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Die Gartenlaube (1868)/Heft 51

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1868
Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 51.   1868.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.


Lorenz und Lore.
Von Paul Heyse.
(Fortsetzung.)


„Ich wäre den Ton“ fuhr Lore fort, „womit Christel seine letzten Worte sagte, und auch seinen letzten Blick wohl wieder losgeworden, wenn ich hätte weinen können. Aber es war wie ausgebrannt in mir, und auch wie dann die Tante an die Reihe kam, die doch gewiß wie die eigene Mutter an mir gethan hatte – ein Kieselstein giebt eher einen Tropfen von sich, als meine beiden Augen, Und bei der Tante kam noch das Grausen hinzu, das so die recht eigentliche Trauer gar nicht aufkommen ließ. Wie das aussah, Lorenz, als sie immer mit dem Kinne wackelte und dazwischen wieder lachte und mit den Fingern Clavier spielte auf ihrer Bettdecke – ich sage Dir, die Haare standen mir beständig zu Berg; ich fühlte gar nichts mehr, weder Wärme noch Kälte, so war ich wie in eine Gänsehaut eingewickelt und sah überall das furchtbare Gesicht, das erst nach dem letzten Athemzuge wieder friedlicher wurde. Und eben hatte ich ihr die Augen zugedrückt und lag halb besinnungslos, sterbensmüde, da ich nun schon neun Tage in kein Bett gekommen war, hier auf diesem Sopha, und der Vorhang da war zugezogen, weil die Zenz meinte, ich sollte nicht mehr hinsehn, sondern etwas zu schlafen versuchen, da klopft es und ein Soldat kommt herein, der Bursche von dem Auditor, meinem Bräutigam.“

„Deinem Bräutigam, Lore, Du bist Braut?“ rief Lorenz und sprang vom Sopha auf. „Und davon höre ich jetzt das erste Wort?“

„Ich habe nicht gedacht, daß es Dir im Geringsten wichtig wäre,“ fuhr sie mit derselben halblauten gleichgültigen Stimme fort. „Darum hab’ ich Dir nichts davon geschrieben, und kein Andrer in der Stadt konnte Dir’s mittheilen, weil es überhaupt noch geheim war und noch nicht einmal ganz richtig. Die Tante hatte es gewünscht, seine Mutter war eine gute Freundin von ihr. ,Ich liebe ihn nicht, Tante,’ sagte ich, ,und wenn ich ihn nehme, ist es nur, um Ihnen nicht länger zur Last zu fallen, da Sie nun auch für den Christel zu sorgen haben?’ Darauf redete sie lange in mich hinein, aus dem Grunde sollte ich beileibe nicht Ja sagen, sondern weil er ein so braver und gescheiter Mensch sei und so geachtet bei seinen Vorgesetzten und Cameraden und mich schon seit zwei Jahren liebe. Das mochte Alles richtig sein, aber dennoch gefiel er mir gar nicht. Er war kein übler Mensch, Viele hielten ihn sogar für hübsch, aber er hatte so große Füße und so runde hervorstehende blaue Augen, und sprach etwas durch die Nase, und sein Haar, das eigentlich roth war, färbte er sich pechschwarz; wie konnte ich mich wohl in ihn verlieben? Dazu hieß er Leopold, und der Name war mir unausstehlich, weil die Tante einmal einen Hund gehabt hatte, eine garstige Bulldogge, ebenfalls mit runden blauen Augen, die Poldl hieß. Und ich sagte es ihm auch, in der ersten Stunde, wo er allein mit mir sprach, er sei mir ganz gleichgültig und ich müsse es mir noch Jahr und Tag überlegen, und bis dahin sollte nicht davon gesprochen werden. Das fand er auch in der Ordnung und wollte schon zufrieden sein, wenn er nur dann und wann in’s Haus kommen dürfe. Auch war er so bescheiden, daß er sich nie mehr herausnahm, als mir die Hand zu drücken, wenn er kam und ging, und dabei blieb es drei Monate lang, und wenn nicht die Tante darauf bestanden hätte, daß ich den Ring annehmen sollte, den er mir schickte – getragen habe ich ihn freilich nie – und ihm einen dagegen schenken, so hätt’ ich nicht gewußt,, daß ich verlobt war. Abends, wenn er kam und erst eine Weile plauderte und dann ein Buch aus der Tasche zog, uns vorzulesen – nicht so schöne Geschichten, wie Du uns mitzubringen pflegtest – saß ich hier gewöhnlich im Winkel neben dem Schrank, den Peter auf dem Schooß, und dachte an alte Zeiten und schlief manchmal darüber ein. Dann bekam ich hernach eine Predigt von der guten Tante, aber ich konnte es nicht ändern. Ich dachte auch nicht im Ernst daran, daß ich seine Frau werden könnte, ich halte den sichern Glauben, ,es kommt noch etwas dazwischen und erlöst Dich von ihm? Und nun ist es wirklich eingetroffen, und im ersten Augenblick, wie der Bursche mir sagte: ,Der Herr Auditor läßt sich Ihnen empfehlen und er ist die Nacht um zwei Uhr gestorben,’ fuhr es mir in alle Glieder, als ob mir jemand in’s Gesicht sagte, ich sei schuld an seinem Tod, weil ich manchmal gewünscht hatte, er möchte nicht auf der Welt sein. Ich hörte auch kaum, was der Mensch noch weiter von seinem Ende erzählte, nur zuletzt sah ich aus meinen Gedanken auf, als er hinzusetzte: ,Da ist der Ring, Fräulein Lore, den Sie dem Herrn Auditor geschenkt haben.’ – ‚Geben Sie her,’ sagte ich hastig und steckte ihn in der Zerstreuung gleich an den Finger, ordentlich froh’, ihn wieder zu haben, und wie zum Zeichen, daß ich ihn so bald nicht wieder hergeben würde. ,Der Herr Auditor habe ihm auf die Seele gebunden,’ fuhr der Mann fort, ,ihn abzuziehen, sobald er gestorben sei, und noch einen Gruß zu überbringen und das Fräulein möchte ihn nicht ganz vergessen?’ – Da fuhr ich erschrocken in die Höhe. Ich hatte den Ring von einer Todtenhand angesteckt, und nun war ich mit dem Tode verlobt und mein Bräutigam mußte mich nachziehen.“

[802] Sie schwieg, als wenn das Grauen ihre Stimme erstickte, und saß mit geschlossenen Augen und einem so traurig hülflosen Ausdruck, daß er in tiefer Erschütterung vor ihr stehen blieb. „Lorchen,“ sagte er, und streichelte sanft mit der Hand ihre eiskalten Wangen, „Du redest ganz unsinnige Sachen, und kannst selbst nicht im Ernst daran glauben. Bist Du nicht schon als halbwüchsiges Ding eine so gescheite und aufgeklärte kleine Person gewesen, daß ich, obwohl ich sechs Jahre älter war, all’ meine Angelegenheiten mit Dir besprechen und berathen konnte? Haben wir nicht sogar mit einander Philosophie studirt, bis zur Hegel’schen Logik, die Dir freilich nicht schmecken wollte? Nun schwätzest Du da so abergläubischen Kram, wie ein Bauermädchen, das zur Kartenschlägerin geht und an Hexerei glaubt. Der arme Auditor ist todt, und das ist ein Glück für Dich und vielleicht auch für ihn, und damit gut. Wenn er’ Dich wirklich lieb gehabt hat, wird es ihm nicht einfallen, Dich weiter zu incommodiren, oder Dich gar um Dein junges Leben zu bringen. Das Alles ist nur Nervenspuk und wird morgen vorbei sein. Aber damit Du heute schon Ruhe bekommst, trink’ einmal einen herzhaften Zug aus diesem Glase; solch ein Schlaftrunk hilft gegen alle abergläubischen Träume. Und dann sagen wir uns gute Nacht und regen uns nicht weiter auf durch diese unglückseligen Sterbegeschichten.“

Er reichte ihr das Glas und sie trank jetzt wirklich, noch mit geschlossenen Augen, ein paar tiefe Züge. „Ich danke Dir, Lorenz,“ sagte sie darauf. „Der Wein hat mich sehr gelabt, wenigstens das Herz hat er mir noch einmal erwärmt, wenn auch Hände und Füße schon wie abgestorben sind. Aber das hilft nun nichts, der Tod kommt doch, und nicht blos, weil ich’s dem Christel versprochen habe und den Todtenring am Finger trage.

Ich fühle es zu deutlich: die Lebenskraft hier innen ist aufgezehrt, die Flamme hat alles Wachs schon weggeschmolzen und nagt nur noch am Docht; noch ein Bischen Geflacker und es ist ganz aus. Wenn Du früher gekommen wärst – aber nein, das hätte es auch nicht aufgehalten. Vielmehr fing es ja schon an, an mir zu zehren, als Du das letzte Mal da warst und Dich nicht mehr erinnertest, ob ich auf der Welt sei oder nicht.“

„Was sagst Du da?“ fragte er betroffen. „Als ich zu Weihnachten da war, hätte ich nicht mehr an Dich gedacht? Freilich konnten wir nicht wie sonst beisammen sein. Aber Du weißt ja, daß ich krank hier ankam und die Mutter während der ganzen Festzeit mich nicht aus dem Hause ließ.“

„Einen Schnupfen hattest Du, wie mir Eure Magd sagte, und es war nicht gefährlich, und wenn Dir daran gelegen gewesen wäre, mich zu sehen, hättest Du es wohl so einrichten können, ohne daß die Mutter hätte schelten dürfen. Ich wenigstens, wenn ich nach Jahr und Tag in die Stadt gekommen wäre, wo Du gewohnt hättest – durch Feuer und Wasser wäre ich gegangen, um Dir eine Hand zu geben und zu fragen: ,Wie geht’s? Und hast Du mich noch nicht vergessen?’ Das aber war’s gerade. Du hattest mich vergessen, oder wolltest es gern, und darum ließest Du mir nur, als Du fortreis’test, Morgens ganz früh ein Lebewohl hinübersagen, und es sei zu früh gewesen, um in Person Abschied zu nehmen. Siehst Du, seit jenem Morgen fing es an, seitdem ist mir nicht mehr wohl gewesen und Alles, was an mich kam, Verlobung und Christel’s Tod und der der Tante – das hat nur mitgeholfen an dem, was doch gekommen wäre; und wenn mir auch jetzt Einer eine Arznei brächte, die mich unfehlbar vom Tode retten könnte, ich tränke nicht davon, gewiß, Lorenz, ich machte mir nichts daraus; denn was hilft es, leben zu bleiben, wenn man nicht mehr gern lebt?“

Er stand vor ihr und konnte, während sie diese seltsame Beichte wie halb aus dem Traum oder einer magnetischen Macht gehorchend mit ganz unbeweglichen Zügen vor sich’ hin sprach, die Augen nicht von ihr abwenden. Eine unaussprechliche Rührung überkam ihn, als er dachte, wie lange schon hier in dem engen Hause das junge Leben dieses treuen Herzens nur ihm gehört hatte, während er draußen weit herumgeschweift war, Herz und Kopf voll von hundert neuen verlockenden und verwirrenden Eindrücken, zwischen denen nur selten einmal das Bild seiner Jugendgespielin auftauchte. Es war auch freilich noch halb kindisch und ohne den seltsamen Reiz, der die zarte blasse Gestalt jetzt umgab. Je länger er sie betrachtete, desto lebhafter und zärtlicher wurde das Verlangen in ihm, sie dieser unheimlich nachtwandlerischen Starrheit zu entreißen. Er mußte an sich halten, daß er sie nicht in die Arme schloß, um ihr mit Liebkosungen, wie einem frierenden, verschüchterten Kinde, wieder Lebenswärme einzuflößen.

„Liebste Lore,“ sagte er endlich und meinte etwas recht Tröstliches damit zu sagen, „ich habe es ja wahrhaftig nicht geahnt, daß Dir so viel daran gelegen war. Wenn Du mir nur einen Wink gegeben, einen Zettel hinübergeschickt hättest, daß Du mich gern sehen wolltest –“

„Ja wohl,“ unterbrach sie ihn und nickte still mit dem Kopf, und ihre Stimme klang nicht vorwurfsvoll, sondern wie man etwas Trauriges beklagt, was unabänderlich ist, „das war es ja eben, daß Du keine Ahnung davon hattest, wie es um mich stand, daß in all’ den Jahren, in denen wir Alles getheilt hatten, unsere Kinderspiele und dann so viel Ernsthaftes, Du mich nicht besser kennen gelernt hattest, als jeder Fremde auch. Wie mir das wehthat, Lorenz, das hätte kein Wort ausgesprochen, auch wenn ich meinen Stolz bezwungen hätte, es Dir zu sagen. Nicht daß ich Dir böse darum gewesen wäre. Ich hab’ mir nie viel eingebildet, und darum, weil der Auditor in mich verliebt war wie ein Narr, und auch Andere mir schöne Dinge sagten, glaube nur, darum schien ich mir immer noch nicht so reizend, daß Du Dich hättest bis über die Ohren in mich vergaffen müssen. Aber wenn Du auch draußen Hübschere und Liebere gefunden hattest: daß Du mich darum so wegwerfen konntest wie einen alten Ball, mit dem Du als Knabe gespielt hast und den Du beim Aufräumen in Deinem Kasten findest, das war mehr, als ich verdient hatte, das grub sich mir wie ein eiskaltes Messer in’s Herz und verleidete mir das Leben. Was hätte es da genützt, mich gegen Dich zu beklagen, auch wenn ich’s über die Lippen gebracht hätte? Wäre es darum anders mit Dir geworden? Jetzt, wo ich Alles heraussage, weil doch Alles einerlei und umsonst ist, thut es mir wenigstens wohl, es noch vom Herzen herunterzuwälzen, eh’ ich sterben muß. Du glaubst nicht, Lorenz, welche Last Du mir damit abnimmst, daß Du mich so ruhig und freundlich anhörst. Wie oft habe ich in Gedanken so mit Dir gesprochen und Dir hundertmal meine geheimsten Heimlichkeiten gestanden, und wenn ich dann plötzlich mir vorstellte, ich könnte Dir das einmal selbst sagen, so wie zwei Brautleute sich gestehen, wie lange sie sich geliebt haben, stand nur das Herz still vor Scham und Wonne. Jetzt kann ich Alles sagen, als wärest Du gar nicht da oder ich läge schon in meinem Sarge und schlüge nur die Augen noch einmal auf, da Du gerade dazukämst. Ob es sich schickt oder nicht, daran liegt mir nichts. Du wirst es Niemand wiedersagen, nicht wahr? Und wenn auch: braucht man sich zu schämen, wenn man Schmerzen ausgestanden hat? Schon wie ich Dich unten auf der Straße stehen sah, fuhr es mir durch den Kopf: Gottlob, daß er kommt; nun kannst Du es ihm ja noch mündlich sagen. Ich habe es Dir freilich auch schon geschrieben, gestern Nacht, als ich zum ersten Mal ganz allein im Hause saß und mir so graulig war. Den Brief findest Du dort im Secretär der Tante, und auch ein Blatt dabei, worauf ich geschrieben habe, daß ich Dir Alles vermache, was etwa mir gehört. Ich hoffe, das Gericht wird nichts einzuwenden haben, wenn es auch in der Form nicht ganz recht sein sollte. So, und nun habe ich Dir nichts mehr zu sagen, Lorenz, als eine gute Nacht. Ich bin müde – gieb mir noch einmal zu trinken, ich glaube, ich kann dann einschlafen, ganz schmerzlos, und brauche nie wieder aufzuwachen.“

Sie erhob sich mühsam und näherte sich mit schlaftrunkenen Schritten dem Tisch, an dem er lehnte, keines Wortes mächtig. „Willst Du mir nicht einschenken?“ sagte sie. „Ich fürchte, ich verschütte Etwas; ich kann kaum mehr aus den Augen sehen.“

Dann, als sie getrunken hatte: „Geh Du nun auch schlafen,“ sagte sie. „Ich kann Dir kein Bett anbieten, denn in jedem ist schon Einer gestorben. Aber da auf dem Sopha wirst Du ganz gut liegen und Du kannst Dich mit diesem Tuch zudecken, daß Du bei Nacht nicht frierst. Morgen früh, wenn ich nicht herunter komme, sieh einmal oben nach, es wird dann wohl vorbei sein und Du kannst mir die Augen zudrücken und sorgen, daß ich begraben werde. Nein, laß meine Hand los. Ich bin wirklich zu müde, um mich noch aufrecht zu halten, und wenn ich noch mehr schwatze, so fürchte ich, es wird Unsinn. Gute Nacht, Lorenz. Denk’ einmal an die Lore, wenn Du recht glücklich wirst, und ich danke Dir nochmals, daß Du gekommen bist. Es war doch schön [803] in unserer jungen Zeit, als wir miteinander spielten, und den Abend denk’ ich auch noch wie gestern, als Du die Räuber vorlasest und mir unterm Tisch die Hand drücktest, so oft Karl den Namen Amalia aussprach. Da an diesem Tische war’s, ich sehe noch Alles. Aber ich will gehen und Dich schlafen lassen.“

Sie wandte sich mit einem letzten müden Nicken des Kopfes von ihm ab, nahm den Kater fester in den Arm und ging nach der Thüre.

„Lore!“ rief er ihr nach. „Geh noch nicht! Das Herz ist mir so voll und Dir auch; wie sollen wir schlafen?“

„Es wird schon gehn,“ sagte sie halblaut, „ich bin sterbensmüde. Du sollst mir nicht leuchten, mir auch nicht nachkommen. Diese letzte Bitte darfst Du mir nicht abschlagen. Und jetzt zum letzten Mal, gute Nacht!“

Damit öffnete sie leise die Thür und verschwand draußen auf dein dunklen Flur.

