summe Geldes, und auf Frau Ferber’s und Elisabeth’s Bitten ließ es der Oberförster stillschweigend geschehen, daß Sabine die aufgespeicherten Leinenschätze der seligen Oberförsterin plünderte, um die künftige Farmerin anständig auszustatten. –

Es war ein trüber, nebliger Herbsttag, als ein bepackter Reisewagen das Lindhofer Schloß verließ und die Richtung nach L. einschlug. Völlig zusammengebrochen und vernichtet drückte sich die Baronin Lessen in die Ecke des Wagens. Ihre glänzende Rolle in Lindhof war zu Ende; sie kehrte unfreiwillig zurück in enge Räume und dürftige Verhältnisse.

„Mama,“ sagte Bella mit ihrer scharfen, kreischenden Stimme, während sie das Glasfenster unablässig auf- und niederzog und mit den Füßen baumelte, „gehört denn nun das Schloß der Elisabeth Ferber? Wird sie in unserem schönen Wagen mit den weißen Seidendamast-Polstern fahren? Darf sie jetzt in Deinen Salon gehen und sich auf die schönen, gestickten Fauteuils setzen? Der alte Lorenz sagt, sie werde nun die gnädige Frau und Alles, was sie befehle, müsse geschehen.“

„Kind, martere mich nicht mit Deinem Geschwätz!“ stöhnte die Baronin und versenkte das Gesicht in das Taschentuch.

„Es ist doch sehr dumm vom Onkel Rudolph, daß er uns fortschickt,“ fuhr die Kleine unerbittlich fort. „Gelt, wir haben in B. keine silbernen Teller, auf denen wir essen werden, Mama? Ich weiß es noch von früher… Und einen Koch haben wir auch nicht. Werden wir wieder aus dem Speisehaus essen, Mama? … Wirst Du Dich wieder selbst frisiren, wenn die Caroline wäscht und bügelt? Warum –“

„Schweig!“ unterbrach die Mama den Schwall von Worten, deren jedes zur Dolchspitze für sie wurde.

Bella kauerte sich erschrocken in die Ecke und tauchte erst wieder empor, als der Wagen über das Straßenpflaster in L. rasselte. Die Baronin dagegen warf einen scheuen Blick hinauf [291] nach dem fürstlichen Schlosse; dann zog sie den Schleier hastig über das Gesicht und brach in ein heftiges Weinen aus.

Es war infolge von Bertha’s Geständnissen zu einem heftigen Auftritt zwischen Herrn von Walde und der Baronin gekommen, der mit Ausweisung der Letzteren endete. Helene stieß sie mit Abscheu zurück, als sie Hülfe und Fürsprache bei ihr suchte, und so sah sie sich gezwungen, den Reisewagen zu besteigen, der pünktlich zu der vom Schloßherrn bestimmten Stunde an der Einfahrt hielt… In den Wermuthbecher fiel übrigens ein Tröpfchen Süßigkeit. Herr von Walde hatte ein Erziehungsgeld für Bella ausgesetzt unter der Bedingung, daß sie von nun an vernünftiger erzogen werde, als bisher geschehen. –

Fast zur nämlichen Stunde, da die Baronin Lessen Lindhof für immer verließ, erschien die Oberhofmeisterin von Falkenberg im Boudoir der Fürstin, die in Begleitung ihres Gemahls vor wenigen Tagen aus dem Bade zurückgekehrt war.

Die Oberhofmeisterin verbeugte sich so tief, wie es ihre unsicheren Fundamente nur irgend gestatteten, aber es geschah in einer eigenthümlichen Hast, die sie bei jedem anderen Eintretenden höchst indignirt als etikettenwidrig gerügt haben würde. Sie hielt einen offenen Brief in den Händen, der seine ursprüngliche Glätte offenbar erst zwischen den zitternden Fingern eingebüßt hatte.

„Ich bin sehr unglücklich,“ begann sie mit alterirter Stimme, „den durchlauchtigsten Herrschaften eine scandalöse Nachricht unterbreiten zu müssen… O, mon dieu, wer hätte das gedacht! … Nun, wenn selbst in dieser Sphäre Scham und höheres Bewußtsein aufhören, wenn Jeder der Eingebung einer gemeinen Neigung folgen will und seine heiligen Vorrechte unter die Füße des Pöbels wirft, dann ist es freilich kein Wunder, daß wir zuletzt den Nimbus nicht mehr zu halten vermögen und das Volk sogar an den Thronen zu rütteln wagt!“

„Alteriren Sie sich nicht, meine liebe Falkenberg,“ sagte der Fürst, der zugegen war, sichtlich amüsirt, „Ihre Einleitung hat etwas vom grandiosen Styl der Kassandra… Aber ich spüre bis jetzt noch nichts von dem geweissagten Erdbeben, und zu meiner Befriedigung bemerke ich auch,“ sein Blick streifte lächelnd drunten den stillen Marktplatz, „daß meine getreuen Unterthanen sich ruhig verhalten… Was haben Sie mir mitzutheilen?“

Sie sah betroffen zu ihm auf; sein sarkastischer Ton machte sie unsicher.

„O, wenn Durchlaucht wüßten!“ rief sie endlich. „Gerade er, auf dessen stolzes Blut ich Häuser gebaut haben würde! Herr von Walde zeigt mir an, daß er sich verlobt habe, und mit wem? mit wem?“

„Mit Fräulein Ferber, der Nichte meines alten, braven Oberförsters,“ ergänzte der Fürst lächelnd. „Ja, ja, ich habe schon so etwas gehört… Der Walde ist nicht auf den Kopf gefallen, wie ich merke. Die Kleine soll ein wahres Wunder von Schönheit und Liebenswürdigkeit sein… Nun, ich hoffe, er läßt uns nicht lange warten auf die allerliebste kleine Bekanntschaft und stellt sie uns bald vor.“

„Durchlaucht,“ rief die Oberhofmeisterin erstarrt, „sie ist die Tochter Höchstihres Forstschreibers!“

„Ja, ja, beste Falkenberg,“ beschwichtigte die Fürstin, „das wissen wir ja. Aber beruhigen Sie sich nur, sie ist ja eigentlich doch von Adel, wie ich gehört habe.“

„Erlauben Euer Durchlaucht gnädigst,“ entgegnete die alte Dame, hochroth im Gesicht, und deutete auf den zerknitterten Brief, „hier steht sie schwarz auf weiß, diese Verlobung mit einer Bürgerlichen; hier steht der Name Ferber und kein anderer, und so wird er auch auf dem Stammbaum Derer von Walde stehen für alle Zeiten; scheint es doch, als ob ihn der Herr Bräutigam auch noch mit einer gewissen Ostentation betone! … Daß diese Menschen mit dem edlen Geschlecht der Gnadewitze nichts gemein haben, beweisen sie am schlagendsten dadurch, daß sie den herrlichen alten Namen nicht zu würdigen wissen, indem sie sich in unbegreiflicher Indolenz weigern, ihn zu führen. Der versprengte Tropfen nobles Blut ist im Lauf der Jahre verkommen in ihren Adern, und für meine Adelsbegriffe ist und bleibt das Mädchen unadelig… Ich beklage aufrichtig den armen Hollfeld, der, wie Euer Durchlaucht doch gewiß gnädigst zugeben werden, ein Cavalier vom reinsten Wasser ist, er verliert durch diese Mesalliance mindestens eine halbe Million, und die unglückliche Lessen, von der ich mit der Verlobungsanzeige zugleich einige trostlose Abschiedszeilen erhielt, verläßt heute noch Lindhof, jedenfalls, um der scandalösen Geschichte aus dem Wege zu gehen.“

„Das sind Dinge, die speciell Ihr freundschaftliches Gefühl berühren, und deshalb will ich nicht rechten mit Ihnen über die Art und Weise Ihrer Auffassung,“ entgegnete der Fürst nicht ohne Schärfe. „Uebrigens will ich Sie hiermit ersucht haben, der Fürstin und mir sofort Anzeige zu machen, wenn Herr von Walde uns seine Braut vorzustellen wünscht.“

Drin im Nebenzimmer, dessen Thür offen stand, drehte sich Cornelie lustig auf dem Absatz herum und schlug ein Schnippchen.

„Ah, also deswegen wollte der Herr Eisbär der Zunge gewisser redseliger Damen entgehen!“ rief sie mit unterdrücktem Lachen. „Cornelia, wo blieb damals dein untrüglicher Scharfblick für das Verliebtsein der Männer! … Uebrigens macht mir die Geschichte unendlichen Spaß um der alten Falkenberg willen,“ wandte sie sich flüsternd an eine andere junge Dame, die stickend am Fenster saß. „Jetzt werden wir mindestens vierzehn Tage lang das Vergnügen haben, zu sehen, wie die vielgetreue Royalistin unsere Durchlauchten am liebsten mit den Blicken spießen möchte, sobald sie ihr ahnungslos den Rücken zukehren, während sie den ganzen Honigseim des gelobten Landes über ihre welken Lippen fließen läßt, wenn der Sonnenschein der fürstlichen Augen auf sie fällt. Um dieses Genusses willen möchte man wirklich wünschen, daß unsere sämmtlichen Herren solche dumme Streiche machten.“

„Um Gotteswillen, Cornelie, bist Du wahnsinnig?“ rief die Collegin im Fenster und ließ entsetzt die Nadel fallen. –

Und wiederum in der nämlichen Stunde, da sich selbst das kleinste Tröpflein Blut in den aristokratischen Adern der Frau Oberhofmeisterin von Falkenberg empörte, trat Doctor Fels heimkehrend in die Kinderstube, wo seine Frau eben das Kleinste badete und dabei die strickenden Fingerchen ihrer zwei kleinen Töchter beaufsichtigte.

„Frau, freue Dich mit mir!“ rief er mit strahlendem Gesicht schon in der Thür. „Lindhof bekommt eine Herrin, und was für eine! … Gold-Else, die schöne Gold-Else wird’s, hörst Du, mein Schatz? … Nun wird’s wieder hell und sonnig da draußen! Der gesunde Gedanke siegt und der finstere Geist, der auf die armen Menschenseelen einen wahren Mehlthau geworfen hatte, entflieht – ich habe ihn eben im Reisewagen des Herrn von Walde vorbeirasseln sehen. Draußen in Lindhof mögen vor einer Stunde der unsichtbaren Kreuze genug in der Luft herumgeflogen sein… Die Verlobungsanzeige ist wie eine Bombe in unsere gute Stadt gefallen. Ich sage Dir, es ist eine wahre Lust, die langen, die ungläubigen und die neidischen Gesichter alle zu sehen! … Mich aber hat sie ganz und gar nicht überrascht, diese Nachricht. Ich wußte seit der Attentatgeschichte, was kommen würde. Als ich noch an demselben Abend an Herrn von Walde’s Seite nach Lindhof rollte, um zu sehen, ob die Alteration für das kleine, kühne Mädchen keine nachtheiligen Folgen gehabt habe, da merkte ich plötzlich, daß endlich auch seine Stunde geschlagen hatte, daß er auch ein Herz habe, und zwar eines voll tiefer, leidenschaftlicher Liebe.“


Will der Leser einen Zeitraum von zwei Jahren überspringen und noch einmal an unserer Hand die Gnadecker Ruinen betreten, so führen wir ihn auf den Windungen einer breiten, schönen Fahrstraße den Berg hinauf vor das Schloßthor, das, neu angestrichen, seine rostigen Schlösser und Bänder mit neuem Eisenwerk vertauscht hat.

Wir gedenken fröstelnd des kalten, feuchten Hofraumes hinter diesem Hauptthor, den düstere Colonnaden an drei Seiten einschließen, während die oberen Stockwerke die mörderische Absicht zeigen, auf uns herabzustürzen. Wir erinnern uns des einsamen Wasserbeckens inmitten des Hofes, das, von den steinernen Löwen beherrscht, seit vielen, vielen Jahren vergebens auf die silberhellen Fluthen hofft, die sein Rund füllen sollen.

Mit diesen Vorstellungen läuten wir. Auf den tiefen Klang der Glocke öffnet alsbald eine frische, kräftige Magd den schweren Thorflügel und bittet uns, einzutreten. Wir aber weichen wie geblendet zurück, denn aus der Thüröffnung quillt uns ein Licht- und Farbenstrom entgegen. Die Ruinen sind verschwunden, nur die hohe, eisenfeste Ringmauer steht noch und läßt uns jetzt erst recht erkennen, wie ausgedehnt der Raum ist, den sie umschließt.

Wir treten nicht auf das hallende Steinpflaster des Hofes, [292] unter dem Fuß weicht hoch aufgeschichteter Kies. Vor uns dehnt sich eine prächtige, wohlgepflegte Rasenfläche. In ihrer Mitte ruht die ungeheure Granitschale, und aus den dräuenden Löwenrachen rauschen vier gewaltige Wasserstrahlen. Die Kastanien stehen noch als treue Wächter um das Bassin, aber seit sie ihre Wipfel in dem freien, frischen Luftstrom baden, haben sie sich erholt und sind in diesem Augenblick mit zahllosen weißen Blüthenkerzen besteckt.

Wir biegen ein in einen der Kieswege, die das Rasenrund umschließen, wandeln zwischen geschmackvoll angelegten, freilich noch schwach entwickelten Boskets und weiden unsere Augen an blühenden Sträuchern und augenscheinlich zärtlich gepflegten Blumenbeeten, die buntfarbig auf dem Rasen liegen.

Da drüben liegt der Zwischenbau. Die Luft bestreicht jetzt seine vier Wände, die ein sauberes, helles Kleid angelegt haben, aber seine Fronte ist stattlicher geworden. An jeder Seite blitzen neue Fenster, Ferber hat das Haus um vier Zimmer erweitern lassen, denn der Oberförster will, wenn er sich in’s Privatleben zurückzieht, mit Sabine da droben wohnen.

Im Ferber’schen Wohnzimmer, dessen zwei hohe Fenster jetzt dieselbe Aussicht gewähren, wie früher nur das Bogenfenster in Elisabeth’s ehemaligem Stübchen – Herr von Walde hat die Bäume lichten lassen, damit die Eltern das Heim ihres Kindes immer vor Augen haben – also im Wohnzimmer steht die junge Frau von Walde. Sie ist mehrere Wochen an das Haus gebannt gewesen und ihr erster Ausgang führt sie auf den Berg, um ihren Erstgeborenen im großelterlichen Hause vorzustellen… Da liegt er auf ihrem Arm. Miß Mertens, oder vielmehr die längst glücklich verheirathete Frau Reinhard, hat den Kleinen heraufgetragen und schiebt vorsichtig den schützenden Schleier zurück. Das frische, rothe Gesichtchen trägt die Züge Derer von Walde, und aus dem Spitzenhäubchen fällt ein feiner, dunkler Haarstreifen auf die Stirn. Ernst will sich todtlachen über die täppischen Bewegungen der drallen, rothen Fäustchen, die sich nach allen Richtungen hin recken und strecken. Der Oberförster aber hat eigenthümlich ängstlicher Haltung seine eigenen gewaltigen Hände auf den Rücken gelegt, als fürchte er, durch irgend eine seiner kräftigen Bewegungen dem winzigen Geschöpfchen einen Schaden zuzufügen. Er ist nicht minder entzückt von seinem Großneffen, wie die Großeltern von ihrem Enkelchen. Er hat die schlimme Erfahrung bezüglich Bertha’s verschmerzt und sonnt sich in Elisabeth’s Glück, das ihm anfänglich wunderbar genug vorkam und von welchem er behauptete, er müsse jeden Morgen von Neuem lernen, daran zu glauben. Nicht etwa, daß er gemeint hätte, es sei zu außerordentlich für seinen kleinen Liebling – er hätte wohl die höchste Krone der Erde auf Elisabeth’s reiner Stirn als ganz an ihrem Platze gefunden – es war ihm nur sehr verwunderlich, das junge Wesen „mit den quecksilbernen Füßen und dem sonnigen Gesicht“ so hingebend an der Seite des ernsten, gereiften Mannes zu sehen.

Elisabeth ist glücklich in des Wortes höchster Bedeutung. Ihr Mann betet sie an und sein Ausspruch ist wahr geworden: jener Ausdruck von Melancholie und Strenge scheint für immer von seiner Stirn gewichen zu sein.