Er blieb in einer Aufregung zurück, wie er sie nie erlebt hatte; so wunderlich war das Süße mit dem Unheimlichen, Grauen und Wonne, bleicher Tod und holdes junges Leben miteinander gemischt. Er hörte sie mit leisen, tastenden Schritten das Treppchen hinaufgehen in ihre Kammer und droben die Thür sachte zumachen. „Lore!“ rief er, als ob sie ihn noch hören könnte, „ist es wahr? So lange schon hast Du mich geliebt?“ – Dann sank er zurück und hundert halbkindische Scenen, bei denen er nie ein Arg gehabt hatte, standen ihm plötzlich vor der Seele und zeugten für die Wahrheit der seltsamen Beichte, die er eben vernommen hatte. Es wurde ihm heiß unter der Stirn, er öffnete ein Fenster und sah in die dunkle Straße hinaus. Der schwarzbehangene Wagen, den die wohlbekannte Gestalt des dicken Leichenkutschers mit dem umflorten Dreimaster im Schritt über das holprige Pflaster lenkte, hielt eben vor einem der Nachbarhäuser. Er hörte, daß Etwas aus dem Haus getragen wurde, und leises Weinen, und dann wieder das Rasseln der Räder, bis sie in die Seitengasse einbogen. So hielt der Tod dicht nebenan seine nächtliche Ernte, und mitten in diesem Leichenfeld war ihm die Blume aufgesprossen, die er nur in seinen Garten zu verpflanzen brauchte, um sie wieder zur Freude aller Menschen frisch aufblühen zu sehn.

Der Schlaf war ihm völlig vergangen; aber seine Glieder, die acht Stunden lang in der Postkutsche durchgerüttelt worden waren, sehnten sich nach einer bequemen Lage. Er schloß daher das Fenster, und nachdem er den Tisch mit der Lampe vom Sopha zurückgeschoben hatte, streckte er sich auf das alte geräumige Polsterbett, ein Kissen unterm Kopf, das große gelbe Umschlagetuch der Tante wie eine Decke über die Füße gebreitet, und begann bei dem schwachen Licht des Lämpchens hinter seinem Haupte allerlei wachen Träumen nachzuhangen, in denen der Todtenwurm im Deckengetäfel nicht störte.

Noch eine Viertelstunde mochte er so gelegen haben, da mußte er aufhorchen auf ein leises Knistern, das draußen die Treppe herunter zu kommen schien. So trefflich er vorhin gegen den Aberglauben gepredigt hatte, konnte er doch jetzt einen leichten Schauder nicht bemeistern, der nur unbehaglicher wurde, als er erkannte, daß es nicht etwa der Kater war, der draußen im Flur nachtwandelte, sondern behutsam schleichende Menschenfüße, die Stufe für Stufe sacht herabtasteten und endlich vor seiner Thür still hielten. Sollte es gar die Lore sein? Aber sie hatte ja so nachdrücklich zu wiederholten Malen von ihm Abschied genommen. Um so mehr erstaunte er, als endlich, nachdem man eine Weile draußen gehorcht zu haben schien, ob er schon schlafe, die Thür leise aufgeklinkt wurde und die Lore wirklich hereintrat.

Das Häubchen war ihr herabgeglitten und hing im Nacken an den lose zugeknüpften Bändern. Statt der unförmlichen, altmodigen Jacke hatte sie ein weißes Nachtjäckchen an, darunter den rothwollenen Rock; die Füße waren nackt. Aber trotz der Verwilderung ihres Anzugs und des lose um die Stirn hangenden Haares war in ihrer Haltung etwas unterwürfig Züchtiges und Scheues, und es schien Lorenz, als hätte er sie noch nie so reizend gesehn.

„Du schläfst noch nicht?“ sagte sie, in der halboffenen Thür stehn bleibend, durch die der Peter sich eben nachschlich. „Nimm mir’s nicht übel, daß ich Dich doch noch einmal störe. Ich kann’s nicht aushalten droben, es fror mich in meinem dunklen Bett, ich dachte dran, ob man auch im Grabe frieren konnte, meine Kräfte schwanden immer mehr, ich hörte ordentlich mit jedem Herzklopfen, wie ein Blutstropfen nach dem andern erstarrte; da kam mir’s plötzlich so furchtbar vor, sterben zu müssen und so allein, daß ich aufstand und mich noch einmal herunterschleppte; denn ich dachte, Du schliefest schon, und wollte mich in einen Winkel zusammenkauern, um doch Deine Athemzüge zu hören. Laß mich nur einen Augenblick mich bei Dir wärmen, dann will ich wieder gehen. Fühl’, wie eisig meine Hände sind, und erst meine Füße! Aber bleib ruhig liegen. Ich setze mich da unten in die Sophaecke und wickle mich einen Augenblick in das Tuch. Ach, Lorenz, muß ich denn wirklich sterben?“

Er hatte sich halb ausgerichtet und ihre kalte Hand ergriffen, um sie in der seinigen zu wärmen. „Lore,“ sagte er, „Du wirst noch lange leben und glücklich sein.“

„Nein!“ erwiderte sie und schüttelte müde den Kopf. „Ich verlang’ es auch nicht. Wie viele Andere gehn auch aus der Welt und sind nie so recht glücklich gewesen! War es denn die Tante? Und was hat mein armer Christel vom Glück gekannt, als einmal ein Stück Kuchen oder eine gute Censur! Und dann mußte er schon fort! Aber wenn man sich auch drein ergeben muß, traurig bleibt es immer, zumal wenn man schon weiß, was für ein Glück man sich vor Allem gewünscht hätte, und hat es so nah, und kann es mit Händen greifen und soll dann in das kalte Grab, ohne nur einmal recht gelebt zu haben!“

Sie schauderte in sich zusammen und zog die eiskalten Füße auf das Sopha hinauf unter das Röckchen. Dabei lehnte sie sich zurück, so daß ihre Schulter an seiner Brust ruhte, da er aufgestützt mit dem rechten Arm sie an sich drückte.

„Wärme Dich,“ sagte er. „Hast Du Schmerzen?“

„Nur hier,“ erwiderte sie leise und legte die Hand auf’s Herz.

Plötzlich traten ihr große Tropfen in die Augen und sie fing so bitterlich an zu weinen, als wären durch die Wärme seines Athems und unter dem Streicheln seiner Hand all’ die erstarrten Schmerzen aufgethaut, die ihr so lange das Herz bedrückt hatten. Immer heißer flössen ihre Thränen, immer heftiger zuckte sie schluchzend in seinem Arm.

„Liebste Lore! Meine süße kleine Geliebte!“ flüsterte er ihr in’s Ohr.

Da schüttelte sie, plötzlich sich fassend, den Kopf. „Es ist zu spät, Lorenz,“ sagte sie. „Aber es thut doch wohl, ach sowohl! Der Krampf hier am Herzen wird ganz still, wenn Du mir so holde Namen giebst. Weißt Du wohl,“ hauchte sie leiser und verbarg ihre nassen Augen au seiner Schulter, „weißt Du, was mich oben nicht hat schlafen lassen? Ich meinte, ich könnte nicht zur Ruhe kommen, wenn ich Dich nicht vor’m Sterben ein einziges Mal geküßt hatte. Ich müßte geradezu aus dem Grabe wieder aufstehen und es nachholen, wenn ich es versäumt hätte. Da wollte ich mich im Finstern hereinschleichen, Dich nur einmal auf den Mund küssen und gleich wieder gehen.“

Er hob in inniger Bewegung ihren Kopf in die Höhe, was sie willenlos geschehen ließ, und seine Lippen suchten ihren weichen Mund. Sie hatte die Augen fest zugedrückt und die Lippen geöffnet, wie Einer, der halb verschmachtet war und schon fast besinnungslos das Leben wieder einsaugt. Dabei athmete sie so tief, daß ihre Glieder bis in die Fußspitzen zitterten.

„Ich danke Dir,“ sagte sie kaum hörbar. Dann ließ sie die Arme von seinem Halse gleiten und sank neben ihm auf das Ruhebett, den Kopf weit zurückgelehnt auf das Kissen, den einen Arm herabhängend über das Polster, daß das schmale Händchen den Fußboden streifte. Er wagte nicht sich zu rühren, da er merkte, daß ihre Athemzüge immer ruhiger wurden. Nach wenigen Minuten war sie fest eingeschlafen.

Nun erhob er sich behutsam, stieg über sie hinweg vom Sopha hinunter und bemühte sich, sie bequem zu betten. Leise hob er den schlanken Leib ein wenig in die Höhe und streckte ihn gerade aus, ohne daß sie davon erwacht wäre. Dann wickelte er ihre Füße fest in das wollene Tuch und breitete zum Ueberfluß seinen eigenen Rock über die Schlafende aus. Ihm war so schwül und beklommen, daß es ihm eine Wohlthat war, in Hemdärmeln neben dem Sopha zu sitzen, zumal nachdem er das Fenster wieder geöffnet und die Nachtluft hereingelassen hatte.

Ein paar Stunden bewachte er so ihren Schlaf und hatte, nachdem die erste Aufregung verflackert war, die stillsten und lieblichsten [804] Gedanken. Daß sie ihm gehörte und er ihr, schien ihm so selbstverständlich und natürlich, als hätten sie sich’s schon hundertmal versichert, und nur das Eine wunderte ihn, wie er so lange hatte leben können, ohne selbst daran zu denken, daß es ja gar nicht anders sein könnte. Bei dem Gedanken an den Todten, der sich eingebildet hatte, das Mädchen die Seine nennen zu können, überkam ihn eine förmliche Eifersucht. Nicht ein Haar von ihrem Haupte durfte einem Anderen gehören, als ihm. Dann fuhr er sacht mit der Hand über ihre braunen Flechten und starrte ernsthaft in die Windung ihres kleinen blassen Ohrs, das die Werbung mitangehört, aber sich so standhaft dagegen verschlossen hatte. Es war ihm peinlich, daß er sie schlafen lassen mußte. Wie viel hatte er auf dem Herzen, ihr zu sagen, und wie gelegen war Ort und Stelle! Dann dankte er wieder Gott dafür, daß sie schlief und nach dem heftigen Ausbruch ihres Schmerzes nur heitere Bilder im Traum zu sehen schien. Denn manchmal öffneten sich ihre Lippen zu einem so friedlichen Lächeln, wie sie es seit Monaten nicht mehr gekannt hatten.

Darüber verging der größte Theil der Nacht-, die Lampe erlosch und endlich beschlich auch die Augen des Jünglings eine bleierne Müdigkeit. Er besann sich nicht lange, legte die Reisetasche als Kopfkissen auf den Fußboden neben das Sopha und streckte sich selbst der Länge nach auf den alten Teppich, daß Jeder, der die Lore etwa im Schlaf hätte stören wollen, über ihn wegschreiten mußte. So athmeten die beiden schlafenden Jugendgespielen nach so viel Schrecken und Herzweh ruhig und unschuldig nebeneinander, und der schwarze Peter, der sich seiner Herrin zu Füßen in die Sophaecke gelegt hatte, schnarchte friedlich als der Dritte in ihrem Bunde.

Auch erwachte Lorenz weder von den Sonnenstrahlen, die durch’s Fenster schossen, noch von dem jetzt freilich viel gedämpfteren Lärmen, mit dem sich am Morgen Handel und Wandel unten auf der Straße vorbeitrieb. Erst als ein kleiner, von zwei munteren Grauschimmeln gezogener Bauernwagen an Lore’s Hausthür anhielt und gleich darauf der Klopfer in drei kräftigen Schlägen erklang, rieb Lorenz sich den Schlaf aus den Augen und sprang von seinem harten Lager, einigermaßen gliederlahm, in die Höhe. Sein erster Blick fiel auf das Mädchen, das noch genau in derselben Stellung lag, wie er sie in der Nacht gebettet hatte. Er hörte aber an ihrem regelmäßigen Athmen, daß sie erquicklich schlief, und wollte eben überlegen, was nun weiter anzufangen wäre, als das Klopfen an der Hausthür sich lauter und dringlicher wiederholte. Eilig schlich er aus dem Zimmer und die Treppe hinab, um der Schläferin Ruhe zu verschaffen. Da sah er einen alten Mann in ländlicher Kleidung, Zügel und Peitsche in der Hand, vor der Thür stehen, und erkannte, da er vor Jahren einmal hier im Hause mit ihm zusammengetroffen war, den Halbbruder der Tante, den Pflegevater des kleinen Christian, der auch ihn zutraulich wieder begrüßte. An diesen wackeren Mann hatte der Pfarrer geschrieben, gleich nach dem Begräbnis der Tante: das Beste würde sein, wenn er sich aufmachte und das nun ganz verlassene Mädchen zu sich auf’s Land hinaus holte, ehe auch sie der Seuche zum Opfer fiele. Der Brief war gestern Abend in das etwa sechs Stunden entfernte Dorf gelangt, und schon um Mitternacht hatte der Biedermann, dem das Schicksal seiner verwaisten Nichte keine Ruhe ließ, die Pferde vor seinen Wagen geschirrt, um gleich mit dem Mädchen auch ihre Siebensachen und den nöthigsten Hausrath auf’s Land zu schaffen, da er selbst ledig und sein bescheidenes Häuschen für die Aufnahme einer jungen Städterin nicht zum Besten eingerichtet war.

Lorenz verständigte ihn, gleich unten auf der Gasse, von Allem, wie er es im Hause gefunden hatte, natürlich ohne das zu berühren, was ihn allein anging. Er habe Sorge getragen, daß die Lore, die von den furchtbaren Erschütterungen zum Schatten abgezehrt, schlaflos und ohne Nahrung schon zehn Tage lang herumgegangen sei, sich sofort habe niederlegen und von seinem stärkenden Wein trinken müssen. Nun liege sie im festesten Schlaf, und da es schwerlich eine bessere Arznei gebe, ihre verstörten und überreizten Sinne wieder in’s Gleichgewicht zu bringen, dürfe sie um keinen Preis geweckt werden. Andererseits liege auch ihm viel daran, sie so schnell als möglich in andere Luft zu bringen, wenn auch nicht, wie der Herr Pfarrer und der Onkel meinten, zu diesem auf’s Land, sondern vielmehr zu seinen eigenen Eltern in’s Haus seiner Schwester, das nur ein paar Stunden entlegener, dafür aber auch schon an den Vorhöhen des Gebirges in der gesundesten Gegend liege. Darum schlage er vor, einstweilen ihre Kleider und Wäsche zu packen und auf das Wägelchen zu laden. Wache sie inzwischen auf, so könne sie mit ihnen einsteigen. Schlafe sie aber fort, so wollten sie ihr hinten in dem geräumigen, mit einem Leintuch luftig überspannten Theil des Wagens ein bequemes Lager aus ihren eigenen Betten machen, sie sacht hinunterschaffen und dann in Gottes Namen mit der Schlafenden die Reise nach dem Gebirge antreten.


(Schluß folgt.)




Christkindlein auf dem Friedhof.

      Als ich im Leben einsam stand,
Sucht’ ich in fremder Kinder Blicken
Das Glück, das ich daheim nicht fand:
Des Unschuldjubels Herzerquicken.

5
      Und wenn des Christbaums Lichterschein

Aufstrahlte in der Dämmerstunde
Der Weihnacht, wandelt’ ich allein
Durch alle Gassen meine Runde.

      So weit die Tannen dieser Nacht

10
Festprangen als des Nordens Palmen,

Sind in den Herzen auferwacht
Des Kinderglaubens fromme Psalmen.
      Und was der Glaube uns verhieß
Nur als der Sel’gen letztes Hoffen:

15
Das einst verlorne Paradies –

Heut steht’s auf Erden Jedem offen!

      Auch mir ist’s herrlich aufgethan,
Umhegt von meines Stübchens Wänden;
Zur Decke ragt der Baum hinan,

20
Geheim geschmückt von frohen Händen.

      Doch eh’ für meiner Kinder Ohr
Erschallt des Christkindengels Kunde:
„Herein! Herein!“ – mach’ ich zuvor
Die liebgewohnte stille Runde.

25
      Du einzig Wunder dieser Welt:

Der reinsten Liebe endlos Walten! –
Dort ist ein Fensterlein erhellt,
Hier strahlt’s hervor durch seidne Falten –
      Und doch ist all die Freude gleich,

30
Gleich ist das Jubeln, Jauchzen, Lallen –

Den Kindern ist’s ein Himmelreich,
Und Kindeshand nur öffnet’s Allen!

      „O Gott, wer heute weinen muß!
Mir bebt das Herz bei dem Gedanken. –

35
Da, mir vorbei mit leisem Gruß,

Seh’ ich ein Weib zum Friedhof wanken;
      Ein Knäblein an der rechten Hand,
Ein Weihnachtsbäumchen in der Linken. –
Ach, all mein Lusterspähen schwand

40
Dahin vor solcher Trauer Winken.


     Sie wandelt zu vertrautem Ort,
Sie sucht nicht erst in all den Reihen;
Vor „ihrem“ Gräblein kniet sie dort,
Die Nacht auch ihrem Kind zu weihen.

45
      Die Tanne ragt, und Licht um Licht

Beleuchtet einer Mutter Thränen,
Und durch die heil’ge Stille bricht
Die Klage von der Liebe Sehnen.

      „So schmückt dein Grab der heil’ge Christ!

50
Siehst Du herab zu Deinen Lieben?

Wie groß Dein Brüderlein jetzt ist?
Du bist mein kleines Kind geblieben!
      Mein Engel Du, o schau herab,
Daß unsre Blicke sich begegnen,

55
Gott selbst führt Dich zu Deinem Grab,

Die Liebe, die hier weint, zu segnen!“

      Nun beten sie, nun gehn sie leis. –
Mich drängt’s, des Kindes Grab zu sehen:
Da leuchtet es, wo rings im Kreis

60
Gar viele Weihnachtsbäumlein stehen. –

      Ich eilte fort. – So sehnsuchtweich
Bin ich noch niemals heimgegangen,
Nie hab’ in meinem Himmelreich
Ich meine Lieben so umfangen.

65
      Und doch – beim lustumblühten Baum

Stand mir im Geist das Grabweihnachten:
Wie hältst der Liebe letzen Raum
So hoch du, deutsche Stadt der Schlachten!
      Weil du so treu die Liebe lehrst,

70
Ist uns so wohl in deiner Mitte!

Wie du die schöne Sitte ehrst,
So ehret dich die schöne Sitte.