Sie blickt in diesem Augenblick glückselig auf das zarte Wesen in ihrem Arm und dann hinunter in’s Thal, wo er bald über den Kiesplatz schreiten und heraufeilen wird, um sie und das Kleine abzuholen… Einen Moment verdunkelt sich ihr Blick und wird feucht; er fällt auf ein hohes, vergoldetes Kreuz, das aus dem Wäldchen am See aufblitzt; dort, unter den rauschenden Wipfeln, in einem prächtigen Mausoleum, schlummert Helene seit einem Jahre. Sie ist in Elisabeth’s Armen gestorben, mit dem Gebet auf den Lippen, daß Gott die segnen möge, die des Grames Last treulich mit ihr getragen und sie gestützt hat, bis die gebrochene Seele sich losringen durfte von der hinfälligen Hülle.

Hollfeld hat Odenberg verkaufen lassen und Niemand weiß, in welchem Winkel der Erde er über das Scheitern aller seiner Anschläge und Pläne grollt.




„Der letzte Ritter des Frankenlandes“ und seine Tafelrunde.
I.


Es war ein lachender Septembertag, als vor dem äußersten Thore seiner Burg der alte Freiherr hoher Gäste harrte. Eine rechte Rittergestalt, so stand er da, den herannahenden Wagen entgegenschauend. Viel Volks drängte sich freudig um sie, denn aus ihnen grüßten die bildschöne Kronprinzeß des Königreichs und deren Mutter, die Herzogin eines kleinen Nachbarlandes. Und als die beiden fürstlichen Frauen, von ihrem adeligen Gefolge umringt, ausstiegen und der Freiherr den Arm zum Geleit der Herzogin bot, trat diese bescheiden zurück, auf die Kronprinzessin hinweisend, der sie im Rang nachstehe. Da erhob der alte Freiherr seine tiefe, sonore Stimme und sprach Allen vernehmbar: „Ew. Durchlaucht, wir stehen hier vor einer alten Ritterburg und in einer solchen hat immer die Mutter den Rang vor der Tochter gehabt.“

Wo liegt diese Burg? Und wer war der Freiherr, der auf gute, alte Sitte so ritterlich hielt?

Im gesegneten Frankenland, dem alten Kern des deutschen Reichs, ragt auf einem der Hügel, welche in dem weiten wonnigen Winkel zwischen dem Fichtelgebirgskinde, dem Main und der Thüringer Waldtochter, der Itz, wie letzte, ausschaukelnde Wellen der Berghochfluth der Rhön, des Thüringer-, Franken- und Steigerwaldes sich formenlieblich und laubwaldbedeckt erheben, ein Schloß aus ritterlicher Vorzeit auf, noch heute das alte, umschlossen vom alten Mauergürtel und bewohnt von den Sprossen des alten Herrenstammes: das ist die Bettenburg, das Besitzthum des Freiherrn Christian Truchseß von Wetzhausen. Die sinnigen Inschriften, die wir darin über jeder Thür finden und die werthvollen Bilder, welche alle Wände schmücken, würden allein den Namen des „alten Truchseß“ nicht so weit getragen haben, wie es seiner Zeit geschah, wenn nicht er selbst ein Liebling und seine Burg ein Lieblingssitz der Ritter vom Geiste seiner Zeit gewesen wäre. Der Verkehr mit ausgezeichneten Menschen in der Literatur, in der Kunst und im Leben, einerlei, weß Standes oder Glaubens, war sein höchster Genuß, er lebte mit ihnen in ihren Werken und zugleich durch die emsigste briefliche Unterhaltung, und so viel solcher Ritter an sein Burgthor pochten, sie waren des Freiherrn liebste Gäste. Und ebendeßhalb verdienen sicherlich Beide, der Liebling wie der Lieblingssitz so manches noch heute gefeierten Dichters und Schriftstellers, Staatsmannes und Fürsten, daß auch ihnen die „Gartenlaube“ vor den Augen der Gegenwart ein Denkmal setze.

Wenn wir nun unsere Leser auf die Bettenburg des „alten Truchseß“ führen, so gehen sie mit uns zugleich in eine Zeit zurück, welche, die Jahre von 1788 bis 1826 umfassend, zu den ideen- und thatenfruchtbarsten aller Geschichte gehört. Zwei Riesengeister zogen damals in ihre Reihe ein, der eine die Herzen seiner Nation adelnd und für die Kämpfe der Zukunft stärkend, der andere die Geister befreiend im ganzen Erdtheil: hier der der deutschen classischen Literatur, dort der der französischen Revolution. Beide vollbrachten einen mächtigen „Umschwung der Gesellschaft“ in Deutschland. Bis in höchste Kreise stieg der Athem der Freiheit; Freisinnigkeit und Patriotismus wurden dort wieder Tugenden, und Achtung des Talents galt als ehrende Pflicht. Insbesondere lebte damals in den sächsischen Herzogthümern Thüringens und Frankens, in Weimar, Gotha, Meiningen, Hildburghausen, Coburg, ein Kranz von fürstlichen Personen, die theils auch ohne Fürstenhut zu den Hervorragenden jener Tage gehört hätten und schon darum die Geister anzogen, theils ihre fürstliche Stellung benutzten, um – mit den oft bescheidensten Mitteln, so genügsam war man noch! – eine Tafelrunde Unsterblicher um sich zu versammeln.

Nicht in dieser Weise der Höfe, denen bei aller Freude an der Pflege und am Genuß der Schöpfungen und der Schöpfer des Schönen doch auch der Anspruch auf mäcenatischen Nimbus nahe stand, sondern von Haus aus auf dem einfachen, aber festen Grund einer großartigen Gastfreundschaft bildete sich allmählich die Tafelrunde der Bettenburg.

Nach in kurhessischen Kriegsdiensten verlebten Jugendjahren nahm der Freiherr im Jahr 1788, ein blühender Mann von dreiunddreißig Jahren, auf seiner Burg, die er wohnlich und geschmackvoll einrichtete und mit einem hübschen Park umgab, seinen [293] dauernden Wohnsitz. Bald entwickelte sich nun ein reges Leben auf dem Schlosse; Besuch zog von allen Seiten herbei, zunächst die adelige Nachbarschaft, dann auch die Fürsten der nahen thüringischen Höfe selbst und zwischen diesen vornehmen Gästen manche bescheidenere Lichter, namentlich Professoren von den nächsten Gymnasien, gleichsam Vorläufer der später zu den regelmäßigen Gästen zählenden dichterischen und gelehrten Notabilitäten.

Woher weiß ich denn aber das Alles so genau? Das ist schwer zu errathen. Aus jener ersten Bettenburger Zeit lebt Niemand mehr, die gedruckten Nachrichten über sie liefern nur Spärliches und meist zerstreut in den Schriften der Gäste, und selbst der gegenwärtige Herr der Burg steht im Alter jenen Tagen seines Großonkels zu fern für Beobachtungen dieser Art, und doch verdanke ich sie ihm allein und spreche ihm, dem Freiherrn Ernst von Truchseß auf Bettenburg, hiermit meinen Dank dafür aus, denn zu den vielen beschreibenden und bildlichen Mittheilungen, mit welchen er meine Arbeit unterstützte, legte er auch das Buch,

Die Bettenburg.

welches aus dem eigentlichen Ursprung der Bettenburger Tafelrunde, der großartigen Gastfreundschaft des Freiherrn Christian von selbst hervorgegangen und großentheils von seiner Hand geschrieben ist: die „Bettenburger Trinkgelder-Berechnungen von 1788 bis 1826“.

Ist dieses starke Heft in Quart von dauerhaftem Conceptpapier mit seinem einfachen Inhalt von Datum, Namen und Trinkgeldsumme auf den ersten Einblick nur ein Zeugniß für die väterliche Fürsorge des Freiherrn für Ordnung und Eintracht in seiner Dienerschaft, so werden doch, je weiter wir darin blättern, Namen und Zahlen immer bedeutungsvoller und schließlich spricht aus ihnen ein großes, gestaltenreiches Lebensbild. Dieses Trinkgelderbuch ist nun unser nächster Führer. Sollten namhafte Personen ohne Trinkgeld davongegangen sein, so trifft sie nur die gerechte Strafe für ihr Vergehen an der Bettenburger Dienerschaft, denn ihre Namen verschweigt, wie das Buch, so unser Artikel.

Als der erste fürstliche Gast betrat die Burg am 10. October 1791 der Herzog Georg von Meiningen. Ein Dreißigjähriger kam zum Sechsunddreißigjährigen, Beides rührige Geister vom besten Willen und auf gleicher Bildungsstufe. „Fürstenglück und Volksfreude gehören bei mir immer zusammen!“ äußerte der junge Fürst oft, und trieb es doch der Freiherr ganz so im Kleinen, wie es der Herzog eben auch nicht im Großen treiben konnte. Ebenso einig waren Beide in der Pflege des Schönen, der Kunst und Natur und in der Verachtung gegen Jeden, mochte er noch so hoch und vornehm im Leben dastehen, der die heiligen Forderungen der Humanität unerfüllt ließ, und ebenso einig im Widerwillen gegen thörichten Adelstolz; seine offen ausgesprochene Achtung vor dem bürgerlich ehrbaren Stand hatte dem Freiherrn als Officier sogar einen höchst lebensgefährlichen Zweikampf zugezogen, den einzigen, zu welchem er sich genöthigt gefunden. Kurz, die Freundschaft Beider war geschlossen; Georg kam nun jedes Jahr, bisweilen mehrmals, auf die Bettenburg, und wohl eben so oft Truchseß nach Meiningen und ward später sogar Gevatter seines fürstlichen Freundes.

In Meiningen machte Truchseß die erste persönliche Bekanntschaft mit damals hervorragenderen Dichtern und Schriftstellern; dort schloß er den Freundschaftsbund mit Ernst Wagner und Friedrich Mosengeil, mit dem ausgezeichneten Numismatiker von Donop und mit dem Verfasser des ausführlichsten Werks über das Thüringer Waldgebirge, dem Erzieher des Herzogs Georg, Präsidenten Heim, dessen berühmter Bruder, der „alte Heim in Berlin, ebenfalls im Trinkgeldbuch der Bettenburg als Gast steht. Vor Allem aber setzte der Mann, der jenen Meininger Heim „einen Kopf“ nannte, „aus dem man prächtige Funken herausschlagen kann – einen wahren Vesuv voll glühender Geisteslavaströme“ – Jean Paul nicht blos den Herzog Georg, sondern auch den Freiherrn von Truchseß in Feuer und Flammen. Das gab ein inniges Zusammenleben und herrliches Funkensprühen verwandter Geister voll jugendlicher Kraft. Georg war des großen Dichters Hausfreund. Wie oft setzte er sich bei ihm mit zu Tisch, den Jean Paul’s schöne, junge Gattin Caroline schmückte, und wie oft hörte die untere Marktstraße der kleinen Residenzstadt des Herzogs Ruf: „Jean Paul, kommen Sie doch schnell herunter!“ wenn er ihn zur Spazierfahrt abholte. Auch der „Bettenburger“ war bald von Jean Paul als „der letzte Ritter“ erkannt und er gewann sein ganzes Herz, als er einst bei froher Tafel die Stimmung Aller in den Trinkspruch faßte: „Jung waren wir, jung sind wir, jung bleiben wir, zur ewigen Jugend erwachen wir!“

[294] Nicht weniger, nur ein anderer Kunstgeist herrschte damals am Hofe von Hildburghausen. Die Gemahlin des Herzogs Friedrich, eines talentvollen, nur in der Ausbildung vernachlässigten, aber herzensguten Mannes, war die Herzogin Charlotte, die Schwester der Königin Louise von Preußen. Hat diese viele sie verherrlichende Dichter gefunden, so hatte jene sie weit mehr verdient – nicht blos durch ihre hohe weibliche Schönheit und Bildung: sie nahm im Gebiete der Tonkunst eine noch höhere Stellung ein, denn sie war eine der größten Sängerinnen ihrer Zeit. Ihre silberreine, volltönende und äußerst biegsame Stimme hatte sie unter dem Italiener Giuliani in Hannover kunstgerecht ausgebildet und übte sie mit rastlosem Eifer. Und nicht blos der Kreis ihrer Familie, nicht blos die Begünstigten, welche den Hofconcerten beiwohnen durften, sondern auch der ärmste Bürger ihrer Residenzstadt konnte sich wenigstens jedes Jahr einmal, in der Charwoche, wo sie bei der Aufführung von Graun’s „Tod Jesu“ in der Stadtkirche mitsang, ihrer seltenen Begabung erfreuen. „Ohrenzeugen“ – so wird aus jener Zeit berichtet – „wissen die feierliche Rührung ihres Vortrags der Recitative und der Arien in diesem Werke nicht genug zu preisen“. „Mit jedem Tone schien sie ihr eigenes begeistertes Gefühl auf die Zuhörer zu übertragen und keiner erschien als leerer, bedeutungsloser Klang; alle sprachen sie in ihrer Silberreinheit, gleich einer Sprache höherer Wesen, zum Herzen und erregten bei den empfänglichen Zuhörern dasselbe hohe Gefühl, welches in ihr selbst lebte.“ So urtheilte über sie der bekannte Joh. Friedr. Reichardt in seinem musikalischen Wochenblatt, und Jean Paul feierte sie als seine „wie aus Nachtigallen zusammengesetzte, wie eine Himmelssphäre singende Herzogin.“

Kein Wunder, daß eine solche Erscheinung den Ritter von der Bettenburg mächtig anzog, aber auch der Herzogin war er ein stets willkommener Gast, und er mußte auch ihr Gevatter werden, als ihr jüngster Sohn, Eduard, aus der Taufe gehoben wurde. Im September 1802 besuchte sie ihn zum ersten Mal auf seiner Burg, und da hallten die Räume des Schlosses auch von ihrer Stimme wieder, denn sie erfreute Jeden, den sie ehrte, gern mit ihrem Gesang. Und als Jean Paul 1803 auf seiner Umzugsreise von Meiningen nach Coburg in Hildburghausen verweilte (es hatte sich früher, im Jahr 1800, zwischen ihm und einer Hofdame sogar ein Liebesverhältniß angesponnen und der Herzog ihm, vielleicht nicht ganz ohne Beziehung damit, den Titel eines Legationsraths ertheilt), mußte auch der Bettenburger herbei. Damals war es, wo der bezaubernden Würde der Herzogin gegenüber selbst ein Jean Paul in eine wunderliche Verlegenheit gerieth. Er hatte sein Scheiden von Meiningen, wo Herzog Georg ihn um jeden Preis festhalten wollte, damit begründet, daß er für sein neues Werk neue Anschauungen brauche und diese in neuen Gegenden, unter anderen Menschen suchen müsse. Und als ihn nun an der fürstlichen Tafel die Herzogin nach dem Titel dieses neuen Werkes fragte, wollte dem Dichter das unhofmäßige Wort nicht über die Zunge. Er peinigte sich mit Umschreibungen, bis es endlich doch heraus mußte: „Die Flegeljahre“ Man erzählte sich damals, daß der Herzog nicht umhin gekonnt habe, seine Verwunderung darüber auszusprechen, daß der Herr Legationsrath für „so etwas“ gerade in Coburg neue Anschauungen zu finden glaube.

Hat Meiningen einen geistreichen Fürsten, Hildburghausen eine kunstreiche Fürstin auf die Bettenburg gesandt, so ist Coburg vertreten durch einen gefeierten Feldherrn: Prinz Friedrich Josias, des Kaisers und des Reichs Feldmarschall. Sein Name steht in der Geschichte. Wenn seine Siege über die Türken, seine Eroberung der Walachei schließlich für Oesterreich vergeblich gewesen waren, so theilt er darin das Schicksal so manches andern deutschen Feldherrn, wenn die Federn verdarben, was das Schwert gut gemacht hatte. Ebenso erfolglos blieben seine Siege über die Franzosen und seine Eroberung der Niederlande; aber der Schreckensruf des Pariser Convents über die Gefahr, die durch „Pitt und Coburg!“ Frankreich drohte, beweist, welchen Gegner man in ihm erkannt hatte. Sein flehentlicher „Aufruf an die deutsche Nation“, ihn im Kampf gegen die Uebermacht nicht zu verlassen, bleibt ein ehrendes Zeugniß für das edle patriotische Herz dieses deutschen Mannes; erst als er sein Heer und sich von Deutschland völlig verlassen sah, legte er den Stab nieder und zog sich in seine Vaterstadt zurück, wo er 1815 starb. Daß dieser alte Held ein häufiger Gast des Bettenburgers war, gereicht Beiden zur Ehre.