Friedrich Hofmann.     



[805]

Weihnachten auf dem Leipziger Friedhof.
Originalzeichnung von Ernst Heyn in Leipzig.

[806]

Der Eislauf.

Von Max Wirth in Bern.

Ich bin aufgefordert worden, in diesem Winter wieder auf die Lust und Kunst des Schlittschuhlaufens zurückzukommen, und will die Gelegenheit wahrnehmen, Einiges zu den Mittheilungen des vorigen Jahres nachzutragen. In Folge der Letzteren sind mir, zum Theil durch die Aufmerksamkeit befreundeter Mitglieder der englischen Diplomatie, Zeitungen und Ausschnitte aus Canada, Neuschottland, England, Rußland, Norwegen, so wie die in diesem Jahre erschienene zweite Auflage des besten englischen Schlittschuhbuches von Georg Anderson („Cyclos“), dem Präsidenten des Glasgower Schlittschuhclubs, zugegangen und ich habe mit großem Interesse wahrgenommen, daß die Kunst des Schlittschuhfahrens eine kosmopolitische ist, daß aber Deutschland darin den ersten Nordländern zur Seite steht.

Indessen nicht blos aus der Gegenwart, sondern sogar aus vorhistorischer Zeit kann ich Kunde geben. Die älteste Erwähnung des Schlittschuhs kommte in der deutschen Sage vor: Uller, der Gott des Sanges, ist der Erfinder des Schlittschuh's; wenn ich nicht irre, werden ihm aber bereits stählerne zugeschrieben; denn die germanische Götterlehre stammt aus der Zeit, wo die Bereitung des Eisens schon entdeckt war. Nun ist aber in der Nähe der Stadt Bern ein See, „Moosseedorfsee“ genannt, ein Hauptschauplatz unserer Lust und unserer Thaten, an dessen Ufer die ältesten Pfahlbauten gefunden wurden. Vor einiger Zeit tiefer gelegt, konnten die Nachgrabungen am trocknen Ufer gemacht werden. Herr Dr. Uhlmann in Münchenbuchsee, welcher dieselben auf eigene Kosten angestellt, hat so reiche Funde gemacht, daß seine Sammlung von Stein- und Knochenwerkzeugen als die wichtigste zu betrachten ist und daß eine kleine Auswahl derselben auf der Pariser Ausstellung, in welcher noch bei weitem nicht die schönsten Exemplare sich befanden, gerechtes Aufsehen erregte. Herr Dr. Uhlmann hat namentlich mehrere sehr schöne Steinbeile aus Nephrit gefunden, jenem Steine, der nur im Hochgebirge Asiens (und Neuseeland) gefunden wird, der frisch aus dem Steinbruch sehr leicht zu bearbeiten ist, später aber so hart wird, daß man Glas damit ritzen kann.

Diese Nephritbeile sind nun der erste handgreifliche Beweis für die Behauptung der Sprachforscher, daß die Celten aus Hochasien stammen; denn für celtische Ansiedelungen müssen die Pfahlbauten gelten, da die Germanen erst in der historischen Zeit in diese Gegend vordrangen. Sehr bezeichnend nennt Dr. Uhlmann diese Nephritbeile daher „Heimathscheine“ der Celten. Im Torf des Moosseedorfsee’s ist aber auch ein Schlittschuh aus einem Pferdeknochen gefunden worden, welcher auf der Stadtbibliothek zu Bern aufbewahrt wird. Die Form desselben ist natürlich nicht ganz die unsrer heutigen aus Stahl und Holz, sondern ein Mittelding zwischen unserm heutigen Holz und der Stahlsohle, d. h. ein etwa elf Zoll langer Pferdeknochen ist unten und an den Seiten glattgeschliffen, so daß eine glatte etwa neun Linien breite und zehn Zoll lange Sohle das Eis berührt. Rinnen hat der Schlittschuh nicht, und in dieser Hinsicht sind sich die ältesten und die neuesten gleich. Von den Kanten an läuft er nach oben in die Breite, so daß er oben für die Fußsohle etwa anderthalben Zoll breit und elf Zoll lang Raum bietet. Vorn befindet sich ein Loch und hinten eine Kerbe im Knochen, wo die Riemen angebracht werden konnten, um sie an der Fußbekleidung zu befestigen. Es gab eine Zeit lang Zweifler, bis auch aus Schweden ein gleiches Instrument auf der Berner Stadtbibliothek eintraf, welches etwas kleiner für einen Knabenfuß paßt. Um allen Zweifel darüber zu nehmen, ist in einer Beschreibung von London von Fritz Stephen aus dem siebzehnten Jahrhundert, die ein Schriftsteller des achtzehnten Jahrhunderts, Blaine, und nach ihm Anderson citirt, ausdrücklich erwähnt, daß, wann das große Moor, welches die Stadt im Norden begrenzte, gefroren war, die jungen Leute auf dem Eise spielten und einige schleiften, andere Knochen unter die Füße banden und, sich mit einem Stocke stoßend, wie ein Vogel in der Luft oder wie ein Pfeil von der Armbrust auf dem Eis dahinschossen. Das Alter des Schlittschuhes von Moosseedorfsee ist auf wenigstens viertausend Jahre anzunehmen, denn dies ist die geringste Berechnung des Alters der in der Schweiz ausgegrabenen Knochenwerkzeuge.

Ich habe schon im vorigen Jahre der gedeckten, künstlichen Eisplätze in Canada und Nordamerika gedacht. Ich habe nun nähere Nachrichten über dieselben. Sie sind „Eisrinks“ genannt und bestehen aus künstlich überschwemmten Plätzen, welche wie ein Schuppen mit einem Dach gedeckt, neben offen sind, aber je gegen den Wind geschlossen werden können. Diese Plätze sind schneefrei und das Eis gefriert schneller und hält sich besser darin, weil man die Wände je nach Bedarf anlegen oder entfernen kann. Nachts werden diese Eisringe wie Ballsäle mit Gas erleuchtet, eine Capelle spielt und ein wohlversehenes Büffet sorgt für Erquickung des müden Leibes. Costümirte Bälle werden darin aufgeführt. Das „Quebec Chronicle“ meldet über einen solchen Abend: „Der Quebeker Schlittschuhclub hatte seinen großen costümirten Ball in seinem Eisring. Das Jagdhorn ertönte um neun Uhr und der bunte Haufen der Schlittschuhläufer strömte auf das Eis, über welches diese in Hochgenuß dahinstoben, aufjauchzend bei den Klängen einer reizenden Musik und beim Anblick von Hunderten von Damen und Herren, der Elite von Quebec, in den phantastischsten Trachten. Ueber die gleißende Bahn schwebten Dutzende flüchtiger Charaktermasken, kreisend, flatternd, wirbelnd, in der Menge sich verlierend; glänzende, mannigfache Farben, reiche, sonderbare Trachten zogen an uns vorüber oder combinirten Tänze mit wunderbarer Schnelligkeit und überraschendem Effect. Die Herren führten zu den üblichen Charaktermasken einige Neuigkeiten ein: eine Eule, einen Affen, eine Riesenflasche, einen Schneider bei der Arbeit auf seiner Bank, einen reitenden Knaben, alle dargestellt durch gute Schlittschuhläufer. Unter dem Zug der Damen waren Darstellungen von ,Nacht und Morgen’, eine Marketenderin. Alle Uebungen und Figuren wurden mit vollendeter Kunst und Grazie aufgeführt. Unter den Tänzen waren Quadrille, Walzer Galoppade, Lancier etc., mit der je passenden Musikbegleitung.“

Aus Chicago vernehme ich, daß dort im December 1866 der erste Eiscircus angelegt worden ist. Ueber einem Grundstück, das mittels Hydranten jeden Tag neu überfluthet und das zu einem Bassin und Schlittschuhfelde vorbereitet war, wurde eine große Halle von Holz aufgeführt, mit, gewärmten Vorzimmern, Balconen, Musikpavillon, Erfrischungsständen, kurz mit Allem, um selbst der verzärteltsten Dame das Glück des Eislaufens möglich zu machen. Das Eis in diesen „Rinks“ hält sich länger als im Freien., ist schnee- und windfrei, Umstände, welche der Ausbildung des Schlittschuhlaufens, namentlich Phantasiemanöver betreffend, eine neue Aera eröffnet haben. Mit den Schlittschuhen wird bereits bedeutender Luxus getrieben. Ein Paar mit Silber ausgelegte, von Rosenholz, kosten fünfzig Dollars. Es giebt in Chicago nicht weniger als drei Eisparke und zwei Eiscircuse, die zusammen im Winter fast jeden Abend von mindestens zehntausend Personen besucht werden.

Auch in Petersburg hat sich auf Anregung dortiger Engländer ein Schlittschuhclub gebildet, welcher, wie überall, wo es geschehen, die Vorliebe zum Schlittschuhlaufen sehr entwickelt hat. Der Verein richtet auf der Newa eine gute Eisbahn her, wo Damen und Herren sich herumtummeln. Die ersteren haben eine sehr kleidsame Tracht erfunden, welche die Grazie ihrer Bewegungen mehr hervortreten läßt. Hoch aufgeschürzt, die Füße mit hohen, zierlichen Schnürstiefelchen bekleidet, in eine pelzverbrämte Tunika gehüllt, auf dem Kopf eine schelmische Pelzmütze, schnellen sie sylphidenartig, bald einzeln, bald paarweise auf der glatten Bahn einher. Oft werden nach dem Klänge der Musik Tänze aufgeführt. In jedem Winter giebt der Club ein glänzendes Fest. Der ganze Raum ist prachtvoll mit farbigen Lampen erleuchtet. In der Mitte der Bahn erhob sich bei dem letzten Feste ein Eisbau, welcher von innen durch ein glänzendes, farbiges Licht erleuchtet war. Viele Schlittschuhläuferinnen führten farbige Lämpchen an der Mütze und am Gürtel, so daß diese erleuchtenden Punkte wie große Glühwürmer umherschwirrten. Das Ganze brachte eine feenhafte Wirkung hervor. Der Kaiser selbst und mehrere Mitglieder der kaiserlichen Familie nahmen an dem Feste und an dem Schlittschuhlaufen Theil.

In Bern wurde im vorigen Winter auf der durch die Gesellschaft geschaffenen künstlichen Eisbahn ein ähnliches Fest gefeiert, [807] das der englische Gesandte gab. Der Platz war mit einer Lichterguirlande umzogen, welche von neun Uhr Abends bis Mitternacht fast Tageshelle verbreitete. Die schlittschuhlaufenden Damen und Herren trugen Fackeln, die sich namentlich im Ringelreihen, der neben der Quadrille getanzt wurde, sehr schön ausnahmen. Orchester und Büffet waren trefflich. Zufällig in derselben Nacht noch an einem Balle theilnehmend, kam uns dort die heiße Lust und der im Verhältniß zum Eise rauhe Boden fast unerträglich vor – so sehr verdient der Eistanz den Vorzug.

Ueberhaupt hatten wir in Bern im vorigen Winter eine überaus günstige Saison, die sich mit wenigen Unterbrechungen über drei Monate erstreckte und die Gelegenheit darbot, die Eisfläche mehrerer Seen zu erproben. Als auf Feld, Weg und Teich schon Alles aufgethaut war, hielt die schuhdicke Eisdecke des Moosseedorfsees noch bis Ende Februar und bot uns besonders nach Sonnenuntergang, in Mondscheinnächten noch eine harte, glatte, prächtige Bahn. Auch Thuner, Bieler und Untersee luden zu Besuchen ein. Die Ausflüge auf die drei ersteren hat der geistreiche Verfasser der Berg und Gletscherwanderungen, Dr. Abraham Roth, in seiner Sonntagspost in einer „wilden Ode von Klopstock dem Jüngeren“ dithyrambisch gefeiert.

Der Untersee, dessen Sommerzeit Scheffel in seinem Ekkehard verherrlicht, war schon vor Neujahr zugefroren. Einst hatten wir dort eine abenteuerliche Fahrt. Schon frühzeitig von Constanz aufgebrochen, waren wir an der Insel, wo Karl’s des Dicken Gebein ruht, vorüber, als dichter Nebel uns umhüllte. Wir fahren fort und hören die Glocke von Radolfzell uns zum Mittagsmahl rufen, immer größer wird die Hast, immer rascher der Lauf, – der Hunger hatte beide Sporen eingesetzt, – da langen wir plötzlich wieder bei Allenspach, gegenüber der Reichenau, an. Wir waren, ohne Compaß, im Kreise herumgefahren und kamen zwei Stunden später an unserer Mittagstafel an. Die Reichenauer Bauern führen auf dem See daher stets den Compaß bei sich. Einmal hatten wir eine lustige Begegnung. Aus dem Nebel tauchen vor uns zwei schnelle Fahrzeuge auf, die sich begegnen. „Wohin, Hans?“ rief der Eine hinter seinem Schlitten, der eine Last Holz trug, stehend und ihn mit seinem langen, mit Stachel bewaffneten Stock fortstoßend, einem ähnlich befrachteten Bauern zu. „Nach Hause!“ „Ei woher kommst Du denn mit dem Holze?“ „Von Allenspach.“ „Da fährst Du eben hin.“ Betroffen zieht Hans den Compaß und ruft: „Bei Gott, es ist wahr! ich fahre eben dahin, wo ich herkomme,“ und drehte den Schlitten, worauf sie bald im Nebel sich aus dem Gesicht verloren.

Ein anderes Mal fuhren wir bis Stein. An der Landzunge, um welche man in das Steiner Seebecken fährt, waren nordpolartige Eisblöcke aufgethürmt. Spalten mußten übersprungen werden, unter denen die tückische Ran lauerte. Unten angelangt, fing es an so stark zu schneien, daß wir den hinwärts von uns eingeschlagenen, stark im Bogen gehenden, gegen neun Stunden langen Weg auf der Nordseite der Insel heimwärts nicht mehr zurücklegen konnten. Wir mußten versuchen, ob das Eis auf der Süd- oder Rheinseite uns schon trug. Steckborn war passirt, wir befanden uns wieder der Insel gegenüber, dem schweizer Ufer entlang stürmend im dichten Schneegestöber. Die Nacht brach herein, – da krachte es unter mir; ich rufe meinem Begleiter „Halt“ zu. Er hörte nicht. Ich breche durch; er auch. Wassertretend und das Eis vor uns zerschlagend erreichen wir das Ufer. Die Schuhe werden geleert und dann, um Erkältung zu verhüten, im Dauerlauf zwei Stunden weit nach Hause getrabt, ohne Schaden zu nehmen.

Ein ähnliches gefährlicheres Abenteuer wird mir aus Norwegen mitgetheilt. Dort gefrieren noch größere Flächen, als auf den schweizer Seeen, die sich viele Meilen weit auf den Meerbusen und Binnenseen ausdehnen. Bisweilen gefriert ja das baltische Meer, die Geburtsstätte des Schlittschuhes, selbst und bietet unübersehbare Flächen.

Der Berichterstatter nahm an einem Ausflug Theil, welchen sechs oder sieben norwegische oder englische Studenten von Christiania aus den Meerbusen hinab machten. Man besuchte ein zwanzig englische (gleich vier deutsche) Meilen entferntes Dorf, um im Mondschein zurückzukehren. „Es war ein lieblicher Morgen, als wir aufbrachen. Der Himmel war tiefblau und kam an Klarheit der Farbe fast der Beleuchtung des südlichen Klima’s gleich. Mit dem Eise konnte selbst das wählerischeste Mitglied des Schlittschuhclubs zufrieden sein; auch wurde die Annehmlichkeit unserer Fahrt noch besonders erhöht durch das Bewußtsein, daß das Eis nicht weniger als drei Fuß dick war, und doch es nirgends gefährliche Sprünge gab. Füge ich vollends bei, daß der Meerbusen wenigstens zwei englische Meilen breit ist und immer breiter wird, je weiter man die Stadt hinter sich läßt, und daß wir, wenn wir gewollt, bis in’s offene Meer, eine Entfernung von nahezu achtzig englischen Meilen, hätten fahren können, so wird man leicht erkennen, daß es uns zur vollen Entfaltung unserer Kräfte nicht an Raum fehlte. Wir machten natürlich keine phantastischen Kunststücke, denn wir hatten eine lange Fahrt vor uns, und mußten sonach mit unserer Kraft haushälterisch umgehen. Schnell eilten wir voran, wozu eine sanfte Brise aus Nord uns freundlich Hülfe leistete. Da und dort machten wir Halt, um einige Worte mit irgend einem einsamen Fischer zu wechseln, und campirten zeitweilig auf dem Eise unter einem auf Pfählen ausgespannten Stück Segeltuch. Die Fische schienen hungerig, wie wir aus der Menge Weißfische und kleiner Stockfische schlossen, welche einige Fischer in ihren Körben hatten. –

Plötzlich fuhr ein Eisschiff mit der Schnelligkeit des Sturmwindes an uns vorüber. Ich hatte nie zuvor eines gesehen. Es ist gebaut wie ein Eispflug, d. h. es hat eine dreieckige Gestalt und steht auf Schlittschuhen. Es trug ein großes viereckiges Segel, das eingezogen werden kann, wenn man das dasselbe festhaltende Tau gehen läßt. Dies ist auch in der That die einzige Art und Weise, diese Schiffe zum Stehen zu bringen; und sonach ist eine Fahrt in denselben häufig gefährlich und selbst das Leben bedrohend; denn sollte man ungefähr dem Ende des Eises nahe kommen und der Wind scharf wehen, so ist die einzige sich darbietende Aussicht auf Rettung die, auf das Eis hinauszuspringen auf die Gefahr hin Hals und Bein zu brechen, – will man nicht in’s offene Wasser geschleudert werden. (Es giebt daher in Holland auch Boote, die auf Schlitteneisen stehen und jene Gefahr verhüten.)

Nach einer angenehmen Fahrt von drei bis vier Stunden kamen wir ungefähr um ein Uhr heißhungerig am Orte unserer nächsten Bestimmung an. Wie vortrefflich schmeckte da der Kaffee, – wie pikant der geräucherte Lachs – wie duftig die Cigarre, wie erheiternd der Punsch! So ging die Zeit schnell vorüber, und mit einem dem Widerstreben verwandten Gefühl verließen wir das warme Zimmer der Dorfstation, um uns abermals auf den offenen Fjord hinauszuwagen. Wir traten daher unsern Heimweg vielleicht nicht ganz so aufgeräumt an, als am Morgen unsere Abfahrt, denn die Sonne war dem Untergänge nahe, der Wind wehte uns in’s Gesicht und wir waren ein wenig steif. Dennoch zogen wir fröhlich aus, in ,Halbeile’. Da wurden wir, als wir ungefähr die Hälfte des Weges zurückgelegt, unangenehm überrascht, wahrzunehmen, daß sich allmählich und wie verstohlen ein dichter Nebel über das Eis zog. Er kam immer näher, bis wir zuletzt in einen undurchdringlichen Dunstkreis eingehüllt waren. Nun zum ersten Male drängte sich uns der Gedanke ans, daß wir uns in einer schlimmen Lage befänden. Welche Richtung sollten wir einschlagen? Kein Stern war mehr am Himmel sichtbar, kein Compaß in der Tasche, wonach wir die Richtung hätten bemessen können! Was thun? Umkehren oder vorwärts rücken? Wir entschieden für Letzteres. Bald zogen wir aber ebenso in der Irre umher, wie irgend ein Jäger auf einer spurlosen Prairie oder in einem grenzenlosen Urwalde. Und dennoch konnte uns etwas als Führer dienen – der Wind. Dadurch, daß wir ihn auf einer gewissen Seite unseres Gesichtes behielten, glaubten wir zuverlässig, daß wir, wofern er sich seit dem Morgen nicht etwas gedreht, in der rechten Richtung geblieben seien. ‚Bleibt nahe beisammen‘ rief unser Anführer, als wir Einer hinter dein Anderen dahin glitten, ‚und denkt an die Löcher im Eise.’ Dies war eine weitere Gefahr, denn die Löcher, welche die Fischer Morgens gemacht, konnten noch nicht stark genug zugefroren sein, um Nachts schon das Gewicht eines Mannes zu tragen. Obgleich sie aber nicht so groß waren, um hindurch zu fallen, so hätte man doch leicht, wenn man unversehens in eines desselben hineingerathen wäre, ein Bein brechen können. Mittlerweile ward der Nebel immer dichter, so daß wir uns endlich genöthigt sahen, einander gegenseitig an den Rockzipfeln zu halten. Hätten wir ein Seil gehabt, würden wir die Hochalpensteiger und Alpenclubbisten nachgeahmt haben. Bereits hatten wir fünf Stunden auf dem Eise [808] zugebracht und hätten um diese Zeit, wenn wir den rechten Weg eingeschlagen, zu Hause sein können. Allein wir konnten kein Zeichen nahen menschlichen Lebens wahrnehmen, hörten keinen Ton, obgleich wir oft Halt machten und unsere Ohren spitzten, um die Stimme irgend eines Fischers oder eines anderen Menschen aufzufangen, der etwa spät von seiner Tagesarbeit zurückkehrte. Wir hörten nichts – verhängnißvolle Stille – das Schweigen des Todes herrschte ringsum!

,Wir sind verirrt‘ sagte unser Führer; ,Gott weiß, wo wir sind!’ Nun, verirrt sein auf einem offenen Fjord, bei einem Thermometerstand von zwanzig Grad unter Null und beim Wehen eines scharfen Nordwindes; das Gefühl sodann jener allmählich uns beschleichenden Schläfrigkeit, welche, wenn man ihr nachgäbe, in den Todesschlaf überginge: eine solche Lage ist wahrlich keineswegs angenehm! In Bewegung müssen wir bleiben, gleichgültig in welcher Richtung! Ruhen wäre verhängnißvoll gewesen; und so schossen wir fort, in der Hoffnung uns immer auf dem rechten Wege zu befinden. – Plötzlich hörten wir das Rauschen eines entfernten Wasserfalles; wir machten Halt und pflogen Rath. ,Halt! Ich hab’s!’ rief unser Anführer; ,das ist der …Foß, den wir hören können, und dies ist also die …Crek. Zurück, zurück um’s Himmelswillen!’ Denn er wußte, daß dies die gefährlichste Stelle war, auf der man sich befinden konnte. Es war in der That die gefrorene Oberfläche des …Flusses, auf welchem wir standen, dessen Strömung so schnell und reißend ist, daß das Eis dort stets unsicher bleibt. Die Furcht beflügelte unsere Füße und wir machten keine Pause, bis der Schall des fallenden Wassers unseren Ohren völlig entschwunden war. Ein Gutes schien dieser Zwischenfall zu haben; denn er hob unser Vertrauen, da wir dadurch uns in Stand gesetzt glaubten, unsere Richtung nach der Stadt zu nehmen. Leider war diese Hoffnung eine eitle; denn nachdem wir unseren Lauf ein paar weitere Stunden fortgesetzt, konnten wir immer noch keine Zeichen der Heimath wahrnehmen.

Unsere Lage wurde bedenklich. Mitternacht war bereits vorüber und besorgte Freunde erwarteten uns zu Hause. Ich war so ermüdet und so abgemattet, daß ich mich kaum noch rühren konnte. Ich bat und flehte, man möge mich, wenn auch nur einen Augenblick, auf das Eis niederlegen lassen. ,Nein, keine Secunde!’ rief der Anführer. ,Zieht ihn auf, zieht ihn auf!’ Denn ich hatte mich selbst auf das Eis hingeworfen! Ein Schluck Branntwein gab mir neue Lebenskraft und rettete mir, wie mir schien, das Leben. – Plötzlich erspähten wir durch die Dunkelheit hindurch eine Anzahl trüber Lichter. War es die Stadt? Nein, denn sie bewegten sich. Waren es also Irrlichter? Nein, Gott sei Dank, freundliche Menschengestalten befanden sich dahinter. Wir waren gerettet! ,Hurrah!’ schrieen wir, – , Hurrah!’ – Die Lichter kamen näher und näher, und in wenigen Minuten standen wir unter einem Haufen Volkes, welchen unsere Freunde in der Stadt bewogen hatten, sie zu begleiten, die Vermißten zu retten. Wir befanden uns noch acht englische Meilen von der Stadt, und ich glaube, daß, wenn die uns aufsuchenden Leute nicht glücklicherweise auf uns gestoßen wären, sie am nächsten Morgen sieben erfrorene Leichname auf dem Eise gefunden haben würden.“

(Schluß folgt.)



Der Ausbruch des Vesuv vom 16. bis 20. November 1868.

Von Heinrich Boernstein.

„Sie sind ein wahres Glückskind. Andere Touristen sitzen hier Wochen, Monate, ja Jahre, warten auf einen Ausbruch des Vesuv und reisen wieder ab, ohne etwas Anderes gesehen zu haben, als bei Tage eine Rauchwolke und bei Nacht einen matten Gluthschein. Sie aber kommen kaum an und am andern Tage schon präsentirt sich Ihnen eine der großartigsten Eruptionen, wie wir sie in solcher Macht und Ausdehnung seit langen Jahren nicht gehabt haben. Sie können wirklich von Glück sprechen!“

So apostrophirte mich am zweiten Tage nach meiner Ankunft in Neapel Herr Leupold, Chef des geachteten hiesigen deutschen Handelshauses ,Leupold frères, als ich ihm meinen Empfehlungsbrief von seinem Hause in Genua überbrachte. Ich hatte in Genua den Senior dieser höchst achtbaren Firma, den Generalconsul des Norddeutschen Bundes, Herrn H. O. Heinrich Leupold, nicht mehr angetroffen, da derselbe auf einer Reise durch Deutschland, England und Frankreich abwesend war, war aber von dem jüngeren Bruder und Geschäftstheilhaber desselben mit solcher Herzlichkeit und Liebenswürdigkeit aufgenommen worden, daß mir nichts zu wünschen übrig blieb.

Der Vesuv und seine jetzige Eruption waren natürlich der Hauptgegenstand unseres Gesprächs, und ich erhielt von dem wohlunterrichteten Manne manche werthvolle Belehrung. Allein selbst sehen ist die Hauptsache, und so beschloß ich so bald als möglich auf den Schauplatz der Eruption zu eilen.

Schon beim Ankommen hatte von der Station Caferta an der Vesuv meine ganze Aufmerksamkeit gefesselt; es war bereits vor Capua Nacht geworden und durch diese trat nun der gluthrothe Gipfel des Vesuv in furchtbarer Pracht hervor. Je näher der Zug Neapel kam, desto imposanter wurde das Schauspiel; immer schärfer zeichnete sich der glühende Krater am dunkeln Horizont ab und Feuergarben, glühende Steine und dicke Rauchwolken entwirbelten wie die Schwärmer, Raketen und Girandolen eines Feuerwerk-Bouquets dem feurigen Schlunde. Ein Neapolitaner, der im Coupé mit uns saß, bemerkte, so unruhig habe er den Vesuv schon lange nicht gesehen, das gebe zuversichtlich eine große Eruption. Das war am 13. November Abends und der Mann hatte Recht gehabt.

Schon am 14. begann die unterirdische Thätigkeit des Berges sich mit furchtbarer Gewalt zu entwickeln, und am 15. erhob sich auf dem Atrio di Cavallo, dem oberen Gebirgssattel unterhalb des alten Kraters, ein neuer Kegel, der mit einer furchtbaren Explosion aufborst und nun einen glühenden Lavastrom über den Gebirgssattel ergoß, der sich langsam, aber unaufhaltsam abwärts schob. Der zweite Krater, der sich im Winter dieses Jahres bei der letzten Eruption gebildet hatte, ward durch die Steine und die Asche dieses neuen Ausbruchs ganz zugeschüttet und die ganze Gewalt der Eruption concentrirte sich nun auf diesen neuen Krater, während der alte Hauptkrater auf dem Gipfel des Berges nur eine dickqualmende, mit Feuerstreifen durchzogene schwarze Rauchwolke ausstieß.

Von Neapel aus konnte man den neuen Krater nicht sehen, da er sich auf der Nordostseite des Berges befand, aber die demselben entströmende Lavafluth wendete sich gegen den Fosso di Faraone, gegen Südosten, auf demselben Wege, den die Lava von 1855 genommen hatte, und war von nun an von der Stadt aus sichtbar. Von meiner Wohnung am Molo, wo ich die herrlichste Aussicht über den Hafen und den ganzen Golf von Neapel habe und das zauberische Panorama von halb Neapel, Portiei, Resina mit dem Kegel des Vesuv dahinter, Torre del Greco, Torre dell’ Annunziata, Castellamare, Sorrent und die Insel Capri vor mir liegt, konnte ich das wunderbare Schauspiel Tag und Nacht betrachten. Bei Tage verhüllten die dicken Rauchwolken oft jede Aussicht, bis ein lebhafter Wind sie auf Stunden hinwegfegte, bei Nacht aber war der Anblick ein furchtbar großartiger. Meer und Horizont waren von dunkler Gluthröthe gefärbt; wie ein feuriger Wasserfall senkte sich der breite Lavastrom über den steilen Abhang hinab und zertheilte sich nun tiefer unten, wo das Terrain schwächer abschüssig war, in mehrere Arme, die wie feurige Schlangen verderbenbringend fortzüngelten. Aus dem Hauptkrater stieg eine schwere, dicke, schwarze Rauchwolke, nur durch einzelne Blitze erhellt, thurmhoch empor, und von Zeit zu Zeit aus der Lavafluth auflodernde Feuersäulen erhellten Augenblicke lang die nächste Umgebung. Von meinem Bette aus hatte ich den Vesuv gerade vor Augen, und Neugier, Aufregung und Ueberraschung verscheuchten jeden Schlaf.

Nun litt es mich nicht länger in Neapel, ich wollte an Ort und Stelle sehen, was ich aus der Ferne mit Erstaunen betrachtet hatte. An eine Besteigung des Berges war nicht zu denken, die [809] Straße, die zum Eremiten führt, bereits von der Lava überzogen, und wenn man selbst, allen Mühen und Gefahren trotzend, das Piano delle Ginestre hätte erreichen können, so befand man sich in dicken Rauch- und Aschenwolken und konnte weder aufwärts noch abwärts etwas sehen. So beschloß ich denn, mich an den Fuß des Lavastroms zu begeben, und nachdem ich mich in der deutschen Buchhandlung der Herren Detken und Rocholl, deren gefällige Besitzer mir alle wünschenswerthen Auskünfte gaben, mit einer guten Karte der Umgebungen von Neapel versehen hatte, fuhr ich am 18. mit der Eisenbahn nach Portici. Gleich beim Austritt ans dem Bahnhof fuhren mir ein halbes Dutzend Droschken in den Weg, deren Führer mit echt neapolitanischer Zungengeläufigkeit und südlich lebhafter Gesticulation sich die angekommenen „Eccellenze“ (denn weniger als Excellenz ist man hier nicht) streitig zu machen suchten. Endlich sprang ich in ein Cabriolet, dessen Lenker durch ein: „Für einen Franc fahre ich Euere Excellenz bis an den Fuß der Lava!“ allen seinen Mitbewerbern den Rang abgelaufen hatte, und fort ging es, wie eben nur neapolitanische Kutscher fahren, immer in gestrecktem Galopp, durch die endlos langen Straßen von Portici und dann eine lange Pappelallee nach San Giorgio a Cremano.

Unterwegs schon hatte sich mir der Kutscher als ein gewandter, mit der Gegend wohlbekannter Mann erwiesen, und da wir bereits eine Stunde gefahren waren, ohne San Giorgio erreicht zu haben, ich Abends so lange als nur möglich auf dem Berge bleiben wollte, nach acht Uhr Abends keine Eisenbahnzüge mehr gehen und ich an die Schwierigkeiten der Rückkehr nach Neapel dachte, nahm ich seinen mir indessen gemachten Vorschlag, für zehn Francs ganz zu meiner Disposition zu bleiben und mich zu jeder beliebigen Stunde vor oder nach Mitternacht nach Neapel zurückzuführen, gern an. In San Giorgio stiegen wir bei der letzten Osteria aus, denn weiter durften keine Wagen passiren, um den Bewohnern des Bergabhangs, die ihre Habseligkeiten wegschafften, die ohnehin schmalen Dorfwege nicht zu versperren, versahen uns, zu den von Neapel mitgenommenen Lebensmitteln, noch mit ein paar Flaschen trefflichen Vesuvweins und traten nun unsre Fußwanderung an. An der Osteria hatte schon ein ganzer Haufen für die Gelegenheit improvisirter Führer den Wagen umdrängt und mit lautem Geschrei den „Eccellenzas“ seine Dienste angeboten. Auf die Empfehlung des Kutschers wählte ich einen derselben, gab ihm den Wein und unsere Mäntel zu tragen, konnte aber trotz alles Protestirens nicht verhindern, daß sich noch ein anderer angeblicher Führer uns anschloß und rüstig mitschritt. Schon auf dem Bergabhange kamen uns die Bewohner der bedrohten Gegend, Betten, Schubladen, Thüren, Fenster, Fässer, abgehauene Oelbäume auf den Köpfen tragend, entgegen, die Weiber weinend und klagend, die Männer fluchend, die Minder lachend und jubelnd. Die Aermsten suchten vor dem heranrückenden Feuermeere wenigstens was von ihren Habseligkeiten beweglich war zu retten; das Haus, in dem sie lange Jahre gewohnt, den Weinberg, die Oelpflanzung, den Obstgarten, die sie mit ihrer Hände Arbeit und eisernem Fleiße sich zu einem kleinen Paradiese geschaffen, mußten sie leider zurücklassen mit dem Bewußtsein, ihr Eigenthum nie mehr wieder zu sehen, denn in einigen Stunden, oft nur Minuten war es eine Wüste von Lavablöcken und Felstrümmern, der Schauplatz trostloser Verheerung, auf dem selbst die Grenzmarken des früheren Besitzthums nicht mehr zu erkennen sind, da Grenzsteine, Bäume, Mauern, Häuser, kurz Alles unter dem zerstörenden Tritte des Lavawalles bis zur Unkenntlichkeit vernichtet wird. Vor den großen Häusern der Weinberge am Wege standen Ochsenkarren mit leeren Fässern, in welche der aus den Kellern hastig in Eimern heraufgeschleppte Wein hineingegossen ward, nicht jedoch, ohne daß bei der übereilten Arbeit die Hälfte, statt in’s Spundloch, auf die Erde und in breiten rothen Rinnen den Berg hinabfloß.

Da die Führer zur Besteigung des Vesuv fast alle in Resina sind und dort unter polizeilicher Aufsicht, mit festgesetzter Taxe für ihre verschiedenen Dienste, stehen, – hier in San Giorgio sich aber ein Corps von Volontair-Führern gebildet hatte, über die keine solche Controle wacht, so fragte ich im Hinaufsteigen den Führer, wie viel er für seine Mühe verlange, aber die Antwort lautete: „Was Euere Excellenz mir geben wollen!“ – Mit aller Mühe konnte ich kein anderes Wort aus ihm herausbringen und da ich vorwärts wollte, so blieb nichts übrig, als mich auf seine Discretion zu verlassen. – Der andere, ungerufene Führer schritt indessen rüstig mit uns und suchte sich durch allerhand kleine Dienste nützlich zu machen.