Stunden tiefer Trauer brachte dem Burgherrn einige Jahre später der Besuch der Wittwe seines fürstlichen Freundes Georg von Meiningen; der noch heute im Andenken seines Volkes durch Hunderte von Geschichtchen und Anekdoten, die alle von der Herzensgüte und Leutseligkeit, dem heiligen Regentenpflichtgefühl und der rücksichtslosen Gerechtigkeitsstrenge, dem freien, regen und vorurtheilslosen Geist und der energischen Thatkraft desselben zeugen, fortlebende „Herzog Jörg“, oder „der Jörg“, wie ihn am liebsten das Volk nannte, war am ersten Weihnachtsfeiertage 1803, erst zweiundvierzig Jahre alt, gestorben. Ein Denkmal in der Todtencapelle im Park der Bettenburg erinnert noch heute an die Seelenverwandtschaft beider deutscher Männer. Und hatte die Wittwe Trost und Stärkung beim treuen Bettenburger gefunden, so gönnte sie einige Jahre später auch ihrem einzigen Sohn Bernhard (Erich Freund, dem jetzt regierenden Herzog) die Freude, ein paar Tage bei ihm zu sein.

Der damals achtjährige Prinz kam in Begleitung seines Erziehers, des in jener Zeit durch seine Erzählungen („Liebenstein und die neuen Arkadier“, „Drei Freunde auf Reisen“, „Sommerabendstunden“ etc.) beliebten Schriftstellers Friedrich Mosengeil[1] und eines der innigsten Freunde des Freiherrn, des Dichters Ernst Wagner. Letzterer, dessen Roman „Willibald’s Ansichten des Lebens“ unsere Romanliteratur nur wenig Gleichgelungenes an die Seite zu stellen hat, war ein begeisterter Schüler und der einzige genießbare Nachahmer Jean Paul’s, der ihn der Herzogin von Meiningen zum Cabinetssecretair empfohlen und ihm dadurch eine sorgenfreie Lebensstellung gewonnen hatte. Der Körper dieses hochbegabten Geistes war leider der bejammernswürdigste; Wagner war ein armer Lahmer, der sich kaum aufrecht zu erhalten vermochte, sodaß wirklich „der Armstuhl seine Heimath“ war. Mühselig mußte er geführt und getragen, und wenn er einmal die freie Natur genießen wollte, auf ein frommes Pferd gehoben werden. Er selbst schreibt darüber an Truchseß, in Beziehung auf seinen Besuch: „Meinen Schimmel will ich zu Hause lassen. Gewiß leiht mir Ihr Pächter einen kleinen, alten, schwer- oder doch langmüthigen, ziemlich sichern Gaul (ein Mühlesel wäre noch besser, denn der scheut niemals), mit einem Sattel, an dem ein tüchtiger Aufhängeriemen zum Dranhalten befestigt ist – auf dem ich einmal in Ihren ganzen Anlagen herumzückele“ etc. Und so geschah es.

Mosengeil hat Reise und Aufenthalt auf der Bettenburg in seinen „Briefen über den Dichter Ernst Wagner“ geschildert, und da wir darin zugleich die durchweg übliche Tagesordnung des gastlichen Schlosses kennen lernen, so nehmen wir das nun auch schon vierzig Jahre alte Buch zur Hand. – Der ganze Vormittag blieb der freien Verwendung der Gäste anheimgegeben. Jeder that nach seinem Gelüste; der ehrwürdige Ritter Truchseß besorgte seine Geschäfte und bedeutende Correspondenz (denn außer dem Vergnügen, gute, deutsche Schriftsteller zu lesen und zu beherbergen, kannte er kein größeres, als an sie zu schreiben); ein einfaches, aber trefflich mundendes Mahl vereinigte alle Gäste und der übrige Tag trennte sie nicht wieder. Ein Gespräch über Literatur war dem Freiherrn der köstlichste Nachtisch; eine schöne Erinnerung poetischer Genüsse verdrängte die andere, und nicht selten wurde aus der reichhaltigen Bibliothek schnell das eben Besprochene herbeigeholt zu erhöhtem, gemeinsamem Genuß. Gegen Abend hin gab’s gewöhnlich einen Spaziergang durch die anmuthigen Pflanzungen des schönen Gartens.

Und wir gehen auch mit; wir finden keine schönere Gelegenheit, uns den schattigen Wald und den Park mit seinen Monumenten, Capellen und Inschriftsteinen zu beschauen. Die Gesellschaft ist zum Abmarsch bereit. Wagner sitzt auf seinem Rößlein, den Sattelriemen in der Hand und, nach der Ueberwindung der Aufsteigebeschwerden, selig lächelnd. Und da kommt auch der Burgherr, im grauen Jagdrock, den Hakenstock in der Faust und auf dem Haupt die Mütze mit dem großen Schirm, denn eine schon fast fünfzehnjährige Augenschwäche ist das Einzige, was ihm bisweilen das Leben trübt. Die Zugbrücke (jetzt breiter chaussirter Damm) wird nun überschritten, [295] wir wenden uns links hin und – „o du tausendfaches Christfest!“ ruft Wagner aus: ein Kastanienwäldchen leuchtet ihm mit seinen Blüthenkerzen entgegen. Daneben liegt ein größerer Platz mit einzelnen Prachtexemplaren von Bäumen.

Abermals etwas links auf breitem Wege, auf dem wir uns bequem um unsern Reiter gruppiren können, geht’s einer steilen Bergwand entgegen. „Welche prächtige Linde dort!“ ruft Wagner. „„Dafür beschattet sie auch den Charlottenplatz. – Sie ahnen wohl, welcher Charlotte er geweiht ist? Ahnen’s doch selbst die Nachtigallen, denn nirgends singen sie schöner, als da.““ – „Und wie lieblich der Wiesengrund da unten lacht!“

Aber weiter – immer rechts am Berg hin in den Wald hinein, über Schluchten hin auf sicheren Stegen, die auch Wagner’s Rößlein nicht scheut. Hohe, stattliche Buchen, durchzogen von blätterreichem Buschwerk und saftigen Moosflächen. Doch endlich lichtet sich’s, wir stehen am Waldrand und drüben winkt uns die „Morgenhütte“, geschmückt mit einem Spruch, welcher den Morgen der Natur hier und den der Ewigkeit dort verherrlicht.

„Nicht lange, so suchest du
Mich vergebens im Felde,
Rufst vergebens den Schlummer!“

murmelte der kranke Dichter mit trübem Blick. „„Nicht doch, Wagner““, sagt der Freiherr, „„der Gedanke an die Ewigkeit soll uns nicht traurig stimmen. Ebendeßhalb habe ich ihn mit dem Alles belebenden Morgen und dieser heiteren Stätte in Verbindung gebracht. Mir ist der Tod der Uebergang zu höherem Glück, kein Trauerfall, und darum ist mir nichts mehr zuwider, als Todtenklage und Trauerkleid.““

„Ist gar schön gedacht – aber was kann mein Herz dazu, daß ihm schauert, wenn ich an sein Stillstehen denke, das ihm in meiner armen Brust so nahe bevorsteht?“

„„Mein Herzensfreund,““ – Truchseß erfaßt Wagner’s Hand, das Pferd zum Wald zurücklenkend – „„wen der gute Gott mit einem so reichen Geist beschenkt hat, der darf nicht murren über Armuth des vergänglichen Leibes. Und wer kann denn dem Jenseits entschlossener entgegen gehen, als Ihr schon diesseits Unsterblichen?““

An einer großen Fichte weidet man sich an dem freien weiten Blick, der sich hier in das tiefere Land öffnet. Jetzt reiten und gehen wir einen Hang hinunter, wo die ansehnliche Spiegelfläche eines Teichs uns winkt, von dem ein Arm sich nach uns ausstreckt, dann wenden wir uns rechts aufwärts zur Einsiedelei, die bestimmt ist „für den, der ein unbefangenes Herz in die Einsamkeit mitbringt, denn ihm erhöht sie jede Freude des Lebens.“ Wie sehr auch Wagner sich hier gefesselt fühlt, so drängt der Burgherr weiter, höher bergan, am steinernen Altar der Einsiedelei unter einer mächtigen Eiche vorüber zur Säule des Scheidewegs, der links mit den Worten:

„Prüfend wandle den Weg, der hier zum Genusse dich locket“ zum Minnesängerplatze, und rechts mit dem Troste:

„Ruhig betrittst du dann den, welcher zum Ziele dich führt“ in sinnigster Weise an dem Spruch: „Der Mensch werde am Morgen des Lebens abgerissen oder er falle im Alter gleich einer reifen Aehre, so fällt er immer zur rechten Zeit nach dem Plan der Natur, wenn er der Vernunft gelebt hat und als ein Mensch gestorben ist“ –– und abermals über eine Schlucht hin am Ring der Ewigkeit (auf einer Pyramide eine Schlange, die, den Schwanz im Rachen, einen Ring bildet, innerhalb dessen ein Eichenblatt mit Puppe und Schmetterling und die aufgehende Sonne dargestellt sind) vorüber zur Todtencapelle führt.

Schon das Herannahen zu diesem einsamen Tempelchen, dessen Eingang der Genius mit der umgekehrten Fackel bewachte, gab eine feierliche Stimmung, so daß wir Alle schweigend nahten – erzählt Mosengeil. Wagner wurde vom Pferde gehoben und in die Capelle geführt. Im Halbdunkel des Waldschattens und des einfach geschmückten Raums erkannten die Gäste rings an den Wänden auf marmornen Gedenktafeln die Namen der hingeschiedenen Lieben und Freunde des Freiherrn – ein Stück Geschichte seines Herzenslebens. Kein Wort, kein Lispeln wurde laut. Aber aus Wagner’s Augen rollten Thränen, als er auf eine noch leere Tafel hinwies, Truchseß einen bittenden Blick zuwarf und auf sich deutete. Erschüttert schloß ihn der starke Ritter in seine Arme. Da drang ein heftiges kindliches Schluchzen an ihr Ohr. Prinz Bernhard lehnte den Kopf an eine Gedenktafel und weinte bitterlich; sie trug den Namen seines Vaters.

Die Marmorplatte, welche der Blick des kranken Dichters für sich gewählt hatte, trägt jetzt die Inschrift: „Ernst Wagner, geboren am 2. Februar 1769, gestorben am 28. Februar 1812.“

„„Kommt, laßt uns den letzten Strahlen der Sonne nachschauen, wir leben ja noch!““ Damit führte der Freiherr seine Freunde wieder ins Freie; Wagner wurde aufs Pferd gehoben und bald stand der kleine Zug abermals vor einer Brücke, die über eine Schlucht führte. Eine Säule ragte vor ihnen auf mit vielen kleinen Medaillons, von denen mehrere mit Namen beschrieben waren. „„Das ist mein Denkmal der Geschwisterliebe im Truchseß’schen Hause. Ich habe bestimmt, daß die Namen der Geschwister erst dann hier eine Stelle finden, wenn sie das dreißigste Jahr zurückgelegt und bis dahin in Friede und Einigkeit gelebt haben.““

„Dann ist gewiß kein Ausstreichen von dieser Ehrensäule mehr nöthig,“ bemerkte Wagner, der, wie Mosengeil, eine solche Stiftung in jede Familie wünschte.

Hundert Schritte weiter kam man an der schönen gothischen Margarethen-Capelle mit trefflichen Glasmalereien vorüber und bog nun zum Scheidewege zurück, um den dort zur Linken abbiegenden Weg des Genusses zu betreten. Es geht wieder bergauf. Oben streckt eine uralte Eiche ihre knorrigen Aeste über das Denkmal für Götz von Berlichingen und Franz von Sickingen aus und an ihm und einer künstlichen „alten Burg“ vorüber gelangen wir zum Minnesängerplatz.

„Welch’ reizender Raum für eine Dichter- und Heldentafelrunde!“ rief Wagner aus. „Ein Tempel der Natur, in welchem Eichenstämme die mächtigen Säulen und Eichenkronen das Dach bilden. Hier die Stein-Estrade mit der steinbildgeschmückten Rückenwand und den staffelförmigen Seitenwänden, ganz geschaffen zum Ehrensitz für die holden Edelfrauen und hohen fürstlichen und ritterlichen Preisrichter des Minnegesangs – –“

„„Hoho,“„ lachte der Freiherr, „„die dicken Schulzen und Bauernweiber der Umgegend nehmen ihn jetzt häufiger ein, als so hohe preisrichterliche Welt. Die Land- und Stadtleute benutzen diesen Platz oft zu allerlei Familien- oder Gesellschaftsfestlichkeiten, und ich habe das gern, weil man keinen Unfug dabei duldet und meine Anlagen und Pflanzungen schont.““

Der Weg führt nun leicht aufwärts in den Wald hinein, zuerst zu einem Denkstein für Ulrich von Hutten, der von schlanken Föhren überragt ist, und dann nach etwa zehn Minuten zum Dichterhaus, wo die Bettenburg so vor uns steht, wie unsere Abbildung sie giebt. Der Freiherr hatte aber noch eine Ueberraschung für seine Freunde bereit und spornte zur Eile an, um noch höher hinauf abermals zu einem Waldrand zu gelangen, wo sein Jagdhaus stand. Hier machte Alt und Jung mit einem Ah! dem freudigen Herzen Luft: da streckte sich weithin das Land mit seinen Dörfern, Wiesen, Feldern und Wäldern aus, schon von langen dunklen Schatten der Dämmerung durchzogen und die Gipfel der Haßberge von der scheidenden Sonne vergoldet. Erst als ihr letzter Strahl verglommen war, setzte der Zug zum Heimgang sich wieder in Bewegung. Der Weg führte ihn zum Charlottenplatz zurück, der Nordwand der Burg entlang, durch ein Musterwäldchen, in welchem Truchseß alle in Deutschlands Forsten vorkommenden Bäume pflegte, und am äußersten Ende desselben zum Freundschaftsplatz, den „hessischen Freunden“ des Freiherrn geweiht und mit Schiller’s Worten: „Wem der große Wurf gelungen etc.“ auf einer Steintafel geziert.

„„Dank ihm, daß er dies sang,
Heil ihm, daß er es lobte!““

fügte Truchseß, hinzu. Die Seele voll des Gesehenen folgten die Gäste ihrem edeln Führer in das Schloß zurück.

Fr. H.



[296]
Unter dem Geistertisch.


Taschenspieler pflegen wohl für den letzten Abend ihres Aufenthalts in einer Stadt eine Vorstellung zu geben, in der sie den Zuschauern ihre Kunststücke, freilich nicht alle, erklären. Eine Anwendung im Großen hat diese Sitte durch einen Mann gefunden, der sich durch Geschäfte, die sich meistens als höchst einträgliche Eulenspiegelstreiche bezeichnen lassen, einen Weltruf erworben hat. Barnum, der Erfinder des Meerweibchens und der Amme Washington’s, der Säuglings-Ausstellungen und des Miethens von Künstlern für Wanderconcerte, hat ein Buch der Enthüllungen geschrieben, in welchem er das liebe Publicum unterrichtet, wie es von ihm und Seinesgleichen an der Nase herumgeführt wird. Wir wissen nicht, ob diese Beichte eine Buße ist, die der Zunftälteste der nordamerikanischen Schwindler sich auferlegt hat. Jedenfalls hat Barnum ein ergötzliches und für den Theil der Welt, der nicht selbst betrogen sein will, nützliches Buch geschrieben.

Die Schwindeleien, die von Speculanten erfunden werden, sind in der Regel nur auf den Moment berechnet. Es giebt aber auch dauerhafte Sorten, und nicht gerade zur Ehre des menschlichen Verstandes und Herzens sind dies ohne Ausnahme diejenigen, welche entweder auf die Schlechtigkeit oder auf die Dummheit der Menschen berechnet sind. Es würde nicht ganz leicht sein, einen Schwindel zu nennen, der noch plumper ist, als das Geisterbannen, und doch behauptet sich dieser Schwindel seit achtzehn Jahren und hat sich von seiner nordamerikanischen Heimath über Europa verbreitet. Das Geisterklopfen ist zu einem Gewerbe geworden, das besonders in Palästen sein Brod sucht und sogar von den Tuilerien einen Tribut erhoben haben soll.