Jetzt wurde der Schwefel- und Kohlendampf immer lästiger und die Hitze der Lava schon fühlbar, wir bogen aus dem Wege heraus um ein schon ganz ausgeräumtes, selbst seiner Thüren und Fenster entkleidetes Haus herum in einen Weinberg, dessen Rebengelände mit Oel und Feigenbäumen durchzogen waren, – und standen plötzlich vor dem langsam herranrückenden Lavawalle. – Wie wenig trifft der Begriff, den man sich von einen: Lavastrome macht, mit der Wirklichkeit zusammen; – die Lavafluth tritt uns nicht als eine feurige, fließende Masse entgegen, sondern als ein zwanzig bis fünfunddreißig Fuß hoher Steinwall, gebildet aus theils schwarzen, theils dunkelroth glühenden Felsenblöcken, und dieser Wall, der von der am Boden hinkriechenden, flüssigen Lava getragen, durch die ungeheure Schwere der beständig nachströmenden Feuermasse getrieben, durch die Abschüssigkeit des Bodens in seinem Falle befördert wird, rückt nun sichtlich, ungefähr zwei bis drei Fuß in der Minute, – je nach größerer Steilheit des Bergabhanges auch schneller, – auf uns zu.

Fortwährend lösen sich im Vorwärtsschieben einzelne, mächtige, glühende Blöcke von dem Gipfel des Walles ab und stürzen mit Getöse herab, Alles, was in ihrem Wege steht, augenblicklich in helle Flammen setzend, – oder es klafft in dem vordrängenden Felsenwalle plötzlich ein großer Schlund auf und eine feurige Lavagluth schießt, wie das flüssige Erz bei einem Glockengüsse, brausend hervor, entzündet, was sie berührt, und wird, schnell zu Lavablöcken erkaltend, mit der übrigen Masse vorwärts geschoben. Es ist ein Anblick so gewaltig und überraschend, so neu und überwältigend, daß man nur sprachlos staunend dastehen, das Großartige und Wunderbare der Erscheinung aber nicht mit Worten beschreiben kann. Auch diese Zeilen werden dem Leser kein anschauliches Bild von dieser gräßlich schönen Naturerscheinung geben; – so Etwas muß gesehen werden.

Wir waren jetzt, in einer der fruchtbarsten Gegenden am Abhänge des Vesuv, in den sogenannten „Novelle“, ganz mit Weinbergen, Oel- und Obstpflanzungen bedeckt, aus denen massive, steinerne Bauernhäuser und hübsche Villen und Casinos anmuthig hervorleuchteten. Seit Menschengedenken waren diese Novellen von jeder Verwüstung des Feuerberges verschont geblieben, die verheerende Lavagluth von 1794, die furchtbaren Ausbrüche der fünfziger Jahre hatten sie nicht berührt, und jetzt war dieses reizende Paradies dem schrecklichen Schicksal preisgegeben, in einigen Stunden oder Tagen in eine trostlose Felsenwüste verwandelt zu werden. Der Lavawall, der, wie bereits bemerkt, eine Höhe von zwanzig bis fünfunddreißig Fuß erreichte, rückte in einer Breite von mindestens vierhundert Fuß in drei verschiedenen Armen auf uns zu, und bewegte sich in der Thalsenkung, die la Fossa della Vetrana heißt, von Nordwest noch Nordost.

„Kommen Sie,“ rief mir ein Franzose zu, der wie ich und mein Reisegefährte vor wenigen Tagen erst von Rom gekommen war, – „kommen Sie, in drei Minuten wird das Haus des Pfarrers von der Lava überfluthet werden.“ Wir eilten durch den immer dichter werdenden Rauch und die unerträgliche Hitze, die uns die Haut im Gesichte aufzog, durch einen Hohlweg zwischen Weinbergen, längs der Lavafluth, bergaufwärts, immer auf unserm Defilé vorsichtig nach oben blickend und auf das Krachen und Knattern der Lava horchend, – denn wehe dem Unglücklichen, der sich in einem solchen Hohlwege befindet, wenn die Lava den Rand desselben erreicht und sich nun mit schrecklicher Gewalt hineinstürzt! – auch die schnellsten Beine und die größte Geistesgegenwart dürften da nicht immer vor dem gräßlichen Feuertode retten.

Wir erreichten endlich den großen Weinberg des Pfarrers, in dessen Mitte das stattliche, auch schon ganz ausgeräumte Pfarrhaus lag. Der alte Pfarrer in kurzer Jacke und Kniehosen, nur durch ein schwarzsammtnes Käppchen als Geistlicher kenntlich, bemühte sich mit Hülfe einiger Männer, die Weinpfähle auszureißen, um wenigstens diese, als Brennholz, zu retten. - Sein schwarzer Hund, ein kluges, treues Thier, lief immer, ängstlich bellend, zu dem verlassenen Hause hin, dem ein über dreißig Fuß hoher Lavawall schon bis auf einen Fuß nahe gerückt war, und dann wieder zu seinem Herrn zurück, an dem er bellend aufsprang, als wolle er ihn vor der herannahenden Gefahr warnen. – Das [810] Haus stand öde und leer da, – nur die Hauskatze saß noch ganz gemüthlich auf der Thürschwelle des oberen Stockwerks, zu dem eine Treppe von außen führte. Der Pfarrer hatte sich so eben wehmüthig nach dem Hause gewendet, an dessen dicken Steinmauern sich die Lavablöcke immer höher aufdämmten, – er betrachtete das Heimwesen, in dem er, seit er Priester geworden, gewohnt und gewaltet hatte, mit tiefer Trauer im Ausdrucke, zum letzten Male. – Neben dem Hause stand ein schöner, junger Feigenstamm, – in wenigen Minuten mußte ihn die Lava zerstören, – ich wollte ihn lieber als Andenken mitnehmen. „Ist’s erlaubt?“ fragte ich. „Heute ist Alles erlaubt!“ antwortete er mit einem trüben Lächeln auf die Lava deutend. Während ich den Stamm abschnitt, fiel des Pfarrers Blick auf die Katze: „Rettet das arme Thier!“ rief er einem der Leute zu; – dieser eilte die Treppe hinauf, die Katze aber, durch das fremde Gesicht erschreckt, lies rasch in’s Innere des Hauses hinein, und in demselben Augenblicke stürzte die an dem Hindernisse der Steinmauern thurmhoch aufgedämmte Lava mit furchtbarem Gekrach nach vorne über und überschüttete das flache Dach des Hauses mit einem Feuermeere. Der Mann auf der Treppe sprang mit einem lauten Schrei hinab, der Pfarrer und die Umstehenden bekreuzten, sich, – aus den leeren Fensterhöhlen drangen dicke, qualmende Rauchwolken, – noch einige Minuten und das ganze, große Pfarrhaus war spurlos verschwunden, an seiner Stelle wälzte sich ein hoher Wall von glühenden Lavablöcken weiter vorwärts.

Wir gingen jetzt, durch Weinberge und Obstgärten kletternd, immer nur der Grenze des Lavadammes folgend, die ganze Breite des Feuerstromes hinab, nachdem wir den Hohlweg, in welchem wir zum Pfarrhause hinaufgestiegen, auf dem Rückwege schon mit Lava ausgefüllt und überdeckt gefunden hatten. Auf diesem langen und mühsamen Wege starrte, uns überall dasselbe traurige Bild der Vernichtung und Verwüstung entgegen; in einer Besitzung war das elegante Casino so eben unter dem Drucke der Lavablöcke zusammengestürzt, aber die feurige Masse schien, aus unbekannten Ursachen, auf diesem Punkte Rast zu halten und nicht vorwärts gedrängt zu werden, denn die Trümmer des Casino’s wurden nicht überdeckt und vor der Lava eingeschlagene Holzpfähle, die dem Besitzer als Warnungszeichen dienen sollten, standen unverletzt da. Diese momentane Rast war für die Besitzer des Casino’s ein großes Glück, denn sie waren noch damit beschäftigt, aus den etwa fünfzig Schritte zurück gelegenen Wirthschaftsgebäuden ihre bewegliche Habe zu entfernen und den Wein aus den Kellern in Fässer zu gießen, deren einige, bereits gefüllt, fortgeführt wurden. Jede Stunde Galgenfrist war für die Leute ein wahrer Gewinn und sie suchten auch jede so gewonnene Minute bestens zu benützen.

Wir waren nun schon fünf Stunden, ohne Halt, nach allen Richtungen umhergewandert und hatten einen genügenden Ueberblick des Terrains gewonnen, – die Sonne neigte sich zum Untergange, – wir waren müde, matt, hungrig und durstig, und so kehrten wir an den äußersten Punkt der Lavafluth zurück, lagerten uns dort auf einen Hügel und hier – vor uns den donnernden und qualmenden Vesuv und den San Salvatore mit der Wallfahrts-Capelle, zu unseren Füßen die krachende und prasselnde Lavafluth im langsamen Vorrücken, hinter uns das Meer und die in dasselbe hinabsinkende Sonne, während die Mondsichel schon hell am Himmel stand, – in Mitte dieser großartigen Rundschau labten wir uns an dem mitgebrachten Proviante und dem köstlichen Wein. – Indessen wurde es dunkler, wie denn hier die Nacht ohne Dämmerung eintritt, und der Führer fragte: ob er für den Rückgang eine Fackel kaufen solle? – „Was eine Fackel koste?“ fragte ich. Wieder dieselbe ausweichende Antwort: „Sie wird nicht viel kosten.“ Ich winkte, – er und sein Begleiter gingen und kehrten bald mit zwei Fackeln wieder. „Was eine solche Fackel koste?“ fragte ich jetzt scheinbar hingeworfen meine Reisegefährten. „Zwei Francs!“ platzte der eine Führer unvorsichtig heraus, und jetzt begriff ich, daß es auf eine Prellerei abgesehen war. Ich rief die beiden Bursche zu mir: „Ich will jetzt wissen, was Du für Deine Mühe verlangst, – den Andern habe ich nicht bestellt und nicht angenommen. Also kurz und klar! was verlangst Du?“ – Neue Ausflüchte, – wiederholt die Redensart: „Was Eccellenza geben wollen!“ – als ich aber nicht nachließ und kategorisch eine Summe zu wissen verlangte, meinte der Führer: „er habe wohl fünfzehn Francs verdient und seinem Cameraden sollte ich geben, was ich glaube.“ „Seid Ihr toll oder glaubt Ihr, daß ich verrückt bin?“ fragte ich ihn und nun begann eine Debatte, die eine volle Stunde währte, in der ich Argument gegen Argument, Sophism gegen Sophism zu setzen, die Appellationen an meine Großmuth und Generosität gegen so „poveri Diavoli“ mit der Erklärung, daß ich selbst kein „Inglese“ und nicht reich sei, abzuweisen hatte. Mit dem Neapolitaner, der ein geborener Advocat und Plaideur ist, muß man eben plaidiren, nie die Ruhe verlieren und etwa heftig werden, und die ganze Debatte immer im heiteren, scherzhaften Tone führen. So bot ich ihnen denn fünf Francs für Beide zusammen und setzte ihnen auseinander, wie viele Macaroni und wie viele Bottiglias guten Posilippoweines sie für die fünf Francs kaufen“ könnten, worauf sie endlich auf zehn Francs für Beide Herabstiegen. Allein ganz einig konnten wir nicht werden, und so rückte ich jetzt mit dem kräftigsten Argumente vor und proponirte, den Fall dem Brigadier einer der jetzt zahlreich den Berg heraufkommenden Gensdarmerie- Patrouillen zur Entscheidung vorlegen zu wollen. – Das wirkte; die Bursche wurden kleinlaut und acceptirten mein Gebot, jedoch mit der Bitte: Eccellenza möge doch Jedem noch eine Bottiglia (Trinkgeld) geben. Ich gab ihnen nun die fünf Francs und jedem einen Franc Bottiglia, und sie zogen mit vielen „Mille grazie, Excellanza, auf Wiedersehn!“ mit ihren Fackeln ab.

Zum Rückwege nach San Giorgio brauchte ich weder sie, noch die Fackeln, denn der Schauplatz hatte sich gegen Abend mit Hunderten von Fremden und Neapolitanern gefüllt, die alle von Fackelträgern begleitet waren, so daß man sich nur einer solchen Gesellschaft anzuschließen brauchte.

Ich erzähle diese kleine Episode, um nach mir kommende Reisende zu warnen, sich nie ohne vorher gemachten festen Accord hier auf Etwas einzulassen und in allen streitigen Fällen sich an die Gensdarmerie oder an die „Garde der öffentlichen Sicherheit“ zu wenden, die, meistens Piemontesen oder Toscaner, mit den prellerischen Neapolitanern kurzen Proceß machen.

Darüber war es nun Nacht geworden und das prächtige Schauspiel entwickelte sich vor uns. So weit das Auge reichte, war nun der ganze Lavastrom, der bei Tage schwarz ausgesehen hatte, ein glühendes Feuermeer, das sich langsam vorwälzte und von dessen haushohen Wogen sich fortwährend ungeheure, glühende Lavablöcke ablösten und mit Gekrach herabrollten. Rückte die Lava an einen Baum, so flammten seine von der furchtbaren Hitze gedörrten Blätter, wie tausend Lichter auf einem Christbaum, hellleuchtend auf, – dann wurde prasselnd der Stamm von den Flammen verzehrt und die Krone sank in das Gluthmeer. Dazwischen schlugen aus dem Lavawalle von Zeit zu Zeit ungeheure Flammensäulen mit donnerähnlichem Gepolter auf, wahrscheinlich in der Masse eingeschlossene Gase, die sich entzündeten, – dann wieder stürzte sich der glühende Strom in einen der vielen Brunnen, das Wasser darin wurde durch das Feuer verdrängt, es entwickelte sich mit einer Explosion eine Masse Wasserstoffgases und eine weiße Dampfsäule wirbelte zischend in die Luft empor.

Und dieses nicht zu beschreibende Schauspiel begleitete der Vesuv mit seinem lang rollenden unterirdischen Donner, in den sich das Krachen der Lava, das Knattern und Knistern der brennenden Bäume, die Donnerschläge der Gasentzündungen, das Geschrei der Obst-, Kuchen- und Weinverkäufer, die Rufe der Fackelhändler: „Holla, Fackeln für den Heimweg!“ und das in allen Sprachen ertönende Geplauder der Fremden und Neapolitaner mischte. Noch einmal: so Etwas läßt sich erleben und hinterläßt einen unauslöschlichen Eindruck, – aber beschreiben läßt es sich nicht. – Es waren, nach meiner Schätzung, einige Tausend Personen diesen Abend auf dem Berge, meistens Fremde, die auf die telegraphischen Nachrichten von Rom, Florenz, Livorno, Mailand, Marseille herbei geeilt waren und deren in den letzten Tagen einige Tausend hier eingetroffen sein sollen, so daß alle Hotels überfüllt sind.

Als wir um neun Uhr den Berg verließen und hinabstiegen, begegnete uns auf dem ganzen Wege eine unaufhörliche Procession von Gesellschaften mit Fackelträgern und auf der Straße von Portici bis Neapel fuhren uns fortwährend Droschke auf Droschke, Equipage auf Equipage, Alle der Lavafluth zueilend, entgegen. – Unser Kutscher fuhr uns, wie ein Wahnsinniger jagend, in gestrecktem Galopp nach Hause, – da, vor Portici, ertönt ein gellender Schrei und ein Pferd mit einem Wägelchen, in dem ein [811] Mädchen saß, jagt in wüthenden Carriere an uns vorüber. Hintendrein stürzt ein ältlicher Mann, der, sich die Haare ausraufend, verzweifelnd schreit: „Ach meine arme Tochter!“ – Er und der Kutscher wechseln ein paar Worte im neapolitanischen Dialecte, – er war abgestiegen, um schnell ein Glas Wein zu trinken, und hatte, wie dies hier üblich, die Zügel auf den Sitz geworfen; – seine zwölfjährige Tochter war im Corricolo sitzen geblieben, das Pferd, durch die vielen Wagen und Fackeln erschreckt die plötzlich durchgegangen. „Oh! mia povera figlia! Sie wird vor Schrecken sterben!« so jammert der Mann. – „Oh! lo povera creatura!" schreit unser Kutscher laut und haut auf sein Pferd grimmig ein und immer: „O, das arme Geschöpf!“ jammernd, fahrt er im furchtbarsten Carriere hinab, so daß wir befürchten, in jedem Augenblick aus dem Wagen geschleudert zu werden. Endlich erreichen wir den am Wege liegenden Wagen, neben ihm steht händeringend das Mädchen. „Ist Dir Etwas geschehen?“ fragt besorgt der Kutscher. – „Nein! Nichts!“ antwortet die Kleine, „aber unser armes Pferd!“ – Sie hatte, als das Pferd durchging, mit seltener Geistesgegenwart die Zügel ergriffen und das wild gewordene Pferd noch möglichst zu lenken gesucht, war aber zuletzt in der Dunkelheit und verirrt und geblendet durch die vielen Wagen mit Fackeln, gegen einen Baumstamm gefahren und das Pferd habe sich den Kopf zerschmettert. – Die Aermste dachte nicht an sich und die überstandene Todesgefahr, sondern nur „nostro povero cavallo“, lag ihr am Herzen. Einige Schritte weiter fanden wir auch das Pferd, – zwei Männer hatten es ausgespannt und hielten es, es blutete stark aus den Nüstern. Unser Kutscher hielt, warf, eben so leichtsinnig, die Zügel auf den Sitz und untersuchte das Pferd. „Es ist nichts!“ entschied er, „es ist nur eine Quetschung, nichts gebrochen, – ein paar Tage Ruhe im Stall und kaltes Wasser;„ – so lautete sein Recept; – dann fuhren wir im Galopp nach Neapel. – Vor der Stadt suchte er eine alte Laterne ans dem Wagenkasten, deren Licht er anzündete, „denn,“ bemerkte er, „in Portici, wo er zu Hause sei, brauche man das nicht, aber in Neapel seien die Gensdarmen so penibel und wie ein Kutscher ohne Licht fahre, so werde er arretirt und müsse eine Geldbuße bezahlen“ – Nun rückte er auch mit der Hauptsache heraus: »Wie Eccellenza mit ihm und seinem Fuhrwerke zufrieden sei? – Er sei gut gefahren und habe eigentlich bei seinem Accorde viel versäumt; so habe er im Wirthshause liegen bleiben und warten müssen, und während der Zeit hätte er drei bis vier Fuhren machen und an zwanzig Francs verdienen können. Eccellenza werde ihn jedenfalls durch eine gute Bottiglia entschädigen.«

Es war elf Uhr Nachts, als wir an unsrer Wohnung am Molo ankamen, – als ich ihm seine zehn Francs zahlte, stellte er ganz dreist die Forderung, ich sollte ihm nun noch eine Bottiglia von fünf Francs geben. Ich mußte über diese naive Unverschämtheit hell auflachen, warf ihm noch fünfzig Centesimi hin und ging in’s Haus, das der Signor Portiere gleich hinter mir zuschloß, worauf sich der getäuschte Wagenlenker ebenfalls zufrieden gab und im Galopp davonfuhr. So endete diese Vesuvfahrt, deren Erlebnisse mir unvergeßlich in der Erinnerung bleiben werden.

Nachschrift. Die Eruption hat am 19. und 20. noch zugenommen und heute am 21. sind die vulcanischen Erscheinungen von einer solchen Heftigkeit, daß die ernstlichsten Befürchtungen wach werden. Dauert die Eruption noch längere Zeit fort, wie sie z. B. in 1855 während des ganzen Monats Februar fortdauerte, und bleibt die Heftigkeit des Ausbruches dieselbe, so sind nicht nur die jetzt schon bedrohten Ortschaften San Giorgio a Cremano und San Jorio, sondern auch Portici und Barra mit den Hunderten von prächtigen Villen verloren und der Lavastrom wird das Meer erreichen, wie 1794, und die Eisenbahn nach Pompeji und Eboli zerstören. Schon jetzt ist ein grenzenloser Schaden angerichtet und Hunderte haben ihr Alles verloren und stehen ohne Obdach da. Die hiesige Provinzial-Deputation hat vorläufig sechstausend Lire zur Unterstützung der Nothleidenden angewiesen und eine Sammlung ist eröffnet, die sich rasch mit Unterschriften bedeckt. Morgen Mittag halten Kronprinz Humbert und seine Gemahlin Margherita ihren feierlichen Einzug in Neapel, um hier für längere Zeit ihre Hofhaltung aufzuschlagen. Das prinzliche Paar dürfte da die schönste Gelegenheit finden, durch Erscheinen auf dem Schauplatze des Unglücks und durch reichliche Gaben und zweckmäßige Anordnungen sich bei den ziemlich mißvergnügten Neapolitanern beliebt zu machen.




Ein Schloß für etwaige Weihnachtswünsche.

Mit Abbildung.

Gewiß nur wenige unserer Leser haben niemals im Geiste sich ein Haus oder gar ein Schloß nach ihren geheimsten Wünschen aufgebaut und ausgeschmückt mit dem ganzen Ornamentikvorrath ihrer Phantasie. Welch’ ein Reichthum entschlösse sich dem Architekturmaler, wenn ihm ein Einblick in das unermeßliche Reich der Luftschlösser vergönnt würde! Welche nie dagewesene Baustile würde er da zu bewundern haben! Aber hier stehen wir leider an den Grenzen einer Unmöglichkeit: des Künstlers Auge sieht von dieser Baupracht der seligen Wünsche nicht mehr, als was er sich selbst aufbaut und was ihm irgend ein Baumeister auf dem Gebiete der Phantasie zeigt, ein Dichter etwa, der den Kindern seines Geistes zumuthet, in seinen Luftschlössern zu hausen. – Näher der lieben Wirklichkeit steht das Schloß, welches die Leser der Gartenlaube heute mit unserer Illustration als Weihnachtsgabe erhalten. Es wird sie bei ihren künftigen Luftschlösserbau- Unternehmungen wesentlich unterstützen, wie beschränkt auch die eigentliche Heimath desselben ist. Westfalen nämlich, das berühmte Land der rothen Erde, bietet den Grund und Boden, auf welchem diese Bautengruppe aus verschiedenen Zeitaltern gesucht werden kann.

Der westfälische Bauernhof, der noch heute nach altsassischer Sitte und in der Urväter Weise aufgebaut wird, ist hundertfach beschrieben und abgebildet; Westfalen ist aber auch das Land malerischer alter Edelhöfe, die zum großen Theile aus Ueberresten mittelalterlicher Constructionen und neueren, nach den Verwüstungen des dreißigjährigen Kriegs ausgeführten Bautheilen zusammengesetzt sind und für Architektur- und Landschaftsmaler die verlockendsten Motive bieten.

Außer dem glücklichen Zufall, daß in Westfalen gerade der dreißigjährige Krieg bei Weitem nicht so viel verwüstete, wie in anderen, namentlich mitteldeutschen Ländern, hat wesentlich zur Erhaltung der alten Burgen und Edelhofbauten der Umstand beigetragen, daß der Adel in den den mittelalterlichen Bauresten gefährlichsten Jahrhunderten, in der Blüthezeit der Franzosenthums-Nachäfferei in Deutschland und des allgewaltigen Zopfthums, sich in die Landeshauptstädte zog und dort Luxusbauten der Mode ausführen ließ. Jetzt ist das Umgekehrte adelige Sitte geworden: eine hochmüthige Exclusivität, stärker, als sie je früher auftrat, treibt den Adel auf’s Land zurück, und nun entstehen dort Neubauten von großen Adelssitzen, wie nur das friedensglückliche England sie in außerordentlichster Menge und Schönheit bietet. Gleichwohl können jetzt schon einzelne dieser jüngsten westfälischen Landschlösser sich den gepriesensten englischen an die Seite stellen.

Da haben wir das Schloß der Fürstenberg zu Herdringen im Herzogthum Westfalen, das in seinem neugothischen Stile einen ebenso imponirenden als entzückenden Anblick bietet; ferner das restaurirte Haus Assen, ein Schmuckstück der Renaissance, der Stammsitz der Grafen von Galen. Durch alterthümliche Pracht ausgezeichnet ist das Schloß Vornholz an der Weser, der alte Sitz der „edlen Herren“ und späteren Grafen und Fürsten zur Lippe, ein Bau aus dem sechszehnten Jahrhundert; nicht weniger ansehnlich sind die Schlösser zu Anholt, zu Herten, zu Gemen, zu Limburg an der Lenne, zu Bentheim und vor allen jene prächtige Hinnenburg, der Sitz der Grafen von der Asseburg, der von seiner stolzen Höhe im Nethethal herab mit seinen weitgestreckten Flügeln, seinen Portalen und epheuumwucherten Structuren wie ein romantischer Fürstensitz weithin die Gegend beherrscht und in blitzenden Fensterreihen noch den Strahl der Abendsonne nachglühen läßt, wenn weit umher Thäler und Fluren im Schatten liegen. Zu allen diesen Schlössern gehört nun allerdings das Schloß nicht, in dessen Besitz wir unsere Leser durch diese Weihnachtsgabe

[812] gesetzt haben. Es mögen viele Jahrhunderte daran gearbeitet haben, denn während den ersten Blick der hochstrebende schmucke Renaissance-Bau anlockt, welcher mit dem Stolz seines jüngeren Daseins auf seine Nachbarschaft niederschaut, kann diese ebenso auf die biedere Solidität ihres Holzbaues, auf die ungeschlachte Trotzigkeit ihrer Mauern pochen und vor der Ehrwürdigkeit ihrer Spitzbogen Achtung verlangen. Wo aber dieses charakterreiche Schloß zu finden sei, darüber kann uns nur Levin Schücking Auskunft geben, welcher dasselbe in seinem jüngsten Roman „Schloß Dornegge“ genau so geschildert hat, wie wir es, von geschickter Hand zu Papier gebracht, hier so lachend vor uns sehen, daß wir jedem unserer Leser ein solches hiermit zum Christkindlein wünschen.




Eine Burgfehde im neunzehnten Jahrhundert.

Im October dieses Jahres geschah es, daß die Einwohner jener reizenden Gegend in Northumberland, die um die alte Stadt Hexham herumliegt, durch eine sonderbare Erscheinung in ungewohnte Aufregung versetzt wurden. Neben einer stark befahrenen Heerstraße, nicht eine Stunde von der Stadt entfernt, war plötzlich ein Lager entstanden, wie es Kriegsvölker zu errichten pflegen. Das Hauptstück dieses Lagers war ein Zelt, dessen Fußboden eine ungeheure eichene Kiste von offenbar sehr hohem Alter bildete, während die Hinterwand aus einer dicken Hecke und das Dach und die Seitenwände aus getheerter Leinwand bestanden. Aus dem halbdunkeln Innern dieser Leinwand-Höhle konnten die neugierigen Besucher, die zu Tausenden herbeiströmten, kaum die Figur einer Frau erkennen, die auf einem Haufen von Decken und Pelzen lag und deren immer noch anziehende Züge bewiesen, daß sie früher einmal eine wahre Schönheit gewesen sein müsse. Jetzt schien die Dame in den Jahren weit vorgerückt zu sein. Rings um sie lagen Dinge auf dem Boden umhergestreut, die nicht zur Damentoilette gehören: Degen und Pistolen von prächtiger alter Arbeit, einige Stücke einer verrosteten Rüstung, sein eigenthümlich geformter Helm und andere Artikel mehr, die der jetzigen Mode so wenig entsprachen, wie das Zeltlager, das ihre Besitzerin bewohnte. Vor dem Zelte sah man beständig zwei Männer, welche die geheimnißvolle Dame mit großer Ehrfurcht bedienten, während es in der ganzen Umgegend von Equipagen des Landadels nicht leer wurde, die der bivouakirenden Dame Besucher oder Geschenke und Briefe brachten.

Auf der andern Seite der dicken Hecke befand sich ein zweites Lager, welches blos von Männern bewohnt wurde. Es bedurfte keiner langen Beobachtung, um zu gewahren, daß zwischen den beiten Parteien kein freundlicher Verkehr bestand. Man mußte sogar von der Aehnlichkeit überrascht werden, welche die ganze Scene mit einer Belagerung auf der Bühne hatte. Vor der Hecke waren die Belagernden, die Dame und ihre Diener, hinter der Hecke waren die Belagerten. Wünschte Jemand sich zu überzeugen, ob die Aehnlichkeit eine vollständige sei und ob auch das Schloß nicht fehle, um das gestritten wurde, so brauchte er nicht weit zu suchen. Nur wenige Schritte von den beiden Zelten entfernt lagen auf dem reizenden Berge, der eine Aussicht auf das Tyne-Thal gewährt, die Ruinen von Dilston-Hall. Hier hatten einst die stolzen Grafen von Derwentwater gehaust und auf ihren ehemaligen Besitzungen spielte die sonderbare Scene der beiden Zelte. Die Dame führte sich als Mathilde, Gräfin von Derwentwater, ein und hatte dieses eigenthümliche Lager bezogen, um ihre Rechte auf das Schloß und die Besitzungen ihrer Vorfahren geltend zu machen. Nach anderthalb Jahrhunderten steht die unglückliche Familie, deren Mitglied sie sein will, noch in lebhaftem Andenken, und es war deshalb natürlich, daß die Fremde in der Umgegend eine allgemeine Theilnahme fand.

Um ihr Auftreten zu begreifen, muß man auf das Jahr 1715 zurückgehen und an eine der traurigsten und romanhaftesten Episoden der englischen Geschichte erinnern. Georg I. saß kaum ein Jahr auf dem Thron und seine persönliche Unbeliebtheit beim Volk erregte bei den Jakobiten die kühnsten Hoffnungen. Man weiß nicht, was geschehen sein würde, wenn die Anhänger der Stuarts der neuen Regierung Zeit gelassen hätten, sich gründlich verhaßt zu machen. Sie waren aber eben so unklug, wie die Familie, welche sie auf den Thron zurückzuführen wünschten· Im September 1715, in einem Augenblicke , der nicht die entfernteste Aussicht auf Erfolg gewährte, rief der Graf von Mar die schottischen Hochlande zu den Waffen. Der Aufstand würde aller Wahrscheinlichkeit nach auf jenes Gebiet beschränkt geblieben sein, wenn sich nicht in Northumberland die Nachricht verbreitet hätte, daß Befehle ertheilt worden seien, die beiden Führer der Jakobiten in der Grafschaft zu verhaften. Der eine war der Graf von Derwentwater, der andere war Thomas Foster, der Northumberland im Parlament vertrat. Der Graf, ein junger und seit wenigen Jahren verheiratheter Mann, war« sehr» reich, ein eifriger Jäger und ein edler hochherziger Charakter, den seine zahlreichen Pächter und Hintersassen anbeteten. Er hatte sich in die Politik niemals tief eingelassen, aber auch ebensowenig Anstand genommen, seine Ansicht über die große Frage des Staats freimüthig und schroff auszusprechen. Unglücklicherweise war er ein Enkel Carl’s II., da sein Vater eine der zahlreichen unehelichen Töcher jenes liederlichen Monarchen geheirathet hatte. Nur aus diesem Grunde hatte man in London den Befehl erlassen, den einfachen Landjunker und Fuchsjäger zu verhaften.

Am 6. October versammelte Foster, der seine Freiheit ebenfalls bedroht wußte und ein wirklich furchtbarer Feind der Regierung war, mehrere seiner Bekannten und Freunde auf einen hohen Berg, von dem man weithin sehen konnte, so daß das Heranschleichen eines Feindes sogleich bemerkt worden wäre. Lord Derwentwater war benachrichtigt worden, daß ihm Gefahr drohe, und die Berathung auf dem Berge hatte kaum begonnen, als er mit mehreren Hundert seiner Leute erschien. Er hatte am Morgen sein Schloß verlassen, das er nie wieder sehen sollte, und seiner Frau, die täglich ihre Niederkunft erwartete, ein letztes Lebewohl gesagt. Auf diesen Abschied bezieht sich eine der schönsten Jakobiten-Balladen, die noch heute an den Ufern der Thue allgemein beliebt ist. Durch den Zuzug des Grafen und seiner Leute ermuthigt, zogen die Rebellen in Gewaltmärschen nach Morpeth. Hier trat Foster als General auf und befahl dem Pfarrer, daß er am nächsten Tage, der zufällig ein Sonntag war, nicht mehr für König Georg und dessen Familie, sondern für Seine Majestät Jakob den Dritten bete. Der Geistliche, ein kluger Mann, fand es eben so gefährlich, der Weisung zu folgen, als ungehorsam zu sein. Er ließ also sein Pferd satteln und ritt in tiefer Nacht nach Newcastle, wo er die Nachricht von dem Ausbruch eines Aufstandes verbreitete.

Foster fand einen andern Geistlichen, der auf der Kanzel für die Stuarts betete, und nach dem Gottesdienst wurde Jakob der Dritte von Gottes Gnaden König von Großbritannien und Irland unter großen Feierlichkeiten auf dem Marktplatze ausgerufen. Die unglücklichen Jakobiten konnten nun nicht mehr zurücktreten, obgleich sie bald genug erkannten, wie schrecklich sie sich übereilt hatten. Mehrere Tage zogen sie unentschlossen in dem Grenzlande umher, das so viele Gefechte und Schlachten der Schotten und Engländer gesehen hatte. Zeigten sie sich vor einer Stadt, so fanden sie die Thore geschlossen und wagten keinen Angriff. Schließlich wendeten sie sich matt und entmuthigt gegen Süden und zeigten sich vor Preston, wo ein Dragonerregiment und einige Abtheilungen Miliz lagen. Diese Besatzung zog sich vor ihnen zurück, aber ihr Erfolg war ein sehr kurzer, denn schon wenige Tage später mußten sie sich fast ohne Schwertstreich den königlichen Truppen ergeben. Foster, Graf Derwentwater, Lord Nithisdale und andere Personen von ·hohem Range wurden als Gefangene nach London geführt. Das Ende der Geschichte ist bald erzählt. Die Rebellen wurden vor Gericht gestellt und zum Tode verurtheilt. Foster entkam aus dem Gefängniß nach Frankreich und auch Lord Nithisdale wurde am Abend vor dem zur Hinrichtung bestimmten Tage durch seine muthige Frau gerettet, welche die Kleider mit ihm tauschte. Die Andern hatten kein solches Glück und mit ihnen starb Graf Derwentwater auf dem Tower-Hügel.

Durch ganz Northumberland herrschte nichts als Weinen und Klagen, als die Nachricht von dieser Tragödie kam. Niemand

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Schloß Dornegge.
Nach einer Aquarelle von W. Schuch auf Holz übertragen von R. Püttner.

[814] hatte es für möglich gehalten, daß man an einem so jungen und allgemein beliebten Manne das Todesurtheil vollstrecken werde, und als man nun hörte, daß der gemeine Henker ihm das Haupt abgeschlagen habe und daß seine Besitzungen für verfallen erklärt worden seien, war der Schmerz groß und allgemein. Die Gräfin war inzwischen mit ihrem neugeborenen Sohne entschwunden und auf dem Schlosse schaltete ein königlicher Einnehmer, der den Pächtern nicht einen Pfennig von der Pacht erließ. Es waren für diese wackern Leute nun unglückliche Tage gekommen, aber ihre Pflichten gegen den Schloßherrn, dem sie glückliche Tage zu verdanken gehabt hatten, vergaßen sie nicht. Seine Väter ruhten alle in dem alten Gewölbe unter der Schloßcapelle und hier sollten auch seine Gebeine ihre letzte Stätte finden. Sie wußten, wo man ihn beigesetzt hatte, gruben den Sarg heimlich aus und führten ihn zu den Ufern seines heimathlichen Flusses, wo sich das Familienbegräbniß für ihn öffnete. Welch ein Bild muß dieser düstere Leichenzug dargeboten haben, der sich blos bei Nacht vorwärts bewegte und bei Tage immer ein Versteck aufsuchte! Daß die Erzählung von dem heimlichen Begräbniß keine Fabel sei, wofür man sie häufig erklärte, zeigte sich zu Anfang dieses Jahrhunderts, als man den Sarg öffnete. Die Leiche war so wohl erhalten, daß man die vollständige Aehnlichkeit des Kopfes, der neben dem Körper lag, mit den noch vorhandenen Bildnissen des unglücklichen Grafen erkannte.