Die Töchter eines gewissen Fox zu Hydesville im Staate New-York sind die Erfinderinnen des Geisterklopfens. Sie wußten mit den Gelenken der Zehen und der Kniee knackende Töne hervorzubringen, deren Ursprung für Jedermann ein Räthsel war. Ein besonders heller Kopf kam auf die Vermuthung, daß dieses Knacken ein Geisterklopfen sei, und verlangte eine Probe. „Bist du ein Geist, der du diese Töne hervorbringst, so klopfe dreimal,“ rief er, und es klopfte drei Mal. Das Aufsehen war ein ungeheures und die Misses Fox begriffen, daß sie viel Geld verdienen könnten, wenn sie sich zu Mittlerinnen (Mediums) eines Verkehrs der Menschen mit den Geistern erböten. Sie erfanden ein System der Correspondenz, das noch heute im Gebrauch, obgleich durch einfachere Methoden ziemlich verdrängt ist. Hatte ein Geist, mit dem Jemand in Verkehr zu treten wünschte, durch Klopfen angezeigt, daß er anwesend sei und auf Fragen antworten wolle, so sprach der Fragende die Buchstaben des Alphabets. Klopfte es bei einem Buchstaben, so wurde dieser aufgeschrieben und das Alphabet wieder hergesagt, womit man so lange fortfuhr, bis die durch Klopfen bezeichneten Buchstaben Worte bildeten, in denen der Fragende die gewünschte Auskunft zu erkennen hatte. Jetzt schreiben manche Mittler die Antwort in krampfhaften Zuckungen nieder – Geister führen ihnen die Hand! – oder sie fallen gleich der delphischen Pythia in Ekstase und sprechen die Worte, welche die Geister ihnen souffliren.

Der Geisterglaube nahm vom ersten Augenblicke den unverwüstlichen Charakter an, der ihm geblieben ist. Die Misses Fox gaben häufig falsche Antworten und erklärten z. B. einen verschwundenen Colporteur für ermordet, der nächster Tage frisch und gesund in Hydesville wiedererschien. Frau Culver, eine nahe Verwandte, verrieth das Verfahren der jungen Damen, das diese unter dem Siegel der Verschwiegenheit ihr mitgetheilt hatten. Ein ganzes Collegium von Aerzten erklärte ausführlich, wie das klopfende Geräusch entstehe, und einer dieser Aerzte, Doctor van Bleck, hielt Vorlesungen über den Schwindel, die er durch Leistungen im Klopfen erläuterte, hinter denen die Misses Fox weit zurückblieben. Alles wars vergebens; statt unterdrückt zu werden, verbreitete sich der Schwindel und nahm neue Formen an.

Der Verkehr mit der Geisterwelt ist durch die Ausbildung des Spiritualismus ein sehr leichter geworden. Ein Gespenst ist heutzutage wie ein Mensch: man kann sich mit ihm mündlich und auch schriftlich unterhalten. Es giebt einen Mann Namens J. V. Mansfield, den die Geister zu ihrem Generalpostdirector ernannt haben. Will Jemand an einen Verstorbenen schreiben, so schickt er seinen Brief, der aber nur gut verschlossen angenommen wird, an Mansfield. Mit der Antwort des Verstorbenen erhält er zugleich seinen eigenen Brief in demselben Zustande zurück, in dem er ihn abgehen ließ, damit er sich überzeugt, daß die Geisterpost das Briefgeheimniß nicht verletzt. Natürlich öffnet Mansfield jeden Brief, um zu wissen, ob und wie der Verstorbene zu antworten hat. Blos mit Gummi geschlossene Briefe lassen sich öffnen, wenn man sie in heiße Wasserdämpfe hält. Sind die Briefe mit Siegellack versiegelt, so erwärmt man das Siegel und fährt mit einer dünnen, scharfen Klinge darunter hin, ohne das Papier zu verletzen. Zum Wiederaufkleben benutzt man etwas Gummi. Hat ein Briefsteller zuerst mit Oblate und darüber mit Siegellack gesiegelt, so schneidet Mansfield das Couvert von der Seite mit einem ganz dünnen Messer auf, verklebt es wieder mit Gummi und glättet es sorgfältig mit dem Schabholz. Briefe, die nicht von fünf Dollars begleitet werden, berücksichtigt er nicht. Briefe, die er nicht zu öffnen wagt oder deren Inhalt ihm verfänglich ist, werden von den Geistern keiner Antwort gewürdigt, aber die fünf Dollars zahlt Mansfield darum nicht zurück. Wie jede Post, garantirt seine Geisterpost blos die richtige Briefbestellung und steht für die Beantwortung der Briefe nicht ein. „Wo sind Sie gestorben? Wann? Wer hat Sie in Ihrer letzten Krankheit gepflegt? Wie viele Personen waren im Augenblick Ihres Todes anwesend?“ Solche und ähnliche Fragen nehmen dem Briefsteller jede Hoffnung auf eine Antwort. Aber diese bleibt nie aus, wenn so gefragt wird: „Sind Sie glücklich? Sind Sie oft in meiner Nähe? Haben Ihre religiösen Ansichten in der Geisterwelt eine Aenderung erfahren?“ Auch Mansfield ist als Betrüger entlarvt worden, ohne daß die Einkünfte seiner Post darunter gelitten hätten. Ein Bürger von Buffalo übergab ihm einen Brief, in den er ein Härchen und ein Sandkorn eingeschlossen hatte. Der Brief kam, von einer Geisterantwort begleitet, mit scheinbar unverletztem Siegel zurück, aber die beiden Einlagen, die von Mansfield nicht beachtet worden waren, fehlten. Der Mann von Buffalo gab dieser Thatsache die weiteste Verbreitung, doch Mansfield konnte seine Betrügereien nach wie vor fortsetzen.

Eine Mittlerin (weibliches Medium) hielt mehrere Jahre lang in einem der palastähnlichen Häuser des Breitenwegs von New-York ein Geister-Bureau. Eines Tages tritt ein Herr ein und erklärt seinen Wunsch, mit den Geistern in Verbindung zu treten. „Wünschen Sie von Verstorbenen zu hören?“ fragt die Mittlerin. Der Herr bejaht und fügt hinzu, daß das Schicksal seiner Frau ihn beschäftige. Das Medium geräth in Zuckungen und beginnt zu schreiben: „Lieber Mann! Wie froh bin ich, daß ich mich auf diese Weise mit Dir unterhalten kann! Ich fühle mich in der neuen Wohnung, die mein Geist bewohnt, wahrhaft glücklich und warte geduldig auf die Zeit, die Dich mit mir vereinigt.“ Der Fremde ist nicht wenig erstaunt; seine Frau ist gar nicht todt, sie liegt seit sechs Monaten krank darnieder, und der gute Mann hat einen Versuch machen wollen, ob die Geister in der Auffindung des richtigen Heilmittels glücklicher sind, als die New-Yorker Aerzte. Das Medium, das deceased (gestorben) wie diseased (erkrankt) ausgesprochen hat, ist schuld an dem fatalen Mißverständniß gewesen. Dieselbe Mittlerin reiste später in England und Schottland und wurde dort dem Gelächter preisgegeben. Sie ließ die Fragen an die Geister aufschreiben und antwortete, ohne das Geschriebene gesehen zu haben. Da der Schreibende ihr gegenüber Platz nehmen mußte und sie keinen Blick von seiner Hand verwandte, so schloß ein Arzt, daß die Dame sich geübt habe, an der Bewegung der Hand zu errathen, was geschrieben werde. In der Regel wird der Geist gefragt: „Sind Sie glücklich (happy)?“ Der Arzt machte aber eine für das Auge der Mittlerin nicht bemerkbare Variante und schrieb: „Sind Sie hungrig (hungry)?“ „Ja, sehr,“ antwortete der Geist.

Eine gewöhnliche Manier der Mediums, den Inhalt der niedergeschriebenen Fragen kennen zu lernen, ist die folgende. Der Fragende erhält ein feines, durchsichtiges Papier, schreibt darauf und faltet es so zusammen, daß die Schrift verdeckt wird. Das Papier wird nun dem gegenübersitzenden Mittler übergeben, „damit er den Geistern den Inhalt des Geschriebenen durch magnetisches Streichen zugänglicher mache“. Er streicht in der That und so stark, daß die Inschrift durch das feine Papier hindurch lesbar [297] wird, worauf er leicht antworten kann. Eindrucksvoller wird diese leichte Betrügerei, wenn ein gefälliger Geist sich bestimmen läßt, dem Mittler die Antwort in blutiger Schrift auf den Arm zu schreiben. Das wird so gemacht. Während der Kunde irgendwie beschäftigt wird, hält der Mittler den Arm unter den Tisch, strafft die Muskeln an und schreibt mit der anderen Hand, in der er einen Bleistift oder irgend ein anderes Instrument mit stumpfer Spitze hält, die Geister-Antwort in Buchstaben von drei Viertelzoll Länge auf den Arm. Er muß so stark drücken, daß er einen leichten Schmerz empfindet, doch darf er die Haut natürlich nicht verletzen. Ist er mit seinen Buchstaben fertig, so streicht er einige Male über den Arm hin, und die Antwort steht in rother Schrift da. Der starke Druck des Bleistifts zwingt nämlich das Blut, aus den Haargefäßen herbeizuströmen, und ein Theil bleibt durch die Epidermis an den gedrückten Stellen sichtbar, bis der wiederhergestellte Kreisumlauf des Blutes es allmählich verschwinden läßt.

Die Antworten der Geister durch Klopfen sind wegen der Leichtigkeit, mit der sich klopfen läßt, in der Mode geblieben. Die beiden Beine des klopfenden Tisches auf der Seite, wo der Fragende sitzt, greifen mit einem Paar kleinen Eisenspitzen in ebenso kleine Löcher des Fußbodens ein, so daß der Tisch auf dieser Seite nicht gleiten kann. Der Mittler sitzt auf der andern Seite, legt die Hand auf den Rand des Tisches, drückt mit dem Ballen gegen die Tischplatte, hebt dadurch den Tisch und läßt ihn klopfen. Auf eine stark verbesserte Klopfmethode wurden die Geisterkenner durch einen Wirth gebracht. Herr Dexter hielt in der New-Yorker Blancker-Street einen Austern- und Liqueurladen, der nicht in Ruf kommen wollte. Als kluger Yankee wußte er sich durch Tänze neuester Art zu helfen. Eine Violine wurde herumgezeigt, in einen Kasten eingeschlossen und auf die Erde gelegt. Indem der Wirth mit der Hand oben auf dem Kasten hin- und herfuhr, spielte die eingeschlossene Violine Walzer und Rutscher, zu denen zehn bis zwölf Hüte tanzten. Der Tanz war ein bloßes Aufundniederhüpfen, aber selbst diese unvollkommene Leistung ging so weit über die Natur des Hutes hinaus, daß sie nur durch die Kraft von Geistern erklärt werden konnte. Die Geisterbanner von New-York zögerten denn auch nicht, Dexter’s Vorstellungen für neue Beweise des Hereinragens einer anderen Welt in die unsrige zu erklären. Einer von ihnen, ein Mechaniker Paine, studirte die tanzenden Hüte, bis er die bewegende Kraft ermittelt hatte. Er gab nun, zuerst in Worcester (Massachusetts), dann in New-York, Vorstellungen mit tanzenden Tischen. Die von selbst spielende Violine ließ er weg, weil ihm der verschwiegene Gehülfe fehlte, der bei Dexter ein Stock tiefer genau unter der Stelle des Fußbodens, wo der Violinkasten lag, eine andere Violine spielte. Er miethete sich in New-York bei einer stillen Familie ein und traf in Stunden, wo außer ihm Niemand im Hause war, seine mechanischen Vorkehrungen. Bei seinen Vorstellungen saß er in einem halbverdunkelten Zimmer soweit von seinem tanzenden Tische, daß man an eine Verbindung zwischen ihm und dem munteren Mahagony nicht wohl denken konnte. Ein als Indianer gekleideter Diener spielte Walzer, und zierlich hob der Tisch im Tacte das eine und das andere Bein.

Eines Tages traten drei Herren bei Paine ein. Sie hatten dem Tanz eine Weile zuzusehen, als einer aufstand, die Thür verschloß und auf den Geisterbanner zuging. „Ich werde Sie untersuchen,“ sagte er, „und finde ich bei Ihnen nicht eine dünne eiserne Ruthe, die durch ein Loch unter den Fußboden geht und auf einen Hebel wirkt, der den Tisch in Bewegung setzt, so werde ich Sie um Verzeihung bitten und an Ihre Gespenster glauben.“ Paine sah sich entdeckt und gestand Alles. Er hatte in der That unter dem Fußboden einen etwas verwickelten Mechanismus angebracht, auf den er drückte und der abwechselnd die Tischbeine hob. Auf dem Fußboden lag ein Teppich, dessen kleine Oeffnungen Niemand wahrnahm, wenn die Drähte, welche die Beine hoben, nach dem Tanze wieder unter dem Fußboden verborgen waren, und Paine die Zuschauer zu einer genauen Untersuchung des Tisches aufforderte.

Eine der plumpsten Täuschungen gelang längere Zeit einer Dame, die mit dem altjüdischen Simson in Geschäftsverbindung zu stehen vorgab. Der riesenstarke Feind und Dränger der Philister saß unsichtbar, in Gesellschaft eines deutschen Accordions, einer großen zinnernen Schüssel mit Handgriffen und einer Klingel unter einem Tische, von dem ein Teppich bis zum Fußboden niederhing und auch die mit untergeschlagenen Armen ruhig daneben sitzende Dame bis zum Gürtel unsichtbar machte. Auf Bestellung entlockte Simson dem Accordion wirre Töne, klingelte und machte mit der Zinnschüssel einen Heidenlärm. Fand sich unter den Zuschauern ein besonders muthiger, so durfte er vor den Tisch treten und empfing durch den Teppich hindurch einen biedern Händedruck. Einmal hob ein solcher Mann den Teppich plötzlich und die Gesellschaft sah nun, daß die Füße der Dame der klingelnde, spielende und händedrückende Simson seien. Sie konnte ihre Zehen wie Finger bewegen. Das Kunststück des Händedrückens führte sie so aus, daß die große Zehe des einen Fußes den Daumen, die Zehen des andern Fußes die übrigen Finger vorstellten.

Mit wem man Briefe wechselt, dem kann man seine Photographie nicht wohl abschlagen. Die Geister sahen das ein und ließen sich auch in dieser Beziehung gefällig finden. Wie Barnum erzählt, gab ein Experiment, das ein ehrlicher Photograph machte, die Veranlassung zu Photographien aus dem Geisterreiche. Jener Künstler schloß sich in eine Camera obscura ein und versuchte sich selbst zu photographiren. Er erhielt ein Bild von schattenhaftem, wahrhaft gespenstischem Charakter, das übrigens eine gewisse Aehnlichkeit hatte. Ein Geisterkenner, dem er die Photographie mit geheimnißvoller Andeutung über ihren Ursprung zeigte, machte im New-York Herald of Progreß bekannt, daß Geister sich in einer Camera obscura eingefunden hätten, um sich photographiren zu lassen. Der Künstler bestätigte die Sache, weil er die Aussicht auf glänzende Geschäfte vor sich sah. In der That strömten die Menschen nun herbei, um die Photographien verstorbener Männer, Frauen, Söhne, Töchter, Brüder und Schwestern zu erhalten. Der Glaube macht blind, und so wenige Anhaltspunkte der Photograph zuweilen besaß, fand doch Jeder die Photographie, die ihm eingehändigt wurde, zum Sprechen ähnlich. Einige kleine Versehen liefen auch hier mit unter, z. B. kam eine vor Jahren gestorbene Frau auf der Platte mit einer Zuavenweste vom modernsten Schnitt zum Vorschein. Der Photograph nahm anfänglich für das Bild fünf Dollars, aber bald ließ er sich zehn Dollars bezahlen, und der Zudrang nahm noch immer zu.

Gegen das Ende des Bürgerkriegs wünschte einer der frömmsten Friedensfreunde, William Lerwell Jewett, die Ueberzeugung zu haben, ob die todten großen Männer des Vaterlandes in dessen Drangsalen es umschwebten. Um darüber Gewißheit zu erlangen, forderte er von dem Photographen der Geister die Portraits von John Adams, Andrew Jackson, Henry Clay, Stephen A. Douglas und – Napoleon. Der Photograph sprach sein Bedenken aus, ob die Schatten so großer Männer seine Werkstatt beehren würden, und in der That gelang am ersten Tage blos eine Art von Nebelbild, in dem Jewett aber die Züge des ältern Adams erkannte. Um so besser geriethen die spätern Photographien – der Künstler hatte sich authentische Portraits verschafft. Die Photographie Napoleon’s I. hat Jewett dem jetzigen Kaiser der Franzosen zugeschickt, damit er sich freue, wie wenig sein großer Oheim im Grabe sich verändert hat.

Die Helden, Könige, Richter und Propheten des Alten Testaments sind unter den Geistern, die sich herbeiklopfen lassen, stark vertreten. Mit Daniel aus der Löwengrube hatte ein Medium ein kleines Unglück. Der Prophet ließ sich blos hebräisch vernehmen und seine Auslassung mußte folglich übersetzt werden. Man brachte sie einem Israeliten, der auf der Stelle einige Verse aus dem letzten Capitel des Daniel erkannte und sagte: „Hebräisch ist es, aber der Prophet hat drüben ganz vergessen, daß wir von rechts nach links schreiben.“ Einem Professor der orientalischen Sprachen wurde eine Antwort Mohammed’s auf eine Anfrage über den Werth seiner Offenbarungen vorgelegt. „Ist es nicht arabisch?“ fragte man, als er lange schwieg. „Etwas Arabisches ist drin,“ antwortete er trocken, „nämlich Gummi Arabicum.“

Das Hauptblatt der amerikanischen Spiritualisten erscheint in Boston und heißt „das Banner des Lichts“. Hinter dem Titel folgt gleich die Anzeige: „Jede Enthüllung kostet zwei Schilling.“ Die Zeitung enthält Berichte aus ganz Nordamerika und theilt ganze Correspondenzen zwischen Lebenden und Verstorbenen mit. Welch’ tolles Zeug dabei zum Vorschein kommt, wollen wir an einem Beispiel zeigen. Ein Geist schreibt an einen irdischen Bekannten: „Auf der Welt war ich ein Mann, hier bin ich eine Frau geworden. Dort unten hatte ich etwas genommen, worauf ich kein Recht hatte, ein Eigenthum, welches mir nicht gehörte. Ich habe zweitausend Dollars genommen, die mir Niemand schuldete, [298] und davon will ich jetzt reden. Ich hatte Bekanntschaft mit einem Juden, der mich zu seinem Glauben bekehren wollte, und ich wollte einen Christen aus ihm machen. Kaum war ich in der Geisterwelt angekommen, als der Bruder jenes Juden mir begegnete und mir sagte: ‚Hans, Du mußt auf die Erde zurückkehren und Deine Rechnung mit meinem Bruder ausgleichen.‘ Dazu bin ich jetzt hier. Ich wünsche also, daß meine Frau zweitausend Dollars nimmt und sie der Frau des Juden zurückgiebt. Das Geld liegt in einem zinnernen Kästchen.“ Der Geist vergißt nun, daß er selbst eine Frau geworden ist, und schließt mit einem Ausfall auf das ganze weibliche Geschlecht. Er giebt seiner Frau schuld, nicht zu wissen, wie ihr eigener Name geschrieben werde. „Alle Frauen schreiben falsch,“ ist sein letztes Wort.

Das „Banner des Lichts“ macht fast wöchentlich Mittheilungen über Ausschußsitzungen und große Versammlungen der Spiritualisten. In den großen Städten des Ostens wie in den Dörfern des Westens giebt es Gruppen von Geisterbannern, die sich gegenseitig unterstützen und von der Leichtgläubigkeit der Menschen starke Steuern erheben. Werden diese Enthüllungen, von denen wir nur die pikantesten ausgehoben haben, dem Unwesen einen Stoß versetzen? Ihr Verfasser bezweifelt es selbst, und diesem erfahrenen Kenner der menschlichen Schwäche dürfen wir nicht Unrecht geben.




Ein anderer Nettelbeck.
Erinnerung aus der Zeit der schweren Noth.


Die schönsten, ehrenreichsten Epochen, welche seit Jahrhunderten das deutsche Volk erlebt hat, sind und bleiben die Jahre dreizehn bis fünfzehn und das Jahr achtundvierzig. Auf beide folgten zwar Erschlaffung und Niederlage, aber ihre innere Triebkraft hat sich bewährt und vollberechtigt ist die Erwartung, daß eine dritte entscheidende Epoche unsere Entwickelungsnoth krönen und uns endlich im Innern und nach Außen gesund und kräftig machen wird.

Inmitten der weitverbreiteten Gleichgültigkeit des heutigen Geschlechts versenkt sich das patriotische Gemüth gern in den Schwung und die Erhebung jener großen Zeit, da unsere Väter die fremden Ketten brachen. Für die Kämpfe des Tages schöpft es neue Kraft aus unserm größten Freiheitskampf, wie Antäus aus der mütterlichen Erde. Mit nationalem Stolz schaut es auf die Gestalten und Thaten der damaligen Führer und Streiter; doch hat es Liebe und Bewunderung nicht blos für jene Alles überstrahlenden Namen, die Jedermann kennt, sondern auch für die Männer zweiter und dritter Ordnung, welche bescheidentlich in engeren Kreisen bei Erfüllung ihrer Bürger- und Soldatenpflicht sich hervorthaten.

Ein solcher Mann war David Christian Mettlerkamp. 1774 in Hamburg geboren, führte er seit 1808, nach verschiedenen Reisen, das Geschäft seines Vaters, eines Bleideckers, mit Fleiß und Tüchtigkeit, hatte aber zugleich offene Augen für das Wohl und Wehe des engeren und weiteren Vaterlandes.

Von einem bewußten Vaterlandssinn, von einem Schmerze über den Fall der Unabhängigkeit Deutschlands war in Hamburg fast noch weniger die Rede als anderswo. Als Franz die deutsche Kaiserkrone niederlegte, ordnete ein Senatsbeschluß an, unter alle Ausfertigungen statt „kaiserliche freie Reichsstadt“ zu setzen „freie Hansestadt Hamburg“. Nach der Schlacht bei Jena erließ der Senat ein revidirtes Mandat in Betreff nöthiger Vorsicht und Bescheidenheit in Reden und Schreiben über die Weltereignisse und die Kriegsangelegenheiten. Dies war die Hamburgische Uebersetzung des unsterblichen Wortes: „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht.“ Man wiegte sich in eitlen Träumen ewiger Neutralität mitten im europäischen Kriegsgetümmel und schmeichelte sich mit ungestörter Fortdauer hanseatischer Handelsblüthe, sogar dann noch, als 1806 die Franzosen eingerückt waren. Die Unsicherheit alles im Unglück der Nation erlangten Sonderglücks trat sofort in furchtbarer Klarheit vor Augen. Die Millionen Mark, welche man schon vorher für den Unterhalt französischer Truppen in Hannover und als „Douceurs“ an Generäle und Diplomaten bezahlt hatte, konnten den Sturz der alten Hansestadt nicht aufhalten. Schon zwei Tage nach der Ankunft der Franzosen erschien das berüchtigte Decret von Berlin, in Folge dessen der Verkehr mit England bei Todesstrafe verboten und alle englischen Waaren confiscirt wurden. Diese confiscirten Waaren durften dann mit sechszehn Millionen ausgelöst werden, deren Bezahlung aus öffentlichen Mitteln die Bürgerschaft beschloß. Trotzdem wurden diese Waaren mit einer schweren Steuer belegt. Und zu guter Letzt befahl ein neues Decret aus Fontainebleau die Verbrennung sämmtlicher englischen Waaren in allen von Frankreich beherrschten Ländern. Die Kaufleute selbst wurden eingeladen, der feierlichen Verbrennung ihres zweimal bezahlten Eigenthums beizuwohnen, und sahen, daß meist werthlose Gegenstände und mit Stroh gefüllte Ballen verbrannt wurden; die confiscirten Waaren waren als Beute in den Händen der französischen Beamten geblieben! Truppenzüge und Erpressungen bildeten die Geschichte Hamburgs in den folgenden Jahren. Vor der Einverleibung in das Kaiserreich rief Napoleon einer Hamburger Deputation zu: „Ihr werdet ruinirt sein, sagt ihr? Desto besser! Dann könnt ihr nicht mehr Englands Geschäfte besorgen.“

Unter den Männern von Kopf und Herz, welche in Hamburg während der tiefsten Finsterniß des Despotismus das heilige Feuer der Vaterlandsliebe hüteten, stand Mettlerkamp in erster Reihe. „Daß durch die Waffen zuerst die fremde Macht gebrochen werden mußte, war mir klar,“ sagte er. Mettlerkamp widmete von da an seine Muße dem Studium der Kriegswissenschaft. Im Winter 1812 suchte er kräftige Leute, besonders Handwerker, auf den Tag der Befreiung vorzubereiten. Am letzten Februar 1813 erfolgte der vorläufige Ausbruch des Volkszornes, am 12. März der Abzug der Franzosen, am 18. März der Einzug der ersten Freischaaren der Verbündeten unter Tettenborn. Sie wurden empfangen von einem Erlösungsjubel des Volkes, dessen Gleichen nie dagewesen. Aber schon am 30. Mai begannen mit dem Einzuge Davoust’s und Vandamme’s die Schrecken der neuen französischen Herrschaft. Darüber, wer die Schuld an diesem namenlosen Elend trug, ist bekanntlich eine ganze Bibliothek geschrieben worden. Gewiß ist, daß die Herren vom Senat sich überaus fürsichtig und muthlos benahmen, dieselben, welche doch 1811 den Muth gehabt hatten, durch eine Deputation nach Paris die Taufe des Königs von Rom mitzumachen und für gnädigste Einverleibung in das Kaiserreich den Dank Hamburgs abzustatten. Ein Mitglied der damaligen Regierung hob später rühmend hervor, „daß sie die Gemüther nicht noch mehr exaltiren wollte, als sie es ohnehin schon waren!“ Tettenborn hatte saure Mühe, seine Vorschläge wegen Errichtung eines hanseatischen Corps von Freiwilligen und wegen Ausrüstung einer Bürgergarde von sechs Bataillonen zur Vertheidigung der Stadt durchzusetzen. Hätten die Herren des Raths und die Matadore der Börse mit der vollen Kraft und Aufopferung gerüstet, wie Preußen, so würde Hamburg sicherlich nicht noch einmal französisch geworden sein. Die Energie und Erfindungsgabe, mit welcher man vorher und nachher den unersättlichen Schlund des Feindes zu füllen suchte, wäre besser am Platz gewesen, als es denselben zu bekämpfen galt. Freilich auch auf Tettenborn und viele seiner Officiere, da sie im üppigen Hamburger Leben erschlafften, fällt ein Theil der Schuld. Als dritter Schuldiger erscheint von Heß, der Befehlshaber der Bürgergarde; seine Unfähigkeit und Unentschlossenheit war einer solchen Zeit nicht gewachsen. Das Volk selbst war begeistert und thatkräftig genug; es bewies namentlich während des Frühjahrs 1814 in wiederholtem Zusammenstoß mit den Franzosen, was mit ihm zu leisten war, wäre es besser regiert und geführt gewesen.

Der Wackerste der wackern Hamburger war Mettlerkamp. So wie ihm nur gestattet worden, sich aus ungeordneten Haufen ein Bataillon zu bilden, lebte er ganz der Vertheidigung der Vaterstadt mit allen seinen Kräften, allen seinen Mitteln. Zwei kaum dem Knabenalter entwachsene Söhne führten neben ihm die Waffen. Nach Tettenborn’s und von Heß’s stillem Abzug vom kampfbegierigen Volke laut zum obersten Befehlshaber verlangt, war es Mettlerkamp, der das Wort Saragossa aussprach und an den Senator Bartels schrieb: „Man möge doch die Wichtigkeit [299] des Augenblicks nicht verkennen und wie viel auf dem Spiel stehe; die Lage sei nicht so schwierig, wie sie scheine, die Feinde nicht im Stande, die Stadt mit Gewalt zu nehmen; er bitte um Vertheidigungsbefehle und stehe mit seinem Kopf dafür, die Stadt noch vierzehn Tage zu halten, während welcher Zeit Hülfe kommen werde.“ Umsonst! Der Senat, lau und schwachmüthig, erließ den Auflösungsbefehl. Die Wehrmänner der Bürgergarde, zähneknirschend und fäusteballend, waren nur mit der größten Mühe zu bewegen, die Waffen abzugeben. Mettlerkamp eilte zu Pferde dorthin, wo noch gekämpft wurde; am 31. Mai fand er sich bei den Schweden ein.

Von da an beginnt sein dornenreichstes Werk: die Bildung der hanseatischen Bürgergarde zur Befreiung der Hansestädte. Diese That hat ein besonderes Interesse für die Gegenwart, in welcher die Ersetzung des stehenden Heeres durch Miliz eine brennende Frage ist. Ein schlichter Handwerker bildet mit strenger, sogar eigensinniger Fernhaltung sowohl alles eigentlichen Soldatenthums wie aller gewöhnlichen Freischaarenelemente aus dem Waffenhandwerk fremden Bürgersleuten einen selbstständigen Truppenkörper zur Wiedereroberung der Vaterstadt und macht die Schaar Vertriebener inmitten aller Nothstände, Beschwerden und Hindernisse so feldtüchtig, daß die hanseatische Bürgergarde an dem Feldzug an der Niederelbe und der Belagerung Hamburgs rühmlich thätigen Antheil nimmt und Mettlerkamp den Feldherren der großen Heere Achtung und Anerkennung seiner selbstständigen Stellung abnöthigt.

Versprengte und verbannte Hamburger fanden sich zunächst bei Mettlerkamp ein, und auf mecklenburgischem Boden erließ er im Juni seine „Proclamation an die Bürger von Hamburg, Lübeck und Bremen“, aus welcher wir nur das kerngesunde Wort anführen: „es ist des freien Mannes Sache, zu kämpfen, so lange er lebt“. Der Kronprinz von Schweden versprach Mettlerkamp seine eifrige Unterstützung; beiläufig gesagt, machte der schlaue Bernadotte auf den ehrlichen Hamburger den Eindruck, als speculire er auf deutsches Land. Ein wohlausgesonnener Plan Mettlerkamp’s, Hamburg und Lübeck durch Ueberfall zu gewinnen, scheiterte an Wallmoden’s Bedenklichkeit. Die hanseatische Bürgergarde wurde der combinirten Nordarmee eingereiht und schwur den Fahneneid am 21. August zu Güstrow, wo das Directorium der hanseatischen Angelegenheiten (Gries, Curtius, Sieveking und Mettlerkamp) seinen Sitz hatte. Sie wurde übrigens vorläufig nicht zum Kampfe zugelassen, sondern mußte in Rostock und Wismar Garnisondienste thun und wurde am 30. October der hanseatischen Legion einverleibt, gegen den Wunsch und Willen des von Bürgerstolz erfüllten Anführers. Nach verschiedenen strapazenreichen Märschen und dem scharfen Gefecht bei Mölln gelangte man nach Lübeck, und von hier durfte Mettlerkamp endlich mit seinen wackern Bürgerwehrmännern auf die heißersehnte Vaterstadt losrücken, wo er inzwischen von den Franzosen zum Tode verurtheilt und seine Habe eingezogen war. In und bei Bergedorf hatte das abgerissene, oft hungernde Corps Tag und Nacht den strengsten Wachtdienst, nur durch einzelne Vorpostengefechte erheitert. Durch Einübung von Recruten, welche aus den Hansestädten entkommen waren, wurde das hanseatische Bürgercorps ansehnlich verstärkt und zeichnete sich in den blutigen Kämpfen gegen die Franzosen vor Hamburg aus, namentlich in den Angriffen auf Wilhelmsburg und die Elbbrücke. Unter den Officieren befand sich ein Sohn Mettlerkamp’s als Lieutenant und der achtzehnjährige Henckel als Hauptmann der zweiten Compagnie. Mettlerkamp erhielt den Oberbefehl über die russische Division Tolstoi, deren Vorhut seine Bürgergarde bildete, um am 17. Februar 1814 die Elbbrücke zu zerstören. Das Werk war bereits so gut wie gethan und Mettlerkamp auf dem besten Wege, im Einverständniß mit Tolstoi, die Stadt selbst zu nehmen, als zu seinem tiefsten Verdrusse Gegenordre aus dem Hauptquartier des Generals Benningsen eintraf.

Die Leiden Hamburgs, besonders während der Belagerung, waren unbeschreiblich. Mit Mord und körperlicher Mißhandlung, mit Raub und Erpressung, mit Brand und Seuchen, mit Hunger und Ausjagung von vierzigtausend Menschen mitten im Winter, mit allen Scheußlichkeiten des Standrechts wurden die armen Bewohner von den gefühllosen Franzosen unter dem Scheusal Davoust erdrückt. So ungeheures Elend wäre abgewendet worden, wenn tüchtige Köpfe und feste Herzen an der Spitze gestanden hätten. Wenn nach einer halbamtlichen Schätzung (ganz abgesehen von dem viel größern Verlust durch Stockung alles Handels und Erwerbes, aber mit Einschluß der aus der Bank geraubten dreizehn Millionen und des an fünfunddreißig Millionen reichenden Schätzungswerthes der abgebrannten Häuser) der Schaden, den die Franzosen 1813 Hamburg zufügten, fünfundachtzig Millionen Francs beträgt, so wäre aller Wahrscheinlichkeit nach mit dem achten Theil dieser Summe, nämlich den zehn Millionen Franken von der großen Contribution, die sogleich nach dem Einzuge der Feind einzutreiben vermochte, die Stadt gerettet worden, wenn diese Millionen zur Rüstung des kräftigen, kampflustigen Volkes und zur Herbeiziehung der schwedischen und anderer Kriegsvölker angewandt wären, statt daß man gegen die geldbedürftigen schwedischen Officiere, welche die Mittel der Stadt zur Verpflegung der Truppen erforschen und auskundschaften wollten, immer die vollständigste Erschöpfung und Mittellosigkeit betonte und nur „Beruhigung über die baldige Befreiung von den gegenwärtigen Kriegsdrangsalen“ erflehte.