Die Güter des Grafen wurden dem Hospital von Greenwich überwiesen, dem sie bis auf den heutigen Tag geblieben sind. Den Titel nahm sein nachgeborener Sohn in Anspruch und war in den fünfzehn Jahren, die er mit seiner Mutter in Paris verlebte, als Graf von Derwentwater bekannt. Er starb vor erlangter Volljährigkeit und nun ging der Titel an seinen Oheim Karl, den einzigen Bruder des Hingerichteten, über. Dieser Oheim war bei dem Aufstande von 1715 ebenfalls thätig gewesen und war gleich seinem Bruder zum Tode verurtheilt worden, hatte sich aber aus dem Gefängniß retten und über das Meer fliehen können. Er lebte in Paris, bis der junge Prätendent 1745 an der schottischen Küste landete und überall die schlummernden Leidenschaften wachrief. Wie konnte ein Derwentwater am Kamin sitzen bleiben, wenn ein Stuart im Felde stand! So frisch die Erinnerungen an das Unglück seines Bruders und an seine eigenen Schicksale waren, griff er auf den ersten Ruf des Mannes, den er für seinen rechtmäßigen König hielt, zu den Waffen, um schon im nächsten November abermals gefangen, nach London geführt und zum Tode verurtheilt zu werden. Ein Jahr später wurde er an derselben Stelle enthauptet, wo sein Bruder einunddreißig Jahre vorher für seinen König gestorben war.

Graf Karl Derwentwater hatte sich in Paris verheirathet und ein Sohn aus dieser Ehe überlebte ihn. Dieser starb 1780 und hinterließ nur einen einzigen Sohn. Als der letztere 1814 aus dem Leben schied, galt die Familie Derwentwater allgemein für erloschen. Niemals war dagegen ein Zweifel erhoben worden, als vor wenigen Jahren plötzlich ein Anspruch auf den Titel und die Besitzungen der Familie laut wurde. Die Dame trat auf die Scene, die wir unter dem Zelte neben der Straße, welche unter den Ruinen von Dilston-Hall vorbeiführt, kennen gelernt haben. Amalie Mathilde von Derwentwater, wie sie sich selbst nennt, ist erst achtunddreißig Jahre alt, obgleich sie viel älter aussieht, und eine Frau von bedeutenden Gaben. Sie stützt ihre Ansprüche auf Documente, über deren Werth wir natürlich nicht urtheilen können, und erzählt eine Geschichte, die den alten Ausspruch bestätigen würde, daß im Leben mehr Romane spielen, als in den Büchern, – wenn sie wahr wäre. Nach ihren Angaben ist der einzige Sohn des im Jahre 1715 hingerichteten Grafen von Derwentwater nicht minderjährig gestorben, sondern achtundsechszig Jahre alt geworden und erst 1783 in Frankfurt am Main verschieden. Er sei in der Zeit seines angeblichen Todes verschwunden, weil er gefürchtet habe, daß die englische Regierung ihn ermorden lassen werde, um nicht von ihm mit Ansprüchen an seine Besitzungen behelligt zu werden. Diese Geschichte klingt nun sehr unwahrscheinlich. Zur Zeit seines wirklichen oder angeblichen Todes war er ein sehr junger Mensch, und wollte die englische Regierung Jemand ermorden lassen, so wählte sie gewiß nicht ihn, sondern seinen Oheim, der mit ihm in Paris lebte und als ein gefährlicher Rebell bekannt war. Ueberdies wurde der Sohn dieses Oheims nach der Enthauptung seines Vaters für seine Ansprüche an die Familiengüter mit einer jährlichen Rente von zweitausendfünfhundert Pfund entschädigt, und doch soll der näher berechtigte Erbe, eben der Sohn des älteren, 1715 hingerichteten Grafen, während dieser ganzen Zeit gelebt und sich aus Furcht vor der englischen Regierung, die sich gegen seinen Vetter so großmüthig zeigte, versteckt gehalten haben. Wir stoßen in der Geschichte der Gräfin Mathilde noch auf eine zweite Unwahrscheinlichkeit. In seinem Versteck zu Frankfurt, sagt sie, habe sich der furchtsame Graf mit Elisabeth Arabella Maria, Gräfin von Waldstein-Waters, vermählt. Eine Familie dieses Namens giebt es in Deutschland nicht. Von dieser Gräfin und ihrem Gemahl will die Dame des Zeltes abstammen. Ihre Familienpapiere aus der späteren Zeit sollen in völliger Ordnung sein, und was sie zu beweisen hat, um als die rechtmäßige Erbin der Familie zu erscheinen, sind nur die beiden Umstände, daß der Flüchtling von Frankfurt nach seinem angeblichen Tode wirklich noch lange gelebt hat und mit einer Gräfin von Waldstein-Waters verheirathet gewesen ist. Bewiese sie dieses Beides, so wäre es noch immer fraglich, ob die Regierung Güter herausgäbe, die vor anderthalb Jahrhunderten für verwirkt erklärt worden sind.

Gräfin Mathilde trat zuerst vor drei oder vier Jahren im nördlichen England auf. Sie nahm ihren Wohnsitz in Blaydon und vertraute sich einigen Einwohnern, deren Interesse sie zu erregen verstand. Man hielt eine öffentliche Versammlung, ernannte einen Ausschuß zur Prüfung ihrer Familienpapiere und wendete sich an das Parlament. Keiner dieser Schritte brachte die hartherzigen Directoren des Hospitals von Greenwich zu dem Entschluß, die prächtigen Besitzungen herauszugeben, in deren Besitz ihre Anstalt seit länger als einem Jahrhundert ist. Die Gräfin wartete Monat auf Monat, Jahr auf Jahr und vertrieb sich die Zeit mit Oelmalerei. Endlich wurde sie ihrer Lage überdrüssig und that zu Anfang dieses Octobers einen sehr entschiedenen Schritt. Eines schönen Morgens ließ sie ihre Familiengemälde und andere Reliquien ihrer Ahnen auf einen Wagen laden und machte sich mit ihren beiden Dienern auf den Weg, um von ihrem Schloß Besitz zu nehmen. Kühn betrat sie die Ruinen und wählte einen der zerfallenen Räume als Wohnung. Ihre Diener machten von getheerter Leinwand ein Dach, hingen die Ahnenbilder an die Mauern, stellten ein paar Meubel auf, machten Feuer im Kamin, und Mathilde Gräfin von Derwentwater war nun Schloßherrin von Dilston.

Zum Unglück für den Ausgang ihres romantischen Abenteuers schenkten die Directoren des Hospitals den Urkunden der Gräfin keinen Glauben. Kaum hörten sie, was geschehen sei, so telegrafierten sie an die Polizei und baten um Entfernung der eingedrungenen Person. Ein Beamter erhielt die nöthigen Vollmachten und trat mit der größten Schonung auf. Gräfin Mathilde weigerte sich aber mit großer Entschiedenheit, das Schloß zu verlassen, und drang sogar mit einem Ritterschwert auf die Polizei ein. Das Ende der Geschichte war, daß man zuerst das leinene Dach, die Ahnenbilder und die sonstigen Geräthschaften aus den Ruinen trug und dann die Gräfin selbst von zwei kräftigen Männern auf die Schultern heben und sanft auf die Landstraße niedersetzen ließ. Man hat ihr nicht verbieten können, daß sie sich auf neutralem Gebiet ein Zelt errichten ließ. Sie hat ihr Lager dicht an der Grenzhecke aufgeschlagen und jenseits dieser Linie befinden sich die Beamten, welche ihr den Zutritt zu ihrem angeblichen Besitzungen verweigern. Noch in diesem Augenblicke befindet sich die zarte und gebildete Dame in ihrem Zelte, das sie überhaupt nicht verlassen will, bevor ihre Rechte Anerkennung gefunden haben. Die allgemeine Sympathie, nicht blos des nächsten Bezirks, sondern der ganzen Grafschaft, ist vollständig auf ihrer Seite und die Presse nimmt lebhaft für sie Partei. Wer diese Gräfin Mathilde von Derwentwater wirklich ist, wollen wir unentschieden lassen. Wir wissen nur, daß sie ihre Geschichte seit Jahren erzählt. Daß sie mit der unglücklichen Familie in einer gewissen Verbindung steht, geht aus den Papieren und Reliquien derselben, die in ihrem Besitz sind, unzweifelhaft hervor.

Wie diese seltsame Belagerung enden wird, ist jetzt allerdings noch nicht vorauszusehen; jedenfalls wird kein zweites Troja aus dem gräflichen Zeltlager, so daß unsere Leser das Ende des Dramas alle noch und gewiß ziemlich bald erleben werden. Wir werden über das Ende dieses furchtbaren Krieges seiner Zeit berichten.



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Blätter und Blüthen.

Aus der Jugendzeit Felix Mendelssohn-Bartholdy’s. Nur wenige hochbegnadigte Menschenleben haben vermocht, unser Interesse in solchem Grade anzufachen und wach zu erhalten, als das Felix Mendelssohn’s. Mehr noch als all’ die reiche Fülle und der zauberische Reiz der Kunstwerke, welche er zu unversiechbarer, stets sich erneuernder Freude uns hinterlassen, ist es sein eigenes Leben, das durch seine Klarheit und Abrundung, durch seine ernste Sittlichkeit und Ueberzeugungstreue, durch seine Anmuth und Liebenswürdigkeit das reinste Wohlgefühl uns empfinden läßt. Drum war es ein kostbares Geschenk, mit welchem Bruder und Sohn des Verewigten durch Herausgabe eines großen Theiles seiner Briefe uns beglückten, und mit wiederholter, freudigster Dankbarkeit begrüßen wir jede Erinnerung an den Meister, die von Freundeshand veröffentlicht und verbreitet wird. Die „Gartenlaube“ hat ja wiederholt selbst Gelegenheit genommen, mannigfaltiger Charakterzüge und Erlebnisse Mendelssohns zu gedenken, und wir meinen, auch durch die Mittheilung eines bisher unbekannten Briefes aus seiner Jugend den lebhaftesten Antheil seiner Verehrer zu erregen.

Mendelssohn hatte den Sommer des Jahres 1823 mit seiner Familie in dem wunderlieblichen schlesischen Bade Reinerz zugebracht. Mit aller Frische und Regsamkeit der glücklichen Jugend ergriff der vierzehnjährige Knabe auch dort jeden Anlaß, Musik zu treiben und den Flügelschlag seiner mächtig drängenden Phantasie frei zu entfalten. Freilich bezeichnet jene Zeit, welche in Spiel und leichtlebiger Unbesonnenheit den Meisten seines Alters dahinfliegt, für ihn den Standpunkt in sich gefesteter, künstlerischer Kraft, selbstbewußter Reife und geregelter Erfindung, und schon die Werke frühester Epoche zeigen uns den vollen Typus des werdenden Künstlers. In dem Rector Latzel fand er nun einen strebsamen, eifrigen Musiker, und schnell war ein inniges Freundschaftsverhältniß gebildet durch den harmonischen Einklang von Herz und Geist und Streben. In ungezwungenem, vertrautem Verkehr wechselten Concertiren und Studiren, und selbst als der Schluß der Badesaison genöthigt hatte, das stille Gebirgsstädtchen mit der Residenz zu vertauschen, blieb Theilnahme und Interesse zwischen den Beiden bestehen. Doch – hören wir unseren jungen Meister selbst[1]:

Berlin, den 6. December 1823. 

„Ich freue mich sehr, mein lieber Herr Rector, daß Sie meiner noch zuweilen gedenken, und wenn ich, wie Sie in Ihrem gütigen Briefe mir schreiben, Einiges zur Verbesserung Ihrer Bibliothek beigetragen habe, so vermehrt dies das Vergnügen, mit dem ich an Reinerz zurückdenke, um Vieles. Der Dank, den mir die Soldaten sagen lassen, gebührt mir nicht so sehr, als Ihnen, denn Sie haben die Mühe der Anordnung des Concerts und die erste Idee dazu gehabt, und das Wenige, was ich vielleicht zur Erleichterung des Schicksals dieser armen Leute beigetragen habe, bedarf nicht der Erwähnung.

Es freuete mich zu sehen, wie ein einziger Mann, wenn er Lust und Liebe zur Sache hat, in einer Stadt, sie sei so groß oder so klein wie sie wolle, ein Orchester aufbringen kann, mit dem sich Symphonien von Beethoven aufführen lassen. Glauben Sie ja nicht, daß ich es für leicht halte, einer Stadt Geschmack für Musik beizubringen, oder daß ich die Wirkungen Ihrer Anstrengungen übersehen habe. Sie schreiben mir, daß Sie dem Winter ungern entgegensehn. Der Sommer giebt Ihrem Wohnorte ja eben seinen schönsten Schmuck. Die reizende Gegend, die Menschenmenge im Bade, die Wälder und Berge und das angenehme Klima, alles dies ist nur im Sommer da zu bewundern, und wohl glaub’ ich, daß der Winter bei Ihnen traurig und einsam ist. Ganz anders ist’s hier bei uns. Da ist der Sommer unangenehm; die Gegend ist kahl; wer nur fort kann, der verreiset; der Staub ist schrecklich und sehr wenig Schatten. Was Wunder, daß man mit Freuden dem Winter entgegensieht, wo Alles sich wieder vereinigt, wo man es nicht für Pflicht hält spazieren zu gehn, und wo man wieder gute Musik hören kann. So war es auch im Anfange dieses Winters. Doch plötzlich zog die Vermählung des Kronprinzen mit einer bairischen Prinzessin aller Leute Aufmerksamkeit auf sich. Den 28. November sollte die Prinzessin eingeholt werden, und man wendete Alles auf, um den Empfang recht glänzend zu machen. An einer großen neugebauten steinernen Brücke (deren sich Onkel wohl erinnern wird), welche zwischen des Königs Palais und dem großen Schlosse steht, war eine Ehrenpforte errichtet worden. Durch die Linden (die Hauptpromenade) sollte der Zug gehen. Auf beiden Seiten dieser Straße wimmelte es von Menschen, die Fenster von allen drei Etagen, ja selbst die Dachluken waren vollgepfropft mit Neugierigen, auf Bäumen, auf Laternen, auf Pfählen, auf Leitern, auf Brunnen, ja auf Dächern standen Leute mehrere Stunden, um – einen vergoldeten Staatswagen zu sehen und ihr Hurrah zu brüllen. Endlich kam der erwünschte Augenblick, die Prinzessin zog ein, escortirt von Schlächtern, Brauern, Tischlern, Schneidern, Schustern und Kaufleuten; an der Ehrenpforte empfingen sie hundertundfünfzig junge Mädchen, die ihr ein Kissen überreichten, das sie die Gnade hatte anzusehen; dann kam sie in’s Schloß und geruhte ein unterthäniges Mittagsmahl einzunehmen. Dann war die Lustigkeit aus. Nun kommt das Traurige und Schreckliche.

Abends hielten achthundert Studenten einen Fackelzug vom Thor bis an’s Schloß. Als sie nun am Schloß angekommen waren, strömte die Volksmenge zurück, und nun entstand auf einer kleinen Brücke, die neben der steinernen geht, ein solches Gedränge, daß dreißig Leute theils erdrückt, theils in’s Wasser gestoßen worden sind; viele werden vermißt, viele sind verwundet. Die ganze Stadt ist sehr bewegt durch dieses Ende mit Schrecken. Der König war wüthend, der Commandant bestürzt, der Polizeidirector machte ein langes Gesicht, man verbot dem Zeitungsschreiber von dieser Sache zu reden, und damit war’s gut!!

Doch genug von diesen Hofstaatsactionen. Sobald ich nur Zeit habe, will ich das verlangte Stück für Violine und Clavier anfangen und es Ihnen dann gleich schicken.

Grüßen Sie doch Onkel, Tante und Ihre ganze Familie, auch Herrn Leo und den Bürgermeister

 von Ihrem
F. Mendelssohn-Bartholdy.“ 

Wer meint hier die Worte eines Knaben zu lesen? Alle die wunderbaren Charaktereigenthümlichkeiten, welche seiner Individualität ein besonderes Gepräge geben, alle die männlichen Eigenschaften, welche seinen späteren schriftlichen Bekenntnissen, seinen Briefen, den Stempel reinsten Seelenadels aufdrücken, finden wir hier vereint: Herzensgüte und Bescheidenheit, wahre Empfindung und Aufmunterung im Streben, Ernst für seine Kunst und beißenden Humor für das Gebahren der sinnlich gaffenden Menge.

Wohl begreifen wir, in völliger Uebereinstimmung, die Worte, die wenige Wochen später, am 8. Februar 1824, Zelter an Goethe schrieb: „Von meiner schwachen Seite kann ich der Bewunderung kaum Herr werden, wie ein Knabe, der soeben fünfzehn Jahre alt geworden, mit so großen Schritten fortgeht. Neues, Schönes, Eigenes, Ganzeigenes ist überall zu finden: Geist, Fluß, Ruhe, Wohlklang, Ganzheit.“
J. S.




Ehre wem Ehre gebührt. Die schöne alte Stadt Trient an der Etsch im Lande Tirol ist Jedermann bekannt durch die große Kirchenversammlung – das tridentinische Concil –, welche auf Betrieb Kaiser Karl’s des Fünften von 1545 bis 1563 hier abgehalten wurde und mit seinen Beschlüssen und Bannflüchen gegen die Ketzer die definitive Trennung von Protestanten und Katholiken vollzog. Weniger bekannt vielleicht ist unseren Lesern, daß seit Jahrhunderten die Bereitung eines Industrieerzeugnisses in Trient ihren Hauptsitz aufgeschlagen hat, dessen Name, gleich dem jenes Conciles, nur mit erfreulicherem Klange, durch die Welt geht. In Trient und in dem angrenzenden Wälschtirol überhaupt wird nämlich der größte Theil jener pikanten Würste fabricirt, die sich als Salami di Verona unter italienischer Flagge bei uns eingeschmuggelt haben, die wir aber hiermit als deutsches Product reclamiren wollen, denn trotz Garibaldi und Italianissimi lassen wir uns nicht irre machen, die ganze gefürstete Grafschaft Tirol bis zum Gardasee hinab nach wie vor für das deutsche Reich in Anspruch zu nehmen.