Endlich nahm die Schreckenszeit ein Ende. Am 31. Mai 1814 zogen die letzten Franzosen ab und die Verbündeten unter Benningsen in die festlich geschmückte Stadt ein, Allen voran Mettlerkamp mit seiner Bürgergarde von eintausendzweihundertundzweiundsechszig Mann aller Waffen.

Wie überall in Deutschland, so wucherte auch in Hamburg das Giftkraut der Restauration empor; auf die Befreiung folgte die Knechtung. Der König Friedrich Wilhelm der Dritte hatte eine förmliche Wasserscheu vor aller Volksbewaffnung und hat es dem Volk in Ostpreußen niemals verziehen, daß es sich aus eigenem Entschluß in Waffen erhoben hatte. Der Senat von Hamburg hatte nichts Eiligeres zu thun, als sich so bald wie möglich der wohlbewährten Bürgergarde zu entledigen, so daß Freiherr v. Stein ihm sein ernstes Mißfallen darüber ausdrücken mußte. In Preußen wurden die Patrioten bald verfolgt und eingesperrt. In Hamburg blühte ihr Weizen auch nicht. Mettlerkamp soll beim Einzuge in die Vaterstadt ernst und fast traurig ausgesehen haben. Er meinte selbst, es habe der Anblick der Trümmer, durch die er von Altona nach Hamburg ritt, ihn ergriffen und mit Entrüstung und Verachtung erfüllt gegen die, deren Kleinmuth solches Unglück verschuldet. Mit welchem Ekel mußte er diese Menschen, die in der Republik wie in der Monarchie immer obenauf schwimmen, immer die Früchte jedes Kampfes an sich reißen und an dem Triumphe über jeden Feind, dem sie selbst gedient oder vor dem sie das Feld geräumt, voran Theil nehmen, schon am Befreiungstage sich wieder vordrängen sehen!

Mettlerkamp ist weder Befehlshaber der Bürgerwehr, noch Stadtcommandant geworden; diese Aemter gab der hochedle Magistrat an Leute, die einem Mettlerkamp nicht an das Schienbein reichten. „Ade, du falsche Welt!“ rief der treue Hofer an seinem Todestage. Unser treuer Mettlerkamp sollte, nachdem er die Falschheit der Welt zu erkennen anfing, den bittern Becher in sechsunddreißig Jahren noch oft trinken. Sogar die Rückzahlung der kleinen Summe, welche er zur Ausrüstung seines Corps aufgenommen und auf das befreite Hamburg angewiesen hatte, stieß auf Schwierigkeiten.

Durch Undank ungebeugt, erfüllte Mettlerkamp seine Bürgerpflicht in den Kämpfen gegen Unverstand, Schlechtigkeit und Mißbräuche. Endlich aber ging ihm doch die Geduld aus. Im Jahre 1825, einundfünfzig Jahre alt, mit einer zahlreichen Familie, entschloß er sich zur Auswanderung nach den deutschen Colonien in Bessarabien, wo sein ältester Sohn auf einem Gute lebte, während der zweite russischer Rittmeister war. In einer nicht veröffentlichten Begründung seines Schrittes schreibt er: „Ich wähle Selbstverbannung aus einer Republik, wo die Tugenden der Vorfahren Platz gemacht haben dem gemeinen Egoismus, der hochmüthigsten Geldliebe, dem unerträglichsten Nepotismus, der Niedertracht und der Verachtung aller Wissenschaften, wenn sie nicht Geld einbringen. Lange stand ich an, mich über dasjenige öffentlich zu äußern, was mich Unwürdiges persönlich traf, und duldete zehn Jahre lang alle Mißhandlungen, welche Geringschätzung, Undank, Neid und Bosheit mich erfahren ließen.“

Bald enttäuscht von den halbasiatischen Zuständen Rußlands und auf inständiges Drängen seiner Freunde kehrte Mettlerkamp schon zwei Jahre später nach Hamburg zurück, dessen Bürgerschaft ihm eine Entschädigung von eintausend Friedrichsd’or für seine vielfachen Opfer zuerkannt hatte. Eine von ihm gegründete Eisengießerei [300] brachte ihn wieder dem Ruin nahe, zuletzt aber überwand er alle wirthschaftlichen Hindernisse.

Praktische Wirksamkeit wurde diesem tüchtigsten Manne nicht verstattet; man hat ihn nicht einmal zum Mitglied bürgerlicher Collegien oder Verwaltungsdeputationen berufen. Das hinderte ihn jedoch nicht, den vaterstädtischen Angelegenheiten unausgesetzte Aufmerksamkeit zu widmen und überall mit seiner gemeinnützigen Feder einzugreifen. So z. B. stöberte er ein rechtes Wespennest auf, als er das völlig im Argen liegende Bauwesen einer strengen Prüfung unterwarf, zum großen Schaden seiner eigenen Privatinteressen; die Behörden verfolgten ihn dafür mit grimmigem Hasse und entzogen ihm alle Staatsarbeiten. Das war der Dank von oben für einen verdienten Patrioten. In der Liebe Tausender fand er aber reiche Entschädigung; das Volk versagte ihm die Bürgerkrone nicht. Was ihm die Engherzigkeit und Feindseligkeit der Behörden vorenthielt, wurde bei verschiedenen Gelegenheiten durch Dank- und Ehrenbezeigungen seiner Freunde und des Volkes gutgemacht.

Die verrottete Verfassung und altersschwache Verwaltung Hamburgs fiel sogar nicht durch das ungeheure Brandunglück von 1842; die anfänglichen Reformversprechungen der moralisch bankerotten Behörden wurden bald wieder in den Wind geschlagen und die alten Perrücken stiegen wirklich als gepuderte Phönixe neu aus der Asche Hamburgs empor. Das Jahr 1848 war natürlich nicht geeignet, die Unfähigkeit und Verkommenheit der alten Behörden in ein besseres Licht zu setzen. Der greise Mettlerkamp gehörte zu der Fünfzehner-Deputation, welche die Sturmpetition aus der großen Volksversammlung in die Senatssitzung trug. Er war dann Alterspräsident der verfassunggebenden Versammlung und ein thätiges Mitglied des Wehrausschusses. Obgleich nicht ganz einverstanden mit der Verfassung von 1849, vertheidigte er sie doch standhaft gegen den widerwilligen Senat und die alten Stadtzöpfe. Sie ist nie eingeführt worden; die deutsche Reaction verschlang auch diese Achtundvierziger Frucht.

In solchen trüben Tagen war es am 25. Juli 1850, als Mettlerkamp, mit Sorgen im patriotischen Herzen, aus dem Leben schied.

Mettlerkamp war ein ganzer Mann, ein tadelloser Ehrenmann, gesund an Leib und Seele, Demokrat im besten Sinne und in allen kirchlichen Dingen durchaus freisinnig. Möge Hamburg und auch Deutschland ihn in treuem Gedächtniß bewahren! Wir verehren in ihm insbesondere einen der Vorläufer der allgemeinen Einführung des Milizsystems, vor dem die stehenden Heere doch einmal fallen müssen, so gut wie die Menschheit mit Inquisition, Hexenprocessen, Sclaverei und dergleichen fertig geworden ist. Mettlerkamp berief sich mit gerechtem Stolze auf die Thatsache, daß die ganze Organisation der hanseatischen Bürgergarde, die ein Jahr im Felde diente, nur 36,580 Mark 14 Schillinge kostete. Das Hauptwerk, welches Mettlerkamp verfaßte, war sein „Neues Landwehrsystem“ von 1832, welches 1848 in neuer Auflage erschien. Das gehaltvolle Buch fand bei Kennern, wie z. B. General Valentini, die gerechteste Anerkennung. Wir wünschen von Herzen, daß unser Vaterland recht bald von der praktischen Durchführung solcher Bestrebungen beglückt werde. Ohne sie keine gesunde Zukunft![2]
Karl Nauwerck.




Wilde Jagd.


Die rührende Liebe, mit der die Araber und andere orientalische Völkerstämme an ihren Rossen hängen, ist weltbekannt und wohl Mancher hat schon im Stillen über die Sorgfalt gelächelt, mit welcher die Stammbäume und Geburtsregister eines jeden Pferdegeschlechtes geführt und geprüft werden.

Wie stolz ist der Besitzer eines Thieres, dessen Abkunft von der Stute des Propheten in gerader Linie nachgewiesen werden kann! Wie ängstlich wacht man darüber, daß keine Mesalliance mit minder angesehenen Linien stattfindet! Das letzte Brod, den letzten Trunk erhält der treue Genosse, und wahrlich, wer das Pferd als schönes und nützliches Thier kennen gelernt hat, wird dieses beinahe zärtliche Verhältniß rechtfertigen. In unseren Gegenden verbieten verschiedene Lebensweise und Mangel an der patriarchalischen Einfachheit jener Nomadenvölker eine solche ausschließliche Pflege; nur durch Reichthum bevorzugte Persönlichkeiten sind im Stande die Zucht der edlen Thiere in ausgedehnterer Weise zu betreiben. Zahlreiche Gestüte, auf dem Continente und den britischen Inseln zerstreut, geben Zeugniß, welchen Werth die Kenner aller Länder auf die regelrechte und verständige Zucht des Pferdes legen, wenn auch der Zweck dieser Zucht meist nur der ist, bei öffentlichen Gelegenheiten mit der Schönheit und Schnelligkeit der Thiere zu prunken.

Von anderen Grundsätzen, d. h. von dem Wunsche ausgehend, die Pferdezucht in Württemberg zu höchstmöglicher Blüthe zu bringen, hat der verstorbene König Wilhelm der Erste schon im Jahre 1810 noch als Kronprinz in Scharnhausen ein Gestüt errichtet. Möge uns der freundliche Leser auf wenige Minuten dahin begleiten, um einen Blick auf das daselbst herrschende interessante Leben und Treiben zu werfen.

Der Weg, welcher nach dem ungefähr zwei und eine halbe Stunde südöstlich von Stuttgart gelegenen Dorfe Scharnhausen führt, bietet auf seiner ganzen Länge ein reizendes wechselvolles Gemälde. Außer dem herrlichen Einblicke in die verschiedenen Thäler, wird das Auge von der Kette der schwäbischen Alb gefesselt. Die alte Veste Hohenneuffen tritt trotzig hervor, während die entfernteren, langgedehnten Gebirgsmassen blauduftig in weitem Halbkreise dahinter ruhen. Bald ist die Domäne erreicht; in leichten Krümmungen an Staketenzaun und Hainbuchenhecken vorüber führt der Weg zu einem langen Gebäude, dem Fohlenstalle, an dessen Ende sich der Eingang befindet.

Wenden wir uns zuerst nach dem Stalle, in welchem die arabischen Mutterstuten (etwa zwanzig bis fünfundzwanzig Stück) untergebracht sind. Die Thiere stehen in sogenannten Laufständen (boxes), gewöhnlich den Kopf nach dem Gange herausgestreckt, welcher zwischen den Ständen hindurchläuft, und betrachten neugierig alle Vorkommnisse. Die Einrichtung ist im Uebrigen die zweckmäßigste, das Local geräumig und heizbar. Nur zur Züchtung bestimmt, bleiben die Thiere mit jeder Arbeit verschont; indessen ist, wie wir unten sehen werden, für hinreichende Bewegung gute Vorsorge getroffen. Der Fohlenstall, durch Doppelthüren in einzelne Abtheilungen getrennt, beherbergt die auf dem Gestüte selbst gezüchteten Fohlen; die besonderen Abtheilungen enthalten die sorgfältig geschiedenen Jahrgänge, und eine jede faßt etwa zwanzig Fohlen, welche sich frei umher- und durcheinandertummeln. An den Wänden sind Krippen angebracht, aus denen sie ihr Futter nehmen.

Im Sommer kommen die Fohlen, sorgfältig nach Jahrgängen getrennt, auf die großen, prächtigen Weideplätze. Ebenfalls abgesondert werden die Geltstuten (nicht trächtige) und Stuten mit noch säugenden Fohlen gehalten. Kaum kann man sich ein anziehenderes, lebendigeres Bild vorstellen, als das fröhliche und lebhafte Umhertummeln der herrlichen Thiere. Welche Stufenleiter der Bewegungen zwischen dem vierjährigen Reitschlagfohlen und dem dreimonatlichen Saugfohlen; ersteres mit eleganten, elastischen Bewegungen, in wildem Uebermuthe, in noch ungetrübtem Genusse der Freiheit umherspringend oder den feinen Kopf zum ruhigen Weiden gesenkt, während letzteres, noch schüchtern und täppisch, meist der Mutter zudrängt und nur hin und wieder das Wagniß eines Sprunges oder eines kleinen Galopps unternimmt.

Ein anderes Bild bieten die täglichen Bewegungen im Winter, wo man die Thiere auf die vor dem Stalle befindliche, eintausend zweihundert Fuß lange Bahn führt. Durch das Peitschengeknall der in den Ecken postirten Wärter aufgeregt, stürzt der ganze Trupp wie rasend in der Bahn hin und her; dieses ventre à terre mit weitgeöffneten Nüstern, jenes in der tollsten Laune zeitweise den Kopf zwischen die Vorderbeine streckend, während die sehnigen

[301]

Die Rennbahn in Scharnhausen.
Nach der Natur aufgenommen von Otto Fikentscher.

[302] Hinterbeine, von einer Wolke Streu gefolgt, kräftig ausschlagen. Unmöglich ist es das Durcheinander und das Geräusch zu schildern, welches durch das Stampfen und Schnaufen der Pferde, den Zuruf der Wärter und das Peitschengeknall hervorgebracht wird. Die beigegebene vortreffliche Zeichnung, von dem Künstler nach dem Leben ausgenommen, giebt ein treues Bild der bunten, wilden Jagd.

Scheu vor Fremden zeigen die Thiere fast gar nicht, einerseits weil die Zahl der Besucher, besonders im Sommer, eine ziemlich bedeutende ist, andererseits ist die Behandlung eine so überaus freundliche, daß diesen glücklichen Stallbewohnern weder die schwarzen Eigenschaften der Menschen, noch die Nothwendigkeit der Thierschutzvereine zur Kenntniß kommen; – ein beneidenswerthes, idyllisches Dasein, aus welchem nur diejenigen Fohlen, die nach Ablauf von vier Jahren als Wagenschlag zum Verkauf kommen, fühlbar gerissen werden.

Die Rücksicht, welche auf die Gesundheit und das Wohlergehen der Thiere genommen wird, ist bewundernswerth; sie erstreckt sich sogar auf die sorgfältige Regulirung des Wärmegrades in den Ställen, sowie auf Stallarrest bei schlechtem oder zu heißem Wetter. Was die Nahrung anbelangt, so besteht dieselbe für die nicht trächtigen Stuten in etwa sechs Pfund Heu und sechs Pfund Hafer täglich, für die tragenden und säugenden in acht bis neun Pfund Hafer und acht Pfund Heu; die Fohlen dagegen erhalten, nachdem sie nach vier bis sechs Monaten Säugens abgesetzt worden sind, täglich sechs Pfund Hafer, nach Belieben Heu und Gerstenstroh, auch geschrotene Gerste und Mohrrüben. Die Fohlen, deren gewöhnlich achtzig bis hundert vorhanden sind, werden nach vollendetem vierten Jahre entweder zur Zucht nach Weil – einem weiteren königlichen Privatgestüte – oder in den königlichen Leibstall gethan. Der nicht entsprechende Ueberschuß wird theils im April nach dem Pferdemarkt gebracht, theils im October in Stuttgart versteigert. – Der Vorzug, den alle Kenner den auf dem königlichen Gestüte gezüchteten Pferden geben, ist der beste Beweis für die Vortrefflichkeit des Instituts und der Grund, daß die enormen Preise von sechshundert, eintausend, ja fünfzehnhundert Gulden für das Stück erzielt werden.

Der hier gezüchtete Schlag ist unbedingt der edelste und vollkommenste. Kein anderes europäisches Gestüt hat so vortreffliche Exemplare der arabischen Race aufzuweisen, und zwar übertreffen die im Lande gezüchteten Pferde die Original-Araber – ein Ergebniß, das durch zweckmäßige Züchtung erreicht und durch die vielfach an die Hand gegebenen Vergleiche mit original-arabischen Rossen bestätigt worden ist. Schon die Größe und Stärke überbietet die der orientalischen Eltern; Stuten von sechszehn Faust und darüber sind ganz gewöhnlich.

Fremde Pferdekenner, welche noch nichts von dem Scharnhausener Gestüte vernommen haben, sind stets erstaunt, in Stuttgart eine solche stattliche Anzahl der schönsten Reit- und Wagenpferde zu sehen, und benützen, nachdem sie Kunde von dem Wunderlande erhalten haben, gar eifrig die Gelegenheit, dasselbe zu ihrem hohen Genusse zu besuchen. Bei der zuvorkommenden Freundlichkeit, mit welcher der Oberstallmeister Baron von Hügel die Erlaubniß zum freien Besuche ertheilt, und der Artigkeit und Bereitwilligkeit, womit die Beamten am Orte selbst dem Besucher entgegenkommen, wird nicht nur der Kenner, sondern jeder Freund des Schönen und der Natur bei einem Besuche in der schwäbischen Hauptstadt dieses Mustergestüt in Augenschein nehmen.

Dem Gestüte selbst, als einem Orte des Schönheitscultus, wollen wir das erfreulichste Fortblühen wünschen.

Friedrich Müller.




Bismarck an Uhden.
Kleine Skizze aus großer Zeit.
Von E. Dohm.
(Schluß.)


War es wirklich ein Gefühl der Theilnahme, welches der Brief der jungen Frau von Cocceji in dem König erweckte, oder war es eine leise Befürchtung, die ehemalige Tänzerin könnte das „Schweigen“, das „die Ehrfurcht“ ihr über so Manches auferlegte, doch am Ende einmal brechen: genug, der König verstand sich zu einem Schritte, welchen er wahrlich nicht allzu häufig that, nämlich zur Desavouirung eines Befehls, der entweder von ihm persönlich oder doch in seinem Namen von einem seiner Minister erlassen worden war. Er schrieb nämlich unter dem 18. November an den General-Fiscal, Geheimen Rath Uhden:

„Hochgelahrter etc. Da die bekante Barberina an Mich geschrieben und angezeiget hat, wie Ihr dieselbe vermittelst eines Schreibens vom 16. dieses citiret hattet, um Tages darauf vor Euch zu erscheinen und von Euch einige propositiones zufolge Meiner an Euch gelangten Königl. Ordre zu gewärtigen; Mir aber nicht erinnerlich ist, daß Euch deshalb von Meinetwegen etwas aufgetragen wäre, und Ich selbst also fast vermuthe, daß solches ihre bekante Heyrath, so sie heimlich getroffen, angehen mußte. So habe ich bewegender Ursachen halber resolviret und befehle Euch hierdurch, daß Ihr ohne einigen éclat davon zu machen, desfalls nicht wider gedachte Barberina agiren, sondern die Sache nur gäntzlich fallen lassen sollet, ohne erstere weiter deshalb zu beunruhigen. Was Ich aber hiernechst herbey verlange, ist, daß Ihr auf eine gute Arth von derselben zu erfahren und herauszubringen suchen sollet, wer eigentlich derjenige Geistliche gewesen, welcher dieselbe mit dem jungen v. Cocceji getrauet hat. Wovon Ihr Mir dann Euren Bericht mit aller Zuverlässigkeit erstatten sollet. Ich bin“ etc.

Der Wink war deutlich genug, der König wollte offenbar mißverstanden sein. Ein wahrer Staatsmann muß die Klugheit besitzen, zu rechter Zeit dumm zu sein. Uhden war – vielleicht in Folge einer in seiner Familie erblichen Tugend – zu brav, um jene Klugheit der Dummheit zu besitzen. Mit einer herzerfrischenden Biederkeit nahm er die Aeußerung des Königs im wörtlichsten Ernst, und mit einer Unschuld, wie man sie sonst nur bei den weiblichen Katechumenen eines der Heerstraße fern wohnenden Landgeistlichen findet, übersandte der ehrliche General-Fiscal dem Könige die Ordre des Herrn von Bismarck und schrieb ihm dazu:

„Ew. Königl. Majestet geruhen allergnädigst aus der beyliegenden Ordre Dero Ministerii sich vortragen zu lassen, daß ich die Barberina darüber vernehmen sollen, mit was vor Befugnis sie sich den Nahmen v. Cocceji zu führen unterstehe. Ich habe sie darauf nicht so wohl rechtlich citiret, um wider sie zu agiren, als durch ein Billet eingeladen, um ihre Antwort zu hören und befohlener maaßen davon zu berichten. Wenn Ew. Königl. Majestät nicht noch anders allergnädigst befehlen, werde auch dieses unterlassen; jedoch nach Dero höchsten Ordre, den Geistlichen, der sie getrauet, wovon jedoch noch zur Zeit nichts öffentlich bekandt worden, so viel möglich zu erforschen suchen.“

Der König beantwortete die Naivetät seines intelligenten General-Fiscals mit dem Befehl, die Sache, so weit es sich um die Verbindung der Barbarina mit dem Geheimen Rath von Cocceji handelte, auf sich beruhen zu lassen, da solche „einmahl geschehen“ sei und „ohne viele inconvenientzien nicht wohl wieder redressiret werden“ könne.

„Weilen aber“ – so fährt der König fort – „nicht zu zweiffeln, daß die Trauung gedachter Barbarina mit dem v. Cocceji durch ein Catholischen Geistlichen heimlich geschehen sein muß, und Ich fast vermuthe, daß solches durch den alten Pater Torck oder einigen von seinen Geistlichen zu Berlin unternommen worden; So will Ich, daß Ihr ersteren krafft Eures Amtes recht scharf zu Halse gehen und à la rigueur untersuchen sollet, ob gedachte Trauung von ihm geschehen, oder aber wer solche sonst von seiner Geistlichkeit verrichtet hat. Wenn Ihr nun solches ausgemachet haben werdet, so habet Ihr Mir Euren Bericht davon zu erstatten, weil Ich intentioniret bin, denen Catholischen Geistlichen zu Berlin sodann nachdrücklich declamiren zu lassen, daß derjenige unter ihnen, welcher sich zumahlen weiter unterfangen wird ohne vorgängige approbation Leuthe heimlich zu trauen, sodann davor auf das schärfste angesehen und auf seine Lebens Zeit nach einer Vestung gebracht und bey Wasser und Brodt gehalten werden soll.“

Der arme Uhden hatte in der Ausführung dieses königlichen Befehls keine glücklichere Hand als in der Vollziehung der früheren. Trotz aller Mühe, die er sich gab, gelang es ihm nicht, den Schuldigen zu entlarven. Nur so viel wurde durch die Vereidigung sowohl des Geheimen Raths von Cocceji, als sämmtlicher katholischer Geistlicher Berlins festgestellt, daß weder der Pater Torck, noch einer seiner Berliner Amtsbrüder die Trauung vollzogen hatte.

Den von dem General-Fiscal hierüber erstatteten Bericht fertigte der König in einer sehr kühlen Antwort ab, an deren Schluß er sagt, er erachte „vor der Hand am convenablesten zu sein, daß Ihr unter der Hand und mit einer guten Arth, allenfalls auch durch dessen (Cocceji’s) zu der Zeit gehabten Domestiquen solches zu erfahren suchen sollet.“

[303] Ob der biedere Uhden diesen würdigen Weg mit glücklicherem Erfolg eingeschlagen, ob seine Diplomatie mit Dienern geschickter als mit Herrschern fertig zu werden wußte, darüber Vermuthungen aufzustellen, müssen wir der größeren oder geringeren Meinung überlassen, welche die geneigten Leser unserer Erzählung sich von den Fähigkeiten dieses geistreichen Staatsmannes gebildet haben. –

So hatten der Muth und die Ausdauer der Liebenden dem energischen Willen des großen Königs und dem dienstfertigen Gehorsam seiner nicht ganz so großen Staatsmänner gegenüber eine wenigstens negative, stillschweigende Anerkennung ihrer ehelichen Verbindung durchgesetzt.

Nicht in demselben Maße war es ihnen gelungen, die Familie des jungen Gatten zur Anerkennung oder wenigstens zur Duldung ihrer Ehe zu bewegen. Im März oder Mai 1752, also mehr als ein Jahr nach der Trauung seines Sohnes mit der Barbarina, wandte der Großkanzler sich in einem längeren Briefe an den König, in welchem er denselben ausführlich und energisch an die ihm selbst unter dem 12. August 1749 (s. oben) ertheilten königlichen Versicherungen sowie an die seinem Sohne gegenüber kundgegebene königliche Meinung erinnert.

„Da ich nun“ – so heißt es dann weiter – „die gewisse Nachricht habe erhalten, daß mein Sohn mit der berüchtigten Barbarina sich wirklich außer Landes von einem catholischen Priester, ohne Proclamation und wider das Verbot seiner Eltern, folglich wider die Landesgesetze trauen lassen, so bin ich gezwungen, die von Ew. K. Maj. mir versicherte Assistenz zu imploriren. Ew. Königl. Maj. geruhen selbst zu ermessen, daß da Ew. K. M. mich zu denen hohen Ehrenämtern erhoben, mir nicht zu verdenken steht, wenn ich meine durch Ew. K. Maj. fundirte Familie vor Schaden zu sichern suche. Wer vermag aber solches zu hoffen, wenn die Barbarina des Groß-Cantzlers Schwiegertochter heißt, und welche Familie wird sich der Meinigen alliiren, wenn dieses lüderliche Weibsstück à la tête ist? Ich werfe mich also zu Ew. K. M. Füßen und bitte, mir zu erlauben: Daß ich die Sache durch den Weg Rechtens (welches Ew. K. M. auch dem geringsten Unterthanen nicht versagen) ausmachen darff. Wann aber Ew. K. M. ja besondere Ursachen haben, meinem Gesuch hierüber nicht zu deseriren, so will ich mir wenigstens die Gnade ausbitten, daß Ew. K. M. geruhen mögten, diese Leuthe an einen anderen Ort zu versetzen. Ich habe diesen Sohn alle Tage vor Augen, wann ich in den geheimbden Rath gehe, und ohne Alteration kann ich ihn nicht ansehen. Ew. K. M. werden also nicht zugeben, daß ich meine grauen Haare mit Hertzeleid in die Grube trage. Ew. K. Maj. erbarme sich über den rechtmäßigen Schmertz eines betrübten Vaters, welcher sich lediglich in Ew. Maj. Arme wirft.“

Der König bedurfte einiger Zeit, um dieses Attentat eines gekränkten Vaterherzens auf die weichsten Seiten seiner landesväterlichen Großmuth zu erwidern. Erst nach mehreren Wochen beantwortete er das Schreiben des Großkanzlers, mit schweigender Uebergehung der übrigen in demselben enthaltenen Bitten, dahin, daß er in die Versetzung seines Sohnes, jedoch ohne jeden Gewinn oder Verlust an Gehalt und Amtswürde, willigte. Er befragt den Vater über das Einkommen seines Sohnes, fordert ihn auf, geeignete Vorschläge bezüglich der Versetzung zu machen, und schließt dann mit der Bemerkung:

„Ihr werdet leicht einsehen, daß Alles was Ich hierunter thuhe, aus einer foiblesse von Mir gegen Euch geschiehet, indem sonsten mehr angeführter Euer Sohn, so lange er in Meinen Diensten nichts versiehet, auch nicht von Mir zu bestrafen sein würde, da dessen unbesonnene Heirath eigentlich Meinen Dienst nicht afficiret. Ich werde demnach Eure weiteren Vorschläge deshalb vorstehendermaßen erwarten und bin übrigens
Ew. wohlaffectionirter     
Friedrich.“

Zwei Tage nach Erlaß dieser Antwort an den Vater richtete der Sohn ein Gesuch an den König, in welchem er sich über die neue Verfolgung von Seiten seiner Familie beklagt und gegen eine etwa beabsichtigte Versetzung protestirt, da seine Gattin soeben mit Allerhöchster Genehmigung ein Haus in Berlin gekauft und er gerade die Unterbringung ihres übrigen Vermögens in die Hand genommen habe.

Auf diesen vom 31. Mai datirten Protest erhielt der Herr Geheime Rath bereits am nächsten Tage folgenden Bescheid, in welchem der König zur Genüge bewies, daß er auch in französischer Sprache deutsch zu reden verstand:

„Euer Schreiben vom 31. vorigen Monats habe Ich erhalten. Vergeßt nicht, wie gröblich Ihr Euren Vater beleidigt habt, indem Ihr ohne seine Zustimmung, ja gegen seinen Willen ein Mädchen geheirathet, das in keiner Weise für Euch paßt. Da aber er seinerseits Euch in gerechter und verdienter Weise mit Entziehung Eures Erbtheils und Ausschließung von seiner Geschlechtsnachfolge bestraft hat, so habt Ihr Euer gebührend Theil erhalten. Uebrigens habt Ihr die Landesgesetze offenbar verletzt, durch Eingehung einer heimlichen Ehe, welche von denselben unbedingt verboten, ja sogar für völlig ungültig erklärt wird. Außerdem muß Ich Euch in’s Gedächtniß rufen, wie gröblich Ihr Mich selbst getäuscht, indem Ihr dem Grafen von Podewils vorgezogen und selbst auf Euer Ehrenwort versichert habt, daß Ihr weder verheirathet noch Willens wäret, Euch zu verheirathen. Allen gegen Eure Aeltern verübten Beleidigungen habt Ihr die Krone aufgesetzt, indem Ihr Eurer Mutter einen unverschämten und der, von jedem anständigen Menschen seinen Aeltern gezollten Rücksicht und Verehrung gänzlich entbehrenden Brief geschrieben habt, für welche Niederträchtigkeit allein Ihr verdient hättet, von Eurem Vater in irgend eine Festung gesteckt zu werden. Aus diesem ganzen unbesonnenen Benehmen hättet Ihr selber wohl denken können, daß Ihr ganz vergeblich Meinen Schutz gegen Eure Aeltern nachsuchet, und daß Ich Euch niemals auf gleiche Linie mit Eurem Vater setzen würde, einem so ehrwürdigen Manne, dessen ganzes Leben durch große und erhabene Dienste ausgezeichnet ist, die er Mir und Meinem Staate geleistet hat. Da indeß Euer Vater nachsichtig genug gewesen ist, Euch nicht, wie er hätte thun sollen, in eine Festung zu stecken; da er außerdem Mich nicht ersucht hat, Euch zu einer Trennung und Scheidung von der gesetzwidrig von Euch geehelichten Person anzuhalten, sondern seinen gerechten Unwillen gegen Euch bis zu dem bescheidenen Wunsche gemäßigt hat, einen Menschen, der der Schandfleck seiner Familie ist, nicht mehr vor Augen zu haben und von dem Anblick eines widerspänstigen Sohnes befreit zu werden, der, um seine Schuld voll zu machen, die Frechheit hat, ihm auf seinen Spaziergängen trotzig gegenüberzutreten, der außerdem die seiner Mutter gebührende Rücksicht so gröblich vergessen kann – da, sage Ich, Euer Vater nichts weiter von Mir verlangt, als Euch für die kurze Zeit, die er noch zu leben hat, an ein anderes Collegium zu versetzen: so habe Ich allen Grund Mich zu verwundern, wie Ihr dazu kommt, Euch über diese seine Vorschläge zu beklagen, statt ihm zu danken und ihn zu preisen für seine große Mäßigung und seine Güte, die so weit geht, daß er durch Eure Versetzung Euch nicht einmal eine Einbuße an dem Gehalt und dem Rang, den ich Euch nur aus Rücksicht auf seine Verdienste verliehen, zugefügt wissen will. In Rücksicht alles dessen weiß Ich Euch keinen andern Rath zu geben, als aufrichtig in Euch zu gehen, vernünftig zu werden, das Unrecht, welches Ihr Euren Aeltern angethan, zu erkennen und die Thorheiten, die Ihr in früherer Zeit begangen, durch ein verständiges, ehrenwerthes und tadelloses Betragen wieder gut zu machen. Das ist das Einzige, was Euch zu thun bleibt, um das Andenken an die Verirrungen Eurer Jugend bei allen anständigen Leuten zu tilgen.“

Wie ernstlich dem Könige die Anbahnung einer wirklichen Versöhnung zwischen Vater und Sohn am Herzen lag, geht aus dem rücksichtsvollen Zartsinn hervor, mit welchem er in diesem Briefe an den Sohn die Fürsorge, daß derselbe an Gehalt und Rang nicht geschädigt werde, als vom Vater ausgehend darstellt, während umgekehrt gerade er, der König, es war, der sie der Erbitterung des Vaters gegenüber geltend gemacht hatte. Von derselben wohlmeinenden Absicht, von demselben rücksichtsvollen Zartgefühl giebt ein anderes Schreiben Zeugniß, welches der König gleichzeitig mit dem an den Sohn gerichteten Briefe an den Vater absandte. In diesem Schreiben, in welchem der König dem Großkanzler für seinen Sohn die Wahl zwischen Stettin, Küstrin und Glogau freistellt, deutet er zugleich an, es werde ihm angenehm sein, wenn der Vater in seinen damaligen weiteren Vorschlägen hinsichtlich des Sohnes sich „nicht so gar hart über sein Sujet ausdrücken“ werde, da derselbe „doch eigentlich nichts in seinem Dienste versehen“ habe, und Alles, was der König behufs seiner Versetzung thäte, lediglich zur „mehreren Beruhigung“ des Vaters geschähe.