„Es liebt der Mensch, das Strahlende zu schwärzen“ etc., sagt Schiller; auch die edlen Salami sind diesem Schicksal nicht entgangen. Man redet den Trefflichen nach, sie entstammen dem Fleische dienstunfähig gewordener oder, noch schlimmer, ihren Leiden bereits erlegener Esel oder dem Wasenmeister verfallener Gäule. Eine schnödere Verleumdung ist indessen noch niemals erdacht worden, an all’ diesen Beschuldigungen ist kein wahres Wort, wie wir, seit Jahren in Wälschtirol lebend und mit dem betreffenden Industriezweige genau vertraut, im Nachstehenden zur Ehrenrettung der gekränkten Pseudo-Veroneser und zu Nutz und Frommen für Diejenigen darthun wollen, die jene lügnerische Behauptung einer gesunden und zu gleich leckeren Speise entfremdet.

Die Salami sind allerdings Veroneser Ursprungs; der Heimath Romeo’s und Julie’s soll der Ruhm gebühren, die Delicatesse erfunden und längere Zeit ausschließlich fabricirt zu haben. Auch heute noch wird sie in Verona verfertigt, doch in unbedeutendem Maße und von weit geringerer Qualität als in Trient und dessen Umgebung, die Etsch hinunter bis nach Roveredo. Das zwischen italienischer und deutscher Temperatur die Mitte haltende Klima des Etschlandes mag hauptsächlich die Ursache werden, daß die Salamifabrikation hier gedeiht wie sonst nirgendwo; wenigstens sind bis jetzt die Versuche, welche man angestellt hat, die Industrie in Wien und mehreren anderen Orten Oesterreich’s einzubürgern, gescheitert, obschon man die erforderlichen Arbeiter ebenso wie alles dazu nothwendige Material aus Trient verschrieben hatte. Ein gleichmäßiges, trocknes, klares Winterwetter mit zwei, höchstens drei Grad Kälte scheint allein das Gelingen des Productes zu bedingen.

Nur eine bestimmte Schweinerace ist es, deren Fleisch als Hauptbestandtheil zu den Salami verhackt wird; eine kleine durchaus schwarze Race mit sehr kurzem Haar und langen Hängeohren, welche man in den oberitalienischen und südtirolischen Bergen zieht, für deren Bewohner sie keinen unbeträchtlichen Erwerb bildet. Das Fleisch aller anderen Schweinegattungen, unserer deutschen wie der sogenannten ungarischen, ist nach vielfältiger Erprobung zur Erzeugung von Salami völlig ungeeignet.

Diese italienischen Schweine haben sich einer besonderen Erziehungsmethode zu unterwerfen, um ihren Wurstzwecken zu entsprechen. Die Zeit ihrer Kindheit verleben sie in der milden Luft der Thäler; sobald sie aber sattsam herangewachsen sind, verpflanzt man sie zur schließlichen Vervollkommnung, d. h. zur Mast, auf die Berge, deren aromatische Nahrung ihrem Fleische die Kraft und Würze verleiht, welcher man zur Salamibereitung bedarf. Für die Waare erster Qualität dient einzig und allein das Fleisch an Rippen und Lende; alles Uebrige giebt ein minder vorzügliches Fabrikat.

Ein anderer, quantitativ jedoch wesentlich untergeordneter Bestandtheil unserer Veronesen kommt aus dem nahen Pusterthale, von dem ausgezeichneten Rinderschlage, welchen man hier cultivirt und der sich durch die Zartheit und den Wohlgeschmack seines Fleisches vor vielen anderen Gattungen zur Mast empfiehlt, jedenfalls dem berühmten Schweizer Vieh nicht nachsteht. Die Salami sind Früchte des Winters, sie werden lediglich in den Monaten November, December und Januar bereitet, weil blos in dieser Zeit die Temperatur ihrer Fabrikation gemäß ist. Nach dem Schlachten der Schweine läßt man das Fleisch eine Woche lang der Kälte ausgesetzt, zerhackt es dann so klein, wie man es braucht, und breitet es nachher auf schiefen und eng neben einander befindlichen Stäben mindestens vier Tage [816] lang zum Trocknen aus. Jetzt erst beginnt die Mischung der eigentlichen Wurstmasse; auf je hundert Pfund Schweinefleisch kommen, bei den feinsten Salamiarten, nicht mehr als fünfzehn Pfund Rindfleisch.

Eine ziemlich umfängliche Maschinerie, die mittels eines großen Rades von zwei handfesten Männern in Bewegung gesetzt wird, füllt die Masse in die Ochsendärme. Die also hergestellte, gleichsam endlose Wurst wird in die einzelnen Formate „abgebunden“, wie sie in den Handel kommen, und hierauf in ein Gefäß mit warmem Wasser gebracht, damit sich das Gemeng zu einem festen Ganzen zusammenfügt. Endlich läßt man das Product drei Monate lang unter dem Dache von dem freien Durchzug der Luft bestreichen und vollendet damit die Reihe der Processe, welche es zu durchlaufen hat, bis es verkäuflich und genießbar wird. Tritt während dieses letztern Stadiums zufällig mildere Witterung ein, so muß ein guter Keller den Dachraum ersetzen; indeß geschieht dieser Wechsel immer nur auf Kosten der Güte des Erzeugnisses. Auch die Zubereitung der zur Umhüllung benützten Ochsendärme erheischt eine besondere Kunst. Sie müssen wenigstens zwei Jahre lang im Wasser gelegen haben, ehe sie die wünschenswerthe Feinheit und Dünnhäutigkeit erlangen.

Die Gartenlaube stellt sich die Aufgabe, jedem Vorurtheil und Aberglauben nach Möglichkeit entgegenzuarbeiten, wir glauben daher, sie werde auch gern dazu beitragen, einen Irrthum auszurotten, welcher in Bezug auf die Abstammung eines vielgenannten Genußmittels sich so hartnäckig festgesetzt und so weite Verbreitung gefunden hat. Es sei uns jetzt blos noch verstattet, die volkswirthschaftliche Bedeutung unseres Industriezweiges mit einigen Ziffern zu belegen, die wir neueren Erhebungen entnommen haben. In Wälschtirol allein fallen den Salami im Jahre über fünfzehntausend armer Rüsselträger, jeder im Durchschnitt von zweihundert Pfund Gewicht, zum Opfer. Diese Schweinelegion repräsentirt einen Gesammtwerth von etwa einer Million einmalhunderttausend[WS 1] Gulden. Außerdem werden jährlich an fünfhundert Ochsen zu Salamizwecken verschlachtet, welche, jeder zu vierhundert Pfund berechnet, die ansehnliche Summe von hundertundsiebenzigtausend Gulden ergeben. Das lange Trocknen an der Luft, dem die Waare unterliegen muß, bewirkt einen sehr nennenswerthen Gewichtsverlust, mehr als dreißig Procent.

Sechszehn Arbeiter können in der Woche etwa dreißig Centner Salami verfertigen. Von dem Fabrikate erster Qualität kostet der Centner an Ort und Stelle achtzig Gulden. Sieben Achtel der Waare geht nach dem Auslande, namentlich nach dem südlichen Deutschland, nach Ungarn und Frankreich, ja selbst direct nach Asien und Afrika. Nach Norddeutschland kommt verhältnißmäßig nur ein kleiner Bruchtheil des Exports, welcher, Jahr aus Jahr ein, ein hübsches Stück Geld, über drei und eine halbe Million Gulden, in’s Land bringt. Ob und in welchem Maße die Trichinenscheu den Verbrauch der Salami beeinträchtigt hat, vermögen wir nicht zu sagen; so viel wir wissen, sind jedoch Fälle von Trichinose in Oberitalien und Tirol noch nicht beobachtet worden.

Das Salamigeschäft endlich vertheilt sich auf wohl hundert Fabrikanten, von welchen zwei, der eine in Trient selbst, der andre in der unmittelbaren Nachbarschaft, als die Salamikönige zu bezeichnen sind.




Der Kerker einer Königin. Die Conciergerie in Paris ist gegenwärtig ein Gefängniß für Angeklagte, nicht für Verurtheilte. Der Eingang zu demselben befindet sich rechts von der prachtvollen Freitreppe des Justizpalastes. So breit und herrlich diese Treppe ist, so schmal ist dieser Eingang. Man muß erst einige Stufen hinabsteigen und befindet sich dann vor einer niedrigen Thüre. Diese wurde mir von einem Aufseher geöffnet und mir nach Ablieferung meiner Eintrittskarte ein Begleiter gegeben. Ich folgte ihm durch mehrere von qualmenden Lampen nur spärlich beleuchtete Gänge. Nach einigen Minuten blieb er vor einer stark verriegelten Thüre stehen. Er schob die Riegel von derselben weg, aber nur die untere Hälfte öffnete sich, so daß ich die Ermahnungen meines Führers, mich tief zu bücken, beherzigen mußte, um mich nicht am Kopfe zu verletzen. Ich duckte mich und trat in eine kleine, mit einem stark vergitterten Fenster versehene Zelle.

„Das ist das Gefängniß der Königin Marie Antoinette!“ sagte mein Führer. Dieser Kerker, in welchem die Königin sechsundsiebzig Tage, vom zweiten August bis zum sechszehnten October, zubrachte, hat kaum acht Fuß im Gevierte, und man begreift nicht, wie hier Tisch, Bett und Stuhl haben Platz finden können. Dem Eingang gegenüber befindet sich das vergitterte Fenster, das mehr dazu dient, die Finsterniß zu zeigen, als zu verscheuchen. Die Königin mußte ihre Augen gewaltig angestrengt haben, als sie hier ihre Kleidung und Wäsche ausbesserte. Sie hatte zwar sehr feine, mit Brabanter Spitzen besetzte Hemden; aber die Quantität entsprach der Qualität nicht. Sie besaß deren nämlich nur drei und sie wechselte dieselben erst nach zehn Tagen. Mit einer Nadel kratzte sie in die Mauer das Verzeichniß der Gegenstände ein, die sie zur Wäsche gab. Sie mußte, um ihre Garderobe nur einigermaßen in einem erträglichen Zustande zu erhalten, allerlei Mittel ersinnen. Als sie eines Tages ein Strumpfband brauchte, dröselte sie den gewirkten Teppich an ihrem Bette auf und strickte sich ein Strumpfband mit den gewonnenen Fäden. Zwei Zahnstocher mußten bei dieser Gelegenheit die Stricknadeln ersetzen. Zu solchen Erfindungen sah sich die Tochter der Maria Theresia genöthigt!

Außer der erwähnten Eingangsthür, die unverändert erhalten worden und während der Gefangenschaft der Königin streng verschlossen blieb, befand sich links in der Kerkerwand noch eine kleine Thür, die jetzt vermauert ist, damals aber durch eine spanische Wand geschlossen wurde, welche von dem wachthabenden Posten jeden Augenblick geöffnet werden konnte. Sie war auch meist geöffnet und die unglückliche Fürstin blieb immer streng beobachtet. Ich habe in Mainz einen alten Mann gekannt, der unter Ludwig dem Sechszehnten in der französischen Armee gedient und zu wiederholten Malen versicherte, daß er vor dem Kerker Marie Antoinettens Posten gestanden und sie mit der Ausbesserung ihrer Strümpfe beschäftigt gesehen. Ich hatte schon damals keinen Grund, an den Worten des Mannes zu zweifeln, und jetzt, nachdem ich seine Schilderungen des Gefängnisses mit meiner eigenen Anschauung vergleiche, bin ich von der Wahrheit seiner Behauptung fest überzeugt. Die Königin, stets den Blicken eines gemeinen Soldaten ausgesetzt, hatte nicht einmal den Trost der Einsamkeit. Der Boden des Kerkers ist mit Ziegeln gepflastert, und die Königin mochte in ihrer dünnen Kleidung während der Herbsttage von der Kälte gelitten haben. Sie hatte anfangs einige Hoffnung, die Freiheit zu erlangen. Der General Michonis führte nämlich den als Maurer verkleideten Herrn von Rougeville ein. Dieser ließ eine Nelke zu Boden fallen. In dieser Nelke befand sich ein Billet, welches der Königin mittheilte, daß man auf ihre Befreiung bedacht sei. Die Antwort der Königin auf diese Zeilen wurde jedoch von einem Gensdarmen ausgeliefert. Michonis büßte sein geheimes Einverständniß auf dem Schaffot.

In demselben Kerker hat auch die Dubarry die letzten Stunden ihres unwürdigen Lebens vertrauert.

Rechts von dem Kerker der Königin und nur durch eine jetzt durchbrochene Mauer getrennt, befindet sich noch ein anderer kleinerer Kerker, in welchem Robespierre mit zerschmetterter Kinnlade die furchtbare Nacht vor seiner Hinrichtung verbrachte. Diesem gegenüber befindet sich eine bogenförmige Oeffnung, die zu dem Saale führt, in welchem nach der bekannten Sage die Girondisten am Vorabend ihrer Hinrichtung das Banquet gefeiert haben sollen. Dieser Saal, oder vielmehr dieses weite Gewölbe ist jetzt in eine weite Capelle umgewandelt, wo jeden Sonntag die Gefangenen dem Gottesdienste beiwohnten. Der Kerker Marie Antoinettens hat einige Veränderungen erlitten. Die Wände sind mit neuen Tapeten bekleidet, und an der Wand rechts vom Eingang befindet sich eine Marmortafel, auf welcher in goldenen Lettern zu lesen ist, wie lange die Königin in diesem Kerker gefangen saß. In der Nacht, auf welche ihre Hinrichtung folgte, schrieb sie den schönen Brief an Diadame Elisabeth. Ich habe diesen Brief im Staatsarchiv gesehen. Er besteht aus zwei Quartblättern. Das Papier ist vergilbt und mehrere Tintenkleckse sind wahrscheinlich durch Thränen entstanden, welche der Schreiberin entfallen. Die Handschrift aber ist fest und sicher und verräth durchaus nicht, daß die Zeilen einige Stunden vor ihrer letzten Stunde geschrieben sind. Marie Antoinette hatte keine Zeit mehr, diesen Brief zu vollenden. Er bricht in der Mitte ab, er ist ein Fragment; er zeigt aber von der Energie der Frau, die mit seltener Fassung und Ruhe in den Tod ging.




Deutsche Kunst in Bild und Lied. Unsere Leser kennen das seit mehreren Jahren von Albert Traeger literarisch redigirte, bei J. G. Bach in Leipzig erscheinende Album von Originalbeiträgen deutscher Maler, Dichter und Tonkünstler, dessen elfter Jahrgang den diesjährigen Weihnachtstisch zu schmücken bestimmt ist. Die Beiträge der bildenden Kunst von vierundzwanzig Malern und Zeichnern, von welchen ein Drittel München angehört, sind größtentheils nach guter Vorlage gelungene lithographische und Buntdruckblätter, die für Auge und Herz eine anregende Unterhaltung bieten. Der musikalische Theil ist durch J. Albert in Stuttgart, Ad. Jansen in Berlin und Arno Kleffel in Pösneck vertreten. Den breitesten Raum nehmen die fünfundsechszig Dichter ein, unter denen wir die bekanntesten Namen unserer gegenwärtigen Lyriker finden. Traeger’s feiner Tact und Geschmack vermochte eine so gute Auswahl und eine so anmuthende Abwechselung in der Anordnung zu treffen, daß dieses Album uns wahrhaft erfrischende und erhebende Stunden bereitet. Vieles Einzelne verdiente namentliche Erwähnung, die nur unser beschränkter Raum uns verbietet.




Der deutsche Rechtsschutzverein in London hat in seinem dritten Geschäftsberichte, für das Jahr 1867, mit einer Darstellung seiner Wirksamkeit und zugleich seiner Behandlung von Seiten des “Norddeutschen Bundes-Kanzleramts sich an die Nation gewendet; wir verweisen unsere Leser auf die „Deutschen Blätter“ Nr. 50.




„Unser Präsident“, Dr. Lette, dem wir in letzter Nummer die wohlverdiente öffentliche Anerkennung noch bei Lebzeiten bezeugen wollten, ist am 3. December, an demselben Tage, an welchem der Druck jener Nummer begann, in Berlin gestorben.


Inhalt: Lorenz und Lore. Novelle von Paul Heyse. (Fortsetzung.) – Christkindlein auf dem Friedhof. Gedicht. Von Fr. Hofmann. Mit Illustration. – Der Eislauf. Von Max Wirth in Bern. – Der Ausbruch des Vesuv vom 16. bis 20. November 1868. Von Heinrich Boernstein. – Ein Schloß für etwaige Weihnachtswünsche. Mit Abbildung. – Eine Burgfehde im neunzehnten Jahrhundert. – Blätter und Blüthen: Aus der Jugendzeit Felix-Mendelssohn Bartholdy’s. – Ehre wem Ehre gebührt. – Der Kerker einer Königin. – Deutsche Kunst in Bild und Lied. – Der deutsche Rechtsschutzverein in London. – „Unser Präsident“.



Nicht zu übersehen!

Mit nächster Nummer schließt das vierte Quartal unserer Zeitschrift. Wir ersuchen daher die geehrten Abonnenten, die Bestellungen auf das erste Quartal des neuen Jahrgangs schleunigst aufgeben zu wollen.

Die Reichsgräfin Gisela“, der neue Roman von E. Marlitt, Verfasserin der „Goldelse“ und „das Geheimniß der alten Mamsell“ beginnt mit Nr. 1 des nächsten Quartals.

Die Verlagshandlung.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.


  1. Das Original des Briefes ist im Besitze der wackeren Künstlerfamilie Lüstner in Breslau.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. oder einhunderttausend; Vorlage: einmahunderttausend