Der Großkanzler muß sich für Glogau entschieden haben; wenigstens wurde der Geheime Rath von Cocceji mit Beibehaltung seines Rangs und Gehalts nach dieser Stadt und Festung versetzt. Seine Gattin folgte ihm bald dorthin.

Ob später eine Versöhnung mit der Familie stattgefunden, wissen wir nicht; doch scheint der Umstand, daß die Barbarina seit jener Zeit Berlin nie wieder gesehen, einigermaßen dagegen zu sprechen. Die Ehe des geheimräthlichen Paares soll, wie glaubwürdige Zeugen versichern, eine äußerst glückliche gewesen sein. Die von dem Vater ausgesprochene Enterbung konnte das Paar einigermaßen verschmerzen, da, nach Angaben unseres Gewährsmannes, die Freifrau von Cocceji bei dem Tode ihres Gatten außer drei nicht unbedeutenden Gütern in Schlesien ein baares Vermögen von mehr als hunderttausend Thalern besaß, welches sie zur Gründung eines Stiftes für achtzehn adelige Fräulein verwandte. In Anerkennung dieser edlen Handlung verlieh der Nachfolger Friedrich’s des Großen ihr im Jahre 1789 das Diplom einer Gräfin von Campanini.

Noch lange nach ihrem am 7. Juni 1799 zu Barschau in Schlesien erfolgten Tode lebte dieser Name in dem dankbaren Andenken Vieler, die sie durch reichlich gespendete Wohlthaten erfreut, noch Mehrerer, die sie durch den hinreißenden Zauber ihres liebreizenden Wesens entzückt hatte.



[304]
Blätter und Blüthen.


Die Hosen des Grafen von Erbach. Was ein guter Nachbar werth ist, das habe ich vorigen Sommer so recht gefühlt; mein Anwesen grenzt unmittelbar an das eines Fabrikanten, der, obgleich er schon ein älterer Herr ist, doch mit mir gute Freundschaft hielt, und das ging so durch die ganze Familie durch. Unsere Frauen arbeiteten, unsere Kinder spielten zusammen. Wir hatten ein paar Latten aus dem Staket herausgenommen, so daß man unmittelbar von einem Garten in den andern konnte, und so ging’s nun den ganzen Tag hindurch hinüber, herüber.

Abends saßen wir nach gethaner Arbeit Alle in einem Kreis am Brunnen; da wurde in den schönen, warmen Mondnächten so manche Cigarre geraucht, so manche schwere und ernste Frage besprochen, über so viele heiteren Scherze gelacht. Wieder einmal war es Abend geworden und ich war just durch das Staket gekrochen und traf mit dem Nachbar zusammen, der gerade aus der Fabrik kam. Unsere Frauen saßen schon vorn am Brunnen und plauderten froh zusammen, eine von den erwachsenen Töchtern des Nachbars pflückte Rosen, die andere las, trotzdem es schon stark dämmerte, dennoch sehr eifrig in einem Blatte.

„Das heißt sich aber doch die Augen mit Gewalt ruiniren, Fräulein Lottchen, was lesen Sie denn da so Interessantes, daß Sie gar nicht davon loskommen können?“

Die junge Dame reichte mir mit einem tiefen Seufzer – die Gartenlaube.

„Der bairische Hiesel hat ihr’s angethan,“ brummte der Nachbar; „die Mädel sind wie toll auf die Erzählung und haben sich heute arg gestritten, wer die frisch angekommene Nummer zuerst haben solle.“

„Ich habe die Novelle auch gelesen und muß sagen, der Hermann Schmid ist ein ganzer Kerl und was er schreibt, hat Hand und Fuß,“ fuhr er behaglich fort, indem er sich in einen der eisernen Gartenstühle setzte; „mich interessirt die Geschichte aber noch besonders, weil sie von einem Wilddieb handelt, und für diese Herren habe ich eine ganz eigenthümliche Schwäche.“

„Weil er selbst genug gewildert hat und oft genug,“ fiel seine Frau ein.

„So ganz Unrecht hat meine Alte nicht, und wenn Sie mich auch noch so erstaunt ansehen. Sie wissen, ich bin drüben vom Odenwald her und unser kleines Nest liegt mitten in dem Wald. Rund umher prächtige Jagden; ich hatte selbst ein Revier gepachtet, und daß ich da allerdings zuweilen über meine Grenze ein wenig hinübergekommen bin, das will ich nicht leugnen, aber wildern kann man das doch nicht nennen und meine Nachbarn machten’s mir auch nicht besser. Nein, nein, mein Interesse hat einen ganz andern Grund. Wir sind als Kinder mit einer Art Popanz aufgewachsen und dieser Popanz hieß Setzer.“

Ich blickte verwundert auf.

„Sie werden den Namen schwerlich je gehört haben. Dieser Setzer war nur ein armer Teufel von Wilddieb, von dem man jetzt nicht mehr sprechen würde, wenn ihm nicht eine hochgräfliche Caprice eine Art von Unsterblichkeit, wenigstens für unser kleines Ländchen, gegeben hätte. Der Graf von Erbach hat sich nämlich von ihm ein Paar Hosen machen lassen.“

„Schneider und Wilderer, das kommt allerdings selten zusammen,“ fiel ich ein, „es müssen aber seltsame Hosen sein, die einen Schneider im Odenwald unsterblich machen.“

„Es scheint, ich habe mich nicht deutlich genug ausgedrückt,“ entgegnete der alte Herr behaglich rauchend, „ich hätte nicht sagen sollen, von ihm, sondern aus ihm, oder vielmehr aus seiner Haut.“

„Aus seiner Haut? Sie scherzen!“

„Nein, nein; er hat sich ein Paar Hosen aus seiner Haut machen lassen,“ nickte der alte Herr. „Erlauben Sie mir nur eine neue Cigarre anzustecken und die Geschichte ist bald erzählt.“

Und so that er; die Damen rückten näher hinzu. Nachdem sie sich sorgfältig erkundigt, ob die Geschichte auch für sie passe, und nachdem dies feierlich betheuert war, begann der alte Herr: „Im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts regierte in der damals noch reichsunmittelbaren Grafschaft Erbach ein gestrenger Herr, dessen Vornamen ich allerdings zur Zeit vergessen habe, der aber für denjenigen, der sich besonders dafür interessiren sollte, sehr leicht zu erfahren ist; er braucht nur in Michelstadt oder Erbach nach dem Grafen zu fragen, der die Wilddiebe schinden und sich aus ihrer Haut Hosen machen ließ, dann sagt’s ihm jedes Kind. Dieser gestrenge Graf Erbach war gar ein großer Jäger, und da ihn die Regierungssorgen seines kleinen Ländchens nicht eben sehr drückten, so war er den ganzen Tag im Forst und interessirte sich für die Berichte seiner Förster bedeutend mehr, als für die langweiligen Vorträge seiner Räthe. In diesen Berichten seiner Förster war nun eine stehende Rubrik, die den edlen Grafen furchtbar ärgerte, die Wilddieberei. Unter den mancherlei Namen derer, die als notorische Wilddiebe aufgeführt wurden, erschien der eines gewissen ‚Setzer‘ immer auf’s Neue, so daß der edle Landesvater zuletzt gerade über diesen Setzer, der sich merkwürdiger Weise nie erwischen ließ, toll und wild wurde und eines schönen Tages schwur, er wolle dem infamen Wilddieb, wenn er ihn erwische, das Fell über die Ohren ziehen und sich ein Paar feste Hosen daraus machen lassen.“

Das wurde nun natürlich dem Setzer gesteckt und der erboste sich über das landesväterliche Vorhaben so, daß er seinerseits, aber ganz still, bei sich den Schwur that: ‚Wenn er dem Grafen ’mal im Wald begegne, so solle ihn kein Teufel abhalten, er wolle es schnellen lassen und dem Herrn die Lust vertreiben, sich aus der Haut seiner Unterthanen Hosen machen zu lassen.‘

So standen die Sachen, da sieht der Graf eines schönen Tages im Forst einen Menschen, auf den er sofort anlegt, ihm zurufend: ‚Halt, steh oder ich schieße!‘ Das war nun der Setzer in eigner Person, und wie er den Grafen sah, heida, wie flog seine Büchse an die Backen. Da standen sich nun gegenüber, Aug’ in Aug’, der Landesvater und ein Wilddieb und es kam lediglich darauf an, wer zuerst den Finger am Drücker zucken ließ. Aber merkwürdig, keiner von Beiden zuckte mit dem Finger, sondern jeder that einen Schritt rückwärts und dann noch einen und so mehrere, bis sie einander aus den Augen waren. Der Setzer trollte seelenvergnügt heim, denn er glaubte Wunder wie brav gehandelt zu haben, daß er nicht geschossen, sondern den bösen Feind überwunden. Der Graf aber ärgerte sich ingrimmig. Er hätte gewiß geschossen, wenn der verfluchte Kerl nicht gar so schnell die Büchse an der Backe gehabt hätte. Er ließ den Setzer, der im gewöhnlichen Leben ein friedlicher Bauer und nur incognito Wildschütz war, aufgreifen und ihm wegen Versuch des Meuchelmords an seinem gestrengen Landesvater den hochnothpeinlichen Halsproceß machen. Der arme Teufel wurde wirklich hingerichtet; man schlug ihm bei der großen Linde in Michelstadt den Kopf ab.

Jetzt konnte der Graf nach Gefallen in seinen Forsten spazieren gehen, dem Setzer begegnete er nimmer, obwohl derselbe im Grabe keine Ruhe finden konnte, sintemalen er nie in ein Grab gekommen war. Der Graf hatte seinen Schwur nicht vergessen und der Scharfrichter bekam den Auftrag, dem armen Wilddieb die Haut säuberlich abzuziehen und sie nach Erbach auf’s Schloß zu liefern, und meine Großmutter, die damals Dienstmagd auf dem Schloß war, mußte dieselbige Haut zum Gerber nach Michelstadt tragen und hat oft noch erzählt, wie sie später erst dahinter gekommen sei, was sie eigentlich im Korbe gehabt, als sie zum Gerber gegangen. Der that aber seine Schuldigkeit, und der Erbacher Herr bekam ein Paar schöne, stattliche Hosen, die jedenfalls ihres Gleichen nicht hatten, nicht im heiligen römischen Reich und nicht in der ganzen Welt.

Es muß ihm aber doch nicht ganz wohl zu Muthe gewesen sein in seinen schönen weißledernen Hosen, denn er hat später aus dem Fell des armen Setzer Hirschfängerscheiden machen lassen und jedem seiner Jäger eine solche als gräfliches Cadeau verehrt. Diese Hirschfängerscheiden sind sehr dauerhaft und es mögen bei uns im Odenwalde noch manche davon am Leben und im Gebrauche sein.

Das ist jedoch nicht das einzige Unrecht, welches der arme Wilddieb nach seinem Tode erleiden mußte. Als ihm nämlich der Scharfrichter das Fell abzog, dachte er zugleich, daß er den armen Cadaver, der keinen Kopf und keine Haut mehr besaß, auch anständiger Weise nicht mehr begraben könne, und präparirte mit großem Geschick ein schönes Skelet aus den Ueberresten des Wilddiebes. Dieses Skelet existirt, glaub’ ich, gegenwärtig noch; wir haben uns wenigstens als Kinder ehrlich davor gefürchtet. Es war das Gerippe nach mannigfachen Schicksalen Eigenthum eines Chirurgen in unserer Nachbarschaft geworden, mit dessen Kindern ich täglich spielte. Am Ende eines langen Ganges stand in einem Winkel der schauerliche Knochenmann, zu dem wir uns nur in großer Gesellschaft hinwagten und zu dem es uns doch immer hinzog. O, wie ängstlich klopften uns die kleinen Kinderherzen schon bei dem Gedanken an den armen Setzer, und Alles, was sonst die Jugend fürchtet, alle Schauer-, Zauber- und Wundergeschichten bezogen wir immer und immer wieder auf das Skelet des Hingerichteten, aus dessen Haut sich der Graf hatte ein Paar Hosen machen lassen. So ging’s dem armen Setzer. Da ist das Schicksal des baierischen Hiesel’s doch golden dagegen, denn wenn sie den auch bei seinem Tode ein Bischen mehr gequält haben, er hat doch im Grab seine Ruhe gehabt.“




Liszt und Salamanca. Als Liszt vor Jahren einmal in Spanien war und in Madrid glänzende Concerte gab, fragte ihn eines Tages Salamanca, der spanische Rothschild: „Nun, wie gefällt es Ihnen hier bei uns?“

„Gar nicht übel,“ meinte Liszt, „nur schade, daß die Cigarren so miserabel sind.“

„Dafür lassen Sie mich sorgen; ich werde Ihnen ganz vortreffliche Cigarren zuschicken.“

Liszt wartete nun auf die Erfüllung dieses Versprechens, allein ein Tag um den anderen verging und keine Cigarren kamen. Der Bankier hatte die Sache rein vergessen. Das verdroß den damals viel weltlicher gesinnten Künstler sehr – heute würde er wohl nur erhaben darüber lächeln. Am Tage seiner Abreise aus Madrid kaufte er fünfhundert Stück der feinsten, theuersten Cigarren, legte dieselben in eine reichverzierte Cassette und schickte sie, als er eben in den Wagen stieg, mit seiner Karte, auf die er p. p. c. (pour prendre congé) geschrieben, an den Millionär. Er reiste mit Extrapost und war beinahe an der Grenze angelangt, als er hinter seinem Wagen ein donnerndes „Halt!“ rufen hörte. Erstaunt blickte er hinaus, aber da war kein Bandit, wie er vermuthet hatte, sondern ein mit Schweiß und Staub bedeckter Courier, der in rasender Eile daher gesprengt kam und ihm athemlos zurief: „Ich bringe das Gepäck, welches Excellenz in Madrid vergessen haben!“ Damit schnallte er einen Mantelsack vom Pferde, reichte denselben Liszt in den Wagen und sprengte ebenso eilfertig wieder von dannen, wie er gekommen war. Erstaunt öffnete Liszt den Mantelsack und fand darin einen mächtigen Kasten von Palissanderholz, mit Silber eingelegt, in dem zehntausend Stück der feinsten Havannacigarren enthalten waren. So hatte Salamanca die Scharte mit fürstlicher Freigebigkeit glänzend ausgewetzt.





Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Mosengeil war auch einer der ersten Deutschen, die sich mit der jetzt so allgemein verbreiteten, zum publicistischen Tagesbedürfniß gewordenen Stenographie beschäftigten; sein Schriftchen darüber erlebte 1819 in Jena die dritte Auflage. Mosengeil starb 1839.
  2. Wer sich über Mettlerkamp und sein patriotisches Wirken näher unterrichten will, den verweisen wir auf die unlängst bei Meißner in Hamburg erschienene Schrift des jetzt in Mariafeld am Züricher See lebenden Hamburger und deutschen Patrioten Dr. F. Wille: „Mettlerkamp, der Führer einer am deutschen Freiheitskriege theilnehmenden Bürgerwehr. Mit Benützung des handschriftlichen Nachlasses Mettlerkamp’s.“ Dies Werkchen hat dem obigen Artikel als Grundlage gedient.
    D. R.